Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?

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Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
Parallelpolitik – ja oder nein?
 Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
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Deutschland ist zurzeit nicht Impulsgeber und Wachstumsmotor der EU, sondern Schlusslicht
und Wachstumsbremse der Gemeinschaft. Wie sollte der ins Stocken gekommene Konjunk-
turmotor wieder in Gang gebracht werden?

Konjunkturgerechte                               agnose der Forschungsinstitute wird die-
Konsolidierung erforderlich                      ses Vorgehen präferiert. Der SVR macht
                                                 allerdings die Einschränkung, dass, sollte
Die Finanzpolitik nicht nur in Deutschland,      die wirtschaftliche Entwicklung spürbar
sondern im gesamten Euroraum steht vor           schlechter laufen als von ihm vorhergesagt,
großen Herausforderungen. Der Konjunk-           zusätzliche expansive finanzpolitische
tureinbruch hat die Hoffnungen vieler Län-       Maßnahmen wie eine Senkung der Ein-
der, relativ rasch die öffentlichen Haushal-     kommensteuer um 10% nach dem Stabi-
                                                 litäts- und Wachstumsgesetz erforderlich
te mehr oder minder auszugleichen, zu-
                                                 seien. Eine solche Einschränkung fehlt im
nichte gemacht. Dies gilt insbesondere für
                                                 Minderheitsvotum. Die Mehrheit der For-
die größeren Länder des Euroraums,
                                                 schungsinstitute plädiert hingegen mit ih-
Deutschland, Frankreich und Italien. Alle
                                                 rem Votum für das Vorziehen der Steuer-                    Gustav Adolf Horn*
drei werden die von ihnen selbst gesetz-
                                                 reform für einen Weg zwischen den Alter-
ten Ziele sowohl in diesem als auch im
                                                 nativen zwei und drei. Zum einen sollen die
nächsten Jahr zum Teil bei weitem nicht
                                                 automatischen Stabilisatoren in vollem
erreichen. Damit stellen sich entscheiden-
                                                 Umfang wirken. Darüber hinaus soll auch
de Fragen nach dem weiteren finanzpoli-
                                                 die Reduzierung der strukturellen Defizite
tischen Vorgehen. Sollen die Zielvorgaben
                                                 im Vergleich zur bisherigen Planung um ein
auch vor dem Hintergrund der schlechte-
                                                 Jahr hinausgeschoben werden (Arbeits-
ren Konjunktur eingehalten werden? Dies
                                                 gemeinschaft wirtschaftswissenschaft-
würde rasch zusätzliche Konsolidierungs-
                                                 licher Forschungsinstitute 2001).
programme erfordern. Oder sollen die Zie-
le nur realistisch, d.h. unter Berücksichti-
                                                 Wie sind diese verschiedenen Vorschlä-
gung der Konjunkturschwäche, ange-
                                                 ge nun aus gesamtwirtschaftlicher Sicht
passt, und im Übrigen der Konsolidie-
                                                 zu beurteilen? Das Kriterium, nach dem
rungskurs fortgesetzt werden? Dies wäre
                                                 ein Urteil in dieser Sache gefällt werden
die Empfehlung, die so genannten auto-
                                                 sollte, besteht dabei in den Konsequen-
matischen Stabilisatoren wirken zu lassen
                                                 zen, die das jeweilige Vorgehen auf län-
und die strukturellen Defizite weiter – wie      gere Sicht für Wachstum und Beschäfti-
geplant – zu reduzieren. Oder gehört die         gung hat. Eine wesentliche Rolle spielt hier
gesamte Konsolidierungsstrategie auf den         die Frage, ob konjunkturelle und struktu-
Prüfstand? Demnach wäre auch die kon-            relle öffentliche Fehlbeträge unterschied-
junkturunabhängige Rückführung der               lich in ihrer Wachstumswirkung einzu-
strukturellen Defizite auszusetzen.              schätzen sind. Dabei ist auch die Frage
                                                 der Glaubwürdigkeit bedeutsam. Unstrit-
Folgt man den nicht immer ganz klaren Be-        tig ist zumindest in der Theorie, dass kon-
kundungen der Europäischen Kommission            junkturbedingte Defizite den Wachs-
oder auch der Bundesregierung, so wer-           tumspfad stabilisieren. Indem der Staat
den entweder die erste oder die zweite           Einkommen gleichsam automatisch über
Alternative angestrebt. Gewichtet man die        bestehende Leistungsgesetze z.B. durch
Bekundungen mit Wahrscheinlichkeiten,            die Zahlung von Arbeitslosengeld in Pha-
läuft wohl alles auf die zweite Alternative      sen konjunktureller Schwäche ausweitet,
hinaus. Denn zusätzliche Konsolidie-             gleicht er einen Teil des privaten Einkom-
rungsprogramme, so sie denn kommen-              mensverlust, der in Folge der schwäche-
des Jahr greifen sollten, sind nicht in Sicht.   ren wirtschaftlichen Aktivität zu erwarten
Auch der Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-
                                                 * Dr. Gustav Adolf Horn ist Leiter der Konjunkturab-
wicklung (SVR 2001, Ziffer 390 ff.) und im         teilung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-
Minderheitenvotum zur Gemeinschaftsdi-             schung (DIW), Berlin.

                                                                                                 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
4       Zur Diskussion gestellt

    ist, aus. Damit verhindert er eine tiefere Rezession mit hö-                        wird, keine konjunkturell positiven Effekte mit sich bringen
    herer sich möglicherweise sogar verfestigender Arbeitslo-                           würde. Dahinter steht die Überlegung, dass zum einen eine
    sigkeit. Umgekehrt bremsen konjunkturbedingte Verände-                              solche Form der Staatsverschuldung irgendwann durch Steu-
    rungen bei einem starken Aufschwung das Expansions-                                 ererhöhungen getilgt werden müsste. Denn sie können ja
    tempo und tragen damit zur Vermeidung einer konjunktu-                              auch durch einen Konjunkturaufschwung nicht wieder rück-
    rellen Überhitzung bei. Hieraus folgt unmittelbar, dass die                         gängig gemacht werden. Zum zweiten entstehen Zinszah-
    erste Alternative einer konjunkturunabhängigen Rückfüh-                             lungen durch die Kredite, die in den Folgejahren den öffent-
    rung der Hauhaltsdefizite unterlegen ausscheidet.                                   lichen Haushalt belasten und gleichfalls durch höhere Steu-
                                                                                        ern finanziert werden müssten. Rational handelnde Wirt-
    Gleichwohl wurde immer wieder der Eindruck erweckt, als ob                          schaftssubjekte wüssten all dies und würden durch entspre-
    dies ein gangbarer Weg sei. Nicht zuletzt sind die Stabili-                         chend vermehrtes Sparen Vorsorge tragen. Damit wäre der
    tätsprogramme der einzelnen europäischen Regierungen häu-                           positive Effekt höherer öffentlicher Nachfrage durch einen ent-
    fig so interpretiert worden. Auch kann die entsprechende                            sprechend negativen bei der privaten Nachfrage aufgehoben.
    Übereinkunft im Stabilitätspakt von Dublin durchaus so ver-
    standen werden.1 Damit wurde zumindest politischer Druck                            Diese Überlegungen sind jedoch aus zwei Gründen nicht
    entwickelt, die einmal vorgegebenen Werte einzuhalten, oh-                          überzeugend. Zum einen muss die Staatsschuld nicht ge-
    ne dass die konjunkturelle Lage berücksichtigt wird. Eine                           tilgt werden, sondern sie kann weiter vererbt werden, es
    solche Strategie ist in den USA allerdings schon vor zehn Jah-                      sei denn, man sähe das Ende des Staates voraus. Mehr
    ren gescheitert. Seinerzeit wurde dann auch der Gramm-Rud-                          noch, resultiert die Staatsschuld im Wesentlichen aus in-
    man Act, der ebenfalls auf Vorgabe von Defizitwerten ohne                           vestiven Ausgaben, dann sollten früher oder später Erträge
    Blick auf die Konjunktur basierte, abgeschafft. Zwar beto-                          dieser Investitionen z.B. in Infrastruktur oder Bildung sicht-
    nen die Regierungen nunmehr sehr stark, dass die Stabili-                           bar werden, die dann in Form höheren Wachstums tat-
    tätsprogramme sehr wohl unter Berücksichtigung der wahr-                            sächlich zur Tilgung der Schuld führen. Der Sachverständi-
    scheinlichen konjunkturellen Entwicklung entstanden seien                           genrat trägt diesem Gedanken im Übrigen Rechnung, in-
    und insofern bei einer veränderten Einschätzung auch ent-                           dem er zu Recht die staatlichen Nettoinvestitionen bei der
    sprechend angepasst werden müssen. Aber selbst wenn der                             Ermittlung des strukturellen Defizits abzieht. Das Vorhan-
    Wechsel der Strategie nur ein wahrgenommener und kein                               densein einer Staatsverschuldung, insbesondere wenn sie
    wirklicher wäre, so berührt dies doch die Glaubwürdigkeit der                       von Investitionen herrührt, impliziert somit keine automati-
    gesamten Konsolidierungsstrategie.                                                  schen Steuererhöhungen.

