Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute - Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban
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Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Hg.: Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban
Gefördert durch Diese Broschüre entstand im Rahmen einer Projektkooperation mit dem ZOOM Kindermuseum. Weitere Kooperationspartner: www.wienxtra.at Impressum Gertraud Diendorfer, Susanne Reitmair, Johanna Urban (Hg.): Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute, Wien 2013 Satz & Layout: Katrin Pfleger Grafikdesign Lektorat: Irmgard Dober Druck: druck.at Umschlagfotos: ÖNB/Wien ÖGZ H7076/5, Robert Kneschke (fotolia) © Demokratiezentrum Wien Hegelgasse 6/5 1010 Wien Tel: 01/512 37 37 Mail: office@demokratiezentrum.org www.demokratiezentrum.org
Inhalt Einleitung 2 Das nationalsozialistische Terror-Re- Demokratie geht uns alle an! 28 gime und die Verfolgung von Jüdinnen Wichtige Merkmale einer Demokratie 29 und Juden in Österreich, 1938–1945 3 Das fällt Jugendlichen zum Thema Demokratie ein … 35 Spontane Gewaltaktionen gegen die Demokratie braucht Zustimmung und jüdische Bevölkerung („Anschluss- Beteiligung 36 pogrom“), März–Mai 1938 5 Diskriminierung und Ausgrenzung heute 40 Wege der Ausgrenzung 8 REWIND – eine Geschichte zum Nachdenken 42 Boykott und Enteignung von Das fällt Jugendlichen zum Thema jüdischen Geschäften 10 Zivilcourage ein … 44 Vertreibung aus Wohnungen 11 Zivilcourage bedeutet 46 Berufsausschluss 13 Zivilcourage damals und heute 47 Ausschluss aus der Schule 14 Gründe, warum Menschen nicht helfen… 49 Novemberpogrom – Gewaltaktionen Wir alle gestalten Demokratie! 51 gegen d ie jüdische Bevölkerung 15 Versuch der Flucht und Vertreibung 17 Zunehmender Ausschluss aus dem öffentlichen Leben (1939–1942) 19 Glossar 52 Deportationen und Opferstatistik. Weiterführende Links 54 Konsequenzen der nationalsozialistischen Literaturtipps für Erwachsene 55 Vernichtungspolitik 25 Methodisches für die Arbeit mit Jugendlichen 56
Einleitung Nur wenn wir bereit sind, aus der Vergangen- heit zu lernen, können wir unsere Gegenwart besser mitgestalten. Und Mitgestaltung ist einer seits wichtig für Demokratie, andererseits erst in demokratischen Systemen möglich. Ziel der vor liegenden Broschüre ist es daher, mitzuhelfen, ein feld der Jugendlichen arbeiten mit Versatzstücken Grundverständnis dafür zu erwerben, wie Demo dieser Geschichte, sind ohne entsprechendes Hin kratie funktioniert und wie schnell sich menschen tergrundwissen in ihren Dimensionen aber kaum verachtende Diktaturen etablieren können. nachvollziehbar. Anstoß für diese Broschüre gab eine Projektko Der erste Teil der Broschüre bietet Hintergrundwis operation zwischen dem ZOOM Kindermuseum sen zum nationalsozialistischen Terrorregime und und dem Demokratiezentrum Wien aus Anlass des beschreibt die Ausgrenzungsmechanismen im Na Gedenkens an die Ereignisse rund um die Novem tionalsozialismus am Beispiel der Verfolgung der berpogrome 1938. Im Rahmen von Workshops und jüdischen Bevölkerung in Österreich. Ergänzt wird in Auseinandersetzung mit historischem Material dieser Beitrag durch persönliche Erfahrungen von soll es jungen Menschen möglich sein, über Poten ZeitzeugInnen – die als Kinder die Zeit damals er ziale und Konsequenzen von politischen Systemen lebt haben. nachzudenken und ein Gefühl zu erhalten, wie eine „bessere“ Welt aussehen könnte, wie schnell Im zweiten Teil der Broschüre steht der Bezug zum sich ausgrenzende Strukturen implementieren las Heute im Vordergrund. Dieser Teil zielt vor a llem sen beziehungsweise ließen, was dies für jeden auf die Stärkung von Zivilcourage, ein friedliches Einzelnen und jede Einzelne bedeuten kann. Die Zusammenleben und Demokratiebewusstsein ab. Broschüre ergänzt dieses Vermittlungsprogramm, In Abgrenzung zum totalitären System des National ist aber auch unabhängig davon zu verwenden. sozialismus soll aufgezeigt werden, wie Toleranz und gesellschaftliche Vielfalt im Rahmen demokra Die Broschüre zielt zum einen auf die Sensibilisie tischer Systeme das Leben der Jugendlichen berei rung junger Menschen in Hinblick auf die Gescheh chern können und wie sie gewaltfrei mit konflikt nisse rund um das Jahr 1938 ab, zum anderen wird reichen Situationen umgehen können. ein Bogen in die Gegenwart gespannt, um Ge schichte für die Jugendlichen greifbar zu machen Abgerundet wird die Broschüre durch ein Glossar und aufzuzeigen, was wir auch heute noch aus (die erläuterten Begriffe sind im Text durch das den Erzählungen von damals lernen können. Der Symbol gekennzeichnet), zahlreiche Tipps und Nationalsozialismus spielt in Hinblick auf das kol weiterführende Hinweise für Erwachsene – d.h. lektive Gedächtnis unserer Gesellschaft eine große für in der Jugendarbeit Tätige wie Eltern gleicher Rolle und ist nicht zuletzt Teil zahlreicher Famili maßen –, die die Auseinandersetzung mit dem engeschichten. Aktuelle Debatten im Lebensum Thema unterstützend begleiten. 2
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Das nationalsozialistische Terror-Regime und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Österreich, 1938–1945 von Michaela Raggam-Blesch In Österreich wurden demokratische Strukturen be Partei verboten und der austrofaschistische Staat reits Jahre vor der nationalsozialistischen Machter durch eine neue Verfassung legitimiert. Im christ greifung 1938 abgeschafft. Im März 1933 schaltete lich-sozialen Staat, in dem die katholische Kirche die Christlich-Soziale Partei unter Engelbert Dollfuß eine entscheidende Funktion inne hatte, wurden das Parlament aus. Daraufhin wurden oppositi auch Jüdinnen und Juden in bestimmten Berufen onelle politische Parteien (Kommunisten und ös (BeamtInnen, LehrerInnen sowie medizinisches terreichische Nationalsozialisten) verboten und die Personal in öffentlichen Spitälern) mit Diskrimi Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. Des nierungen konfrontiert. Nichtsdestotrotz geriet der Weiteren wurden der Verfassungsgerichtshof aus austrofaschistische Staat immer mehr unter den geschaltet und GegnerInnen dieses autoritären Druck