Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute - Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban

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Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute - Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban
Ausgrenzung, Zivilcourage
und Demokratiebewusstsein.
Damals und Heute
         Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute - Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban
Gefördert durch

Diese Broschüre entstand im Rahmen einer Projektkooperation
mit dem ZOOM Kindermuseum.

Weitere Kooperationspartner:

   www.wienxtra.at

Impressum
Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban (Hg.): Ausgrenzung,
Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute, Wien 2013
Satz & Layout: Katrin Pfleger Grafikdesign
Lektorat: Irmgard Dober
Druck: druck.at
Umschlagfotos: ÖNB/Wien ÖGZ H7076/5, Robert Kneschke (fotolia)

© Demokratiezentrum Wien
Hegelgasse 6/5
1010 Wien
Tel: 01/512 37 37
Mail: office@demokratiezentrum.org
www.demokratiezentrum.org
Inhalt
Einleitung		                                2

Das nationalsozialistische Terror-Re-           Demokratie geht uns alle an!               28
gime und die Verfolgung von Jüdinnen            Wichtige Merkmale einer Demokratie          29
und Juden in Österreich, 1938–1945 3            Das fällt Jugendlichen zum Thema
                                                Demokratie ein …                            35
Spontane Gewaltaktionen gegen die ­             Demokratie braucht Zustimmung und
jüdische Bevölkerung („Anschluss-               Beteiligung                                 36
pogrom“), März–Mai 1938                     5   Diskriminierung und Ausgrenzung heute       40
Wege der Ausgrenzung                        8   REWIND – eine Geschichte zum Nachdenken     42
  Boykott und Enteignung von                    Das fällt Jugendlichen zum Thema
  jüdischen Geschäften                     10   Zivilcourage ein …                          44
  Vertreibung aus Wohnungen                11   Zivilcourage bedeutet                       46
  Berufsausschluss                         13   Zivilcourage damals und heute               47
  Ausschluss aus der Schule                14   Gründe, warum Menschen nicht helfen…        49
Novemberpogrom – Gewaltaktionen                 Wir alle gestalten Demokratie!              51
gegen d ­ ie jüdische Bevölkerung          15
Versuch der Flucht und Vertreibung         17
Zunehmender Ausschluss aus dem
öffentlichen Leben (1939–1942)             19   Glossar			                                   52
Deportationen und Opferstatistik.               Weiterführende Links                         54
Konsequenzen der nationalsozialistischen        Literaturtipps für Erwachsene                55
Vernichtungspolitik                        25   Methodisches für die Arbeit mit Jugendlichen 56
Einleitung
Nur wenn wir bereit sind, aus der Vergangen-
heit zu lernen, können wir unsere Gegenwart
besser mitgestalten. Und Mitgestaltung ist einer­
seits wichtig für Demokratie, andererseits erst in
demokratischen Systemen möglich. Ziel der vor­
liegenden Broschüre ist es daher, mitzuhelfen, ein      feld der Jugendlichen arbeiten mit Versatzstücken
Grundverständnis dafür zu erwerben, wie Demo­           dieser Geschichte, sind ohne entsprechendes Hin­
kratie funktioniert und wie schnell sich menschen­      tergrundwissen in ihren Dimensionen aber kaum
verachtende Diktaturen etablieren können.               nachvollziehbar.

Anstoß für diese Broschüre gab eine Projektko­          Der erste Teil der Broschüre bietet Hintergrundwis­
operation zwischen dem ZOOM Kindermuseum                sen zum nationalsozialistischen Terrorregime und
und dem Demokratiezentrum Wien aus Anlass des           beschreibt die Ausgrenzungsmechanismen im Na­
Gedenkens an die Ereignisse rund um die Novem­          tionalsozialismus am Beispiel der Verfolgung der
berpogrome 1938. Im Rahmen von Workshops und            jüdischen Bevölkerung in Österreich. Ergänzt wird
in Auseinandersetzung mit historischem Material         dieser Beitrag durch persönliche Erfahrungen von
soll es jungen Menschen möglich sein, über Poten­       ZeitzeugInnen – die als Kinder die Zeit damals er­
ziale und Konsequenzen von politischen Systemen         lebt haben.
nachzudenken und ein Gefühl zu erhalten, wie
­eine „bessere“ Welt aussehen könnte, wie schnell       Im zweiten Teil der Broschüre steht der Bezug zum
 sich ausgrenzende Strukturen implementieren las­       Heute im Vordergrund. Dieser Teil zielt vor a­ llem
 sen beziehungsweise ließen, was dies für jeden         auf die Stärkung von Zivilcourage, ein friedliches
 Einzelnen und jede Einzelne bedeuten kann. Die         Zusammenleben und Demokratiebewusstsein ab.
 Broschüre ergänzt dieses Vermittlungsprogramm,         In Abgrenzung zum totalitären System des National­
 ist aber auch unabhängig davon zu verwenden.           sozialismus soll aufgezeigt werden, wie Toleranz
                                                        und gesellschaftliche Vielfalt im Rahmen demokra­
Die Broschüre zielt zum einen auf die Sensibilisie­     tischer Systeme das Leben der Jugend­lichen berei­
rung junger Menschen in Hinblick auf die Gescheh­       chern können und wie sie gewaltfrei mit konflikt­
nisse rund um das Jahr 1938 ab, zum anderen wird        reichen Situationen umgehen können.
ein Bogen in die Gegenwart gespannt, um Ge­
schichte für die Jugendlichen greifbar zu machen        Abgerundet wird die Broschüre durch ein Glossar
und aufzuzeigen, was wir auch heute noch aus            (die erläuterten Begriffe sind im Text durch das
den Erzählungen von damals lernen können. Der           Symbol      gekennzeichnet), zahlreiche Tipps und
Nationalsozialismus spielt in Hinblick auf das kol­     weiterführende Hinweise für Erwachsene – d.h.
lektive Gedächtnis unserer Gesellschaft eine große      für in der Jugendarbeit Tätige wie Eltern gleicher­
Rolle und ist nicht zuletzt Teil zahlreicher Famili­    maßen –, die die Auseinandersetzung mit dem
engeschichten. Aktuelle Debatten im Lebensum­           Thema unterstützend begleiten.

2
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Das nationalsozialistische Terror-Regime und
die Verfolgung von Jüdinnen und Juden in
Österreich, 1938–1945
von Michaela Raggam-Blesch

In Österreich wurden demokratische Strukturen be­                      Partei verboten und der austrofaschistische Staat
reits Jahre vor der nationalsozialistischen Machter­                   durch eine neue Verfassung legitimiert. Im christ­
greifung 1938 abgeschafft. Im März 1933 schaltete                      lich-sozialen Staat, in dem die katholische Kirche
die Christlich-Soziale Partei unter Engelbert Dollfuß                  eine entscheidende Funktion inne hatte, wurden
das Parlament aus. Daraufhin wurden oppositi­                          auch Jüdinnen und Juden in bestimmten Berufen
onelle politische Parteien (Kommunisten und ös­                        (BeamtInnen, LehrerInnen sowie medizinisches
terreichische Nationalsozialisten) verboten und die                    Personal in öffentlichen Spitälern) mit Diskrimi­
Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. Des                        nierungen konfrontiert. Nichtsdestotrotz geriet der
Weiteren wurden der Verfassungsgerichtshof aus­                           austrofaschistische Staat immer mehr unter den
geschaltet und GegnerInnen dieses autoritären                          Druck des benachbarten nationalsozialistischen
„Ständestaates“ verfolgt. Nach dem Bürgerkrieg im                      Deutschlands.
Februar 1934 wurde auch die Sozialdemokratische