                                                                                        Bleiben die Belastungen durch Zinszahlungen. Steuererhö-
    Reichen die automatischen Stabilisatoren aus?                                       hungen würden hieraus nur dann zwangsläufig folgen, wenn
                                                                                        die Wirtschaft nicht mehr wächst und keine Preissteigerun-
    Um in Zukunft Glaubwürdigkeitsprobleme schon im Ansatz                              gen aufweist. Das ist nicht die Welt, in der wir leben. Auch
    zu vermeiden, ist es erforderlich, die Bedeutung der Kon-                           wenn es aktuelle Probleme gibt, so ist doch auf mittlere Sicht
    junktur für die Entwicklung der angestrebten Defizitwerte deut-                     – und die ist für die hier gemachten Überlegungen ent-
    lich zu machen. Insbesondere muss im Rahmen der beiden                              scheidend – mit einem nominalem Wachstum zu rechnen.
    letzt genannten Strategien der Öffentlichkeit erläutert werden,
                                                                                        Dann aber ist auch bei steigenden Einkommen und stei-
    dass Defizite in Zeiten schwacher Konjunktur höher ausfal-
                                                                                        genden Gewinnen mit steigenden Steuereinnahmen zu rech-
    len dürfen als geplant und bei günstiger Entwicklung sogar
                                                                                        nen. Aus ihnen können die Zinszahlungen finanziert werden,
    stärker zurückgeführt werden sollten als vorhergesehen. Der
                                                                                        ohne dass die Steuern erhöht werden müssten, wenn die
    Kern des Streits zwischen der Mehrheit der Forschungsins-
                                                                                        Zinszahlungen schwächer zunehmen als die wachstums-
    titute auf der einen Seite und der Minderheit sowie dem Sach-
                                                                                        bedingten Steuereinnahmen. Dies ist gleichzeitig ein Argu-
    verständigenrat auf der anderen Seite besteht nun darin, ob
                                                                                        ment gegen ausufernde Fehlbeträge in öffentlichen Haus-
    das Wirken lassen der automatischen Stabilisatoren ausreicht,
                                                                                        halten, die ohnehin niemand will. Es zeigt, dass auch bei
    um die Konjunktur zu verstetigen oder ob man darüber hin-
                                                                                        steigenden strukturellen Defiziten Steuererhöhungen nicht
    aus gehen muss. Das Argument des SVR bzw. der Minder-
                                                                                        zwangsläufig sind. Gerade rational handelnde Wirtschafts-
    heit ist, dass in einer Schwächephase eine über die Kon-
                                                                                        subjekte haben dann überhaupt keinen Grund, zusätzlich
    junktureffekte hinausgehende Ausweitung der Fehlbeträge,
                                                                                        zu sparen und damit die konjunkturelle Wirkung der höhe-
    die als eine Erhöhung des strukturellen Defizits aufgefasst
                                                                                        ren öffentliche Defizite zu konterkarieren.

    1   Im Stabilitätspakt heißt es in der Richtlinie F3 (Council Regulations (EC)      Aus alldem folgt, dass auch von höheren strukturellen Defi-
        No 1466/97 in Punkt 4: »... whereas adherence to the medium-term ob-            ziten bis zu einem gewissen Grad konjunkturell anregende
        jective of budgetary positions close to balance or in surplus will allow Mem-
        ber States to deal with normal cyclical fluctuations while keeping the go-
                                                                                        Wirkungen ausgehen. Sind diese aber auch erwünscht? Dies
        vernment deficit within 3% of GDP reference value«.                             hängt von den Ursachen der aktuellen konjunkturellen Schwä-

    ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
Zur Diskussion gestellt                     5

che ab. Es geht dabei um die Frage, ob eine Angebots- oder        setzt. Es handelt sich lediglich um eine durch die konjunk-
eine Nachfrageschwäche vorliegt. Auch wenn bis zum Be-            turelle Notlage bedingte zeitweilige Abweichung.
ginn dieses Jahres der Ölpreisschocks die Angebotsbedin-
gungen belastet hat, so ist die derzeitige Rezession im We-       Genau dies wird im Minderheitsvotum als ein Verlust an
sentlichen das Ergebnis einer Nachfrageschwäche, die ih-          Glaubwürdigkeit für den gesamten Konsolidierungskurs kri-
ren Ursprung in der Rezession in weiten Teilen der Weltwirt-      tisiert. Auch dies überzeugt aus zwei Gründen nicht. Zum
schaft vor allem in den USA und in dem restriktiv angelegten      einen besteht gleichsam ein Automatismus zur Rückkehr
geldpolitischen Kurs der EZB vom vergangenen Jahr hat. Un-        auf den ursprünglichen Pfad: Wenn die Bundesregierung
ter diesen Umständen kann die Fiskalpolitik stabilisierend wir-   nichts tut, tritt dies ein. Glaubt man an diesen Pfad, besteht
ken, indem sie den privaten Nachfrageausfall teilweise kom-       also überhaupt kein Anlass zu zweifeln. Grundsätzlicher ist
pensiert. Dies geschieht, indem die Defizite, ob strukturell      aber zum zweiten zu fragen, wie eigentlich der ursprüngli-
oder konjunkturell ist dabei unter den geschilderten Rah-         che Konsolidierungspfad aussieht. Sind das die im bisheri-
menbedingungen ohne Belang, ausgeweitet werden: Die Fis-          gen Stabilitätsprogramm genannten Werte? Oder sind es
kalpolitik muss sich antizyklisch verhalten.                      die schon angekündigten veränderten Werte? Sind diese
                                                                  Werte als tatsächliche Realisationen oder nur als strukturelle
Genau dies ist der wesentliche Punkt der Empfehlung der           Defizite, also konjunkturbereinigt, aufzufassen? Wenn als
Mehrheit der Forschungsinstitute bei der Gemeinschaftsdi-         strukturelle Werte, wie wurden sie dann berechnet?
agnose. Um die schwache Konjunktur zu stützen, schla-
gen sie vor, die nächste Stufe der Steuerreform von 2003          Mit anderen Worten, es besteht ein so erheblicher Interpre-
auf 2002 vorzuziehen. Dies wäre ein expansiver Impuls von         tationsspielraum, dass derzeit von einem klar definierten
etwa 13 Mrd. DM. Dies ist nicht einmal besonders viel. Den-       Konsolidierungspfad keine Rede sein kann. Das Glaubwür-
noch wäre es unter den gegenwärtigen Bedingungen ein              digkeitsproblem ist somit unabhängig von der Entscheidung
kleiner Schritt in die richtige Richtung. Denn auf diese Weise    der Bundesregierung schon existent, weil der Konsolidie-
kann eine prozyklische, die Konjunktur noch mehr destabi-         rungspfad bereits in der Vergangenheit unklar und insbe-
lisierende Finanzpolitik vermieden werden. Wichtig ist da-        sondere ohne explizite Berücksichtigung der Konjunktur-
bei, dass das Vorziehen von weiteren Maßnahmen flankiert          entwicklung definiert wurde. Jetzt wird offenbar, dass die
wird. Insbesondere ist zu verhindern, dass die Steueraus-         gesamte Konsolidierungsstrategie, die auf dem Erreichen
fälle, die mit diesem Vorgehen verbunden sind, primär bei         von Defizitzielen basiert, ergänzungsbedürftig ist. Sie muss
den Kommunen nicht zu einem prozyklischen Verhalten führt.        – wie die Forschungsinstitute im Frühjahr schon gemeinsam
Üblicherweise reagieren die Gemeinden, weil ihnen der Zu-         gefordert haben – durch Ausgabenziele flankiert werden.
gang zu einer höheren Verschuldung rechtlich weitgehend
verwehrt ist, auf geringere Steuereinnahmen mit einer Re-         Vernünftig wäre es, wenn diese Ziele auf der einen Seite so
duzierung ihrer Investitionen. Das aber würde die expansi-        ehrgeizig wären, dass innerhalb eines überschaubaren Zeit-
ve Wirkung der vorgeschlagenen Maßnahmen erheblich be-            raumes bei »normaler« Konjunkturlage einen Budgetaus-
einträchtigen. Um dem zu begegnen, hat die Mehrheit der           gleich erreicht werden könnte. Sie sollten aber auch so groß-
Institute empfohlen, dass der Bund den Gemeinden mit zu-          zügig sein, dass eine prozyklische Politik bei schwacher Kon-
                                                                  junktur vermieden werden kann. Zu solchen – gesamtwirt-
sätzlichen Investitionszuweisungen unter die Arme greift.
                                                                  schaftlich vernünftigen – Anforderungen hat sich auch die
Dies hat zudem den Vorteil, dass das Programm eine stark
                                                                  Mehrheit der Institute nicht durchringen können. Dabei hät-
investive Komponente aufweist und die Mittel ohne Friktio-
                                                                  te ein solches Vorgehen den Charme, das Endziel Konsoli-
nen in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen.
                                                                  dierung beizubehalten und gleichzeitig konjunkturellen An-
                                                                  forderungen gerecht zu werden. Deren Vernachlässigung
                                                                  hat sich schon in diesem Jahr gerächt. Wer Glaubwürdig-
Ausweitung des strukturellen Defizits nur
                                                                  keit bei der Konsolidierung will, sollte die Konjunktur immer
temporär
                                                                  im Auge behalten.
Ohne Zweifel führt der Vorschlag auch zu einer Ausweitung
des strukturellen Defizits im kommenden Jahr. Dieser ist aller-
                                                                  Literatur
dings nur temporär, da es sich ja lediglich um ein Vorziehen
einer bereits beschlossenen Maßnahme handelt, und nicht           Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute (2001),
um ein zusätzliches Programm. Schon im Jahre 2003, wenn           »Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2001«,
                                                                  DIW-Wochenbericht (43) und ifo Schnelldienst 54 (20), 3–43.
die Maßnahmen ohnehin in Kraft getreten wären, würde              Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-
der ursprünglich geplante Pfad der Defizitentwicklung wie-        wicklung (SVR), Für Stetigkeit – Gegen Aktionismus, Wiesbaden.
der erreicht. Insofern impliziert der Vorschlag der Institute
keine grundsätzliche Abkehr von einer Konsolidierungs-
strategie, die auf fortlaufend reduzierte strukturelle Defizite