des benachbarten nationalsozialistischen „Ständestaates“ verfolgt. Nach dem Bürgerkrieg im Deutschlands. Februar 1934 wurde auch die Sozialdemokratische Infobox „Anschluss“ Der Einmarsch deutscher Truppen am 12. März 1938 und die darauffolgende Annexion (Übernahme) Öster- reichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich werden als „Anschluss“ bezeichnet. Am 9. März 1938 kündigte der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg eine Volksbefragung für den 13. März an. Dies war ein letzter Versuch, die Unabhängigkeit Österreichs zu bewahren. Am Nachmittag des 11. März sagte Schuschnigg unter deutschem Druck die Volksbefragung ab. Zu diesem Zeitpunkt fanden österreich- weit noch Demonstrationen gegen den „Anschluss“ statt, unter Teilnahme vieler Jüdinnen und Juden. Einer der Demonstranten in Wien war der 16-jährige Harry Weber: „Dann kam der schreckliche 11. März. Ich erinnere mich wie heute. Wir gingen demonstrierend, schreiend auf einer Seite der Kärntner Straße, auf der anderen Seite gingen die Nazis, in der Mitte zwischen uns die berittene Polizei und viele Polizisten. Ab und zu gelang es einem von uns oder von den Nazis, auf die andere Straßenseite zu gelangen, und da gab es dann natürlich Raufereien und Schlägereien, bis die Polizei uns trennte. […] Auf der Straße hörten wir Schuschniggs Abschiedsrede, mit seinen letzten Worten: ,Gott schütze Österreich!‘ […] Und dann kam es zu einem Bild, das ich sicher wie viele andere traurige Bilder dieser Zeit nie vergessen werde. […] Es war ein richtig unheimlicher Moment. Ich sah, wie viele Polizisten ihre Uniformta- schen öffneten, die Nazi-Armbinden herauszogen und anlegten.“1 1 Harry Weber, Ein Fotografenleben, in: Berthold Ecker/ Timm Starl (Hg.), Harry Weber. Das Wien Projekt, Wien 2007, S. 376. 3
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Spontane Siegesfeier kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, 11. März 1938. Ein Polizist mit Hakenkreuzarmbinde wird von den feiernden österreichi schen Nationalsozialisten hochgehoben. 1/ 3 ien W Po 1 1 l iz i III Die Wagen st mi 38 19 tH ake PZ kolonne mit Adolf n k re ien u z ar mbinde © ÖNB / W Hitler wird von den wartenden Menschenmas sen stürmisch begrüßt. Mariahilfer Straße, in der Nähe des Flottenkinos, 14. März 1938. Viele Österreicherinnen und Österreicher, dar unter auch einige Polizisten, erwiesen sich unmit telbar nach der nationalsozialistischen Machtüber nahme als Mitglieder der bis dahin verbotenen nationalsozialistischen Partei und feierten den be vorstehenden „Anschluss“. Bereits Stunden nach der Machtergreifung setzten die ersten Gewalttätig 1/ 3 keiten gegen die jüdische Bevölkerung ein. Wien 14 Als Adolf Hitler am 14. März in Wien einzog, III 38 wurde er auf den Straßen von jubelnden Menschen 19 PZ massen begrüßt. Seine Rede auf dem Heldenplatz ien W am darauffolgenden Tag wurde von der zahlreich B/ ÖN Hitlers .© erschienen Wiener Bevölkerung mit Begeisterung EInzug i n Wi e n aufgenommen. 4
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 1. Spontane Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung („Anschlusspogrom“), März–Mai 1938 Der Großteil der jüdischen Bevölkerung Öster stets von Schaulustigen begleitet wurden, die das reichs (92 Prozent) lebte bereits vor 1938 in Wien.1 Geschehen manchmal mit Zustimmung und Spott Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme kommentierten.3 Der spätere Fotograf Harry We- im März 1938 wurden Jüdinnen und Juden aus den ber berichtet in seinen Erinnerungen von einem Bundesländern ausgewiesen und nach Wien ver Erlebnis beim Gartenbaukino auf der Ringstraße: trieben.2 Damit wurde das Leben österreichischer Jüdinnen und Juden nach dem „Anschluss“ im „An ein Mal erinnere ich mich besonders, weil März 1938 praktisch über Nacht in dramatischer ich nach dem Krieg lange Zeit ganz in der Nähe Weise verändert. Neben willkürlichen Verhaftun beruflich tätig war. Es war direkt neben dem Café gen und Plünderungen waren es vor allem die Gartenbau […] Als ich damals vorbeiging, sah ich berüchtigten „Reibpartien“, die von der jüdischen von Weitem viele Leute stehen, lachend und grö- Bevölkerung als traumatisierend erlebt wurden. lend, das Ganze war damals für viele Wiener ein Jüdinnen und Juden wurden gezwungen, die mit Riesenspaß. Ich sah einige alte, bärtige Männer, Ölfarbe angebrachten Österreich-Parolen der abge Juden natürlich, kniend mit Kübeln und Fetzen, sagten Volksabstimmung mit Bürsten und scharfer die von nazistischen Rüpeln, jung und alt, ange Lauge abzuwaschen. Besonders demütigend war trieben wurden […]. Ich verstand sofort, was für die Betroffenen dabei, dass diese Übergriffe da vor sich ging, und wechselte auf die andere Straßenseite, um der Sache aus dem Weg zu ge- hen. Das nützte mir selbstverständlich gar nichts. Auch auf dieser Seite standen einige der lieben Wiener mit Hakenkreuzbinden [Anmerkung: das Zeichen der Nationalsozialisten] am Arm. Weil sie bemerkten, dass ich so plötzlich auswich, kam sofort die Frage: ‚Bist a Jud?‘ Ich antwortete mit Ja. Also brachte man mich auf die andere Seite, schon hatte ich auch einen Kübel, Fetzen und Bürste in der Hand und durfte die Straße reinigen. […] Was blieb mir anderes übrig, als zu folgen. Wir Juden haben damals unter vielen Tritten die Straßen Wiens gut gereinigt.“4 1 Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, Wien 1999, S. 16. 2 Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin/Michaela Raggam-Blesch/Lisa Rettl/Heidemarie Uhl (Hg.), 1938. Auftakt zur Shoah in Öster reich. Orte – Bilder – Erinnerungen, Wien 2008. 3 Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978, S. 22; G.E.R. Gedye, Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte, Wien 1947. 4 Harry Weber, Ein Fotografenleben, in: Berthold Ecker/Timm Starl (Hg.), Harry Weber. Das Wien Projekt, Wien 2007, S. 377. 5