Infobox „Anschluss“

 Der Einmarsch deutscher Truppen am 12.   ­­ März 1938 und die darauffolgende Annex­ion (Übernahme) Öster-
 reichs durch das nationalso­zialistische Deutsche Reich werden als „Anschluss“ bezeichnet. ­Am 9. März
 1938 kündigte der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg eine Volksbefragung für den 13. März
 an. Dies war ein letzter Versuch, die Unabhängigkeit Österreichs zu bewahren. Am Nach­mittag des 11. März
 sagte Schuschnigg unter deutschem Druck die Volksbefragung ab. Zu diesem Zeitpunkt fanden österreich-
 weit noch Demonstrationen gegen den „Anschluss“ statt, unter Teilnahme vieler Jüdinnen und Juden. Einer
 der Demons­tranten in Wien war der 16-jährige Harry Weber:
 „Dann kam der schreckliche 11. März. Ich erinnere mich wie heute. Wir gingen demonstrierend, schreiend
 auf einer Seite der Kärntner Straße, auf der anderen Seite gingen die Nazis, in der Mitte zwischen uns die
 berittene Polizei und viele Polizisten. Ab und zu gelang es einem von uns oder von den Nazis, auf die andere
 Straßenseite zu gelangen, und da gab es dann natürlich Raufereien und Schlägereien, bis die Polizei uns
 trennte. […] Auf der Straße hörten wir Schuschniggs Abschiedsrede, mit seinen letzten Worten: ,Gott schütze
 Österreich!‘ […] Und dann kam es zu einem Bild, das ich sicher wie viele andere traurige Bilder dieser Zeit nie
 vergessen werde. […] Es war ein richtig unheimlicher Moment. Ich sah, wie viele Polizisten ihre Uniformta-
 schen öffneten, die Nazi-Armbinden herauszogen und anlegten.“1

 1   Harry Weber, Ein Fotografenleben, in: Berthold Ecker/ Timm Starl (Hg.), Harry Weber. Das Wien ­Projekt, Wien 2007, S. 376.

                                                                                                                                  3
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

                                                                                          Spontane
                                                                                   Siegesfeier kurz nach
                                                                                der ­nationalsozialistischen
                                                                                     Machtübernahme,
                                                                              11. März 1938. Ein Polizist mit
                                                                             Hakenkreuz­armbinde wird von
                                                                                den feiernden österreichi­
                                                                                schen National­sozialisten
                                                                                       hochgehoben.

                                                                                                         1/ 3
                                                                                                        ien
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                                                                                       19
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                                         n k re                             ien
                                                  u z ar mbinde © ÖNB / W                              Hitler wird von den
                                                                                                    wartenden Menschenmas­
                                                                                                     sen stürmisch begrüßt.
                                                                                                    Mariahilfer Straße, in der
                                                                                                     Nähe des Flottenkinos,
                                                                                                          14. März 1938.

Viele Österreicherinnen und Österreicher, dar­
unter auch einige Polizisten, erwiesen sich unmit­
telbar nach der nationalsozialistischen Machtüber­
nahme als Mitglieder der bis dahin verbotenen
national­sozialistischen Partei und feierten den be­
vorstehenden „Anschluss“. Bereits Stunden nach
der Machtergreifung setzten die ersten Gewalttätig­                                                                                                                                            1/ 3
keiten gegen die jüdische Bevölkerung ein.
                                                                                                                                                                                             Wien
                                                                                                                                                                                          14

Als Adolf Hitler am 14. März in Wien einzog,
                                                                                                                                                                                        III
                                                                                                                                                                                     38

wurde er auf den Straßen von jubelnden Menschen­
                                                                                                                                                                                   19

                                                                                                                                                                                   PZ
massen begrüßt. Seine Rede auf dem Heldenplatz                                                                                                                               ien
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am da­rauffolgenden Tag wurde von der zahlreich                                                                                                                     B/
                                                                                                                                                               ÖN
                                                                                                                            Hitlers                       .©
erschienen Wiener Bevölkerung mit Begeisterung                                                                                        EInzug i   n Wi e n
aufgenommen.

4
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

1. Spontane Gewaltaktionen gegen die jüdische
Bevölkerung („Anschlusspogrom“), März–Mai 1938

Der Großteil der jüdischen Bevölkerung Öster­                    stets von Schaulustigen begleitet wurden, die das
reichs (92 Prozent) lebte bereits vor 1938 in Wien.1             Geschehen manchmal mit Zustimmung und Spott
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme                  kommentierten.3 Der spätere Fotograf Harry We-
im März 1938 wurden Jüdinnen und Juden aus den                   ber berichtet in seinen Erinnerungen von einem
Bundesländern ausgewiesen und nach Wien ver­                     Erlebnis beim Gartenbaukino auf der Ringstraße:
trieben.2 Damit wurde das Leben österreichischer
Jüdinnen und Juden nach dem          „Anschluss“ im              „An ein Mal erinnere ich mich besonders, weil
März 1938 praktisch über Nacht in dramatischer                   ich nach dem Krieg lange Zeit ganz in der Nähe
Weise verändert. Neben willkürlichen Verhaftun­                  beruflich tätig war. Es war direkt neben dem Café
gen und Plünderungen waren es vor allem die                      Gartenbau […] Als ich damals vorbeiging, sah ich
berüchtigten „Reibpartien“, die von der jüdischen                von Weitem viele Leute stehen, lachend und grö-
Bevölkerung als traumatisierend erlebt wurden.                   lend, das Ganze war damals für viele Wiener ein
Jüdinnen und Juden wurden gezwungen, die mit                     Riesenspaß. Ich sah einige alte, bärtige Männer,
Ölfarbe angebrachten Österreich-Parolen der abge­                Juden natürlich, kniend mit Kübeln und Fetzen,
sagten Volksabstimmung mit Bürsten und scharfer                  die von nazistischen Rüpeln, jung und alt, ange­
Lauge abzuwaschen. Besonders demütigend war                      trieben wurden […]. Ich verstand sofort, was
für die Betroffenen dabei, dass diese Übergriffe                 da vor sich ging, und wechselte auf die andere
                                                                 Straßenseite, um der Sache aus dem Weg zu ge-
                                                                 hen. Das nützte mir selbstverständlich gar nichts.
                                                                 Auch auf dieser Seite standen einige der lieben
                                                                 Wiener mit Hakenkreuzbinden [Anmerkung: das
                                                                 Zeichen der Nationalsozialisten] am Arm. Weil sie
                                                                 bemerkten, dass ich so plötzlich auswich, kam
                                                                 sofort die Frage: ‚Bist a Jud?‘ Ich antwortete mit
                                                                 Ja. Also brachte man mich auf die andere Seite,
                                                                 schon hatte ich auch einen Kübel, Fetzen und
                                                                 Bürste in der Hand und durfte die Straße reinigen.
                                                                 […] Was blieb mir anderes übrig, als zu folgen.
                                                                 Wir Juden haben damals unter vielen Tritten die
                                                                 Straßen Wiens gut gereinigt.“4

1   Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, S. 16.
2   Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin/Michaela Raggam-Blesch/Lisa Rettl/Heidemarie Uhl (Hg.), 1938. Auftakt zur Shoah in Öster­
    reich. Orte – Bilder – Erinnerungen, Wien 2008.
3   Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978, S. 22; G.E.R. Gedye,
    Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien 1947.
4   Harry Weber, Ein Fotografenleben, in: Berthold Ecker/Timm Starl (Hg.), Harry Weber. Das Wien Projekt, Wien 2007, S. 377.