                                                                                          54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
6   Zur Diskussion gestellt

                                                                                  wegen eines gravierenden Nachfragemangels durch Kon-
                                                                                  junkturprogramme »aus der Krise« führen müsse.

                                                                                  Auch muss man analysieren, welche Ursachen denn eigent-
                                                                                  lich hinter der Konjunkturschwäche stehen, bevor man die
                                                                                  Therapie verordnet. Seit dem 11. September haben sich die
                                                                                  kurzfristigen Konjunkturaussichten zweifellos verschlechtert.
                                                                                  Aber was genau ist denn das Problem, das aus den Terror-
                                                                                  anschlägen resultiert? Unter anderem haben die Verbraucher
                                                                                  sich entschlossen, vorerst weniger zu konsumieren; dies ist
                                                                                  eine natürliche Reaktion auf den Schock. Warum sollte der
                                                                                  Staat oder auch die Notenbank diese Entscheidung, für die
    Joachim Scheide*                                                              es gute Gründe gibt – zumal sie den Präferenzen entspricht
                                                                                  – korrigieren wollen? Hier haben wir es nicht mit einem typi-
                                                                                  schen Problem der Nachfrageschwäche zu tun.

                                                                                  Was die anderen Auslöser des konjunkturellen Abschwungs
    Geldpolitik hat erhebliche Vorteile                                           seit Mitte 2000 angeht: Die Notenbanken haben die Zin-
                                                                                  sen, die sie zuvor wegen der Inflationssorgen anheben mus-
    Die Frage, was die Finanzpolitik jetzt tun kann oder muss,                    sten, bereits wieder so deutlich verringert, dass man von
    hängt von verschiedenen Dingen ab. So geht es um eine Di-                     einer sehr expansiven Geldpolitik sprechen muss. Und die
    agnose, ob derzeit in Deutschland wirklich eine keynesiani-                   Ölpreise sind inzwischen drastisch gesunken, so dass auch
    sche Situation vorliegt. Ferner ist zu klären, in welchem Be-                 von dieser Seite ein Impuls für die Konjunktur ausgeht. Kurz-
    reich der Wirtschaftspolitik der komparative Vorteil hinsichtlich             um: Die Konjunktur wird im kommenden Jahr wieder Fahrt
    der Konjunkturstabilisierung liegt. Und vor allem ist zu prü-                 aufnehmen.
    fen, ob die Finanzpolitik überhaupt so wirkt wie zumeist unter-
    stellt, oder ob Konjunkturprogramme nicht vielmehr kontra-
    produktiv sein können.                                                        Finanzpolitik eignet sich nicht zur Konjunktur-
                                                                                  steuerung

    Keine Krise                                                                   Unabhängig davon, wie die aktuelle wirtschaftliche Lage zu
                                                                                  beurteilen ist, gibt es generell eine große Skepsis in der Wirt-
    Die deutsche Wirtschaft befindet sich nach der gängigen                       schaftswissenschaft gegenüber der Wirksamkeit der Fi-
    Definition fast in einer Rezession. Allerdings ist sie bei wei-               nanzpolitik, wenn sie als Konjunkturpolitik gemeint ist. Ein
    tem nicht so ausgeprägt wie die Konjunktureinbrüche                           Konsens besteht darin, dass die automatischen Stabilisa-
    1974/75, 1980/82 und 1992/93. Damals sank das reale                           toren wirken sollen, das heißt, der Staat soll diejenige Ab-
    Bruttoinlandsprodukt kräftig, und die Arbeitslosigkeit schnell-               nahme des Budgetsaldos, die aus einer schwachen Kon-
    te in die Höhe. Auch waren die Auslöser jener Rezessionen                     junktur resultiert, nicht zum Anlass nehmen, von der ur-
    gravierende Schocks, die nicht vergleichbar sind mit dem,                     sprünglichen Ausrichtung der Finanzpolitik abzuweichen.
    was die jetzige Konjunkturflaute ausgelöst hat. Zu nennen                     Durch das Wirken lassen der Stabilisatoren leistet die Fi-
    sind als Faktoren etwa die Explosion der Ölpreise in den                      nanzpolitik bereits einen Beitrag, wenn es darum geht, eine
    siebziger Jahren, die massiven Zinsanhebungen durch die                       Konjunkturschwäche zu überwinden oder im umgekehrten
    Deutsche Bundesbank in allen drei Phasen, sowie teilweise                     Fall einen Boom zu dämpfen. Mehr sollte die Finanzpolitik
    die Kollision zwischen restriktiver Geldpolitik und aggressi-                 nur dann tun, wenn es keine anderen Mittel der Wirt-
    ver Lohnpolitik.                                                              schaftspolitik gibt, die besser geeignet sind.

