PALLIATIVMEDIZIN EXTRAMURAL - JKU ePUB

 
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                                                                          Kathrin Maria Altenhofer,
                                                                          BSc

                                                                          Angefertigt am
                                                                          Institut für
                                                                          Allgemeinmedizin

                                                                          Beurteiler / Beurteilerin
                                                                          Dr. Erwin Rebhandl

                                                                          Mitbetreuung
                                                                          -

PALLIATIVMEDIZIN                                                          Mai 2021

EXTRAMURAL
Eine besondere Herausforderung - Die Versorgung schwerkranker Patienten
im häuslichen Umfeld durch das Primärversorgungsteam

Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades

Dr. med. univ.
im Masterstudium
Humanmedizin

                                                                          JOHANNES KEPLER
                                                                          UNIVERSITÄT LINZ
                                                                          Altenberger Straße 69
                                                                          4040 Linz, Österreich
                                                                          jku.at
                                                                          DVR 0093696
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EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Masterarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich
oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Masterarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Altenfelden, 31. Mai 2021

Ort, Datum

Unterschrift

31. Mai 2021                                                                                   2/82
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Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei einigen Personen bedanken, die zum Gelingen dieser
Masterarbeit maßgeblich beigetragen haben.
Zuallererst gebührt mein Dank Herrn Dr. Erwin Rebhandl, der mich stets durch fachlichen Rat und
seine konstruktive Kritik in einer überaus wohlwollenden Art und Weise beim Verfassen der
vorliegenden Arbeit unterstützt hat.
Weiters möchte ich mich bei Frau Mag.ª Anna Pissarek vom Dachverband HOSPIZ Österreich für
ihre Hilfsbereitschaft herzlich bedanken.
Ein besonderer Dank gilt meinen Interviewpartnern für ihre Auskunftsbereitschaft und die
interessanten Gespräche.
Abschließend möchte ich mich aus ganzem Herzen bei meiner Familie und bei meinen Freunden
für den starken emotionalen Rückhalt während meiner gesamten Studienzeit bedanken.
Namentlich erwähnen möchte ich meine liebe Schwester Franziska, meine Freundinnen Julia,
Sandra, Elisabeth, Nicole und Cornelia, die mich durch die besonderen Herausforderungen des
letzten Jahres getragen haben.

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Inhaltsverzeichnis

1.    Einleitung .............................................................................................................................. 6
2.    Palliativmedizin ..................................................................................................................... 7
      2.1. Begriffsdefinition ............................................................................................................ 7
      2.2. Der Patient und seine Angehörigen ............................................................................... 8
      2.3. Das Sterben zu Hause .................................................................................................. 9
3.    Komplexität der Symptome des palliativen Patienten .......................................................... 10
      3.1. Dyspnoe ...................................................................................................................... 10
               3.1.1. Therapie ........................................................................................................... 11
               3.1.2. Lungenrasseln .................................................................................................. 13
      3.2. Schmerzen .................................................................................................................. 13
               3.2.1. WHO-Stufenschema......................................................................................... 14
               3.2.2. Durchbruchsschmerzen .................................................................................... 20
      3.3. Fatigue ........................................................................................................................ 21
               3.3.1. Therapie ........................................................................................................... 22
      3.4. Schlaflosigkeit, Unruhe ................................................................................................ 23
               3.4.1. Therapie ........................................................................................................... 24
      3.5. Übelkeit, Erbrechen ..................................................................................................... 26
               3.5.1. Therapie ........................................................................................................... 27
      3.6. Obstipation .................................................................................................................. 30
               3.6.1. Therapie ........................................................................................................... 30
      3.7. Angst, Depression ....................................................................................................... 33
               3.7.1. Therapie ........................................................................................................... 34
4.    Psychosoziale Aspekte ....................................................................................................... 36
      4.1. Kommunikation mit Schwerkranken und deren Angehören.......................................... 36
      4.2. Spirituelle Begleitung in der Sterbephase .................................................................... 37
               4.2.1. Total Pain Konzept nach Cicely Saunders ........................................................ 38
5.    Entwicklung der mobilen Palliativbetreuung ........................................................................ 39
      5.1. Analyse 2015/2019 (Dachverband Hospiz Österreich) ................................................ 39
6.    Palliativteam in der Primärversorgung ................................................................................ 50
      6.1. Mitwirkende Disziplinen ............................................................................................... 50
      6.2. Schwerpunkte der interdisziplinären Zusammenarbeit ................................................. 52
7.    Der palliative Patient im häuslichen Umfeld ........................................................................ 54
      7.1. Ernährung in der Terminalphase ................................................................................. 54

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7.2. Palliativpflege .............................................................................................................. 57
      7.3. Entlastung der Angehörigen ........................................................................................ 58
      7.4. Erhaltung der Autonomie des Patienten ...................................................................... 58
8.    Methodik der Versorgungsforschung .................................................................................. 60
      8.1. Methode der Datenerhebung ....................................................................................... 60
      8.2. Zielgruppe der Interviewpartner ................................................................................... 60
      8.3. Interview, Interviewleitfaden ........................................................................................ 60
9.    Auswertung der Interviews .................................................................................................. 63
10. Zusammenfassung und Schlussfolgerung .......................................................................... 73
      10.1. Zusammenfassung .................................................................................................... 73
      10.2. Schlussfolgerung ....................................................................................................... 76
      10.3. Verbesserungsvorschläge.......................................................................................... 77
11. Literaturverzeichnis............................................................................................................. 79
12. Tabellenverzeichnis ............................................................................................................ 81
13. Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ 82

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1. Einleitung

„Die glänzenden Fortschritte unserer medizinischen Wissenschaften genügen nur selten den
Bedürfnissen, die der leidende Mensch an den Arzt stellt.“ (Thöns/Sitte 2019, S. 282)
Theodor Billroths Worte implizieren für mich als angehende Ärztin Auftrag, Motivation und Demut
in gleichem Maße. In jedem ärztlichen Wirken sollten die Bedürfnisse des Patienten im
Vordergrund stehen, einmal mehr jedoch in der terminalen Lebensphase eines Menschen. Die
Begleitung schwerkranker Patienten gestaltet sich für den behandelnden Arzt insofern als
besondere Herausforderung, da meist nicht mehr der kurative Behandlungsansatz im
Vordergrund steht, sondern die palliative Betreuung. Um eine bestmögliche und individuelle
Versorgung eines Palliativpatienten vor allem im häuslichen Bereich gewährleisten zu können, ist
es unabdingbar interdisziplinär zusammen zu arbeiten. Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter des
mobilen Palliativteams sowie Allgemeinmediziner stellen sich gemeinsam dieser
Herausforderung, dass Patienten in ihrer Krankheit zu Hause betreut werden können und auch in
ihrem vertrauten Umfeld sterben dürfen. Palliativmedizin schließt neben der medizinischen
Behandlung des kranken Menschen auch die Betreuung der Angehörigen mit ein, genau dieser
Aspekt spielt im extramuralen Bereich eine große und wichtige Rolle.
Aufklärung über Behandlung von Schmerzen, Erreichbarkeit in überfordernden Situationen,
wichtige Zeitpunkte für Gespräche zu erkennen und auch wahrzunehmen seien als Beispiele
angeführt, um darzustellen, wie gute Zusammenarbeit und würdevolles Begleiten möglich sein
können. Die Unausweichlichkeit und gefühlte Machtlosigkeit in Phasen der Krankheit fordert alle
involvierten Personen und zeigt die Signifikanz eines gut funktionierenden Teams, in dem sich
idealerweise alle Mitglieder auf Augenhöhe begegnen mit der Zielsetzung, auftretende
Bedürfnisse und Wünsche der Patienten sowie deren Angehörigen bestmöglich zu erfüllen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Entwicklung der mobilen Palliativbetreuung darzulegen und die
Herausforderungen in der palliativen Versorgung des Patienten respektive verbesserungswürdige
Punkte in der interdisziplinären Zusammenarbeit aufzuzeigen.
Im forschungsbezogenen Teil wird auf die Fragestellung eingegangen, wie und durch wen im
Rahmen einer palliativmedizinischen Betreuung im extramuralen Bereich die Koordination der
Gesamtbetreuung optimal erfolgen kann, beginnend von der Auftragserteilung respektive
Anforderung eines mobilen Palliativteams bis zum Abschluss eines Betreuungsfalles.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Masterarbeit die gewohnte
männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies
impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der
sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.