                                                                                                                           5
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

                „Reibpartie“
              mit einer Menge
            an Schaulustigen vor
            dem Realgymnasium
             Hagenmüllergasse
                (Wien 3) am
                                                                                                             ÖW
               15. März 1938                                                                       e“   ©D
                                                                                         p   ar ti
                                                                              „ Re i b

                                                                 Lillian Bader beschreibt dies in ihren Erinnerungen:

                                                                 „Man hörte bereits von Verhaftungen und Übergrif­
Jene Wohnbezirke, in denen die orthodoxe jüdi­                   fen. ‚Warum?‘, fragten wir uns noch töricht in den
sche Bevölkerung lebte, die aufgrund ihrer Kleidung              ersten Tagen, wenn wir unter der Hand hörten,
sofort als Jüdinnen und Juden erkennbar waren,                   dass die Gestapo-Männer [Geheime Staatspoli­
wurden von den NationalsozialistInnen mit beson­                 zei] nachts, meistens in den frühen Morgenstunden,
derer Vorliebe für ihre Schikanen ausgewählt.                    Wohnungen durchsuchten und Väter, Ehemänner
                                                                 und Brüder mitnahmen. […] Bald lernten wir, nicht
Die Übergriffe verdeutlichen die Recht- und Schutz­              mehr nach dem ‚Warum‘ zu fragen, wenn wir hör­
losigkeit, der Jüdinnen und Juden sprichwörtlich                 ten, dass Menschen der Gestapo in die Hände gefal­
über Nacht ausgesetzt waren. Willkürliche Verhaf­                len waren. […] Jeden Tag stieg die Zahl der Vermiss­
tungen verstärkten das Gefühl der Rechtlosigkeit                 ten. Wenn man das Haus verließ, konnte man nicht
innerhalb der jüdischen Bevölkerung.                             sicher sein, dass man wieder zurückkehren würde.“5

5   Lillian Bader, Ein Leben ist nicht genug. Memoiren einer Wiener Jüdin, Wien 2011, S. 213–215.

6
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Diese erste Verhaftungswelle jüdischer Männer,              Erika Lorch, die kurz vor der nationalsozialistischen
die unmittelbar nach der nationalsozialistischen            Machtübernahme ihren achten Geburtstag gefeiert
Machtübernahme einsetzte und vor allem wohl­                hatte, erinnert sich an die Zeit:
habende Geschäfts- und Betriebsinhaber, Künstler,
Intellektuelle, Ärzte, Ingenieure und Rechtsanwäl­          „Hier war mein Zuhause und auf einmal spuckt
te betraf, diente vorwiegend der Enteignung und             man mir ins Gesicht. Die netten Leute, die mir
Vertreibung. Geschäftsinhaber wurden dabei zum              vorher sagten ‚Du bist so herzig‘ und mir Zu-
Überschreiben ihres Besitzes gezwungen. Häftlin­            ckerln gegeben haben, bedrohten mich plötzlich.
ge, die in die Konzentrationslager in Dachau und            Ich glaube, das ist in jedem Alter eine schlimme
Buchenwald überstellt wurden, kamen nach dem                Erfahrung, aber besonders schlimm ist sie für ein
Vorweisen einer Auswanderungsmöglichkeit durch              Kind. […] Ich habe jeden angeschaut und mir ge-
Angehörige in der Regel wieder frei.6                       dacht: ‚Wird er mich hauen? Wird er mir wehtun?
                                                            Wird er uns berauben? Wird er mir meinen Vater
Besonders belastend waren die Ereignisse des                nochmals wegnehmen?“7
  „Anschluss“- Pogroms für jüdische Kinder.

                                                        n
Verfolgte Bevölkerungsgruppe
    Neben der jüdischen Bevölkerung wurden auch Angehörige der Volksgruppe der Roma und Sinti im
    NS-Regime als „minderwertig“ stigmatisiert und verfolgt. Menschen dieser Volksgruppe waren auch ­bereits
    vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt. Nach
    dem so genannten „Anschluss“ wurden Roma und Sinti vom Schulbesuch ausgeschlossen, Enteignun-
    gen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, der Zwangsarbeit unterworfen und schließlich deportiert.

    Auch Menschen anderer Religionsgemeinschaften (Zeugen Jehovas), anderer sexueller Orientierungen (Ho-
    mosexuelle), Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie Menschen (vor allem Jugend-
    liche), die sich dem extremen Gruppenzwang der nationalsozialistischen Gesellschaft nicht unterwarfen und
    im NS-Regime als „asozial“ bezeichnet wurden, waren Verfolgungen ausgesetzt.

6    Hecht u.a., 1938, S. 17.
7    Erika Lorch in: Erzählte Geschichte, S. 124–126.

                                                                                                                7
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

2. Wege der Ausgrenzung

Im Laufe des Jahres 1938 wurde die jüdische Be­                                                 annehmen. Da mir der Name Sara nicht gefiel,
völkerung einer Reihe von diskriminierenden Ver­                                                schrieb ich ‚Sahara‘ in den Ausweis.“8
ordnungen unterworfen und von Parkanlagen und
Lokalen ausgeschlossen. Vilma Neuwirth, 1928                                                    Die Verordnung, einen Zusatznamen anzunehmen
geboren, erinnert sich an diese Zeit:                                                           und eine „jüdische Kennkarte“ ausstellen zu lassen,

Sahara
                                                                                                diente dazu, Jüdinnen und Juden als solche sicht­
„Einige Wochen waren seit dem Einmarsch Hitlers                                                 bar zu machen und zu diskriminieren. Angesichts
vergangen und wir wurden mit neuen Auflagen                                                     der für die jüdische Bevölkerung immer stärker
versorgt. Wir durften keine Parks mehr betreten.                                                begrenzten Möglichkeiten zu handeln, war die
Bei den Eingängen und auf den Parkbänken stand                                                  spontane Reaktion der damals 10-jährigen Vilma
‚nur für Arier‘. An allen Geschäften stand: ‚Juden                                              Neuwirth auf diese ihr aufgezwungene Ausgren­
Eintritt unerwünscht‘. […] Kurz darauf bekamen                                                  zungsmaßnahme ein bemerkenswerter Akt der
wir Identitätsausweise. Die Männer mussten den                                                  Selbstbehauptung.
­Namen Israel und die Frauen den Namen Sara

                                                                                                    Junge jüdische
                                                                                                 Frau (Lizi Rosenfeld)
                                                                                              auf einer Parkbank mit der
                                                                                            Aufschrift „Nur für Arier“. Die
                                                                                            diskriminierenden Aufschrif­
                                                                                           ten waren innerhalb kurzer Zeit
                                                                                              nach der nationalsozialisti­
         „N
              ur
                   für
                                                                                             schen Machtübernahme auf
                                                                                      um
                         Ari
                               er“                                              use           fast allen Bänken in Park­
                                                                           lM
                                     © US
                                            H o l o ca u s t M e m   or ia
                                                                                                  anlagen zu finden.

8   Vilma Neuwirth, Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien, Wien 2008, S. 75.

8
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

                                                          en die jüdische Bevölkerung
  Verbote und Verordnungen geg
    Verbote und Verordnungen gegen die jüdische Bevölkerung (Auswahl) – März–Dezember 1938

    20. Mai 1938: Die „Nürnberger Rassegesetze“ werden
    in Österreich eingeführt.
    Im NS-Regime wurden Menschen als „Arier“ („Deutschblütige“) und
    „Nichtarier“ klassifiziert. Menschen, die aus jüdischen Familien kamen,
    galten als „nichtarisch“ und damit als minderwertig. „Nichtarier“ verloren                                 „Nürn ­
    nach und nach ihre Rechte und waren massiven Verfolgungen ausge-                                           berger
    setzt. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ vom 15. September 1935 wurden                                        Rassen
                                                                                                                      ­
    auch Personen als „jüdisch“ eingestuft, die aus der jüdischen Religions-                                 gesetz
                                                                                                                    e“
    gemeinschaft ausgetreten waren. Auch Menschen, die nur zu einem Teil
                                                                                 © US Holocaust Memorial Museum,
    jüdische Familienmitglieder hatten („Mischlinge“), wurden diskriminiert.     Public Domain

                                                                                                                     Betre ­
    24. Juni 1938: Polizeiliche Verordnung des Be­tre­tungs­­verbotes
                                                                                                                   tungsv
    für Jüdinnen und Juden von Parkanlagen in Wien                                                                        er­
                                                                                                                     bot
    Verordnung des Wiener Polizeipräsidenten, die Jüdinnen und Juden
    den Aufenthalt in Park- und Gartenanlagen (Schlosspark Schönbrunn,
    KaiPark, Lainzer Tiergarten, Türkenschanzpark, Stadtpark) verbot.
    Ähnliche Verordnungen ergingen in ganz Österreich und bezogen sich
    bald auf alle Grün­anlagen.
                                                                                 © Yad Vashem