    Auch dieser Vergleich macht deutlich, dass wir es gegen-                      Das gesamtwirtschaftliche Ziel der Wirtschaftspolitik besteht
    wärtig nicht mit einer Ausnahmesituation zu tun haben, die                    – so der weitgehende Konsens in der Literatur der Makro-
    außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Und schon gar
                                                                                  ökonomie – darin, sowohl den Output Gap als auch die Dif-
    nicht kann davon gesprochen werden, dass wir nun in ei-
                                                                                  ferenz zwischen der Inflation und der Zielinflationsrate so ge-
    ner keynesianischen Situation wären, in der uns der Staat
                                                                                  ring wie möglich zu halten. Bei der Gewichtung der beiden
                                                                                  Ziele mag es in den einzelnen Volkswirtschaften Unterschiede
                                                                                  geben, und ein Problem ist auch, dass es zwischen der Sta-
    * Prof. Dr. Joachim Scheide ist Leiter der Abteilung Konjunktur am Institut
                                                                                  bilisierung des Output und der Inflation einen Trade off gibt.
      für Weltwirtschaft (IfW) Kiel.                                              Das ist aber für die hier behandelte Frage unerheblich.

    ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
Zur Diskussion gestellt             7

Kann die Finanzpolitik dieses Zielbündel besser erreichen           erfolgt, werden die zusätzlichen Staatsausgaben eben nicht
als die Geldpolitik? Wohl kaum. Die Geldpolitik hat hinsichtlich    den gewünschten positiven Effekt haben und schon gar nicht
der Konjunkturstabilisierung erhebliche Vorteile: Sie kann          eine Multiplikatorwirkung. Es kann sogar das Gegenteil ein-
schneller reagieren, die Entscheidungslags sind wesentlich          treten.
kleiner als bei der Finanzpolitik. Und sie ist auch wesentlich
flexibler, denn sie kann, wenn es erforderlich ist, Zinsent-        Hier wird die Parallele zur Phillips-Kurve besonders deutlich:
scheidungen schnell wieder korrigieren, was für die Finanz-         So wie damals behauptet wurde, dass eine hohe Inflation
politik nun wirklich nicht zutrifft: Man stelle sich nur vor, die   Arbeitsplätze schaffe (dauerhafte sogar!), wird für die Fi-
Höhe der Steuersätze würde mit der Höhe des Output Gaps             nanzpolitik behauptet, der Staat brauche nur seine Ausga-
variieren! Wenn die Geldpolitik also bereits die Aufgabe er-        ben zu auszuweiten, um das reale Bruttoinlandsprodukt zu
füllt, was kann dann die Finanzpolitik noch zusätzlich zum          erhöhen, und zwar sowohl kurzfristig als auch auf Dauer.
Erreichen der Ziele beitragen? Angenommen, sie ist tat-             So wie man ausrechnete, bei welcher Inflation denn Vollbe-
sächlich so wirksam wie vielfach unterstellt, kann sie dann         schäftigung erreicht werde, kann man nun angeblich aus-
nicht sogar die Aufgabe der Geldpolitik erschweren, wenn            rechnen, wie stark die Staatsausgaben hochgefahren wer-
sie nämlich erst – eben wegen der Entscheidungslags und             den müssen, damit der Output Gap geschlossen wird. Ei-
der Wirkungslags – relativ spät wirkt, also zu einem Zeit-          ne exakte Wissenschaft hat ja so ihren Reiz, aber mit dem,
punkt, wenn die Geldpolitik schon genug für das Ziel getan          was die ökonomische Theorie zu solchen Fragen sagt, hat
hat? Sicherlich wirkt auch die Geldpolitik nur verzögert, doch      das nun herzlich wenig zu tun.
ist die Unsicherheit bezüglich der Lags der Finanzpolitik er-
heblich größer.                                                     Zu den grundlegenden Erkenntnissen gehört nun einmal,
                                                                    dass man mit Inflation das reale Bruttoinlandsprodukt nicht
                                                                    steigern kann, und mit höheren Staatsausgaben, die durch
Es gibt keine Fiskalillusion                                        Steuern finanziert werden, ist das ganz genau so. Anders
                                                                    gewendet: Was langfristig richtig ist, gilt manchmal eben
Die meisten gängigen makroökonometrischen Modelle lei-              auch schon kurzfristig. Die Theorie sagt uns, dass wir mit
ten aus einem staatlichen Ausgabenprogramm oder aus                 mehr Inflation langfristig kein zusätzliches Realeinkommen
Steuersenkungen stets positive Wirkungen für das reale Brut-        schaffen können; da das langfristig nicht funktioniert, kann
toinlandsprodukt ab. Und auch in der öffentlichen Diskus-           es sein, dass ein Phillips-Kurven-Zusammenhang auch
sion wird dieser Mechanismus selten hinterfragt. Nur kommt          schon kurzfristig nicht zustande kommt. Die Theorie sagt
es immer wieder vor, dass sich solche an Modellrechnun-             uns ferner, dass die Volkswirtschaft langfristig nicht reicher
gen geknüpfte Erwartungen nicht erfüllen. Beispiele gibt es         wird, wenn der Staat anstelle der Bürger Güter kauft (es müs-
in Hülle und Fülle. Woran liegt das? Die Modelle basieren auf       ste sich schon um sehr produktive Ausgaben handeln für
demselben Irrtum wie diejenigen Modelle, in denen vor ei-           Güter, die der Markt sonst nicht hervorbringt!). Eben des-
nigen Jahrzehnten eine stabile Phillips-Kurve unterstellt wur-      halb kann es sein, dass der erhoffte positive Einkommens-
de; geneigte Ökonomen und Politiker konnten dann dar-               effekt auch kurzfristig nicht eintritt.
aus ihre wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen ziehen
– mit den bekannten Konsequenzen. Der Fehler, der dahinter
steckte, war, dass man den wirtschaftlichen Akteuren Geld-          Finanzpolitik wirkt nicht immer so, wie der
illusion unterstellte.                                              Keynesianer denkt

Ganz ähnlich gilt für die Modelle, in denen die Effekte fi-         Was die einen verwundert, nennen andere »nicht-keynesi-
nanzpolitischer Maßnahmen untersucht werden sollen: Es              anische Effekte«. Nun behauptet niemand, dass diese nicht-
herrscht eine Fiskalillusion. Genau wie bei der Phillips-Kur-       keynesianischen Effekte immer auftreten. Deshalb käme
ve unterstellt man den Wirtschaftssubjekten, dass sie sich          auch niemand auf die Idee, Steuererhöhungen zu empfeh-
über die Auswirkungen der Politik keine Gedanken machen,            len, um die Konjunktur anzukurbeln. Jedoch macht die Ana-
in diesem Fall also die zukünftigen Wirkungen der finanz-           lyse folgendes klar: Um die kurzfristigen Effekte finanzpoli-
politischen Maßnahmen nicht berücksichtigen. Was die ma-            tischer Maßnahmen abschätzen zu können, braucht man
kroökonomische Forschung in den vergangenen drei Jahr-              erstens eine Aussage darüber, wie sie langfristig wirken, und
zehnten jedoch als sinnvolle Arbeitshypothese hervorge-             zweitens darüber, wie die Wirtschaftssubjekte ihre Erwar-
bracht hat, ist, dass die Wirtschaftssubjekte sich rational         tungen bilden. Beides ist aber bei den herrschenden ma-
verhalten. Anders als in den meisten Modellen spielen Er-           kroökonometrischen Modellen meist ausgeblendet, und des-
wartungen über die künftige Finanzpolitik eine entscheidende        halb kommen sie rein mechanisch zu den Effekten, die man-
Rolle. Konkret: Wenn die Staatsausgaben erhöht werden               che als keynesianische Hydraulik bezeichnen. Ausgeblen-
und die privaten Unternehmen und Haushalte vermuten,                det ist dabei konkret: Die Wirtschaftssubjekte wissen im Fal-
dass die Finanzierung in der Zukunft über höhere Steuern            le höherer Staatsausgaben, dass die Steuern demnächst