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2. Palliativmedizin

      2.1. Begriffsdefinition

Der Begriff „Palliativ“ leitet sich aus „pallium“(lat.) = Mantel ab und betont umgehend die
Kernaussage der Palliativmedizin, nämlich die ummantelnde respektive umhüllende Art der
ganzheitlichen Behandlung des Patienten als auch seiner Angehörigen.
Die nachfolgende Auflistung der unterschiedlichen Definitionen von der WHO, der EAPC und von
der Ärztin Cicley Saunders heben jeweils einzeln für sich Schwerpunkte hervor und zeigen
zugleich begriffsdefinierende Gemeinsamkeiten.

Definition laut WHO:
„Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten,
weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die
Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von
Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen
Problemen höchste Priorität besitzt.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 2)
Erweiterung des Begriffes 2002: „Palliative Care ist ein Ansatz, mit dem die Lebensqualität der
Patienten und ihrer Familien verbessert werden soll, wenn sie mit einer lebensbedrohlichen
Krankheit und den damit verbundenen Problemen konfrontiert sind.
Dies soll durch Vorsorge und Linderung von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen und fehlerlose
Erfassung und Behandlung von Schmerzen und anderen physischen, psychosozialen und
spirituellen Problemen erfolgen.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 2)

Als weitere Definition sei die Ausführung der European Association for Palliative Care (EAPC)
erwähnt:
„Palliativmedizin ist die aktive und umfassende Betreuung von Patienten, deren Erkrankung nicht
auf kurative Behandlung anspricht. Kontrolle von Schmerzen und anderen Symptomen sowie von
sozialen, psychologischen und spirituellen Problemen hat Vorrang.
Palliativmedizin ist interdisziplinär und umfasst den Patienten, die Familie und die Gesellschaft in
ihrem Ansatz. In gewissem Sinn stellt Palliativmedizin die grundlegendste Form der Versorgung
dar, indem sie Bedürfnisse der Patienten versorgt ohne Berücksichtigung des Ortes, sowohl zu
Hause wie im Krankenhaus.
Palliativmedizin bejaht das Leben und akzeptiert das Sterben als normalen Prozess, sie will den
Tod weder beschleunigen noch hinauszögern. Ziel ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität
bis zum Tod.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 2)

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„Wesentliche Grundsätze der Palliativmedizin wurden schon 1977 von Saunders formuliert:
   • Behandlung von Patienten in verschiedenen Umgebungen (ambulant, stationär,
       Pflegeheim etc.) mit einem „high-person, low-technology“-Ansatz
   • Effektive Betreuung auch zu Hause
   • Multidisziplinäres Team, individuelle Behandlung jedes Patienten und Koordination des
       Teams durch das im Einzelfall zuständige Teammitglied
   • Symptomkontrolle und vor allem Schmerzbehandlung durch Spezialisten
   • Ausgebildete und erfahrene Pflegekräfte
   • Integration von ehrenamtlichen Mitarbeitern
   • Leicht zugängliche zentrale Koordinationsstelle für das palliativmedizinische Team
   • Verpflichtung zur kontinuierlichen Betreuung des Patienten und seiner Angehörigen,
       Unterstützung der Hinterbliebenen nach dem Tod des Patienten
   • Forschung, systematische Dokumentation und statistische Ausarbeitung der
       Behandlungsergebnisse
   • Unterricht und Ausbildung von Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern und Seelsorgern.“
(Aulbert/Nauck/Radruch 2012, S. 1)

Die Gegenüberstellung dieser drei ausgewählten Begriffsdefinitionen für Palliativmedizin
veranschaulicht sehr deutlich, dass in diesem besonderen Bereich der medizinischen Versorgung
ganz klar die individuellen Bedürfnisse des schwerkranken Patienten und seines Umfeldes stark
in den Mittelpunkt gerückt werden. Von besonderer Bedeutung, im Hinblick auf den extramuralen
Bereich zeigt sich in Saunders Ausführungen der Einbezug des interdisziplinären Teams durch
Pflegekräfte, ehrenamtliche Mitarbeiter und Ärzte.
Anhand der angeführten Definitionen lässt sich Palliativmedizin als angewandtes
Biopsychosoziales-Behandlungskonzept verstehen.

      2.2. Der Patient und seine Angehörigen

„Mit den Angehörigen sind alle verwandten, vertrauten, nahestehenden und freundschaftlichen
Beziehungen eines Menschen umschrieben. Sie durchleben ebenso einen Prozess des
Loslassens und des Abschiednehmens. Sie sind in ähnlicher Weise belastet und brauchen
dieselbe Aufmerksamkeit und Begleitung wie der sterbende Mensch.“ (Kränzle/Schmid/Seeger
2018, S. 19)
Die Veränderung, die eine lebensbedrohliche Erkrankung mit sich bringt, wirkt sich in vielen
Lebensbereichen aus. Unsicherheit und die Angst möglicherweise den bevorstehenden
Herausforderungen nicht gewachsen zu sein, finden sich im krankheitsbedingt veränderten Alltag
aller involvierten Personen wieder. Dies spielt besonders bei der Betreuung Schwerkranker im
häuslichen Umfeld eine bedeutende Rolle. Obwohl das gemeinsame Durchleben einer solch
schwierigen Situation sicherlich eine Grenzerfahrung darstellt, ermöglicht sie es dem Patienten
zuhause, in seinem gewohnten Umfeld und vor allem mit seinen ihm nahestehenden Menschen
den letzten Weg seines Lebens in größtmöglicher Autonomie zu gehen. Pflegende Angehörige
kommen hierdurch nicht selten an ihre eigenen physischen sowie psychischen Grenzen. Neben
der hohen emotionalen Last während des Krankheitsverlaufes stellt das eigene „Erleben-müssen“
des Sterbens des nahestehenden Angehörigen sicherlich die größte Herausforderung dar.

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„Das Sterben eines Menschen bleibt als wichtige Erinnerung zurück bei denen, die weiterleben.
Aus Rücksicht auf sie, aber auch aus Rücksicht auf den Sterbenden, ist es unsere Aufgabe,
einerseits zu wissen, was Schmerz und Leiden verursacht, andererseits zu wissen, wie wir diese
Beschwerden effektiv behandeln können. Was immer in den letzten Stunden geschieht, kann viele
Wunden heilen, aber auch in unerträglicher Erinnerung verbleiben.“
(Feichtner 2018, S. 142)
Das Zitat von Cicely Saunders weist eindrucksvoll auf die Signifikanz einer kompetenten und
einfühlsam-motivierten interdisziplinären Begleitung hin, die neben der Betreuung des Sterbenden
genauso den achtsamen Umgang mit Angehörigen impliziert.