    23. Juli 1938: Jüdische Kennkartenpflicht
    Die nach den „Nürnberger Gesetzen“ als „Jüdinnen“ und „Juden“ definier-
    ten Personen mussten bis zum 31. Dezember 1938 eine Kennkarte (Per-
    sonalausweis) ausstellen lassen, die sie als „Jüdinnen“ und „Juden“ aus-                                    Jüdisch
    wies, und waren verpflichtet, diese immer bei sich zu tragen. Dokumente                                             e
                                                                                                               Kennk
    dieser Art dienten im Nationalsozialismus dazu, Menschen als jüdisch                                             arte
    erkennbar zu machen und damit Verfolgungen auszusetzen.
                                                                                 © Dokument, Sammlung Cech

    17. August 1938: Jüdische Zusatznamen.
    Jüdinnen und Juden mussten ab 1. Jänner 1939 ­einen Zusatznamen an-
    nehmen – männliche Personen den Namen „Israel“ und weibliche Per-                                                Zusatz
                                                                                                                            ­
    sonen den Namen „Sara“. Damit wurden jüdische Männer und Frauen                                                  name
    als solche erkennbar gemacht und Verfolgungen ausgesetzt.

                                                                                 ©Dokument, Sammlung Freiberger

                                     5. Oktober 1938: Kennzeichnung jüdischer Pässe
        er                           Reisepässe von Jüdinnen und Juden wurden mit dem Buchstaben J in roter
Jüdisch                              Farbe gekennzeichnet. Damit wurde Jüdinnen und Juden auch die Einreise
       ass
Reisep                               in einige Länder erschwert, da sie sofort als jüdisch erkennbar waren.
  mit „J“
                                    © Leo Baeck Institute, New York

                                                                                                                      9
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

   2.1 Boykott und Enteignung von jüdischen Geschäften
                                                                                                                                 Jüdisches
   Unmittelbar nach dem          „Anschluss“ begann                                                                            Lokal mit be­
   in allen Teilen der Stadt die öffentliche Kennzeich­                                                                     schmierten Fenster­
   nung jüdischer Geschäfte und Restaurants mit dis­                                                                      scheiben mit der diskri­
   kriminierenden Inschriften, damit diese leichter                                                                       minierenden Aufschrift
   erkannt und boykottiert werden konnten. Gleich­                                                                         „Jud“ und dem Aufruf,
   zeitig wurde die nichtjüdische Bevölkerung auch                                                                           nicht bei Juden zu
   aufgefordert, nicht mehr in jüdischen Geschäften                                                                               kaufen.
   einzukaufen, wobei ein Zuwiderhandeln oft mit öf­
   fentlicher Ächtung einherging. Jüdische Geschäfts­
   inhaberInnen wurden öffentlich erniedrigt und teil­
   weise auch dazu gezwungen, die Beschmierungen
   selbst durchzuführen. In einigen Fällen wurden                                   ©
   auch jüdische Kinder dazu genötigt.9                                                 ÖN
                                                                                             B/ W                     3
                                                                                                    ien ÖGZ H4920 /

                                                                         Neben dem Boykott jüdischer Geschäfte setzten
    Ein jüdisches                                                        unmittelbar nach der nationalsozialistischen Macht­
Kind wird zu antise­                                                     übernahme die behördlichen und privaten Enteig­
mitischen Beschmie­                                                      nungen ( „Arisierungen“) von Geschäften, Woh­
rungen gezwungen.                                                        nungen und Häusern ein (siehe dazu auch S. 11).
 Heinestraße (Wien                                                       Die schutzlosen und eingeschüchterten jüdischen
    2), März 1938                                                        MieterInnen und EigentümerInnen sahen meist
                                                                         keine Möglichkeit, sich gegen Ansprüche von na­
                                                                         tionalsozialistischen Parteimitgliedern oder Nach­
                                                                         barInnen zu widersetzen, die sich ohne Erlaubnis
                                                                         Zutritt verschaffen und Gegenstände entwenden
                                                                         konnten. Willkürliche Hausdurchsuchungen, Raub
                                                                         von Geld, Schmuck und Kunstgegenständen sowie
                                                                         die Verwüstung der Wohnung gehörten unter dem
                                                                         nationalsozialistischen Terror-Regime zum Alltag
                                                                    /2

                                                                         der jüdischen Bevölkerung.10
                                                              20
                                                            49

                                                                H
                                                        G   Z
                                                ie   nÖ
                                           /W
                                   © ÖNB

   9 Hans Safrian/ Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, S. 70f.
   10 Dieter J. Hecht, „Arisierungen“ – der große Raubzug, in: Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin-Eppel/Michaela Raggam-Blesch/
      Heidemarie Uhl (Hg.), Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2014 (in Vorbereitung).
      Alexandra Reinighaus (Hg.), Recollecting. Raub und Restitution, Wien 2009, S. 77f.

   10
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

2.2 Vertreibung aus Wohnungen

Die Vertreibung jüdischer Mieterinnen und Mieter               Insgesamt kann man davon ausgehen, dass bis
setzte ebenfalls bald nach dem „Anschluss“ ein.                zum Ende des Jahres 1938 etwa 44.000 ehemals
Die Gier nach jüdischen Wohnungen stand auch                   jüdische Wohnungen an nichtjüdische WienerIn­
im Zusammenhang mit dem Wohnungsmangel                         nen weitergegeben wurden. Delogierte (also aus
in Wien, da aufgrund der in den Jahren nach dem                ihren Wohnungen gekündigte) Jüdinnen und Juden
Ersten Weltkrieg herrschenden Armut und Woh­                   mussten sich daraufhin mit wesentlich schlechte­
nungsknappheit viele Menschen in desolaten Ver­                ren und kleineren Unterkünften begnügen oder mit
hältnissen lebten. Nach der nationalsozialistischen            anderen jüdischen Familien zusammenziehen. Ins­
Machtübernahme 1938 sahen viele Wienerinnen                    gesamt wurden in Wien etwa 65.000 Wohnungen
und Wiener die Chance, ihre Lebensverhältnisse auf             „arisiert“ (enteignet).11
Kosten der jüdischen Bevölkerung zu verbessern.

                       Amtliche Auf­
                 forderung zur Kündigung
              jüdischer Hausparteien an den
              Hauseigentümer der Hernalser
             Hauptstraße 119, (Wien 17). Wien
            am 18.6.1938. Damit wird deutlich,
             dass auch die nichtjüdische Be­
                                                                                                              W

              völkerung unter Druck gesetzt                                                                   DÖ
                                                                                                          ©
               ­wurde, die nationalsozialisti­
                 sche Ausgrenzungspolitik
                       mitzutragen.

11 Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, Historiker­
   kommission, Bd. 14, Wien 2004, S. 142f; Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945.
   Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975, S. 14–19, 60.