                                                                                       54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
8   Zur Diskussion gestellt

    erhöht werden. Unterstellt man vorausschauende Akteure             Bundesregierung wird versprochen, die Steuern und die
    und macht so praktisch den Sprung vom IS/LM-Modell der             Staatsausgaben (jeweils in Relation zum Bruttoinlandspro-
    ersten Generation zu dem der dritten Generation, können            dukt) zu senken. Dies ist ein Wachstumsprogramm, wie es
    sich die Effekte umdrehen. Genau darum geht es.                    im (neuen) Lehrbuch steht, sofern es durchgehalten wird.
                                                                       Damit wird sozusagen die Regel für die Finanzpolitik fest-
    Das alles ist keine abstrakte theoretische Spitzfindigkeit, son-   gelegt. Sie muss eingehalten werden, wenn die Regierung
    dern es ist für die aktuelle Debatte höchst relevant. Denn         nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren will. Zusätzliche Staats-
    es gibt für die Vergangenheit zahlreiche Beispiele, bei de-        ausgaben verbieten sich da.
    nen die üblicherweise unterstellten Effekte nicht eingetre-
    ten sind. Dabei muss man gar nicht einmal auf Japan oder           Auch aus diesem Grund kann die Finanzpolitik nicht dazu
    auf das französische Experiment unter Mitterand verweisen.         übergehen, die Haushaltskonsolidierung von der Konjunk-
    Diejenigen Länder, die einen scharfen Konsolidierungskurs          tur abhängig zu machen. Mit der aktiven Konjunkturpolitik,
    in der Finanzpolitik eingeschlagen haben, indem sie Aus-           wie sie jetzt gefordert wird, würde man von dem für richtig
    gaben kürzten, erlebten fast gleichzeitig einen Boom oder          gehaltenen Konzept abweichen und diese Ankündigung erst
    zumindest eine gute Konjunktur und nicht einen Einbruch,           recht unglaubwürdig machen. Denn die Bürger wissen doch,
    wie die gängige These lauten würde. Beispiele hierfür sind         dass sich Staatsausgaben nicht von allein finanzieren und
    Irland in den achtziger Jahren sowie Finnland und Schwe-           dass sie auch nicht wieder ganz zurückgefahren werden,
    den in den neunziger Jahren.                                       wenn die Konjunktur besser läuft. Daher werden sie bei ih-
                                                                       rer Erwartung, dass die Steuern mittelfristig gesenkt wer-
    Nun kann man einwenden, dass die sog. nicht-keynesiani-            den, Abstriche machen. Folglich treten genau die Effekte
    schen Effekte auf solche Fälle beschränkt sind, in denen Ex-       ein, die eigentlich nicht sein dürfen, die aber eben aus der
    tremsituationen vorlagen, was etwa die Höhe der Staats-            oben beschriebenen Theorie folgen.
    verschuldung betrifft, und dass folglich alles, was aus die-
    ser Sackgasse heraus führte, sich positiv auf die Konjunk-         Braucht diese These noch einen Beleg? Als die Bundesre-
    tur auswirkte. Doch gibt es zahlreiche Beispiele, in denen         gierung im Herbst dieses Jahres zusätzliche Ausgaben für
    die Effekte der Finanzpolitik ebenfalls anders waren als er-       die Sicherheit beschloss, erhöhte sie im Gegenzug die Steu-
    wartet. So wurde die Staatsquote in den USA in den neun-           ern. Welch ein Signal für die Steuerzahler! Ferner laufen die
    ziger Jahren kontinuierlich verringert, was nicht verhinder-       Staatsausgaben ohnehin aus dem Ruder: Die Ausgaben-
    te, dass die USA einen Superboom erlebten. In Deutsch-             quote wird im Jahr 2002 um rund 3 Prozentpunkte höher
    land gab es im Jahr 2001 unter den größeren Staaten des            sein als im Stabilitätsprogramm 2000 der Bundesregierung
    Euroraums den größten finanzpolitischen Impuls, gleichzei-         angekündigt. Und da soll nun durch ein Konjunkturprogramm
    tig aber auch den größten konjunkturellen Rückschlag. All          nochmals draufgelegt werden?
    dies passt nicht zu der herkömmlichen Auffassung bezüg-
    lich der Wirksamkeit der Finanzpolitik.                            Der andere Vorschlag, die nächste(n) Stufe(n) der Steuerre-
                                                                       form vorzuziehen, scheint diesen Makel nicht zu haben. Doch
    Immer mehr Ökonomen haben sich denn auch von dieser                gilt auch hier: Es wird dadurch schwieriger, das Konsolidie-
    uralten Idee verabschiedet, darunter namhafte Keynesia-            rungsziel zu erreichen. Nun mag man etwas gegen die Kon-
    ner wie John Taylor und Alan Blinder. Letzterer schrieb im         solidierung an sich haben. Doch wer das Ziel unterstützt,
                                                                       dem muss daran gelegen sein, dass das Budgetdefizit nicht
    American Economic Review (Mai 1997, S. 242): »Yet the no-
                                                                       zu groß wird, denn ansonsten besteht das Risiko, dass spä-
    tion that what is called ›contractionary‹ fiscal policies may
                                                                       ter die Steuern doch nicht so gesenkt werden wie geplant
    in fact be expansionary is fast becoming part of the con-
                                                                       bzw. sogar erhöht werden müssen. Glaubwürdig – und des-
    ventional policy wisdom«.
                                                                       halb mit den gewünschten positiven Effekten verbunden –
                                                                       wäre das Vorziehen nur dann, wenn gleichzeitig entspre-
                                                                       chend gespart würde. Nur: Wenn Einschnitte bei den Aus-
    Ausgaben von heute sind die Steuern von morgen!
                                                                       gaben heute nicht möglich sind, wie soll man dann glaub-
                                                                       haft machen, dass man morgen ein noch größeres Spar-
    Damit sind die Risiken beschrieben, die man eingeht, wenn
                                                                       paket schnüren wird? Also: Wer nicht sparen kann, kann
    man gegenwärtig Konjunkturprogrammen das Wort redet.
                                                                       auch nicht die Steuern senken. Das sind die Lehren aus
    Tatsache ist doch, dass in Deutschland und in vielen ande-
                                                                       der Finanzpolitik in den vergangenen Jahrzehnten.
    ren Ländern die Staatsquote zu hoch ist. In den vergange-
    nen Jahrzehnten wurden deshalb zwangsläufig die Ver-
    schuldung und auch die Steuerlast erhöht. Niemand be-
    streitet heute, dass die Belastung mit Steuern und Abgaben
    in Deutschland zu hoch ist. Auch in der EU hat ein Umden-
    ken stattgefunden, und in den Stabilitätsprogrammen der

    ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt             9

                                                                         Die Schlussfolgerung also: Besser nichts tun. Die Wirtschaft
                                                                         wird schon alleine wieder aus der Krise finden. Das Say`sche
                                                                         Theorem setzt sich am Schluss doch durch.

                                                                         Die Gründe für ein Konjunkturprogramm

                                                                         Das alles ist richtig. Ich möchte trotzdem für eine offensive-
                                                                         re Strategie plädieren. Nicht so sehr, weil die gegenwärtige
                                                                         wirtschaftspolitische Zurückhaltung eine Dr. Eisenbarth-Kur
                                                                         ist, die relativ lange dauert und schmerzhaft ist (und die in
                                                                         der modernen Medizin niemand mehr empfehlen würde).
                                                                         Schmerz ist manchmal notwendig zur Durchsetzung wich-
Martin Hüfner*                                                           tiger Maßnahmen. Wichtiger ist daher das Argument, dass
                                                                         man sich mit einer solchen Vorgehensweise der Chance be-
                                                                         gibt, Reformen in Gang zu setzen, die sonst nicht möglich
                                                                         wären, und die Wirtschaft wieder auf einen dauerhaften
Plädoyer für eine offensive Strategie                                    und anhaltenden Wachstumstrend zu bringen.