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute „Reibpartie“ mit einer Menge an Schaulustigen vor dem Realgymnasium Hagenmüllergasse (Wien 3) am ÖW 15. März 1938 e“ ©D p ar ti „ Re i b Lillian Bader beschreibt dies in ihren Erinnerungen: „Man hörte bereits von Verhaftungen und Übergrif Jene Wohnbezirke, in denen die orthodoxe jüdi fen. ‚Warum?‘, fragten wir uns noch töricht in den sche Bevölkerung lebte, die aufgrund ihrer Kleidung ersten Tagen, wenn wir unter der Hand hörten, sofort als Jüdinnen und Juden erkennbar waren, dass die Gestapo-Männer [Geheime Staatspoli wurden von den NationalsozialistInnen mit beson zei] nachts, meistens in den frühen Morgenstunden, derer Vorliebe für ihre Schikanen ausgewählt. Wohnungen durchsuchten und Väter, Ehemänner und Brüder mitnahmen. […] Bald lernten wir, nicht Die Übergriffe verdeutlichen die Recht- und Schutz mehr nach dem ‚Warum‘ zu fragen, wenn wir hör losigkeit, der Jüdinnen und Juden sprichwörtlich ten, dass Menschen der Gestapo in die Hände gefal über Nacht ausgesetzt waren. Willkürliche Verhaf len waren. […] Jeden Tag stieg die Zahl der Vermiss tungen verstärkten das Gefühl der Rechtlosigkeit ten. Wenn man das Haus verließ, konnte man nicht innerhalb der jüdischen Bevölkerung. sicher sein, dass man wieder zurückkehren würde.“5 5 Lillian Bader, Ein Leben ist nicht genug. Memoiren einer Wiener Jüdin, Wien 2011, S. 213–215. 6
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Diese erste Verhaftungswelle jüdischer Männer, Erika Lorch, die kurz vor der nationalsozialistischen die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ihren achten Geburtstag gefeiert Machtübernahme einsetzte und vor allem wohl hatte, erinnert sich an die Zeit: habende Geschäfts- und Betriebsinhaber, Künstler, Intellektuelle, Ärzte, Ingenieure und Rechtsanwäl „Hier war mein Zuhause und auf einmal spuckt te betraf, diente vorwiegend der Enteignung und man mir ins Gesicht. Die netten Leute, die mir Vertreibung. Geschäftsinhaber wurden dabei zum vorher sagten ‚Du bist so herzig‘ und mir Zu- Überschreiben ihres Besitzes gezwungen. Häftlin ckerln gegeben haben, bedrohten mich plötzlich. ge, die in die Konzentrationslager in Dachau und Ich glaube, das ist in jedem Alter eine schlimme Buchenwald überstellt wurden, kamen nach dem Erfahrung, aber besonders schlimm ist sie für ein Vorweisen einer Auswanderungsmöglichkeit durch Kind. […] Ich habe jeden angeschaut und mir ge- Angehörige in der Regel wieder frei.6 dacht: ‚Wird er mich hauen? Wird er mir wehtun? Wird er uns berauben? Wird er mir meinen Vater Besonders belastend waren die Ereignisse des nochmals wegnehmen?“7 „Anschluss“- Pogroms für jüdische Kinder. n Verfolgte Bevölkerungsgruppe Neben der jüdischen Bevölkerung wurden auch Angehörige der Volksgruppe der Roma und Sinti im NS-Regime als „minderwertig“ stigmatisiert und verfolgt. Menschen dieser Volksgruppe waren auch bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt. Nach dem so genannten „Anschluss“ wurden Roma und Sinti vom Schulbesuch ausgeschlossen, Enteignun- gen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, der Zwangsarbeit unterworfen und schließlich deportiert. Auch Menschen anderer Religionsgemeinschaften (Zeugen Jehovas), anderer sexueller Orientierungen (Ho- mosexuelle), Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie Menschen (vor allem Jugend- liche), die sich dem extremen Gruppenzwang der nationalsozialistischen Gesellschaft nicht unterwarfen und im NS-Regime als „asozial“ bezeichnet wurden, waren Verfolgungen ausgesetzt. 6 Hecht u.a., 1938, S. 17. 7 Erika Lorch in: Erzählte Geschichte, S. 124–126. 7
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 2. Wege der Ausgrenzung Im Laufe des Jahres 1938 wurde die jüdische Be annehmen. Da mir der Name Sara nicht gefiel, völkerung einer Reihe von diskriminierenden Ver schrieb ich ‚Sahara‘ in den Ausweis.“8 ordnungen unterworfen und von Parkanlagen und Lokalen ausgeschlossen. Vilma Neuwirth, 1928 Die Verordnung, einen Zusatznamen anzunehmen geboren, erinnert sich an diese Zeit: und eine „jüdische Kennkarte“ ausstellen zu lassen, Sahara diente dazu, Jüdinnen und Juden als solche sicht „Einige Wochen waren seit dem Einmarsch Hitlers bar zu machen und zu diskriminieren. Angesichts vergangen und wir wurden mit neuen Auflagen der für die jüdische Bevölkerung immer stärker versorgt. Wir durften keine Parks mehr betreten. begrenzten Möglichkeiten zu handeln, war die Bei den Eingängen und auf den Parkbänken stand spontane Reaktion der damals 10-jährigen Vilma ‚nur für Arier‘. An allen Geschäften stand: ‚Juden Neuwirth auf diese ihr aufgezwungene Ausgren Eintritt unerwünscht‘. […] Kurz darauf bekamen zungsmaßnahme ein bemerkenswerter Akt der wir Identitätsausweise. Die Männer mussten den Selbstbehauptung. Namen Israel und die Frauen den Namen Sara Junge jüdische Frau (Lizi Rosenfeld) auf einer Parkbank mit der Aufschrift „Nur für Arier“. Die diskriminierenden Aufschrif ten waren innerhalb kurzer Zeit nach der nationalsozialisti „N ur für schen Machtübernahme auf um Ari er“ use fast allen Bänken in Park lM © US H o l o ca u s t M e m or ia anlagen zu finden. 8 Vilma Neuwirth, Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien, Wien 2008, S. 75. 8
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute en die jüdische Bevölkerung Verbote und Verordnungen geg Verbote und Verordnungen gegen die jüdische Bevölkerung (Auswahl) – März–Dezember 1938 20. Mai 1938: Die „Nürnberger Rassegesetze“ werden in Österreich eingeführt. Im NS-Regime wurden Menschen als „Arier“ („Deutschblütige“) und „Nichtarier“ klassifiziert. Menschen, die aus jüdischen Familien kamen, galten als „nichtarisch“ und damit als minderwertig. „Nichtarier“ verloren „Nürn nach und nach ihre Rechte und waren massiven Verfolgungen ausge- berger setzt. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ vom 15. September 1935 wurden Rassen auch Personen als „jüdisch“ eingestuft, die aus der jüdischen Religions- gesetz e“ gemeinschaft ausgetreten waren. Auch Menschen, die nur zu einem Teil © US Holocaust Memorial Museum, jüdische Familienmitglieder hatten („Mischlinge“), wurden diskriminiert. Public Domain Betre 24. Juni 1938: Polizeiliche Verordnung des Betretungsverbotes tungsv für Jüdinnen und Juden von Parkanlagen in Wien er bot Verordnung des Wiener Polizeipräsidenten, die Jüdinnen und Juden den Aufenthalt in Park- und Gartenanlagen (Schlosspark Schönbrunn, KaiPark, Lainzer Tiergarten, Türkenschanzpark, Stadtpark) verbot. Ähnliche Verordnungen ergingen in ganz Österreich und bezogen sich bald auf alle Grünanlagen. © Yad Vashem 23. Juli 1938: Jüdische Kennkartenpflicht Die nach den „Nürnberger Gesetzen“ als „Jüdinnen“ und „Juden“ definier- ten Personen mussten bis zum 31. Dezember 1938 eine Kennkarte (Per- sonalausweis) ausstellen lassen, die sie als „Jüdinnen“ und „Juden“ aus- Jüdisch wies, und waren verpflichtet, diese immer bei sich zu tragen. Dokumente e Kennk dieser Art dienten im Nationalsozialismus dazu, Menschen als jüdisch arte erkennbar zu machen und damit Verfolgungen auszusetzen. © Dokument, Sammlung Cech 17. August 1938: Jüdische Zusatznamen. Jüdinnen und Juden mussten ab 1. Jänner 1939 einen Zusatznamen an- nehmen – männliche Personen den Namen „Israel“ und weibliche Per- Zusatz sonen den Namen „Sara“. Damit wurden jüdische Männer und Frauen name als solche erkennbar gemacht und Verfolgungen ausgesetzt. ©Dokument, Sammlung Freiberger 5. Oktober 1938: Kennzeichnung jüdischer Pässe er Reisepässe von Jüdinnen und Juden wurden mit dem Buchstaben J in roter Jüdisch Farbe gekennzeichnet. Damit wurde Jüdinnen und Juden auch die Einreise ass Reisep in einige Länder erschwert, da sie sofort als jüdisch erkennbar waren. mit „J“ © Leo Baeck Institute, New York 9
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 2.1 Boykott und Enteignung von jüdischen Geschäften Jüdisches Unmittelbar nach dem „Anschluss“ begann Lokal mit be in allen Teilen der Stadt die öffentliche Kennzeich schmierten Fenster nung jüdischer Geschäfte und Restaurants mit dis scheiben mit der diskri kriminierenden Inschriften, damit diese leichter minierenden Aufschrift erkannt und boykottiert werden konnten. Gleich „Jud“ und dem Aufruf, zeitig wurde die nichtjüdische Bevölkerung auch nicht bei Juden zu aufgefordert, nicht mehr in jüdischen Geschäften kaufen. einzukaufen, wobei ein Zuwiderhandeln oft mit öf fentlicher Ächtung einherging. Jüdische Geschäfts inhaberInnen wurden öffentlich erniedrigt und teil weise auch dazu gezwungen, die Beschmierungen selbst durchzuführen. In einigen Fällen wurden © auch jüdische Kinder dazu genötigt.9 ÖN B/ W 3 ien ÖGZ H4920 / Neben dem Boykott jüdischer Geschäfte setzten Ein jüdisches unmittelbar nach der nationalsozialistischen Macht Kind wird zu antise übernahme die behördlichen und privaten Enteig mitischen Beschmie nungen ( „Arisierungen“) von Geschäften, Woh rungen gezwungen. nungen und Häusern ein (siehe dazu auch S. 11). Heinestraße (Wien Die schutzlosen und eingeschüchterten jüdischen 2), März 1938 MieterInnen und EigentümerInnen sahen meist keine Möglichkeit, sich gegen Ansprüche von na tionalsozialistischen Parteimitgliedern oder Nach barInnen zu widersetzen, die sich ohne Erlaubnis Zutritt verschaffen und Gegenstände entwenden konnten. Willkürliche Hausdurchsuchungen, Raub von Geld, Schmuck und Kunstgegenständen sowie die Verwüstung der Wohnung gehörten unter dem nationalsozialistischen Terror-Regime zum Alltag /2 der jüdischen Bevölkerung.10 20 49 H G Z ie nÖ /W © ÖNB 9 Hans Safrian/ Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008, S. 70f. 10 Dieter J. Hecht, „Arisierungen“ – der große Raubzug, in: Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin-Eppel/Michaela Raggam-Blesch/ Heidemarie Uhl (Hg.), Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2014 (in Vorbereitung). Alexandra Reinighaus (Hg.), Recollecting. Raub und Restitution, Wien 2009, S. 77f. 10
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 2.2 Vertreibung aus Wohnungen Die Vertreibung jüdischer Mieterinnen und Mieter Insgesamt kann man davon ausgehen, dass bis setzte ebenfalls bald nach dem „Anschluss“ ein. zum Ende des Jahres 1938 etwa 44.000 ehemals Die Gier nach jüdischen Wohnungen stand auch jüdische Wohnungen an nichtjüdische WienerIn im Zusammenhang mit dem Wohnungsmangel nen weitergegeben wurden. Delogierte (also aus in Wien, da aufgrund der in den Jahren nach dem ihren Wohnungen gekündigte) Jüdinnen und Juden Ersten Weltkrieg herrschenden Armut und Woh mussten sich daraufhin mit wesentlich schlechte nungsknappheit viele Menschen in desolaten Ver ren und kleineren Unterkünften begnügen oder mit hältnissen lebten. Nach der nationalsozialistischen anderen jüdischen Familien zusammenziehen. Ins Machtübernahme 1938 sahen viele Wienerinnen gesamt wurden in Wien etwa 65.000 Wohnungen und Wiener die Chance, ihre Lebensverhältnisse auf „arisiert“ (enteignet).11 Kosten der jüdischen Bevölkerung zu verbessern. Amtliche Auf forderung zur Kündigung jüdischer Hausparteien an den Hauseigentümer der Hernalser Hauptstraße 119, (Wien 17). Wien am 18.6.1938. Damit wird deutlich, dass auch die nichtjüdische Be W völkerung unter Druck gesetzt DÖ © wurde, die nationalsozialisti sche Ausgrenzungspolitik mitzutragen. 11 Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Susanne Kowarc, „Arisierung“ und Rückstellung von Wohnungen in Wien, Historiker kommission, Bd. 14, Wien 2004, S. 142f; Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975, S. 14–19, 60. 11
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Aufgrund der oft kurzfristigen Delogierungen erster Linie war es kalt. In zweiter Linie sind viele (Wohnungsausweisungen) waren jüdische Miete Dinge dadurch kaputt gegangen. Aber was das rinnen und Mieter immer wieder von vorüberge Schlimmste war, die Erniedrigung. Leute sind vor- hender Obdachlosigkeit bedroht. Die 1921 geborene beigegangen und haben uns da angeschaut, wie Judith Hübner verbrachte gemeinsam mit ihren wir da mit dem ganzen Kram draußen stehen. Eltern und ihrer achtjährigen Schwester Edith eine […] Das war fürchterlich, fürchterlich! Und so sind Nacht mit all ihren Habseligkeiten auf der Straße, wir die ganze Nacht gestanden und am nächsten da sie nach der Delogierung aus ihrer Wohnung Tag in der Früh konnten wir dann schon in die im 4. Bezirk die ihnen zugewiesene Unterkunft erst neue Wohnung hinein.