      2.3. Das Sterben zu Hause

„76% aller Menschen möchten laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung (2015) zu Hause
sterben.“ (Kränzle/Schmid/Seeger 2018, S. 19)
Dieses Ergebnis veranschaulicht sehr deutlich, dass die Möglichkeit daheim sterben zu können,
für viele Menschen einen hohen Stellenwert hat. Gewohnte Umgebung anstatt Krankenhaus-
Atmosphäre, Selbstbestimmtheit sowie Intimität und vor allem die Fürsorge durch vertraute
Menschen stellen einen hohen Wert dar.

„Sterbende wünschen sich nach Umfragen, die alle in etwa ähnliche Ergebnisse erbrachten, vor
allem:
    • Nicht allein sterben zu müssen, d. h. von nahestehenden, vertrauten Menschen umgeben
       zu sein und zuverlässig versorgt zu werden,
    • ohne Schmerzen und andere quälende Beschwerden sterben zu können, in Würde und
       Frieden gehen zu dürfen,
    • die Möglichkeit zu haben, letzte Dinge noch erledigen zu können, Beziehungen zu klären,
    • über den Sinn des Lebens und des Sterbens mit Menschen sich austauschen zu können,
       die bereit sind dies auszuhalten.“ (Kränzle/Schmid/Seeger 2018, S. 27)

Um diesen Wünschen nachkommen zu können, müssen Rahmenbedingungen geschaffen
werden, die sicherstellen, dass eine optimale Betreuung des Sterbenden zu Hause ermöglicht
werden kann. Dies kann nur gelingen, indem ein aufeinander abgestimmtes Palliativteam gut
interagiert und beispielsweise mit durchgängiger telefonischer Erreichbarkeit den pflegenden
Angehörigen Sicherheit vermittelt. Durch den intensiven Kontakt zwischen dem Patienten,
Angehörigen und diversen Mitgliedern des Palliativteams entsteht die notwendige Vertrautheit,
um wichtige Gesprächsthemen aufzugreifen und auf vorherrschende Belastungen einzugehen.
Per definitionem gilt es Schmerzen und Probleme körperlicher, psychosozialer sowie spiritueller
Natur zu erkennen und zu behandeln. Dieser Aufgabe gerecht zu werden und somit ein
würdevolles Begleiten des Sterbeprozesses im häuslichen Umfeld zu ermöglichen, sollte oberstes
Gebot in der praktischen Ausübung der palliativen Betreuung sein.

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3. Komplexität der Symptome des palliativen Patienten

Die Erfassung respektive Einordnung der unterschiedlichen Symptome eines Palliativpatienten
geschieht      idealerweise     unter    den    Gesichtspunkten      des     Biopsychosozialen-
Behandlungskonzeptes. Die Auswirkungen psychischen Leids auf die somatische Ebene zeigen
sich in vielerlei Krankheitsbildern und können keineswegs auf die palliative Situation reduziert
werden. Dennoch drängt sich speziell im palliativen Setting die ganzheitliche Betrachtungsweise
des Menschen mit seinen Ängsten und Nöten, ausgelöst durch körperliche Schmerzen oder
Verzweiflung und Ohnmacht bezüglich der unausweichlichen Situation auf.
„Symptomkontrolle bedeutet immer eine Herangehensweise, bei der nicht das Symptom, sondern
der betroffene Mensch behandelt wird.“ (Schnell/Schulz-Quach 2019, S. 45)
Durch Symptomkontrolle sollte vordergründig die Linderung belastender Situationen erreicht, und
dadurch mehr Lebensqualität für den Patienten ermöglicht werden. Durch eine gemeinsame
Entscheidungsfindung seitens des interdisziplinären Teams und in Einbezug des Patienten mit
seinen Angehörigen bezüglich angestrebter Zielsetzung, wird eine auf den schwerkranken
Menschen individuell abgestimmte Versorgung möglich.
Nachfolgend wird auf häufig vorkommende Symptome und ihre Therapieansätze einzeln
eingegangen, welche isoliert oder auch in Kombination auftreten und die die Versorgung in der
terminalen Lebensphase als besondere Herausforderung für alle involvierten Personen darstellen.

      3.1. Dyspnoe

„Dyspnoe beschreibt den Zustand subjektiv erlebter Atemnot (Luftnot, Lufthunger), dessen
Schwere nur der Patient allein beurteilen kann.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 366)
In Hinblick auf den therapeutischen Aspekt „Symptomlinderung“ ist die erwähnte Subjektivität
dieses Beschwerdebildes anzuführen, da diese, die dem Schweregrad angepasste und indizierte
Intervention situativ veranlasst. Besonders in der Terminalphase verhalten sich eine empfundene
Atemnot und messbare Parameter, wie beispielsweise die Sauerstoffsättigung des Blutes
ambivalent.

„Folgende Faktoren spielen für die Auslösung der Dyspnoe eine wesentliche Rolle:
    • erhöhte Atemarbeit, z. B.: durch obstruktive oder restriktive Ventilationsstörungen mit
       verminderter Atemreserve
    • im Verhältnis zur Sauerstoffaufnahme unproportional hohe Atemarbeit
    • Gasaustauschstörungen mit Abfall des arteriellen pO2 und Anstieg des arteriellen pCO2
    • ununterbrochene Reizung des Atemzentrums durch Signale verschiedener intra- und
       extrathorakaler Rezeptoren (Dehnungs- und Hirnrezeptoren, Muskelspindeln)
    • subjektive Komponenten (Angst, Unruhe des Patienten).“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 366)

Anhand der angeführten Unterpunkte wird deutlich, dass sich hinter dem Symptom „Dyspnoe“
mannigfaltige Ursachen verbergen. Die primäre Grunderkrankung respektive ihre Progression
erklärt einen direkten pulmonalen oder auch nichtpulmonalen Zusammenhang mit der Ausbildung
einer Atemnot.
Eine genaue diagnostische Abklärung der aktuell vorherrschenden Symptomatik ist im Kontext
einer akuten Dyspnoe von besonderem Wert, da sich die Behandlung von potentiell reversiblen
Ursachen, wie beispielsweise Infektionen, Aszites oder Anämie grundlegend von einer rein
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symptomatischen Therapie unterscheidet. Dennoch liegt der Hauptfokus in der Betreuung eines
palliativen Patienten auf der Verbesserung seiner Lebensqualität, und diese gilt es durch eine
optimale Symptomkontrolle zu erzielen.

               3.1.1.   Therapie

„Im Vordergrund der palliativmedizinischen Strategien stehen Maßnahmen, die eine Abnahme
einer erhöhten Atemarbeit und Atemfrequenz bewirken, eine Verbesserung der CO2-Elimination
ermöglichen und die subjektiv unangenehme oder ängstigende Wahrnehmung der Atemnot
positiv beeinflussen.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 377)
Therapeutisch stehen sowohl medikamentöse als auch nichtmedikamentöse Ansätze
zur Verfügung, welche supplementär zur Anwendung kommen.