                                                                                                                       11
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Aufgrund der oft kurzfristigen Delogierungen                      erster Linie war es kalt. In zweiter Linie sind viele
(Wohnungsausweisungen) waren jüdische Miete­                      Dinge dadurch kaputt gegangen. Aber was das
rinnen und Mieter immer wieder von vorüberge­                     Schlimmste war, die Erniedrigung. Leute sind vor-
hender Obdachlosigkeit bedroht. Die 1921 geborene                 beigegangen und haben uns da angeschaut, wie
Judith Hübner verbrachte gemeinsam mit ihren                      wir da mit dem ganzen Kram draußen stehen.
­Eltern und ihrer achtjährigen Schwester Edith eine               […] Das war fürchterlich, fürchterlich! Und so sind
 Nacht mit all ihren Habseligkeiten auf der Straße,               wir die ganze Nacht gestanden und am nächsten
 da sie nach der Delogierung aus ihrer Wohnung                    Tag in der Früh konnten wir dann schon in die
 im 4. Bezirk die ihnen zugewiesene Unterkunft erst               neue Wohnung hinein.“12
 am darauffolgenden Tag beziehen konnten.
                                                                  Mit dem am 30. April 1939 erlassenen „Reichsge­
„[…], so sind wir mit den Möbeln über Nacht                       setz über Mietverhältnisse mit Juden“ wurde der
vom 31. Oktober bis zum 1. November auf der                       Mieterschutz von jüdischen Mieterinnen und Mie­
Straße gestanden, in der Rittergasse, mit all un-                 tern gegenüber nichtjüdischen Vermieterinnen und
serem Kram. Und es fing an ein bisschen Schnee                    Vermietern reichsweit praktisch aufgehoben. Des
und Regen […] Ende Oktober ist Wien nicht sehr                    Weiteren waren jüdische MieterInnen damit ver-
sommerlich. Wir haben das mit verschiedenen                       pflichtet, auf Verlangen der Behörden jüdische Un­
Decken überdeckt und sind dort gestanden.                         termieterInnen aufzunehmen. Damit verloren sie
Wenn Leute vorbeigekommen sind – wir haben                        das Recht, über ihre Wohnungen zu bestimmen,
eigentlich Glück gehabt – denn jeder, der vorbei-                 da mehr und mehr Menschen eingewiesen wur­
gegangen ist, hätte ruhig was mitnehmen kön-                      den. Dies führte zur Entstehung der sogenannten
nen. Keiner hätte irgendetwas nur gesagt, weder                   „Sammelwohnungen“, wo Jüdinnen und Juden in
die Polizei noch irgendjemand. Und man hat uns                    bedrängten Verhältnissen lebten und sich mehrere
dort stehen lassen, aber das war fürchterlich. In                 Familien eine Wohnung teilen mussten.13

                                 mögenswert                                       e anzumelden
26. Apr il 1938: Verordnung, Ver
 Am 26. April 1938 wurden Jüdinnen und Juden mit einer Verordnung dazu verpflichtet, Vermögenswerte
 über 5.000 Reichsmark anzumelden. Damit wurde der Raub jüdischen Vermögens zu einem scheinlegalen,
 staatlich geregelten Vorgang. Eine eigens dafür eingerichtete Behörde, die „Vermögensverkehrsstelle“, organi-
 sierte und überwachte fortan die Enteignung ( „Arisierung“) jüdischer Betriebe. Den Enteigneten wurden
 lediglich geringfügige Beträge zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten gewährt. Jüdinnen und Juden, die
 aus Österreich flüchteten, mussten ihr Vermögen zurücklassen und durften das Land nur im Besitz weniger
 Reichsmark verlassen.1

 1   Hecht u.a., 1938, S. 25.

12 Interview mit Judith Hübner am 3.10.2002 von Dieter J. Hecht, in: Mutterland-Vatersprache. Eine Dokumentation des Schicksals
   von ehemaligen ÖsterreicherInnen in Israel, DVD, Tel Aviv 2005.
13 Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 68–71.

12
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

 2.3 Berufsausschluss
 Jüdinnen und Juden wurden innerhalb kürzester                     März 1938 erfolgte der Ausschluss von Jüdinnen
 Zeit aus ihren beruflichen Stellungen gekündigt,                  und Juden vom Justizdienst (RichterInnen, Rechts­
 wodurch ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung                 anwältInnen und StaatsanwältInnen). Auch Ärztin­
 bald nach der nationalsozialistischen Machtüber­                  nen und Ärzte wurden nach und nach aus Spitälern
 nahme ohne Einkommen war. Die frühe Maßnah­                       ausgeschlossen und durften schließlich ab 30. Sep­
 me des Berufsausschlusses führte zu einer raschen                 tember 1938 nicht mehr arbeiten. Eine kleine Zahl,
 Verarmung der jüdischen Bevölkerung. Der 1923 in                  die sich nun „Krankenbehandler“ nennen musste,
 Wien als Erich Feier geborene Ephraim Lahav, der                  durfte nur mehr jüdische PatientInnen behandeln,
 Anfang 1939 mit seiner Familie aus einer Wohnung                  was „arischen“ (nichtjüdischen) ÄrztInnen hinge­
 im 1. Bezirk delogiert (ausgewiesen) wurde und                    gen verboten war. Nachdem rund die Hälfte aller
 gemeinsam mit Eltern, Großmutter und Bruder in                    Wiener Rechtsanwälte und Ärzte nach den „Nürn­
 eine Sammelwohnung in die Leopoldstadt übersie­                   berger Gesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten,
 deln musste, beschreibt den sozialen Abstieg sei­                 hatte das nicht zu unterschätzende Auswirkungen
 ner Familie:                                                      auf die Justiz und das Gesundheitswesen.15

 „Bis dahin, fast unbemerkt, aber dennoch mit
 beißender Härte, vollzog sich in meiner Familie
 ein Prozess der Deklassierung. Wir hatten zwar
 immer in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt,
 waren aber nie auf Wohltätigkeit angewiesen.
 Jetzt waren wir es. Gegenüber unserer Wohnung
 befand sich eine jüdische Ausspeisung. Eine Zeit-
 lang zögerten wir, aber als das Geld immer knap-

                                                                                                                                        5356
 per wurde, haben wir uns dort eintragen lassen

                                                                                                                                     ZH
 und uns täglich das Mittagessen abgeholt, die

                                                                                                                                   ÖG
 einzige warme Mahlzeit am Tag. Aus schaffenden                              30. Septem­

                                                                                                                               ien
 Menschen waren wir zu Bettlern geworden.“14                             ber 1938: Berufsaus­

                                                                                                                          W
                                                                                                                              B/
                                                                         schluss für Ärzte und                           ÖN
                                                                                                                     ©

 Große Betriebe entließen ihre jüdischen Mitar­                       Ärztinnen. Jüdische Ärzte
 beiterInnen meistens noch vor den gesetzlichen                      und Ärztinnen mussten sich
 Regelungen, da die Bezeichnung „arisches Unter­                     ab nun „Krankenbehandler“
 nehmen“ als besonders werbewirksam galt. Ende                         nennen und durften nur
                                                                        jüdische PatientInnen
                                                                              behandeln.

14 Ephraim Lahav, in: Erzählte Geschichte, S. 122.
15 Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien –
   Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981, S. 234. Barbara Sauer/Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Advokaten 1938. Das Schicksal der
   in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Wien 2010, S. 29–58.

                                                                                                                                   13
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

                                                         Ausschluss aus
                                                      der Schule: Jüdische
                                                    SchülerInnen wurden ab
                                                   April 1938 aus den Gymna­
                                                   sien und ab Mai 1938 auch
                                                     aus den Grundschulen
                                                         ausgeschlossen.