“12 am darauffolgenden Tag beziehen konnten. Mit dem am 30. April 1939 erlassenen „Reichsge „[…], so sind wir mit den Möbeln über Nacht setz über Mietverhältnisse mit Juden“ wurde der vom 31. Oktober bis zum 1. November auf der Mieterschutz von jüdischen Mieterinnen und Mie Straße gestanden, in der Rittergasse, mit all un- tern gegenüber nichtjüdischen Vermieterinnen und serem Kram. Und es fing an ein bisschen Schnee Vermietern reichsweit praktisch aufgehoben. Des und Regen […] Ende Oktober ist Wien nicht sehr Weiteren waren jüdische MieterInnen damit ver- sommerlich. Wir haben das mit verschiedenen pflichtet, auf Verlangen der Behörden jüdische Un Decken überdeckt und sind dort gestanden. termieterInnen aufzunehmen. Damit verloren sie Wenn Leute vorbeigekommen sind – wir haben das Recht, über ihre Wohnungen zu bestimmen, eigentlich Glück gehabt – denn jeder, der vorbei- da mehr und mehr Menschen eingewiesen wur gegangen ist, hätte ruhig was mitnehmen kön- den. Dies führte zur Entstehung der sogenannten nen. Keiner hätte irgendetwas nur gesagt, weder „Sammelwohnungen“, wo Jüdinnen und Juden in die Polizei noch irgendjemand. Und man hat uns bedrängten Verhältnissen lebten und sich mehrere dort stehen lassen, aber das war fürchterlich. In Familien eine Wohnung teilen mussten.13 mögenswert e anzumelden 26. Apr il 1938: Verordnung, Ver Am 26. April 1938 wurden Jüdinnen und Juden mit einer Verordnung dazu verpflichtet, Vermögenswerte über 5.000 Reichsmark anzumelden. Damit wurde der Raub jüdischen Vermögens zu einem scheinlegalen, staatlich geregelten Vorgang. Eine eigens dafür eingerichtete Behörde, die „Vermögensverkehrsstelle“, organi- sierte und überwachte fortan die Enteignung ( „Arisierung“) jüdischer Betriebe. Den Enteigneten wurden lediglich geringfügige Beträge zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten gewährt. Jüdinnen und Juden, die aus Österreich flüchteten, mussten ihr Vermögen zurücklassen und durften das Land nur im Besitz weniger Reichsmark verlassen.1 1 Hecht u.a., 1938, S. 25. 12 Interview mit Judith Hübner am 3.10.2002 von Dieter J. Hecht, in: Mutterland-Vatersprache. Eine Dokumentation des Schicksals von ehemaligen ÖsterreicherInnen in Israel, DVD, Tel Aviv 2005. 13 Bruno Blau, Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 68–71. 12
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 2.3 Berufsausschluss Jüdinnen und Juden wurden innerhalb kürzester März 1938 erfolgte der Ausschluss von Jüdinnen Zeit aus ihren beruflichen Stellungen gekündigt, und Juden vom Justizdienst (RichterInnen, Rechts wodurch ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung anwältInnen und StaatsanwältInnen). Auch Ärztin bald nach der nationalsozialistischen Machtüber nen und Ärzte wurden nach und nach aus Spitälern nahme ohne Einkommen war. Die frühe Maßnah ausgeschlossen und durften schließlich ab 30. Sep me des Berufsausschlusses führte zu einer raschen tember 1938 nicht mehr arbeiten. Eine kleine Zahl, Verarmung der jüdischen Bevölkerung. Der 1923 in die sich nun „Krankenbehandler“ nennen musste, Wien als Erich Feier geborene Ephraim Lahav, der durfte nur mehr jüdische PatientInnen behandeln, Anfang 1939 mit seiner Familie aus einer Wohnung was „arischen“ (nichtjüdischen) ÄrztInnen hinge im 1. Bezirk delogiert (ausgewiesen) wurde und gen verboten war. Nachdem rund die Hälfte aller gemeinsam mit Eltern, Großmutter und Bruder in Wiener Rechtsanwälte und Ärzte nach den „Nürn eine Sammelwohnung in die Leopoldstadt übersie berger Gesetzen“ als Jüdinnen und Juden galten, deln musste, beschreibt den sozialen Abstieg sei hatte das nicht zu unterschätzende Auswirkungen ner Familie: auf die Justiz und das Gesundheitswesen.15 „Bis dahin, fast unbemerkt, aber dennoch mit beißender Härte, vollzog sich in meiner Familie ein Prozess der Deklassierung. Wir hatten zwar immer in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt, waren aber nie auf Wohltätigkeit angewiesen. Jetzt waren wir es. Gegenüber unserer Wohnung befand sich eine jüdische Ausspeisung. Eine Zeit- lang zögerten wir, aber als das Geld immer knap- 5356 per wurde, haben wir uns dort eintragen lassen ZH und uns täglich das Mittagessen abgeholt, die ÖG einzige warme Mahlzeit am Tag. Aus schaffenden 30. Septem ien Menschen waren wir zu Bettlern geworden.“14 ber 1938: Berufsaus W B/ schluss für Ärzte und ÖN © Große Betriebe entließen ihre jüdischen Mitar Ärztinnen. Jüdische Ärzte beiterInnen meistens noch vor den gesetzlichen und Ärztinnen mussten sich Regelungen, da die Bezeichnung „arisches Unter ab nun „Krankenbehandler“ nehmen“ als besonders werbewirksam galt. Ende nennen und durften nur jüdische PatientInnen behandeln. 14 Ephraim Lahav, in: Erzählte Geschichte, S. 122. 15 Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981, S. 234. Barbara Sauer/Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.), Advokaten 1938. Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Wien 2010, S. 29–58. 13
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Ausschluss aus der Schule: Jüdische SchülerInnen wurden ab April 1938 aus den Gymna sien und ab Mai 1938 auch aus den Grundschulen ausgeschlossen. DÖW 2.4 Ausschluss aus der Schule 8© 193 Auch jüdische Schülerinnen und Schüler wurden ms nach der nationalsozialistischen Machtübernah siu na me ausgegrenzt. Sie mussten von nichtjüdischen ym -G Kindern getrennt in separaten Bankreihen sitzen, Sc hu aje s lk la Ch bis sie schließlich im April (Gymnasien) und Mai sse des jüdischen (Grundschule) 1938 aus der Schule ausgeschlossen wurden.16 Martha Blend, zum Zeitpunkt der nationalsozia listischen Machtübernahme gerade acht Jahre alt, beschreibt dieses für sie einschneidende Erlebnis in ihren Erinnerungen: „Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Maßnahme Hafen gewesen war, von der Lehrerin, die ich eingeführt, die mich persönlich betraf: Einer Ver- gerne gemocht hatte, und von den Kindern, die ordnung zufolge durften jüdische Kinder nicht ich gut kannte, darunter meine Freundin Grete, mehr gemeinsam mit arischen Kindern unter- abgeschnitten. Ich musste das Schulgebäude richtet werden. Sie mussten deshalb eine sepa- jetzt durch einen anderen Eingang betreten, teilte rate Schule besuchen. Bis jetzt hatte mich meine ein Klassenzimmer mit anderen, mir fremden Lehrerin als Vorzugsschülerin betrachtet, die sich Kindern […]“17 mit Begeisterung an jede Aufgabe machte. Wie stimmte dies mit der offiziellen Ansicht überein? Der Ausschluss jüdischer SchülerInnen und die Da ich mich nicht geändert hatte, war diese Vor- Gründung eigener „Judenschulen“ führten zu verurteilung umso schwerer zu ertragen. Plötz- schlechten Unterrichtsbedingungen, überfüllten lich war ich von dem Ort, der mir ein sicherer Klassen und unregelmäßigem Schulbesuch. 16 Anordnung des Wiener Stadtschulratspräsidenten über den Ausschluss jüdischer SchülerInnen, da „eine gemeinsame Erzie hung der arischen und jüdischen Schüler unmöglich“ sei. Amtsblatt der Stadt Wien, Nr. 18, 29.4.1938, S. 6. Amtsblatt der Stadt Wien, Nr. 21, 20.5.1938, S. 5. 17 Martha Blend, Ich kam als Kind. Erinnerungen, Wien 1998, S. 43 14