Nichtmedikamentöse Symptomkontrolle:
Die Anwendung nichtmedikamentöser Strategien erfordert vor allem die Einbeziehung und
Aufklärung des Patienten und seiner Angehörigen einmal mehr, da eine akut einsetzende Atemnot
oder eine sukzessive Exazerbation einer bestehenden Dyspnoe für alle Betroffenen eine äußerst
bedrohliche Situation darstellt. Durch teilweise sehr einfache Empfehlungen, wie etwa
regelmäßige Bewegung, ausreichendes Lüften des Wohnbereiches oder das Erlernen von
Entspannungstechniken wird der Patient durch sein aktives Mitwirken in die Gestaltung des
Therapieplans miteinbezogen. Durch die Verwendung von Hilfsmitteln, wie zum Beispiel eines
Handventilators (Erleichterung durch kühlere Luft) kann die subjektiv empfundene Atemnot
gelindert werden. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 377)
„Es stehen verschiedene Atem- und Beruhigungstechniken zur Verfügung die primär das Ziel
verfolgen, dass der Patient trotz Atemnot ruhiger atmet (Atemfrequenzregulierung) und die
Kontrolle über seine Atmung zurückerhält, um die Atemnot durch Angst und Panik nicht zu
verschlimmern. Hierzu zählen z. B.: Lippenbremse, Bauchatmung, gemeinsames Atmen mit
einem Partner und Techniken aus der kognitiven Verhaltenstherapie.“ (Schnell/Schulz-Quach
2019, S. 67)
Anhand der nichtmedikamentösen Symptomkontrolle im extramuralen Bereich kann wiederum die
Signifikanz der interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb eines Palliativteams verdeutlicht
werden, da gerade in der Umsetzung des Erlernten bezüglich Atem- und Entspannungstechniken,
die Präsenz unterschiedlicher Mitarbeiter des Teams von außerordentlicher Bedeutung ist.
Angstbesetzte Situationen miteinander aushalten, ein tröstendes und beruhigendes Wort oder
einfach ein heilsames Halten einer Hand sind Beispiele für eine zwar wenig medizinische, dafür
aber wahrlich menschliche Begleitung und letztendlich essentiell in der nichtmedikamentösen
Symptomkontrolle der terminalen Lebensphase eines Menschen.

Medikamentöse Symptomkontrolle:
In der medikamentösen Symptomkontrolle von Dyspnoe kommen unterschiedliche Medikamente
zum Einsatz. Mittel der ersten Wahl sind Opioide (z. B.: Morphin, Hydromorphon), Benzodiazepine
(z. B.: Midazolam), Anxiolytika, (z. B.: Lorazepam), Bronchodilatatoren (z. B.: Beta-Sympathomi-
metika), Corticosteroide (z. B.: Dexamethason) sowie adäquate Sauerstofftherapie. (Vgl. Aul-
bert/Nauck/Radbruch 2012, S. 378-379)

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Nachfolgend soll nun auf die einzelnen Medikamentengruppen eingegangen werden.

Opioide:
„Opioide sind die Mittel der ersten Wahl bei der medikamentösen Behandlung der Atemnot.“
(Schnell/Schulz-Quach 2019, S. 67)
„Opioide bewirken eine Erhöhung der Toleranz des Atemzentrums bei Anstieg des arteriellen
pCO2. Durch eine Abnahme der Atemfrequenz kommt es zu einer Ökonomisierung der Atmung.
Darüber hinaus wirken Opioide anxiolytisch und dämpfen die emotionale Reaktion.“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 378; Higginson I, Mc Carthy M. Measuring symptoms in
terminal cancer: are pain and dyspnoea controlled? J R Soc Med 1989; 82: 264-7.)
Bezüglich Dosierung wird zwischen opioid-naiven und opioid-toleranten Patienten unterschieden.
„Opioidnaive Patienten erhalten initial 2,5 bis 5-10 mg Morphinlösung p. o. oder 2,5-5 mg s. c. alle
4 Stunden sowie zusätzlich bedarfsweise 5-10 mg Morphinlösung p. o. oder 2,5-5 mg s. c. alle 2
Stunden, bis eine zufrieden stellende Verbesserung der Dyspnoe ohne Nebenwirkungen
eingetreten ist.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 378)
Im Falle einer bereits bestehenden Morphintherapie sollte, im Falle einer Dyspnoe die aktuelle
Dosis um 50% gesteigert werden. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 378)

Benzodiazepine, Anxiolytika:
Angst spielt im Symptomkomplex Dyspnoe insofern eine große Rolle, da ein Symptom das andere
auslösen, beziehungsweise verstärken kann. Umso wichtiger ist es diesen circulus vitiosus zu
unterbrechen respektive zu kontrollieren.
„Benzodiazepine (z. B.: Midazolam 1-2,5 mg i. v.), Phenothiazine (z. B.: Chlorpromazin 10-25 mg)
und Anxiolytika (z. B.: Lorazepam) kommen zum Einsatz, wenn eine Dyspnoe mit Angst oder
Panik verbunden ist.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 378)

Bronchodilatatoren:
Das Einsatzgebiet dieser Arzneimittel erstreckt sich vor allem auf den Bereich der obstruktiven
Atemwegserkrankungen sowohl in der chronischen Therapie als auch im palliativen Setting.
Häufig verwendete Medikamente sind Beta-Sympathomimetika (z. B.: Salbutamol) und
Anticholinergika (z. B.: Ipratropiumbromid), welche inhalativ verabreicht werden. Alternativ dazu
bietet sich Methylxanthine (z. B.: Theophyllin) als orale oder intravenöse Darreichungsform an.
(Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 379)

Corticosteroide:
„Corticosteroide (Dexamethason 8-24 mg) kommen bei der Dyspnoetherapie bei Tumorpatienten
aufgrund ihrer antiödematösen, bronchodilatatorischen sowie entzündungshemmenden Wirkung
zum Einsatz. Sie sind indiziert bei Obstruktion der Atemwege, z. B.: durch endotracheale und
endobronchiale Tumoren. Mittel der Wahl sind sie bei der symptomatischen Therapie der
Lymphangiosis carcinomatosa sowie bei chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen.“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 279)

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Sauerstofftherapie:
Per definitionem wird Dyspnoe durch subjektive Atemnot beschrieben, die häufig nicht mit
objektivierbaren Messwerten korreliert.
„Im klinischen Alltag wird Patienten mit Atemnot häufig reflexartig Sauerstoff verabreicht. Schaden
und Nutzen der Therapie sind gut abzuwägen, da insbesondere Patienten, die keine oder nur eine
grenzwertige Hypoxämie haben, häufig keinen Benefit durch den Sauerstoff haben. Nur ein kleiner
Teil der Patienten (solche mit Hypoxämie oder einer fortgeschrittenen COPD) profitiert von der
Sauerstoffgabe. (…) Nebenwirkungen wie die Austrocknung der Schleimhäute,
Bewegungseinschränkung durch Applikationsschläuche sowie hohe Kosten und Aufwand in der
häuslichen Versorgung sind kritisch dem Nutzen gegenüberzustellen.“ (Schnell/Schulz-Quach
2019, S. 67)