                                                                                                                                                           DÖW
2.4 Ausschluss aus der Schule

                                                                                                                                                          8©
                                                                                                                                                      193
Auch jüdische Schülerinnen und Schüler wurden

                                                                                                                                                      ms
nach der nationalsozialistischen Machtübernah­

                                                                                                                                                  siu
                                                                                                                                                 na
me ausgegrenzt. Sie mussten von nichtjüdischen                                                                                                   ym
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Kindern getrennt in separaten Bankreihen sitzen,                                         Sc
                                                                                              hu                                    aje
                                                                                                                                        s
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bis sie schließlich im April (Gymnasien) und Mai                                                           sse des jüdischen

(Grundschule) 1938 aus der Schule ausgeschlossen
wurden.16
Martha Blend, zum Zeitpunkt der nationalsozia­
listischen Machtübernahme gerade acht Jahre alt,
beschreibt dieses für sie einschneidende Erlebnis
in ihren Erinnerungen:

„Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Maßnahme                           Hafen gewesen war, von der Lehrerin, die ich
eingeführt, die mich persönlich betraf: Einer Ver-                 gerne gemocht hatte, und von den Kindern, die
ordnung zufolge durften jüdische Kinder nicht                      ich gut kannte, darunter meine Freundin Grete,
mehr gemeinsam mit arischen Kindern unter-                         abgeschnitten. Ich musste das Schulgebäude
richtet werden. Sie mussten deshalb eine sepa-                     jetzt durch einen anderen Eingang betreten, teilte
rate Schule besuchen. Bis jetzt hatte mich meine                   ein Klassenzimmer mit anderen, mir fremden
Lehrerin als Vorzugsschülerin betrachtet, die sich                 Kindern […]“17
mit Begeisterung an jede Aufgabe machte. Wie
stimmte dies mit der offiziellen Ansicht überein?                  Der Ausschluss jüdischer SchülerInnen und die
Da ich mich nicht geändert hatte, war diese Vor-                   Gründung eigener „Judenschulen“ führten zu
verurteilung umso schwerer zu ertragen. Plötz-                     schlechten Unterrichtsbedingungen, überfüllten
lich war ich von dem Ort, der mir ein sicherer                     Klassen und unregelmäßigem Schulbesuch.

16 Anordnung des Wiener Stadtschulratspräsidenten über den Ausschluss jüdischer SchülerInnen, da „eine gemeinsame Erzie­
   hung der arischen und jüdischen Schüler unmöglich“ sei. Amtsblatt der Stadt Wien, Nr. 18, 29.4.1938, S. 6. Amtsblatt der Stadt
   Wien, Nr. 21, 20.5.1938, S. 5.
17 Martha Blend, Ich kam als Kind. Erinnerungen, Wien 1998, S. 43

14
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

3. Novemberpogrom – Gewaltaktionen gegen die
jüdische Bevölkerung
Mit den als Novemberpogrom bekannten Aus­                         wurden geplündert und verwüstet.18 Des Weiteren
schreitungen und Gewaltaktionen gegen die jüdi­                   wurden im Verlauf des Pogroms (Gewaltaktio­
sche Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich                      nen gegen die jüdische Bevölkerung) zwischen
wurde eine neue Eskalationsstufe des nationalso­                  6.547 und 7.800 Menschen verhaftet und oft meh­
zialistischen Terror-Regimes erreicht. Dabei wurde                rere Tage lang misshandelt, gedemütigt und ter­
die Verzweiflungstat eines jüdischen Flüchtlings                  rorisiert. Der Großteil der Verhafteten wurde da­
in Paris instrumentalisiert, um einen Vorwand zur                 raufhin in das berüchtigte      Konzentrationslager
grundlegenden Entrechtung der jüdischen Bevöl­                    Dachau deportiert.19 Neben den Zerstörungen von
kerung zu haben. Flucht war nur unter Zurücklas­                     Synagogen und Bethäusern wurden auch jüdi­
sung des Vermögens möglich.                                       sche Geschäfte und Wohnungen geplündert und
                                                                  verwüstet. Der von den Nationalsozialisten ge­
In Wien wurden in der Nacht vom 9. bis zum 10.                    prägte Begriff der „Reichskristallnacht“ bezieht sich
November 1938 insgesamt 42 Synagogen und                          auf die Menge an zerbrochenem Glas, das sich im
Bethäuser zerstört, wobei die meisten zuerst mit                  Zuge der Ausschreitungen auf den Straßen häufte
Handgranaten gesprengt und dann in Brand ge­                      und für die jüdische Bevölkerung zum Symbol des
steckt worden waren. Die restlichen Bethäuser                     erlebten Terrors wurde.

novemberpogrom 1938
 Mit einem Attentat auf den deutschen Botschafter Ernst von Rath am 7. November 1938 wollte Herschel
 Grynszpan, ein jüdischer Flüchtling in Paris, auf die verzweifelte Lage seiner Angehörigen hinweisen, die
 als staatenlose Jüdinnen und Juden aus Deutschland an die polnische Grenze abgeschoben worden waren
 und dort tagelang bei Regen und Kälte ausharren mussten. Die Verzweiflungstat von Grynszpan diente
 den nationalsozialistischen Machthabern als willkommener Vorwand, um die Verfolgungsmaßnahmen zu
 radikalisieren und wurde zum Anlass für eine groß angelegte „Racheaktion“ in Form von Brandlegungen,
 Plünderungen und auch Morden an der jüdischen Bevölkerung.1

 1   Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt 2000, S. 122–125; Herbert Rosen-
     kranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978, S. 158–159.

18 Herbert Rosenkranz, „Reichskristallnacht“. 9. November 1938 in Österreich, Wien 1968, S. 38
19 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 126. Rosenkranz, „Reichskristallnacht“, S. 45, 56.

                                                                                                                             15
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Rita Koch, zum Zeitpunkt des Novemberpogroms                  Verordnungen
gerade sieben Jahre alt, beobachtete vom elterli­               Verordnungen nach dem
chen Schlafzimmer aus die Ausschreitungen in ihrer              Novemberpogrom 1938
Nachbarschaft im 2. Bezirk in Wien:
                                                                    12. November 1938: „Verordnung zur
„Meine Mutter hat an diesem 10. November                            Wiederherstellung des Straßenbildes“. Damit
meinen Vater ins Bett abkommandiert. Damals                         musste die jüdische Bevölkerung selbst für die
hat man noch die Vorstellung gehabt, wenn man                       Schäden aufkommen, die im Pogrom ange-
krank ist, wird man ihm nichts tun, also hat sie                     richtet worden waren.
ihm einen Wickel um den Hals und um den Kopf                        12. November 1938: Als „Strafe“ für ein
gegeben, und er musste im Bett liegen. Ich war                      Atten­tat in Paris (siehe Infokasten S. 16) wurde
bei ihm im Zimmer und hab‘ die ganze Zeit mich                      der Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung im
so an den Rand der Fenster geschlichen, hab‘                        Deutschen Reich eine „Sühneleistung“ von
mich geduckt, und so hab‘ ich immer rausgese-                       insgesamt einer Milliarde Reichsmark aufer-
hen auf die Straße. Das war die Rotensterngasse,                    legt, die Jüdinnen und Juden anteilsmäßig als
Ecke Kleine Mohrengasse. In der Kleinen Mohren-                     „Vermögensabgabe“ bezahlen mussten.
gasse hat es eine jüdische Bibliothek gegeben,                      12. November 1938: „Ausschaltung der
die hat sofort gebrannt. Dann hat man gehört,                       Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“.
dass in der Zirkusgasse, dort hat‘s eine herrliche                  Durch den Ausschluss aus dem Wirtschafts-
sephardische Synagoge gegeben, die Kuppel                           leben wurde der jüdischen Bevölkerung die
der Synagoge eingestürzt ist. Der ganze Bezirk                      Lebensgrundlage entzogen.
hat gezittert von der Erschütterung des Einstur-                    12. November 1938: Offizielles Verbot des
zes. Den ganzen Tag hat man die Leute über die                      Besuchs von Theatern, Lichtspielhäusern,
Straße geschleift, das hab‘ ich gesehen, wie man                    Konzerten und Ausstellungen.
sie über die Gasse schleift und schlägt und sie                     8. Dezember 1938: Universitätsausschluss.
verspottet.“20                                                      ­Jüdinnen und Juden werden endgültig aus den
                                                                     Universitäten ausgeschlossen und ihnen wird
Die umfassende Liste an Verordnungen, die unmit­                     wissenschaftliche Betätigung an den Hoch-
telbar nach dem Novemberpogrom erlassen wur­                         schulen und Bibliotheken verboten.
den, illustriert die Entrechtung und Verfolgung von
Jüdinnen und Juden.

20 Rita Koch in: Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten. Herausgegeben vom Dokumenta-tions­
   archiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Band 3: Jüdische Schicksale, Wien 1992, S. 119.