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 3. Novemberpogrom – Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung Mit den als Novemberpogrom bekannten Aus wurden geplündert und verwüstet.18 Des Weiteren schreitungen und Gewaltaktionen gegen die jüdi wurden im Verlauf des Pogroms (Gewaltaktio sche Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich nen gegen die jüdische Bevölkerung) zwischen wurde eine neue Eskalationsstufe des nationalso 6.547 und 7.800 Menschen verhaftet und oft meh zialistischen Terror-Regimes erreicht. Dabei wurde rere Tage lang misshandelt, gedemütigt und ter die Verzweiflungstat eines jüdischen Flüchtlings rorisiert. Der Großteil der Verhafteten wurde da in Paris instrumentalisiert, um einen Vorwand zur raufhin in das berüchtigte Konzentrationslager grundlegenden Entrechtung der jüdischen Bevöl Dachau deportiert.19 Neben den Zerstörungen von kerung zu haben. Flucht war nur unter Zurücklas Synagogen und Bethäusern wurden auch jüdi sung des Vermögens möglich. sche Geschäfte und Wohnungen geplündert und verwüstet. Der von den Nationalsozialisten ge In Wien wurden in der Nacht vom 9. bis zum 10. prägte Begriff der „Reichskristallnacht“ bezieht sich November 1938 insgesamt 42 Synagogen und auf die Menge an zerbrochenem Glas, das sich im Bethäuser zerstört, wobei die meisten zuerst mit Zuge der Ausschreitungen auf den Straßen häufte Handgranaten gesprengt und dann in Brand ge und für die jüdische Bevölkerung zum Symbol des steckt worden waren. Die restlichen Bethäuser erlebten Terrors wurde. novemberpogrom 1938 Mit einem Attentat auf den deutschen Botschafter Ernst von Rath am 7. November 1938 wollte Herschel Grynszpan, ein jüdischer Flüchtling in Paris, auf die verzweifelte Lage seiner Angehörigen hinweisen, die als staatenlose Jüdinnen und Juden aus Deutschland an die polnische Grenze abgeschoben worden waren und dort tagelang bei Regen und Kälte ausharren mussten. Die Verzweiflungstat von Grynszpan diente den nationalsozialistischen Machthabern als willkommener Vorwand, um die Verfolgungsmaßnahmen zu radikalisieren und wurde zum Anlass für eine groß angelegte „Racheaktion“ in Form von Brandlegungen, Plünderungen und auch Morden an der jüdischen Bevölkerung.1 1 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt 2000, S. 122–125; Herbert Rosen- kranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978, S. 158–159. 18 Herbert Rosenkranz, „Reichskristallnacht“. 9. November 1938 in Österreich, Wien 1968, S. 38 19 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 126. Rosenkranz, „Reichskristallnacht“, S. 45, 56. 15
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Rita Koch, zum Zeitpunkt des Novemberpogroms Verordnungen gerade sieben Jahre alt, beobachtete vom elterli Verordnungen nach dem chen Schlafzimmer aus die Ausschreitungen in ihrer Novemberpogrom 1938 Nachbarschaft im 2. Bezirk in Wien: 12. November 1938: „Verordnung zur „Meine Mutter hat an diesem 10. November Wiederherstellung des Straßenbildes“. Damit meinen Vater ins Bett abkommandiert. Damals musste die jüdische Bevölkerung selbst für die hat man noch die Vorstellung gehabt, wenn man Schäden aufkommen, die im Pogrom ange- krank ist, wird man ihm nichts tun, also hat sie richtet worden waren. ihm einen Wickel um den Hals und um den Kopf 12. November 1938: Als „Strafe“ für ein gegeben, und er musste im Bett liegen. Ich war Attentat in Paris (siehe Infokasten S. 16) wurde bei ihm im Zimmer und hab‘ die ganze Zeit mich der Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung im so an den Rand der Fenster geschlichen, hab‘ Deutschen Reich eine „Sühneleistung“ von mich geduckt, und so hab‘ ich immer rausgese- insgesamt einer Milliarde Reichsmark aufer- hen auf die Straße. Das war die Rotensterngasse, legt, die Jüdinnen und Juden anteilsmäßig als Ecke Kleine Mohrengasse. In der Kleinen Mohren- „Vermögensabgabe“ bezahlen mussten. gasse hat es eine jüdische Bibliothek gegeben, 12. November 1938: „Ausschaltung der die hat sofort gebrannt. Dann hat man gehört, Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“. dass in der Zirkusgasse, dort hat‘s eine herrliche Durch den Ausschluss aus dem Wirtschafts- sephardische Synagoge gegeben, die Kuppel leben wurde der jüdischen Bevölkerung die der Synagoge eingestürzt ist. Der ganze Bezirk Lebensgrundlage entzogen. hat gezittert von der Erschütterung des Einstur- 12. November 1938: Offizielles Verbot des zes. Den ganzen Tag hat man die Leute über die Besuchs von Theatern, Lichtspielhäusern, Straße geschleift, das hab‘ ich gesehen, wie man Konzerten und Ausstellungen. sie über die Gasse schleift und schlägt und sie 8. Dezember 1938: Universitätsausschluss. verspottet.“20 Jüdinnen und Juden werden endgültig aus den Universitäten ausgeschlossen und ihnen wird Die umfassende Liste an Verordnungen, die unmit wissenschaftliche Betätigung an den Hoch- telbar nach dem Novemberpogrom erlassen wur schulen und Bibliotheken verboten. den, illustriert die Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden. 20 Rita Koch in: Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten. Herausgegeben vom Dokumenta-tions archiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Band 3: Jüdische Schicksale, Wien 1992, S. 119. 16