Dass konjunkturpolitische Ankurbelungsmaßnahmen in der                   Erfolgreiche Unternehmen reagieren auf die schwierige La-
Bundesrepublik derzeit nicht angezeigt sind, lässt sich gut              ge auf den Märkten gegenwärtig nicht nur defensiv und pas-
und einleuchtend begründen. Die wirtschaftliche Schwäche,                sen ihre Kapazitäten nach unten an, sondern nutzen sie als
die wir im Augenblick in Deutschland erleben, ist nur vor-               Chance, neue Strukturen durchzusetzen, die sonst vielleicht
übergehender Natur. Mitte nächsten Jahres wird es wieder                 nicht, nur sehr schwer oder nur sehr langsam zu realisieren
aufwärts gehen. Jedes jetzt in Gang gesetzte konjunktur-                 wären. Genauso sollte es meines Erachtens auch die Re-
politische Programm droht daher wegen der üblichen Zeit-                 gierung tun. Der Staat sollte jetzt Dinge anschieben, die er
verzögerungen bis zur endgültigen Wirksamkeit prozyk-                    unter sonstigen Umständen nur schwer in Bewegung brin-
lisch zu wirken.                                                         gen würde.

Die gegenwärtige Schwäche ist zudem nicht zyklisch, son-                 Es gehört ja zu den erfreulichsten Dingen der derzeitigen La-
dern strukturell bedingt. Es fehlt also weniger an Nachfra-              ge, dass unter dem Druck der wirtschaftlichen Abschwä-
ge als an angebotspolitischen Reformen. Nach den Erfah-                  chung, auch unter dem Schock des 11. September die Be-
rungen der Vergangenheit kann man im Übrigen grund-                      reitschaft der sozialen Gruppen in Deutschland gewachsen
sätzlich skeptisch gegenüber staatlichen Programmen sein.                ist, über Reformen nachzudenken und Veränderungen zu
Zusätzliche Ausgaben zum Beispiel für Infrastrukturmaß-                  akzeptieren. Die Gewerkschaften haben laut über Lohn-
nahmen brauchen wegen der komplizierten Planungsvor-                     pausen gesprochen und über neue Entlohnungsmodelle,
läufe relativ lange Zeit, bis sie ausgabewirksam werden und              die eine stärkere Differenzierung ermöglichen. Offenbar
haben den Nachteil, die Staatsquote weiter aufzublähen. Al-              wächst auch in der breiten Öffentlichkeit das Verständnis,
lenfalls kann man darüber nachdenken, bereits in Gang be-                dass es so nicht weitergehen kann. Dies entwertet das Stan-
findliche Maßnahmen zeitlich vorzuziehen. Steuersenkun-                  dardargument, dass in Vorwahlzeiten keine größeren politi-
gen führen, so heißt es, angesichts der gegebenen Verun-                 schen Reformen mehr möglich sind. Die Regierung hat im
sicherung der Verbraucher nicht zu mehr Nachfrage, son-                  außenpolitischen Bereich gezeigt, dass sie trotz Vorwahlzeit
dern zu mehr Ersparnis.
                                                                         schwierige und unpopuläre Entscheidungen durchsetzen
                                                                         kann.
Ganz abgesehen davon verbietet sich ein Konjunkturpro-
gramm wegen des europäischen Stabilitätspaktes, der das
öffentliche Defizit auf maximal 3% des Bruttoinlandspro-
                                                                         Konjunktur schlechter als ihr Ruf
dukts begrenzt. Derzeit beträgt das öffentliche Defizit in
Deutschland nach Schätzungen der EU-Kommission schon
                                                                         Im Übrigen sollte man auch bei der konjunkturellen Beur-
rund 2,5%. Einzelne Bundesländer können sich wegen
                                                                         teilung nicht zu optimistisch sein. Wer zu sehr auf die kon-
ihrer schwierigen Finanzlage gar keine Konjunkturpro-
                                                                         junkturelle Erholung im kommenden Jahr setzt, übersieht,
gramme leisten.
                                                                         dass sich die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepu-
                                                                         blik in den nächsten Wochen und Monaten noch einmal
                                                                         deutlich eintrüben wird. Das Sozialprodukt, das sich schon
* Dr. Martin Hüfner ist Chefvolkswirt der HVB Group (HypoVereinsbank).   im dritten Quartal verringert hat, wird im vierten dieses und

                                                                                            54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
10   Zur Diskussion gestellt

     vielleicht auch im ersten Quartal des nächsten Jahres wei-        der Deutschen innerhalb der Europäischen Union aus. Wer
     ter zurückgehen. Die Arbeitslosigkeit wird ansteigen und zu       der kranke Mann Europas ist, hat auch auf anderen Gebie-
     einem wichtigen Thema der öffentlichen Debatte werden.            ten nicht so viel zu sagen.
     Das wird die Politik unter Druck setzen und es ihr schwer
     machen, keine zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen.                Wachstum ist zudem nicht nur »nice to have«; es schafft
                                                                       die dringend erforderliche Beschäftigung, und es erleich-
     Es ist zudem nicht so sicher, dass sich die Wirtschaft im Lau-    tert ganz entscheidend die Anpassungsfähigkeit einer Wirt-
     fe des kommenden Jahres wirklich erholt. Die Argumente,           schaft, die Ordnung der staatlichen Finanzen, die Finanzie-
     die hier genannt werden, sind eher weicher Natur: die Zins-       rung der Sozialversicherungen, die Stabilität der Preise etc.
     senkungen, die Verringerung der Preissteigerung, die die
     Kaufkraft der Konsumenten erhöht, die automatischen Sta-
     bilisatoren in der Fiskalpolitik, die konjunkturbedingte Steu-    Vier-Punkte Programm
     ermindereinnahmen und Mehrausgaben toleriert, und die
     Restrukturierungen in den Unternehmen, die ihre Wettbe-           Wie sollte ein konjunkturpolitisches Programm aussehen?
     werbsfähigkeit stärken, zusammen mit Innovationen zur Ein-        Sicher sollte es kein 08/15 Programm sein, sondern ein auf
     führung neuer Produkte.                                           die konkreten Bedürfnisse der aktuellen Situation abgestelltes
                                                                       Paket. Es sollte sowohl die strukturpolitischen als auch die
     Das stärkste Argument für einen Aufschwung ist vermutlich,        konjunkturellen Probleme adressieren. Das eine tut weh und
     dass die Vereinigten Staaten mit einem massiven geld- und         ist schwerer durchzusetzen, stärkt aber das Wachstum. Das
     fiskalpolitischen Programm ihre Wirtschaft ankurbeln (wo-         andere lindert die Schmerzen, hilft bei der politischen Rea-
     bei der fiskalpolitische Teil allerdings noch im Kongress ver-    lisierung und stabilisiert die Konjunktur. Insgesamt also ein
     handelt wird) und dass dies sich dann auch positiv auf die        Wolf im Schafspelz.
     deutsche und europäische Wirtschaft auswirken wird. Die
     Frage stellt sich aber, ob Deutschland und Europa sich in         Es geht um vier Punkte:
     dem Maße auf die amerikanischen Aktivitäten verlassen und         Erstens: mutige angebotspolitische Maßnahmen zur Ver-
     nichts eigenes tun wollen. Ist dies wirklich das europäische      besserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das
     Selbstverständnis? Auf außen- und militärpolitischem Ge-          ist das allerwichtigste, um die deutsche Wirtschaft wieder
     biet – also dort, wo die Union bisher die größten Defizite auf-   auf Kurs zu bringen. Dazu gehören in erster Linie die Ein-
     wies – zeigt Europa inzwischen mehr Eigenständigkeit und          führung flexiblerer Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt,
     eigene Aktivitäten.
                                                                       • die es den Unternehmen ermöglichen, schneller und un-
     Es ist bemerkenswert, dass der Sachverständigenrat zur              komplizierter auf veränderte Nachfrageverhältnisse zu
     Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation die Mög-          reagieren,
     lichkeit einer 2002 ausbleibenden konjunkturellen Erholung        • die die nach wie vor zu hohen Arbeitskosten verringern
     ausdrücklich als ein Szenario (wenn auch nicht das wahr-            und
     scheinliche) aufgestellt hat.                                     • die durch Ausweitung der Differenz zwischen Nettolöh-
                                                                         nen und Sozialhilfe das Angebot an Arbeitskräften vor
     Unabhängig von der aktuellen Wirtschaftsschwäche ist das            allem im Niedriglohnbereich erhöht.
     Wachstum in Deutschland schon seit Jahren unbefriedigend,
     und die Situation wird von Jahr zu Jahr ungünstiger. Inner-       Dazu kommen könnten auch weitere Maßnahmen im ge-
     halb Europas ist Deutschland in punkto Wachstum schlech-          werbeaufsichtsrechtlichen Bereich und/oder zur Deregulie-
     ter als alle anderen Länder der Europäischen Union – bis vor      rung zum Beispiel die Aufhebung des Ladenschlussgeset-
     kurzem konnte es sich diese Position noch mit Italien tei-        zes und der Abbau von wettbewerbsverzerrenden Sub-
     len. Beim Pro-Kopf-Einkommen steht Deutschland inner-             ventionen und – ganz wichtig – die Stabilisierung der Sozi-
     halb Europas an Nr. 6. Das hängt sicher nach wie vor mit          alversicherung, damit nicht jedes Jahr über neue Beitrags-
     den Spätfolgen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung            erhöhungen diskutiert werden muss. Ziel muss es sein, die
     zusammen. Hinzu kommt aber auch, dass durch die ge-               deutsche Wirtschaft so zu stellen, dass sie in Europa in punk-
     meinsame Währung in Europa für die Bundesrepublik der             to Wachstum wieder wenigstens eine Mittelstellung ein-
     Vorteil niedrigerer Zinsen und damit niedrigerer Kapitalkos-      nimmt. Das erfordert einen Ruck in der Wirtschaft.
     ten weggefallen ist, durch den die Wettbewerbsnachteile auf
     anderen Gebieten überdeckt werden konnten. Dies wird be-          Zweitens: nachfragepolitische Maßnahmen zur Stabilisie-
     sonders in wirtschaftlichen Schwächephasen spürbar.               rung der Konjunktur. Hier kann man einmal daran denken,
                                                                       die zweite Stufe für 2003 vorgesehene Stufe der Steuer-
     Die unbefriedigende wirtschaftliche Performance der Deut-         reform vorzuziehen. Freilich handelt es sich dabei nur um
     schen wirkt sich natürlich auch auf die politische Position       eine relativ bescheidene Maßnahme (rund 14 Mrd. DM), die

     ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt               11

gerade einmal ausreicht, um die für 2002 vorgesehenen            der Stabilitätspakt wird nicht wirklich beschädigt und die
Steuer- und Abgabenanhebungen zu kompensieren. Wenn              Staatsquote sinkt, weil die Steuersenkungen nur vorüber-
man die Konjunktur wirklich abfedern und auch kurzfristig        gehend sind, die Ausgabenkürzungen dagegen dauerhaft.
mehr Wachstum schaffen will, muss man schon weiter aus-          Dies ist ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Ange-
holen. Es muss in den Portemonnaies der Menschen                 botsbedingungen in der Bundesrepublik.
rucken, damit sie auch wirklich reagieren.
                                                                 Man könnte dagegen einwenden, dass die Menschen auf
Angesichts des engen zeitlichen Rahmens kann man hier            Steuersenkungen, die durch Ausgabensenkungen finanziert
auf das alte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1969 zu-       werden, nicht mit mehr Konsum reagieren, weil sich ihre Net-
rückgreifen und eine zeitlich befristete Senkung der Lohn-       toposition gegenüber dem Staat nicht verändert (Ricardia-
und Einkommensteuer in Kraft setzen. Eine 10%ige Sen-            nische Äquivalenz). Das Argument ist ernst zu nehmen. Hier
kung für ein halbes Jahr würde ein Volumen von 20 Mrd. DM        ist wichtig, dass das Steuersenkungsprogramm aktiv kom-
ausmachen. Das würde zusammen mit weiteren Zinssen-              muniziert wird, dass die Ausgabensenkungen nur bestimmte
kungen von Seiten der Europäischen Zentralbank die Nach-         Schichten treffen und dass der Bürger merkt, dass sich ei-
frage zweifellos stabilisieren. Es wäre von der Größenord-       ne niedrigere Staatsquote für ihn positiv auswirkt.
nung etwas geringer als das entsprechende konjunkturpo-
litische Programm der Vereinigten Staaten (was kein Fehler       Viertens: die Einbindung des Programms in den europäi-
ist, weil der Einbruch der Konjunktur in Europa geringer ist).   schen Kontext, da es sonst verpufft. Auch dies ist eine
Eine solche Maßnahme hätte den ordnungspolitischen Vor-          schwierige Aufgabe, da die Partnerländer in Euroland der-
teil, dass sie die Steuern senkt und nicht die Ausgaben er-      zeit keine große Neigung zu einem Konjunkturprogramm auf
höht, sie würde vor allem auch den weniger Verdienenden          europäischer Ebene verspüren. Das hängt damit zusam-
zugute kommen, und sie könnte aufgrund des Stabilitäts-          men, dass Europa ohne Deutschland immer noch ganz or-
gesetzes ohne Bundestagsbeschluss nur durch Rechts-              dentlich wächst (2001 um 1,8%, 2002 um 1%), dass die Be-
verordnung, der der Bundesrat zustimmen muss, verwirk-           reitschaft zur Überschreitung der nach dem Stabilitätspakt
licht werden. Die Zustimmung der Länder ist sicher schwer        erlaubten öffentlichen Defizite gering ist und dass in Euro-
zu erhalten, müsste angesichts der Größe der Aufgabe aber        pa wie in Deutschland eine gehörige Portion Skepsis gegen-
möglich sein.                                                    über staatlichen Konjunkturprogrammen herrscht.

Hilfreich wäre für die Wirkung der Steuersenkung, wenn man       Die Einbindung des deutschen Konjunkturprogramms in ei-
nach amerikanischem Vorbild mit Steuerschecks arbeiten           nen europäischen Kontext heißt freilich nicht, dass alle in
könnte, statt darauf zu vertrauen, dass die Menschen die         Europa das gleiche machen müssen. Die Verhältnisse in den
Steuersenkung in ihren Gehaltsabrechnungen identifizieren.       einzelnen Ländern sind dazu zu unterschiedlich. Einbindung
                                                                 heißt zunächst lediglich, die für Deutschland geplanten Maß-
                                                                 nahmen im Rat der europäischen Finanzminister zu disku-
Ein neues 30 Mrd. Paket                                          tieren und den Ländern, die sich in einer ähnlichen Situation
                                                                 befinden, die Möglichkeit zu bieten, sich zeitlich mit den deut-
                                                                 schen Maßnahmen abzustimmen. Ein Land, das hier auch
Drittens: ein Ausgabenkürzungsprogramm, das gleichzei-
                                                                 ein Interesse haben könnte, wäre vermutlich Frankreich.
tig mit der Steuersenkung beschlossen, aber erst wirksam
wird, wenn die Konjunktur wieder läuft. Das ist nötig, weil
                                                                 Auch die Europäische Zentralbank wäre sicher an einer sol-
mit dem Steuersenkungsprogramm allein die Obergrenze
                                                                 chen Diskussion interessiert, auch wenn es sicher nicht da-
von 3% für öffentliche Defizite nach dem Stabilitätspakt ver-
                                                                 rum gehen kann, zinspolitische Maßnahmen abzustimmen.
letzt würde. Der Stabilitätspakt ist ein wichtiges Element
der Europäischen Währungsunion, und seine Verletzung ge-
                                                                 Die Attraktion dieses Programms liegt im Zusammenspiel
rade durch Deutschland wäre ein gefährliches Präjudiz für
                                                                 der einzelnen Punkte. Jede Maßnahme für sich allein ge-
die Zukunft, das in jedem Fall vermieden werden muss. Dies
                                                                 nommen ist problematisch und so vermutlich auch nicht
gilt gerade zu einem Zeitpunkt, wo der Euro als allgemei-
                                                                 durchsetzbar. Zusammengenommen ermöglichen sie einen
nes Zahlungsmittel eingeführt wird.
                                                                 Schub, der die deutsche Wirtschaft endlich wieder voran-
                                                                 bringt und der gleichzeitig einen Schritt voran für Europa
Bei dem Ausgabenkürzungsprogramm könnte man an et-
                                                                 ermöglicht. Die Fortschritte, die auf politischem Gebiet in
was ähnliches denken wie bei dem Konsolidierungspro-
                                                                 Europa nach dem 11. September in Europa erzielt wurden,
gramm, das Finanzminister Eichel bei seinem Amtsantritt
                                                                 würden damit auf ökonomischem Gebiet flankiert.
durchsetzte. In jedem Fall muss man an die großen Töpfe
der Staatsausgaben, um positive Wirkungen zu erzielen,
auch Privatisierungen sind möglich. Damit nimmt man der
Steuersenkung den haut gout einer unsoliden Finanzierung,