               3.1.2.   Lungenrasseln

Ein häufiges und zugleich sehr belastendes Symptom in den letzten Stunden der Sterbephase
eines Menschen ist das im Englischen als „Death Rattle“ bezeichnete Todesrasseln oder
Lungenrasseln.
„Die Patienten sind aufgrund zunehmender muskulärer Schwäche nicht mehr in der Lage,
Speichel reflektorisch zu schlucken oder Schleim aus der Trachea abzuhusten. Die
Sekretobstruktion liegt in den großen Luftwegen (Trachea und Hauptbronchien) und im
Glottisbereich. Die Sekretproduktion erfolgt in den Speicheldrüsen und in der bronchialen Mukosa.
Durch Verlust von Schluck- und Hustenreflex kommt es zur Ansammlung der Sekretion im
Oropharynx, in der Trachea und in den Bronchien.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 380)
Dieses mit dem Sterbeprozess einhergehende Symptom erzeugt vor allem bei den Angehörigen,
mehr als bei dem Patienten selbst, ein sehr unbehagliches Gefühl, da es von medizinischen Laien
oftmals mit Todeskampf und Luftnot assoziiert wird.
Dieser Gegebenheit geschuldet ist es von besonderer Bedeutung, dass diesbezüglich Aufklärung
und Information erfolgt und durch eine gezielte medikamentöse Therapie mit Anticholinergika, wie
beispielsweise Scopolamin, diese besondere Situation bewältigt werden kann. (Vgl.
Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 380)

      3.2. Schmerzen

Schmerzen und deren Behandlung nehmen in der Palliativmedizin dahingehend einen
besonderen Stellenwert ein, da einerseits der Patient durch die Schmerzpräsenz unmittelbar an
seine Erkrankung erinnert und dadurch mitunter stark in seiner Lebensqualität einschränkt wird.
Andererseits stellt die Symptomkontrolle das gesamte Palliativteam vor eine sich ständig
ändernde Herausforderung, sei es im Bereich der Pflege beispielsweise durch Umlagerungen des
Patienten oder die vorausschauende und nötigenfalls rasche Adaption von Medikamenten in der
Behandlung von Schmerzspitzen durch den Arzt.
Aufgrund der mannigfaltigen Ursachen und um den Symptomkomplex Schmerz in einem größeren
Kontext zu verstehen, bietet sich die Erklärung von Cicely Saunders „Total-Pain-Concept“ speziell
in der Palliativmedizin an. Die Unterteilung in physische, psychische, spirituelle und soziale
Ursachen für die Entstehung von Schmerz lässt die Komplexität dieser Thematik erahnen. (Vgl.
Holder-Franz 2012, S. 80)

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Hierauf wird im Kapitel „Psychosoziale Aspekte“ näher eingegangen.
Ein sehr häufiger Auslöser für palliative Schmerzzustände ist eine primäre Tumorerkrankung, die
abhängig von Lokalisation und Stadium der Erkrankung unterschiedlich starke Schmerzen
auslösen kann. In diesem Kontext wird zwischen tumorbedingten Schmerzen, therapie-
assoziierten Schmerzen, tumorassoziierten Schmerzen und tumorunabhängigen Schmerzen
unterschieden. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 148)
Tumorbedingte Schmerzen erklären sich einerseits durch die Lokalisation und das Wachstum des
Tumors, andererseits durch die Metastasierung des Primum. Der therapiebedingte Schmerz
entsteht als Auswirkung gesetzter therapeutischer Maßnahmen. Als Beispiele seien hier
Nebenwirkungen einer Chemotherapie oder Radiatio sowie postoperative Schmerzen angeführt.
Treten Schmerzen auf, die weder unmittelbar dem Tumor noch einer krebsspezifischen Therapie
zugeordnet werden können, werden diese der Kategorie tumorassoziierte Schmerzen zugeteilt,
so etwa Schmerzzustände, die sich im Rahmen einer längeren Immobilität ergeben. Als
tumorunabhängigen Schmerz bezeichnet man solche Schmerzen, die in keinem kausalen
Zusammenhang mit der Tumorerkrankung stehen, wie beispielsweise chronische Schmerzen des
Bewegungsapparates. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 148-150)
„Außer nach ihrer Ätiologie werden Krebsschmerzen nach der ihnen zugrunde liegenden
Pathophysiologie klassifiziert und eingeteilt. In Abhängigkeit von den pathophysiologischen
Mechanismen bei der Schmerzentstehung und -perzeption lassen sich Nozizeptorschmerzen und
neuropathische Schmerzen unterscheiden.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 150)
Der Terminus Nozizeptorschmerz impliziert einen somatischen wie auch einen viszeralen Anteil.
Die damit assoziierten Schmerzqualitäten reichen von dumpf, bohrend im somatischen (Knochen,
Haut, Bindegewebe, …) Zusammenhang bis hin zu kolikartigen Ausprägungen in der viszeralen
(Brust- und Bauchbereich) Zuordnung.
Werden hingegen Nervenstrukturen beeinträchtigt respektive komprimiert, spricht man von
neuropathischen Schmerzen. Die Qualität dieser Schmerzform wird als brennend, einschießend
sowie als ziehend beschrieben und tritt häufig im Rahmen von Skelettmetastasen und bei
Infiltration von Nervenstrukturen auf. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 151)
„Die Pathophysiologie der Schmerzen bestimmt die Auswahl der Medikamente, z. B.
nichtsteroidale Antirheumatika bei entzündlichen Schmerzen oder Antidepressiva und
Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 154)

               3.2.1.   WHO-Stufenschema

„Das WHO-Stufenschema zur rationalen Schmerztherapie bildet als Orientierungshilfe die
Grundlage der pharmakologischen Schmerztherapie in der Palliativmedizin. Schmerzlinderung ist
eine Aufgabe des gesamten interprofessionellen Palliativteams.“ (Schnell/Schulz-Quach 2019,
S. 49). „Die wichtigsten Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie (in Anlehnung an da
WHO-Stufenschema) sind:
    • So einfach wie möglich – vorzugsweise orale Gabe der Analgetika
    • Regelmäßige Einnahme nach festem Zeitschema, bevor erneut Schmerzen auftreten
    • Individuelle Dosierung
    • Kontrollierte Dosisanpassung
    • Prophylaxe der Nebenwirkungen durch Begleitmedikation.“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 175-176)

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Das WHO-Stufenschema teilt Analgetika nach ihrer Wirksamkeit in drei große Gruppen ein, wobei
die erste Stufe schwach-wirksame und die dritte Stufe stark-wirksame Pharmaka enthält.

Stufe I: für mäßige Schmerzen
Nicht-Opioid-Analgetikum
+/- Koanalgetika
+/- Begleitmedikation
Stufe II: für mäßige bis mittlere Schmerzen
Schwach-wirksames Opioid
+/- Nicht-Opioid-Analgetikum
+/- Koanalgetika
+/- Begleitmedikation
Stufe III: für mittlere bis starke Schmerzen
Stark-wirksames Opioid
+/- Nicht-Opioid-Analgetikum
+/- Koanalgetika
+/- Begleitmedikation
(Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 176)

„Die Hauptkriterien für die Auswahl eines Analgetikums sind die Art und Intensität des Schmerzes,
wobei Nichtopioid-Analgetika, mittelstarke und starke Opioide zum Einsatz kommen. Sinnvoll ist
in der Regel die Kombination von Opioiden der WHO-Stufen 2 bzw. 3 mit Nichtopioid-Analgetika.
Analgetika werden schrittweise gegen den Schmerz titriert, wobei die Dosis so weit gesteigert
wird, bis der Patient ausreichend schmerzreduziert ist oder intolerable Nebenwirkungen auftreten,
die eine weitere Dosissteigerung verbieten.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 176)