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 4. Versuch der Flucht und Vertreibung Aufgrund der Verfolgung versuchten viele österrei Strenge Einwanderungsbestimmungen chische Jüdinnen und Juden bereits kurz nach dem „Anschluss“ das Land zu verlassen. In Österreich Wegen der strengen Einwanderungsbestimmun war das Novemberpogrom 1938 eine weitere Es gen vieler Länder sowohl in Europa als auch in kalationsstufe des nationalsozialistischen Terror- Übersee und der Beraubung durch die Behörden Regimes gegenüber der jüdischen Bevölkerung, waren viele Jüdinnen und Juden der Armut preis wobei die Gewaltaktionen ab diesem Zeitpunkt gegeben. Es gelang daher nur einem Teil der auch internationale Aufmerksamkeit erregten. fluchtbereiten jüdischen Bevölkerung, das Land zu verlassen. Besonders schwierig war es für ältere Obwohl die Nationalsozialisten daran interessiert Menschen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden.21 waren, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, war die Auswanderung ein aufwändiger bürokra tischer Prozess, da es den NS-Behörden auch dar um ging, Jüdinnen und Juden vor ihrer Flucht ihres Vermögens zu berauben. Auswanderungswillige mussten bei den verschiedensten Ämtern Bestäti gungen einholen und Abgaben bezahlen, bevor sie die für ihre Ausreise notwendigen Dokumente und einen Pass erhielten. Juden stellen sich um Pässe an (Polizeikommis sariat Margareten, Wehrgasse 1) 5 /3 517 ZH ÖG n ie W B/ ÖN © 21 Hecht u.a., 1938, S. 29. 17
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Kindertransporte Mit dem Ausbruch des Krieges im September 1939 mussten die „Kindertransporte“ eingestellt werden. Nach den Ereignissen des Novemberpogroms und Ab diesem Zeitpunkt erschwerten sich die Auswan dem auch im Ausland bekannt gewordenen Terror derungsmöglichkeiten nochmals erheblich, da die an der jüdischen Bevölkerung erklärte sich die bri in den Krieg eingetretenen Länder als Fluchtlän tische Regierung bereit, verfolgte jüdische Kinder der wegfielen und damit vorwiegend Fluchtziele und Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren auf in Übersee (Nordamerika, Südamerika, Australien, zunehmen, die an Pflegefamilien weitervermittelt China, Afrika) in Frage kamen. Eine Flucht in diese wurden. Weitere Länder folgten diesem Beispiel. Länder war jedoch mit beträchtlich höheren Rei Daraufhin wurden sogenannte „Kindertransporte“ sekosten und einem weitaus größeren organisato organisiert. In Österreich gelangte die überwie rischen Aufwand verbunden. gende Mehrheit der insgesamt 2.844 ins Ausland verschickten jüdischen Kinder nach England. Nur einem geringen Teil der Eltern gelang es, den Kin dern ins Ausland nachzufolgen.22 2 /11 9 © Ö N B / Wi e n Ö G Z S 5 r 193 Mit so ge nannten Kinder r ua Fe b 2. transporten in andere ,2 ein europäische Länder o n o nd versuchten viele Fami i nL en lien, ihre Kinder vor Kin der t rt re f f ra n s p o r t: Jüdische K inde der Verfolgung zu retten. 22 Rosa Rachel Schwarz, Aus der Sozialarbeit der Kultusgemeinde Wien, S. 2–3. 18
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute 5. Zunehmender Ausschluss aus dem öffentlichen Leben (1939–1942) Nach dem Überfall deutscher Truppen auf Polen am den Film „Schneewittchen“ sehen wollte. Diese 1. September 1939 erklärten England und Frank Entscheidung hatte jedoch Konsequenzen: reich Deutschland den Krieg. Österreich war seit dem Anschluss 1938 ein Teil des nationalsozia „Es war Sonntag, wir waren in der Nachbarschaft listischen Deutschlands und somit automatisch bekannt, hier ins Kino zu gehen war eine Heraus- auch Kriegsteilnehmer. forderung. Meine Mutter war der Überzeugung, Die unmittelbar nach dem Kriegsbeginn für die dass niemand sich darum kümmern würde, ob jüdische Bevölkerung eingeführten Ausgangssper ein Kind mehr oder weniger im Saal säße […] ren (Verbot, sich während eines gewissen Zeit (Ich) zog also drauf los, wählte die teuerste raums frei auf der Straße zu bewegen) und eine Platzkarte, eine Loge, um nicht aufzufallen, und Reihe weiterer Verbote verstärkten die Trennung kam gerade dadurch neben die neunzehnjährige zwischen den als „Ariern“ und „Nichtariern“ de Bäckerstochter von nebenan und ihre kleinen Ge- finierten Menschen im Alltag und bewirkten das schwister zu sitzen, eine begeisterte Nazifamilie. Verschwinden der jüdischen Bevölkerung aus dem Ich hab diese Vorstellung ausgeschwitzt und hab Straßenbild.23 Der Ausschluss aus öffentlichen nie vorher oder nachher so wenig von einem Grünanlagen wirkte sich dabei besonders negativ Film mitbekommen. Ich saß auf Kohlen, vollauf auf Kinder aus, die durch die beengten Wohnver mit der Frage beschäftigt, ob die Bäckerstochter hältnisse in den Sammelwohnungen kaum Mög wirklich böse zu mir hinschielte, oder ob es mir lichkeiten hatten, im Freien zu spielen. doch nur so vorkäme. […] Es war der reine Terror. Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an, Anfeindung und Verrat … pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Unge- witter entlud sich. Sie redete fest und selbstge- Die zahlreichen Betretungs- und Aufenthalts recht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie verbote in der Öffentlichkeit betrafen vor allem es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch Jugendliche und junge Erwachsene, die damit dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch. […] Es ging kaum Möglichkeiten hatten, einen altersgerech dann schneller vorbei als erwartet, für mich im- ten Lebensstil zu führen. Ein Teil der Jugendlichen mer noch lang genug. Der Vertreterin unanfecht- nahm die Gefahr einer Verhaftung in Kauf und be barer Gesetzlichkeiten fiel nicht mehr viel ein. suchte regelmäßig verbotene Orte.24 Kinobesuche Wenn ich mich noch ein einziges Mal unterste- waren besonders beliebt. Ruth Klüger beschreibt hen tät, hierher zu kommen, so würde sie mich in ihrer Autobiographie einen Kinobesuch im Jahre anzeigen, ich hätt’ ja noch ein Glück, dass sie’s 1940, da sie als knapp 9-Jährige um jeden Preis nicht gleich täte.“25 23 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt 2000, S. 211–214. 24 Dieter J. Hecht, Jüdische Jugendliche während der Shoah in Wien. Der Freundeskreis von Ilse und Kurt Mezei, in: Andrea Löw/ Doris L. Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München 2013, S. 108. 25 Ruth Klüger, Weiter leben, Eine Jugend, München 1995, S. 46–48. 19