16
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

4. Versuch der Flucht und Vertreibung

Aufgrund der Verfolgung versuchten viele österrei­    Strenge Einwanderungsbestimmungen
chische Jüdinnen und Juden bereits kurz nach dem
   „Anschluss“ das Land zu verlassen. In Österreich   Wegen der strengen Einwanderungsbestimmun­
war das Novemberpogrom 1938 eine weitere Es­          gen vieler Länder sowohl in Europa als auch in
kalationsstufe des nationalsozialistischen Terror-    Übersee und der Beraubung durch die Behörden
Regimes gegenüber der jüdischen Bevölkerung,          waren viele Jüdinnen und Juden der Armut preis­
wobei die Gewaltaktionen ab diesem Zeitpunkt          gegeben. Es gelang daher nur einem Teil der
auch internationale Aufmerksamkeit erregten.          fluchtbereiten jüdischen Bevölkerung, das Land zu
                                                      verlassen. Besonders schwierig war es für ältere
Obwohl die Nationalsozialisten daran interessiert     Menschen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden.21
waren, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben,
war die Auswanderung ein aufwändiger bürokra­
tischer Prozess, da es den NS-Behörden auch dar­
um ging, Jüdinnen und Juden vor ihrer Flucht ihres
Vermögens zu berauben. Auswanderungswillige
mussten bei den verschiedensten Ämtern Bestäti­
gungen einholen und Abgaben bezahlen, bevor sie
die für ihre Ausreise notwendigen Dokumente und
einen Pass erhielten.                                                               Juden stellen sich
                                                                                        um Pässe an
                                                                                     (Polizeikommis­
                                                                                    sariat Marg­a­reten,
                                                                                       ­Wehrgasse 1)

                                                                                                      5 /3
                                                                                                   517
                                                                                                  ZH
                                                                                              ÖG
                                                                                              n
                                                                                          ie
                                                                                     W

                                                                                         B/
                                                                                    ÖN
                                                                                ©

21 Hecht u.a., 1938, S. 29.

                                                                                                             17
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Kindertransporte                                                Mit dem Ausbruch des Krieges im September 1939
                                                                mussten die „Kindertransporte“ eingestellt werden.
Nach den Ereignissen des Novemberpogroms und                    Ab diesem Zeitpunkt erschwerten sich die Auswan­
dem auch im Ausland bekannt gewordenen Terror                   derungsmöglichkeiten nochmals erheblich, da die
an der jüdischen Bevölkerung erklärte sich die bri­             in den Krieg eingetretenen Länder als Fluchtlän­
tische Regierung bereit, verfolgte jüdische Kinder              der wegfielen und damit vorwiegend Fluchtziele
und Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren auf­                in Übersee (Nordamerika, Südamerika, Australien,
zunehmen, die an Pflegefamilien weitervermittelt                China, Afrika) in Frage kamen. Eine Flucht in diese
wurden. Weitere Länder folgten diesem Beispiel.                 Länder war jedoch mit beträchtlich höheren Rei­
Daraufhin wurden sogenannte „Kindertransporte“                  sekosten und einem weitaus größeren organisato­
organisiert. In Österreich gelangte die überwie­                rischen Aufwand verbunden.
gende Mehrheit der insgesamt 2.844 ins Ausland
verschickten jüdischen Kinder nach England. Nur
einem geringen Teil der Eltern gelang es, den Kin­
dern ins Ausland nachzufolgen.22

                                                                                                                                                                                                      2 /11
                                                                                                                                                                          9 © Ö N B / Wi e n Ö G Z S 5
                                                                                                                                                                     r 193
                                  Mit so ge­
                              nannten Kinder­                                                                                                                    r ua
                                                                                                                                                                Fe b
                                                                                                                                                                2.

                           transporten in andere
                                                                                                                                                              ,2
                                                                                                                                                          ein

                            europäische Länder                                                                                                            o
                                                                                                                                                     n

                                                                                                                                                 o   nd
                           versuchten viele Fami­                                                                                         i   nL
                                                                                                                                     en
                            lien, ihre Kinder vor                    Kin
                                                                           der t                                       rt   re f f
                                                                                   ra n s p o
                                                                                                r t: Jüdische K   inde
                              der Verfolgung zu
                                    retten.

22 Rosa Rachel Schwarz, Aus der Sozialarbeit der Kultusgemeinde Wien, S. 2–3.

18
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

5. Zunehmender Ausschluss aus dem öffentlichen
Leben (1939–1942)
Nach dem Überfall deutscher Truppen auf Polen am                 den Film „Schneewittchen“ sehen wollte. Diese
1. September 1939 erklärten England und Frank­                   Entscheidung hatte jedoch Konsequenzen:
reich Deutschland den Krieg. Österreich war seit
dem Anschluss 1938 ein Teil des nationalsozia­                   „Es war Sonntag, wir waren in der Nachbarschaft
listischen Deutschlands und somit automatisch                    bekannt, hier ins Kino zu gehen war eine Heraus-
auch Kriegsteilnehmer.                                           forderung. Meine Mutter war der Überzeugung,
Die unmittelbar nach dem Kriegsbeginn für die                    dass niemand sich darum kümmern würde, ob
jüdische Bevölkerung eingeführten Ausgangssper­                  ein Kind mehr oder weniger im Saal säße […]
ren (Verbot, sich während eines gewissen Zeit­                   (Ich) zog also drauf los, wählte die teuerste
raums frei auf der Straße zu bewegen) und eine                   Platzkarte, eine Loge, um nicht aufzufallen, und
Reihe weiterer Verbote verstärkten die Trennung                  kam gerade dadurch neben die neunzehnjährige
zwischen den als „Ariern“ und „Nichtariern“ de­                  Bäckerstochter von nebenan und ihre kleinen Ge-
finierten Menschen im Alltag und bewirkten das                   schwister zu sitzen, eine begeisterte Nazi­familie.
Verschwinden der jüdischen Bevölkerung aus dem                   Ich hab diese Vorstellung ausgeschwitzt und hab
Straßenbild.23 Der Ausschluss aus öffentlichen                   nie vorher oder nachher so wenig von einem
Grünanlagen wirkte sich dabei besonders negativ                  Film mitbekommen. Ich saß auf Kohlen, vollauf
auf Kinder aus, die durch die beengten Wohnver­                  mit der Frage beschäftigt, ob die Bäckerstochter
hältnisse in den Sammelwohnungen kaum Mög­                       wirklich böse zu mir hinschielte, oder ob es mir
lichkeiten hatten, im Freien zu spielen.                         doch nur so vorkäme. […] Es war der reine Terror.
                                                                 Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an,
Anfeindung und Verrat …                                          pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Unge-
                                                                 witter entlud sich. Sie redete fest und selbstge-
Die zahlreichen Betretungs- und Aufenthalts­                     recht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie
verbote in der Öffentlichkeit betrafen vor allem                 es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch
Jugendliche und junge Erwachsene, die damit                      dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch. […] Es ging
kaum Möglichkeiten hatten, einen altersgerech­                   dann schneller vorbei als erwartet, für mich im-
ten Lebensstil zu führen. Ein Teil der Jugendlichen              mer noch lang genug. Der Vertreterin unanfecht-
nahm die Gefahr einer Verhaftung in Kauf und be­                 barer Gesetzlichkeiten fiel nicht mehr viel ein.
suchte regelmäßig verbotene Orte.24 Kinobesuche                  Wenn ich mich noch ein einziges Mal unterste-
waren besonders beliebt. Ruth Klüger beschreibt                  hen tät, hierher zu kommen, so würde sie mich
in ihrer Autobiographie einen Kinobesuch im Jahre                anzeigen, ich hätt’ ja noch ein Glück, dass sie’s
1940, da sie als knapp 9-Jährige um jeden Preis                  nicht gleich täte.“25

23 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt 2000, S. 211–214.
24 Dieter J. Hecht, Jüdische Jugendliche während der Shoah in Wien. Der Freundeskreis von Ilse und Kurt Mezei, in: Andrea Löw/
   Doris L. Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München
   2013, S. 108.
25 Ruth Klüger, Weiter leben, Eine Jugend, München 1995, S. 46–48.