Um eine sichere und optimale Symptomkontrolle erreichen zu können, wird die analgetische
Therapie stets der aktuell vorherrschenden Situation angepasst. Bei mäßiger Schmerzintensität
wird laut dem WHO-Stufenschema die Behandlung mit einem Nicht-Opioid-Analgetikum
empfohlen, steigert sich der Schmerz kommen Medikamente aus der Stufe II zum Einsatz.
Bei stärksten Schmerzen ist die Analgesie mit einem stark-wirksamen Opioid der Stufe III
angezeigt.
Neben der adäquaten Therapie von Dauerschmerzen, ist es von großer Bedeutung, stets
Schmerzspitzen unterschiedlicher Genese, beispielsweise bei Umlagerung im Rahmen
körperlicher Pflegemaßnahmen, individuell zu evaluieren und frühzeitig zu behandeln.
Sogenannte Durchbruchsschmerzen stellen, wenn nicht rechtzeitig abgeschirmt, für
Palliativpatienten sowie ihr Umfeld eine sehr belastende Situation dar.

Um einen raschen Wirkeintritt des Schmerzmittels garantieren zu können, kommen schnell
wirksame orale Opioide zur Anwendung, idealerweise die Substanz, welche auch in der
Behandlung des Dauerschmerzes eingesetzt wird. Üblicherweise wird hierzu ein Sechstel der
Opioid-Tagesdosis verwendet und kann alle 2-3 Stunden verabreicht werden. (Vgl.
Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 201, Coluzzi PH, Schwartzberg L, Conroy JD, Charapata S,
Gay M, Busch MA, Chavez J, Ashley J, Lebo D, McCracken M, Portenoy RK. Breakthrough cancer
pain: a randomized trial comparing oral transmucosal fentanyl citrate (OTFC) and morphine sulfate
immediate release (MSIR). Pain 2001; 91: 123.)

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„Die Dauer bis zur maximalen Wirkung beträgt bei oraler Anwendung etwa 60 Minuten, sodass
dieser Applikationsweg für Durchbruchschmerzen mit plötzlichem Auftreten und kurzer Dauer
nicht geeignet ist. Die subkutane Bolusgabe von Morphin (10-20 mg), die Gabe von
Hydromorphon (1-3 mg) oder die transmuköse Applikation von Fentanylcitrat (50-100 µg) kann
eine ausreichend kurze Anflutungszeit bewirken.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 201-202)

„Aufgrund des sehr guten schmerzlindernden Effektes, fehlender Organtoxizität und der geringen
Nebenwirkungsrate     sind   Opioide   in    der   Tumorschmerztherapie       die   wichtigste
Medikamentengruppe bei starken und stärksten Schmerzen.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012,
S. 180)
Neben der Behandlung der Schmerzsymptomatik ist stets auf das Nebenwirkungsprofil dieser
Medikamentengruppen zu achten, um eine für den Patienten zielführende Behandlung
garantieren zu können. Durch die Verwendung von Begleitmedikamenten wie Antiemetika,
Antikonvulsiva, Antidepressiva, Laxantien oder Corticosteroiden kann prophylaktisch
beziehungsweise situativ, ergänzend zur Schmerzmedikation der jeweiligen Stufe des WHO-
Schemas, eine individuell angepasste Medikation verabreicht werden.

Nachfolgend werden die gebräuchlichsten Nicht-Opioid-Analgetika und Opioide angeführt, die in
der Schmerztherapie im palliativen Setting häufig zur Anwendung kommen.

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Nicht-Opioid-Analgetika
      Wirkstoff    Handelsname       Einzeldosis    Intervall            Anmerkungen/
                     (Beispiele)         (mg)            (h)            Nebenwirkungen
 Metamizol         Novalgin          500-1000       4           •   wichtigstes Nichtopioid-
                   Novaminsulfon                                    Analgetikum in der
                                                                    Tumorschmerztherapie
                                                                •   Agranulozytose (sehr selten),
                                                                    allergische Reaktionen,
                                                                    Blutbild-Kontrollen
 Paracetamol       Mexalen           500-1000       4           •   keine gastrointestinalen NW,
                   ben-u-ron                                        Tagesdosen nicht > 6g wählen
                                                                •   Ausweichsubstanz, wenn KI für
                                                                    Metamizol bestehen
 Ibuprofen         Ibuprofen         400-800        4-8         •   gastrointestinale NW (Ulzera,
 Diclofenac        Imbun             50-100         8               Blutungen, Schmerzen)
 Naproxen          Voltaren          250-500        12          •   selten Schwindel, Somnolenz,
                                                                    Störung der Hämatopoese,
                   Proxen
                                                                    Hautreaktionen
 Celecoxib         Celebrex          200-400        12          •   Ödeme, Hypertonie, Übelkeit,
 Etoricoxib        ARCOXIA           60-120         24              Schwindel, Kopfschmerzen
                                                                •   weniger ausgeprägte
                                                                    gastrointestinale Toxizität

 Flupirtin         Antidol           100-200        6-8         • muskelrelaxierende Wirkung
                    Katadolon                                   • Einsatz bei neuropathischem
                                                                  Schmerz
                                                               • sedierende NW
Tab. 1: Nicht-Opioid-Analgetika (adaptiert nach Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 177)

Der Einsatzbereich der Nicht-Opioid-Analgetika ist vordergründig bei leichter bis mäßiger
Schmerzintensität in Monotherapie beziehungsweise in Kombination mit Opioiden der Stufen II
oder III bei starken oder stärksten Schmerzen.
„Nichtsaure antipyretische Analgetika weisen bei normaler therapeutischer Dosierung selten
Nebenwirkungen auf. Paracetamol führt bei hohen Dosierungen (ab ca. 7 g Einzeldosis) zu
Leberschäden. Daher muss bei vorbestehender Leberschädigung vorsichtig dosiert werden. Bei
Metamizol können Vasodilatation und Hypotonie auftreten. Bei schneller intravenöser Gabe kann
es zu allergischen Reaktionen bis hin zu einem anaphylaktischen Schock kommen. Deshalb soll
Metamizol nicht als Bolus intravenös verabreicht werden.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 179)

Die Anwendung der angeführten Nicht-Opioid-Analgetika impliziert immer die individuelle
Indikation bezüglich der Schmerzsymptomatik, Verträglichkeit sowie mögliche Nebenwirkungen.
Von besonderer Bedeutung bei Gabe dieser Pharmaka, ist hierbei die Dosisanpassung respektive
Vermeidung bei eingeschränkter Nierenfunktion. Weiters ist bei einer intravenösen Gabe von

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Metamizol das Risiko eine Agranulozytose zu entwickeln höher als bei oraler Verabreichung. (Vgl.
Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 179)