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute …oder Solidarität und Mitgefühl Aber so ganz ungeschoren kam sie trotzdem nicht davon. Sie musste sich die ganze Palette Angesichts der immer weitere Bereiche erfassen von Schimpfwörtern anhören, die ich auf Lager den Ausgrenzungsmaßnahen waren Erfahrungen hatte – und dieses Lager war nicht klein. […] Ich der Solidarität durch nichtjüdische MitbürgerInnen war aber richtig froh, dass ich meine Freundin selten. wieder hatte. Und von nun an kam sie jeden Tag zu uns, was aber nicht so einfach war: Im ersten Vilma Neuwirth, 1928 geboren, beschreibt in ih Stock musste sie sich vor den Vanitscheks in Acht ren Erinnerungen den unerwarteten Besuch ihrer nehmen, in unserem Stockwerk vor den Latten ehemals besten Freundin Hilde im Jahre 1940, die meiers. Deren Küchenfenster ging ja auf den sofort nach der nationalsozialistischen Machtüber Gang hinaus und sie konnten jeden sehen, der nahme den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte: zu uns kam. Hilde war es als ‚Arierin‘ strengstens verboten, mit Juden zu verkehren. Sie half sich „An meinem zwölften Geburtstag, zwei Jahre, ganz einfach, indem sie auf dem Bauch den Gang nachdem mich unter anderem auch meine bes- entlang zu unserer Wohnung robbte. So konnte te Freundin Hilde nach dem Einmarsch Hit- sie vom Küchenfenster des SA-Mannes aus nicht lers als ‚polnische Saujüdin‘ beschimpft hatte, gesehen werden. Zum Glück wurde sie nie er- klopfte es an unserer Wohnungstür. Wer stand wischt. Sie nahm dieses Risiko auf sich, nur um draußen? Es war Hilde. Sie schaute mich ziem- zu uns zu kommen. Und sie kam jeden Tag.“26 lich schuldbewusst an. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. […] Ich hatte ihre Worte von damals noch sehr gut in Erinnerung. Sollte ich sie wegschicken? Oder doch nicht? Sie sagte dann: ‚Vilma, […] hau mir eine runter, weil ich so ein G’frast war.‘ Daraufhin überlegte ich nicht sehr lange und wir fielen einander in die Arme. Vilma euwirth und N ihre Freundin ir th Hilde, um 1940 uw Ne n g lu m S am © 26 Vilma Neuwirth, Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien, Wien 2008, S. 76–78 20
Ausgrenzung, Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Damals und Heute Erlebnisse dieser Art waren selten, aber es kaum „Meine Mutter hatte eine Lebensmittelkarte für auch zu kleineren Gesten der Solidarität, indem ‚Arier‘, mein Vater und ich Karten für Juden. Im Jüdinnen und Juden beispielsweise Lebensmittel zweiten Bezirk in der Glockengasse [in Wien] gab von Fremden zugesteckt bekamen. Vor allem Men es eine Einkaufsstelle für Zigeuner und Juden. Auf schen aus dem Arbeitermilieu, mit denen Jüdinnen unserer Lebensmittelkarte war fast alles ungültig, und Juden durch ihre Einteilung zur Zwangsarbeit kein Fleisch, keine Butter, kein Zucker, keine Milch, (Verpflichtung zur Arbeit unter sehr schlechten viel weniger Brot. Statt Butter gab es Knochenfett, Bedingungen, langen Arbeitszeiten und äußerst das ganz grau war und aus dem man Seife erzeug- schlechter Verpflegung) in Kontakt kamen, er te. Hie und da gab es Kopffleisch. Wir lebten oder wiesen sich oft als weniger anfällig für die natio hungerten von der einen ‚arischen‘ Karte meiner nalsozialistische Propaganda, die vorschrieb, die Mutter. Satt sein kannten wir zu dieser Zeit nicht.“29 jüdische Bevölkerung als „Feinde des deutschen Volkes“ zu betrachten.27 Verschlechterung der Lebensbedingungen Kriegsbeginn und Lebensmittelrationierungen Im Zuge der Wohnungsdelogierungen wurden Jüdinnen und Juden von einer Sammelwohnung in Nach Kriegsbeginn wurde eine allgemeine Ratio die nächste vertrieben, wobei die immer ärmliche nierung (Aufteilung der vorhandenen Waren mit ren Bedingungen in den zugewiesenen Wohnungen tels Zuteilungskarten) für die Bevölkerung einge den sozialen Abstieg der jüdischen Bevölkerung do führt. Jüdinnen und Juden wurden vom Bezug von kumentierten. Da gekündigten jüdischen Mieterinnen Kleiderkarten und Schuhen ausgeschlossen, in ih und Mietern oftmals unbewohnbare Räume zugewie ren Fleischrationen laufend eingeschränkt und im sen wurden, verschlechterte sich der Gesundheitszu Bezug der Seifenkarten schlechter gestellt. Bis zum stand der jüdischen Bevölkerung zusehends. Das am September 1942 wurden Jüdinnen und Juden von 30. Juni 1941 erlassene Verbot, Jüdinnen und Juden der Zuteilung von Eier-, Milch- und Fleischwaren Wohnungen mit Badezimmer zuzuweisen, wirkte sowie von Weizenmehlprodukten ausgeschlossen. sich weiter erschwerend aus.30 Einige autobiographi Die ihnen zustehenden beschränkten Lebensmit sche Texte berichten von den durch die bedrängten tel mussten sie in eigens eingerichteten „Juden- Verhältnisse verursachten Wanzenplagen.31 Einkaufstellen“ erwerben, die nur zwei Stunden am Tag geöffnet waren. Darüber hinaus war die Bis zum Beginn der Deportationen (Verschlep Qualität der Waren schlecht, bisweilen waren Le pung) im Februar 1941 lebte der Großteil der jü bensmittel sogar verdorben.28 Lotte Freiberger, die dischen Bevölkerung bereits zusammengedrängt eine nichtjüdische Mutter hatte und deren Eltern in „Sammelwohnungen“ in der Leopoldstadt. Diese daher in einer sogenannten „Mischehe“ lebten, lokale Konzentration erleichterte die Kontrolle und beschreibt die Ernährungslage der jüdischen Be in weiterer Folge die Verfolgung und Deportation völkerung in einem Interview: der jüdischen Bevölkerung durch die NS-Behörden.32 27 Siehe dazu: Interview mit Lotte Freiberger von Michaela Raggam-Blesch am 30. 4. 2009 in Wien; Neuwirth, Glockengasse 29, S. 100; Klüger, Weiter leben, S. 51f. 28 Walk, Sonderrecht, S. 387; Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 280. 29 Lotte Freiberger in: Erzählte Geschichte, S. 203. 30 Joseph Löwenherz Collection am Leo Baeck Institute, AR 25055, Aktennotizen vom 30.6.1941. 31 Jonny Moser, Wallenbergs Laufbursche. Jugenderinnerungen 1938–1945, Wien 2006, S. 36; Klüger, Weiter leben, S. 61. 32 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 220 21
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