                                                                                                                           19
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

…oder Solidarität und Mitgefühl                                 Aber so ganz ungeschoren kam sie trotzdem
                                                                nicht davon. Sie musste sich die ganze Palette
Angesichts der immer weitere Bereiche erfassen­                 von Schimpfwörtern anhören, die ich auf Lager
den Ausgrenzungsmaßnahen waren Erfahrungen                      hatte – und dieses Lager war nicht klein. […] Ich
der Solidarität durch nichtjüdische MitbürgerInnen              war aber richtig froh, dass ich meine Freundin
selten.                                                         wieder hatte. Und von nun an kam sie jeden Tag
                                                                zu uns, was aber nicht so einfach war: Im ersten
Vilma Neuwirth, 1928 geboren, beschreibt in ih­                 Stock musste sie sich vor den Vanitscheks in Acht
ren Erinnerungen den unerwarteten Besuch i­hrer                 nehmen, in unserem Stockwerk vor den Latten­
ehemals besten Freundin Hilde im Jahre 1940, die                meiers. Deren Küchenfenster ging ja auf den
sofort nach der nationalsozialistischen Machtüber­              Gang hinaus und sie konnten jeden sehen, der
nahme den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte:                     zu uns kam. Hilde war es als ‚Arierin‘ strengstens
                                                                verboten, mit Juden zu verkehren. Sie half sich
„An meinem zwölften Geburtstag, zwei Jahre,                     ganz einfach, indem sie auf dem Bauch den Gang
nachdem mich unter anderem auch meine bes-                      entlang zu unserer Wohnung robbte. So konnte
te Freundin Hilde nach dem Einmarsch Hit-                       sie vom Küchenfenster des SA-Mannes aus nicht
lers als ‚polnische Saujüdin‘ beschimpft hatte,                 gesehen werden. Zum Glück wurde sie nie er-
klopfte es an unserer Wohnungstür. Wer stand                    wischt. Sie nahm dieses Risiko auf sich, nur um
draußen? Es war Hilde. Sie schaute mich ziem-                   zu uns zu kommen. Und sie kam jeden Tag.“26
lich schuldbewusst an. Ich wusste nicht, wie ich
mich verhalten sollte. […] Ich hatte ihre Worte
von damals noch sehr gut in Erinnerung. Sollte
ich sie wegschicken? Oder doch nicht? Sie sagte
dann: ‚Vilma, […] hau mir eine runter, weil ich
so ein G’frast war.‘ Daraufhin überlegte ich nicht
sehr lange und wir fielen einander in die Arme.

                                              Vilma
                                          ­ euwirth und
                                          N
                                          ihre Freundin
                                                                                                                               ir th

                                          Hilde, um 1940
                                                                                                                              uw
                                                                                                                          Ne

                                                                                                                          n
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                                                                                                                     lu
                                                                                                                 m
                                                                                                        S   am
                                                                                                    ©

26 Vilma Neuwirth, Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien, Wien 2008, S. 76–78

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Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute

Erlebnisse dieser Art waren selten, aber es kaum                „Meine Mutter hatte eine Lebensmittelkarte für
auch zu kleineren Gesten der Solidarität, indem                 ‚Arier‘, mein Vater und ich Karten für Juden. Im
Jüdinnen und Juden beispielsweise Lebensmittel                  zweiten Bezirk in der Glockengasse [in Wien] gab
von Fremden zugesteckt bekamen. Vor allem Men­                  es eine Einkaufsstelle für Zigeuner und Juden. Auf
schen aus dem Arbeitermilieu, mit denen Jüdinnen                unserer Lebensmittelkarte war fast alles ungültig,
und Juden durch ihre Einteilung zur Zwangsarbeit                kein Fleisch, keine Butter, kein Zucker, keine Milch,
(Verpflichtung zur Arbeit unter sehr schlechten                 viel weniger Brot. Statt Butter gab es Knochenfett,
Bedingungen, langen Arbeitszeiten und äußerst                   das ganz grau war und aus dem man Seife erzeug-
schlechter Verpflegung) in Kontakt kamen, er­                   te. Hie und da gab es Kopffleisch. Wir lebten oder
wiesen sich oft als weniger anfällig für die natio­             hungerten von der einen ‚arischen‘ Karte meiner
nalsozialistische Propaganda, die vorschrieb, die               Mutter. Satt sein kannten wir zu dieser Zeit nicht.“29
jüdische Bevölkerung als „Feinde des deutschen
Volkes“ zu betrachten.27                                        Verschlechterung der Lebensbedingungen

Kriegsbeginn und Lebensmittelrationierungen                     Im Zuge der Wohnungsdelogierungen wurden
                                                                ­Jüdinnen und Juden von einer Sammelwohnung in
Nach Kriegsbeginn wurde eine allgemeine Ratio­                   die nächste vertrieben, wobei die immer ärmliche­
nierung (Aufteilung der vorhandenen Waren mit­                   ren Bedingungen in den zugewiesenen Wohnungen
tels Zuteilungskarten) für die Bevölkerung einge­                den sozialen Abstieg der jüdischen Bevölkerung do­
führt. Jüdinnen und Juden wurden vom Bezug von                   kumentierten. Da gekündigten jüdischen Mieterinnen
Kleiderkarten und Schuhen ausgeschlossen, in ih­                 und Mietern oftmals unbewohnbare Räume zugewie­
ren Fleischrationen laufend eingeschränkt und im                 sen wurden, verschlechterte sich der Gesundheitszu­
Bezug der Seifenkarten schlechter gestellt. Bis zum              stand der jüdischen Bevölkerung zusehends. Das am
September 1942 wurden Jüdinnen und Juden von                     30. Juni 1941 erlassene Verbot, Jüdinnen und Juden
der Zuteilung von Eier-, Milch- und Fleischwaren                 Wohnungen mit Badezimmer zuzuweisen, wirkte
sowie von Weizenmehlprodukten ausgeschlossen.                    sich weiter erschwerend aus.30 Einige autobiographi­
Die ihnen zustehenden beschränkten Lebensmit­                    sche Texte berichten von den durch die bedrängten
tel mussten sie in eigens eingerichteten „Juden-                 Verhältnisse verursachten Wanzenplagen.31
Einkaufstellen“ erwerben, die nur zwei Stunden
am Tag geöffnet waren. Darüber hinaus war die                   Bis zum Beginn der       Deportationen (Verschlep­
Qualität der Waren schlecht, bisweilen waren Le­                pung) im Februar 1941 lebte der Großteil der jü­
bensmittel sogar verdorben.28 Lotte Freiberger, die             dischen Bevölkerung bereits zusammengedrängt
eine nichtjüdische Mutter hatte und deren Eltern                in „Sammelwohnungen“ in der Leopoldstadt. Diese
daher in einer sogenannten „Mischehe“ lebten,                   lokale Konzentration erleichterte die Kontrolle und
beschreibt die Ernährungslage der jüdischen Be­                 in weiterer Folge die Verfolgung und Deportation
völkerung in einem Interview:                                   der jüdischen Bevölkerung durch die NS-Behörden.32
27 Siehe dazu: Interview mit Lotte Freiberger von Michaela Raggam-Blesch am 30. 4. 2009 in Wien; Neuwirth, Glockengasse 29,
   S. 100; Klüger, Weiter leben, S. 51f.
28 Walk, Sonderrecht, S. 387; Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 280.
29 Lotte Freiberger in: Erzählte Geschichte, S. 203.
30 Joseph Löwenherz Collection am Leo Baeck Institute, AR 25055, Aktennotizen vom 30.6.1941.
31 Jonny Moser, Wallenbergs Laufbursche. Jugenderinnerungen 1938–1945, Wien 2006, S. 36; Klüger, Weiter leben, S. 61.
32 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 220

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