Opioide der WHO-Stufe II
     Wirkstoff      Handelsname        Orale Dosis      Zeitintervall       Nebenwirkungen
                      (Beispiel)           (mg)             (h)/
                                        (Tages-          Bioverfüg-
                                      maximaldosis)        barkeit
                                                           oral%
 Codein            Adoluron c.c.      30-100 (600)      4/40            Obstipation, Übelkeit
                   Codein                                               Erbrechen,     Schwindel,
                   Codeinum                                             Müdigkeit
                   phosphoricum
                   Compren
 Dihydrocodein     Codidol            60-300 (700)      8-12/20         s. Codein
                   DHC
                   Mundipharma
 Tramadol          Tramal             50-100 (900)      2-4/70          s. Codein
                   Tramundin          50-100 (900)      2-4/70
                   Tramundin ret.     100-300 (900)     8-12/70
 Tilidin+Naloxon Valoron N            50-100 (900)      2-4/90          s. Codein
                   Valoron N ret.     100-300 (900)     8-12/90         ausgeprägter First-Pass-
                   (in Österreich                                       Effekt in der Leber
                   nicht
                   zugelassen)
 Dextroprop-       APA-Tabletten      150 (450)         8-12            Bei Dauermedikation
 oxyphen          Develin ret.                                      Kumulation möglich
Tab. 2: Opioide der WHO-Stufe II (adaptiert nach Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 182)

Die Indikation der hier angeführten Pharmaka beruht auf der Behandlung von Schmerzen, die
nicht mehr allein durch Nichtsteroidale Analgetika zu kontrollieren sind. Dies schließt jedoch nicht
die bereits erwähnte Kombinationsmöglichkeit dieser beiden Gruppen aus.
Opioide entfalten ihre Wirkung im zentralen Nervensystem sowie auch in peripheren Organen
über Bindung an unterschiedlichen Opioidrezeptoren. Dem geschuldet erklärt sich ihre
therapeutische Wirkung, als auch ihr Nebenwirkungsprofil. Da sich das Rezeptorprofil individuell
stark unterscheidet ist eine einzeln auf den Patienten abgestimmte Dosisanpassung notwendig.
Ebenfalls von Bedeutung ist die Applikationsart: schnell wirksame Vertreter dieser Gruppe (z. B.:
Tramadol) lösen mitunter starke gastrointestinale Nebenwirkungen aus, hingegen sind Retard-
Präparate zur Behandlung chronischer Schmerzen geeignet. Für einen raschen Wirkantritt
empfiehlt es sich die Medikamente subkutan respektive intravenös zu verabreichen, hingegen tritt
die Schmerzlinderung bei oraler Gabe langsamer ein. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 180-
181)

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Opioide der WHO-Stufe III
         Wirkstoff        Handelsname             Dosis initial           Zeitintervall
                            (Beispiel)                                         (h)
 Morphin               Vendal                 10-30 mg              8-12
                       MST Mundipharma
 Buprenorphin          Temgesic               0,2-0,6 mg            6-8
                       Transtec-              35 µg/h               96
                       Transdermales          transdermal           (Pflasterwechsel)
                       Pflaster
                       Norspan-               5 µg/h                196 (=7 Tage)
                       Transdermales
                                              transdermal           (Pflasterwechsel)
                       Pflaster
 Fentanyl              Durogesic SMAT         12,5 µg/h             72
                       Transdermales          transdermal           (Pflasterwechsel)
                       Pflaster
 Hydromorphon          Hydal                  2 mg                  8-12
                       Palladon
 Oxycodon              Merlodon               10 mg                 8-12
                       OXYGESIC
 Levomethadon          L-Polamidon            2,5 mg                6-8
Tab. 3: Opioide der WHO-Stufe III (adaptiert nach Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 183)

Das patienten-individuelle Ansprechen in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkung entscheidet
darüber, welches Opioid in welcher Darreichungsform angezeigt ist.
Morphin kann sowohl oral als auch subkutan oder intravenös verabreicht werden und dies in einer
schnell- oder langwirksamen Form.
Bei Fentanyl und Buprenorphin ergibt sich zusätzlich die Möglichkeit dieses Medikament
transdermal respektive transmukosal anzuwenden.
„Hydromorphon ist sowohl bei akuten als auch bei chronischen Schmerzen wirksam. Zur oralen
Applikation stehen retardierte Formen mit einer Wirkungsdauer von 8–24 Stunden sowie eine
schnell freisetzende nicht retardierte Hydromorphon-Kapsel mit kürzerer Wirkungsdauer von 4
Stunden zur Behandlung von Durchbruchsschmerzen zur Verfügung. Als Injektionslösung ist
Hydromorphon        zur     subkutanen      und     intravenösen    Applikation     verfügbar.“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 184)
Oxycodon weist eine hohe orale Bioverfügbarkeit auf und eignet sich optimal in der Verwendung
zur Eindämmung chronischer Schmerzzustände.
Abschließend sei das Medikament Levomethadon erwähnt, das nicht in erster Linie zur Therapie
tumorbedingter Schmerzen Anwendung findet, sondern vielmehr es laut WHO als
Alternativpräparat    bei   notwendigem      Opioidwechsel    aufgrund   eines     ungünstigen
Nebenwirkungsprofil angegeben wird. (Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 186)
Die hohe interindividuelle Rezeptorbeschaffenheit und das dadurch verursachte unterschiedliche
Ansprechen auf Opioide macht es im klinischen Alltag häufig unumgänglich einen Wechsel der
Medikamente vorzunehmen.

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Die folgende Übersichtstabelle mit den Umrechnungsfaktoren für Opioide der WHO-Stufen II und
III soll dies veranschaulichen.

Umrechnung Morphin parenteral:oral
Morphin s. c.: oral                                      1 : 2 bis 1 : 3
Morphin i. v.: oral                                      1 : 2 bis 1 : 3

Umrechnung anderes Opioid oral : Morphin oral
Tramadol : Morphin                                   10 : 1
Tilidin + Naloxon : Morphin                          10 : 1
Dextropropoxyphen : Morphin                         7,5 : 1
Dihydrocodein : Morphin                               6:1
Hydromorphon : Morphin                                1 : 7,5
Oxycodon : Morphin                                    1:2
L-Methadon : Morphin                             1 : 4 bis 1 : 20
                                            (Dosistitration erforderlich)
Buprenorphin : Morphin                                1 : 75

Umrechnung anderes Opioid parenteral : Morphin oral
Fentanyl transdermal : Morphin oral                  1 : 100
Buprenorphin transdermal : Morphin oral              1 : 75
(Auflistung aus Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 183)

Eine Umstellung von einem starken Opioid auf ein anderes sollte stets in Anbetracht des
individuell unterschiedlichen Ansprechens behutsam vorgenommen werden.
(Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 182)

               3.2.2.   Durchbruchsschmerzen

Die Variabilität der Schmerzen im Rahmen der palliativen Versorgung eines Patienten ist diversen
Ursachen geschuldet. Stets sollte in der Symptomkontrolle die Linderung der Schmerzen und
somit die Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund stehen. Das Auftreten von
Durchbruchsschmerzen speziell im Rahmen von Krebserkrankungen erfordert eine adäquate und
angepasste Therapie, welche sich aber aufgrund der mitunter sehr rasch auftretenden
Schmerzattacken als durchaus schwierig darstellen kann.
„Jede vorübergehende Zunahme der Schmerzintensität sollte sorgfältig untersucht werden, da die
Schmerzzunahme auch Zeichen einer inadäquaten Schmerztherapie sein kann, z. B.: aufgrund
des falschen Analgetikums oder falscher Applikationszeiten. Die Behandlung mit Koanalgetika
wie Antikonvulsiva oder Antidepressiva sollte optimiert werden, um die Linderung der
Dauerschmerzen zu verbessern und die Entstehung der Durchbruchschmerzen zu verhindern.“
(Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 210)

Um einen zügigen Wirkeintritt garantieren zu können, sollte hierzu ein schnell wirksames Opioid
eingesetzt werden, idealerweise das gleiche Präparat, welches es zur Dauermedikation
eingesetzt wurde. Die Dosis des verabreichten Medikamentes für die Behandlung des

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Durchbruchschmerzes     sollte   ein       Sechstel     der     Tagesdosis      betragen.     (Vgl.
Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 201)

      3.3. Fatigue

„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“
(Husebø/Mathis 2017, S. 2)
Cicely Saunders bringt durch diese Worte den Grundgedanken und wohl auch den bekanntesten
Leitsatz der Palliativmedizin mit einfachen Worten auf den Punkt. Oberste Prämisse in der
palliativmedizinischen Betreuung Schwerkranker ist es stets die Lebensqualität zu erhalten
respektive zu verbessern, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und ausreichende
Symptomkontrolle zu erreichen. Diese anspruchsvollen Aufgaben fordern jedes Mitglied eines
Palliativteams für sich in den einzelnen Bereichen, aber auch in der interdisziplinären
Zusammenarbeit.
Das Symptom Fatigue nimmt in diesem Kontext eine sehr zentrale Rolle ein, da es sich hierbei
um eine Wahrnehmung des Patienten handelt, die oftmals nicht als eigenständiges und
behandlungsbedürftiges Krankheitsbild erkannt und nicht selten zu wenig thematisiert wird.
(Vgl. Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 398)
„Krebsbedingte Fatigue ist ein belastendes, anhaltendes, subjektives Gefühl von physischer,
emotionaler und/oder kognitiver Müdigkeit oder Erschöpfung im Zusammenhang mit Krebs oder
einer Krebsbehandlung, welche disproportional im Zusammenhang mit erfolgter, körperlicher
Aktivität auftritt und mit der üblichen Funktionsfähigkeit interferiert.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch
2012, S. 398; National Comprehensive Cancer Network. Cancerrelated Faigue-Guidelines.
Version 1.2009. www.nccn.org. Accessed October 12, 2009)

Müdigkeit und Erschöpfung erleben auch gesunde Menschen. Die hier behandelte Form
unterscheidet sich, dass diese nicht wesentlich durch Schlaf gelindert werden kann.
„Eine Vielzahl von Symptomen körperlicher und psychosozialer Art können mit dem Obergriff der
„Fatigue“ beschrieben werden. Glaus teilt sie in physische, affektive und kognitive Manifestationen
ein (Glaus 2017):
    • Physische Manifestationen: Reduzierte physische Leistungsfähigkeit, Schwäche,
        Kraftlosigkeit, unübliches vermehrtes Schlafbedürfnis, unübliches vermehrtes
        Müdigkeitsgefühl, unübliches vermehrtes Ruhebedürfnis
    • Affektive Manifestation: Motivationsverlust, keine Energie, Traurigkeit, Angst, kein
        Kampfgeist, Verlust von Interesse allgemein, auch Verlust des Interesses am Leben, Angst
        dass keine Besserung eintritt, Entfremdung von Angehörigen und Freunden
    • Kognitive Manifestation: Konzentrationsstörungen, Probleme im Denken, einen müden
        Kopf haben, Schlafprobleme.“ (Kränzle/Schmied/Seeger 2018, S. 279; Glaus 2017)

Nicht nur die mannigfaltigen Ausprägungen dieses Symptoms, sondern auch die vielfältigen
Ursachen stellen eine Herausforderung in der Betreuung dar. Die Auflistung der diversen
Manifestationen macht deutlich, wie belastend sich das Symptom Fatigue auf den Alltag und die
Lebensqualität des Patienten, wie auch auf die pflegenden Angehörigen auswirken kann. (Vgl.
Kränzle/Schmied/Seeger 2018, S. 280)

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Ein sensibles Erfragen bezüglich des aktuellen Empfindens respektive der Progression und
Aufklärung bezüglich der pathophysiologischen Zusammenhänge seitens des Palliativteams sind
hilfreich in der Bewältigung, aber auch notwendig, um die Komplexität dieses Krankheitsbildes zu
verstehen

„Auslösende Faktoren können biochemische, pathophysiologische, immunologische,
psychologische, krankheits- und behandlungsbedingt sein.“
(Kränzle/Schmid/Seeger 2018, S. 279)
Die im Kontext einer Tumorerkrankung notwendigen Behandlungen, wie Operationen,
Strahlentherapie und/oder Chemotherapie stellen für den Betroffenen eine mitunter hohe
psychische sowie physische Belastung dar und sind maßgeblich an der Entstehung eines
Erschöpfungssyndroms beteiligt. N eben den therapiebedingten Ursachen tragen auch die
krankheitsbedingten Auslöser dazu bei, dass sich Patienten durch begleitende Infekte, Fieber,
Kachexie, Anämie, Elektrolytstörungen oder Schmerzen zunehmend erschöpft und geschwächt
fühlen. Die sich aus den multifaktoriellen Gründen entwickelnde Abwärtsspirale ist einerseits
Folge und andererseits Ursache für zunehmende Immobilität, Müdigkeit und Antriebsschwäche
des palliativen Patienten. (Vgl. Kränzle/Schmid/Seeger 2018, S. 279)
Um den eingangs erwähnten Leitsatz nochmals aufzugreifen, soll hier die hohe Signifikanz einer
guten interdisziplinären Zusammenarbeit für die Steigerung der Lebensqualität das Patienten
hervorgehoben werden.

               3.3.1.   Therapie

Aufgrund der sehr unterschiedlichen Ursachen und der Komplexität des Symptoms Fatigue wird
deutlich, dass es demnach auch keinen alleinigen Zugang zur Behandlung gibt.
„Die klinische Erfahrung zeigt, dass sich ein strategisches Vorgehen in drei grundsätzliche
Bereiche einteilen lässt:
    1. Die aktive Bekämpfung der Müdigkeit/Fatigue durch gezielte Interventionen: insbesondere
        bei therapieinduzierter Fatigue und in der Rehabilitation
    2. Das Leben mit der Müdigkeit/Fatigue mit Integration einer gezielten Verwaltung des
        Energiekontos: insbesondere bei chronischer Krankheit
    3. Das Annehmen der Fatigue, wenn therapeutische Maßnahmen nicht wirksam sind und die
        Fatigue Ausdruck der fortschreitenden Krankheit darstellt: insbesondere in der palliativen
        Phase.“ (Aulbert/Nauck/Radbruch 2012, S. 402)

Im Rahmen der aktiven Bekämpfung der Fatigue empfiehlt sich beispielsweise eine Evaluierung
der aktuellen Medikation. Durch eine Reduktion von verzichtbaren Pharmaka kann der palliative
Patient aktiv entlastet werden. In Zusammenschau der Gesamtsituation kann gegebenenfalls ein
niedriger Hämoglobinwert korrigiert und Antiemetika, Antidepressiva und Schmerzmittel zur
Verbesserung des Allgemeinzustandes verabreicht werden, um so Lebensqualität zu schaffen.
Von elementarer Bedeutung ist das Schaffen von Bewusstsein für die aktuelle Situation und die
sich daraus ergebende Umstrukturierung gewohnter Abfolgen. Durch das Einplanen mehrerer
Pausen, kürzere Wegstrecken oder tageszeitliche Verlegung bestimmter Aktivitäten kann ein
individueller Handlungsspielraum erhalten werden und gegen die Fatigue vorgegangen werden.

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