                                                                                     54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
12   Zur Diskussion gestellt

                                                                                    Markets gleichzeitig. Im vierten Quartal 2001 sind die Rück-
                                                                                    gänge markant. Dominierender Faktor für die Schrumpfung
                                                                                    sind noch immer die Investitionen (Ausrüstungen und Lä-
                                                                                    ger), in jüngster Zeit freilich verstärken die Entscheidungen
                                                                                    der Konsumenten die Abwärtsbewegung. Der internationale
                                                                                    Handel schrumpft beträchtlich.

                                                                                    In der Privatwirtschaft breiten sich Konkurse und ausge-
                                                                                    prägte Finanzprobleme aus. In den staatlichen Budgets bre-
                                                                                    chen zunehmend die Einnahmen weg und (automatische)
                                                                                    Ausgabesteigerungen (v.a. im Bereich der Arbeitslosen-
                                                                                    unterstützung) treten vermehrt auf.

                                                                                    In der deutschen Wirtschaft hat die wirtschaftliche Dyna-
     Norbert Walter*
                                                                                    mik schon seit vergangenen Herbst merklich nachgelassen.
                                                                                    Im zweiten Quartal dieses Jahres (gegenüber Vorquartal)
                                                                                    stagnierte die gesamtwirtschaftliche Produktion und im drit-
     Gute Gründe für eine stimulierende                                             ten Quartal (also überwiegend vor dem 11. September) ging
     europäische Finanzpolitik                                                      sie sogar zurück.

     Es ist wahr. Hätten wir unsere Hausaufgaben gemacht, dann                      Seit dem 11. September ist es zu einer weitere Ver-
     wären jetzt nicht solche schwierigen Fragen aufgeworfen.                       schlechterung gekommen. Die Auftragseingänge sind stark
     Das Thema lautet hier aber nicht: Was haben wir falsch ge-                     zurückgegangen (im September – 41/2% gegenüber Vor-
     macht, es lautet: Wie wir uns in der jetzigen Situation ver-                   monat). Bei Unternehmen und Verbrauchern herrscht gro-
     halten sollen? Diese Abstinenz heißt nicht, dass es zu den                     ße Unsicherheit. Sie äußert sich in Investitions-Attentismus
     »alten Sünden« nichts zu sagen gäbe.                                           und Maßnahmen zur Kostendämpfung bei den Unterneh-
                                                                                    men und in Kaufzurückhaltung bei den Verbrauchern. In
                                                                                    der Folge sind die Unternehmen derzeit mit einem ausge-
     Diagnose                                                                       prägten Nachfragerückgang konfrontiert. Der ifo Ge-
                                                                                    schäftsklima-Index ist auf den niedrigsten Stand seit acht
     Japan und eine Reihe von Emerging Markets befanden sich                        Jahren (d.h. seit der Rezession 1992/93) gefallen. Dies lässt
     vor dem 11. September bereits in der Rezession. Und wie                        auch in naher Zukunft eine schwächelnde Produktion er-
     wir jetzt durch offizielle Bestätigung wissen, gilt dies seit dem              warten.
     ersten Quartal des Jahres auch für die USA. Europa war
     vor dem 11. September in der Stagnation. Überall war dies                      All diese Indikatoren deuten auf Rezession im Winterhalbjahr
     auf ausgeprägte Investitionszurückhaltung zurückzuführen,                      hin. Für das gesamte Jahr 2001 dürfte beim Bruttoinlands-
     zum Teil auch auf die zögerliche Nachfrage von Konsu-                          produkt lediglich ein minimaler Zuwachs erreicht worden sein.
     menten. Ein Teil der globalen Schwäche reflektiert die Im-                     Der Begriff Wachstum ist hierfür ein Euphemismus. Da das
     plosion der Neuen Ökonomie, für die der Absturz des Nas-                       Wachstum weit schwächer ist als die Erweiterung des Pro-
     daq-Index von rund 5 000 auf rund 1 500 Punkte binnen                          duktionspotentials bzw. der Produktivität, fällt die Kapazi-
     Jahresfrist steht. Das Ausmaß der Konjunkturschwäche hat-                      tätsauslastung, während die Arbeitslosigkeit steigt. Ein An-
     te auch mit den (bezogen auf die Nachfragesituation unan-                      stieg auf deutlich über 4 Mill. ist bereits vorgezeichnet.
     gemessen) hohen Energie- und Nahrungsmittelpreisen (Eu-
     ropa-Tierseuchen) zu tun, nur zum geringen Teil mit hohen                      Ein schneller Aufstieg aus dem Tal im Jahr 2002 ist m.E.
     Zinsen (USA). Die Ereignisse des 11. September haben den                       nicht zu erwarten. Nach den derzeit starken Einbrüchen der
     Abwärtstrend akzentuiert. Inzwischen gibt es kaum noch                         wirtschaftlichen Aktivität wird es im kommenden Jahr sehr
     Zweifel: Im zweiten Halbjahr 2002 befinden sich die domi-                      schwer, überhaupt ein Wirtschaftswachstum zu erreichen.
     nierenden Teile der Weltwirtschaft zum ersten Mal seit Mit-
     te der siebziger Jahre wieder gleichzeitig in der Rezession:
                                                                                    Status quo (ante)-Prognose
     Im dritten und vierten Quartal 2001 schrumpfte das Sozial-
     produkt in Japan, den USA, Europa und vielen Emerging                          Nähme man die derzeitig gängigen Konsensprognosen zur
                                                                                    Grundlage, etwa die von IWF, OECD oder Sachverständi-
     * Prof. Dr. Norbert Walter ist Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe, Deut-
                                                                                    genrat, so wäre wohl kaum wirtschaftspolitisches Handeln
       sche Bank Research.                                                          herausgefordert. Zumeist erwarten die Auguren eine (durch

     ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt             13

heutige Weichenstellungen bereits angelegte) Erholung spä-           mehr absenkbar, und japanischer Stimulierungspolitik steht
testens ab Jahresmitte 2002. Untermauert wird diese Sicht            der himmelhohe Schuldenberg des Staates entgegen. Die
mit Hinweis auf bisherige Zinssenkungen, vermutete niedri-           Entwicklungsländer schließlich haben – wie die zumeist ex-
ge Energiepreise, erwartete Erfolge amerikanischer Stimu-            trem hohen Risikoprämien zeigen – ein ausgewachsenes
lierungspolitik und »stabilitätspaktgemäße« Finanzpolitik in         Glaubwürdigkeitsproblem an den Finanzmärkten.
Europa. Wenn diese Faktoren das geschilderte Profil des
Konjunkturverlaufs erwarten lassen, so ist pro-aktives fi-           Aber sind nicht die Wirkungslags der Finanzpolitik zu lange
nanzpolitisches Handeln in Europa unangebracht. Denn An-             für eine solche Therapie? Die Antwort ist (kann) ein Nein
regungen für eine Wirtschaft, die (dann wieder) mit Normal-          (sein). Entscheidet man sich für solche Maßnahmen, die –
raten wächst, sind selbstverständlich nicht angebracht – zu-         weil in der Schublade liegend – keine Vorbereitung mehr
mal doch jedermann weiß, dass die »lags« jeder Art von Wirt-         erfordern, so wären Effekte im zweiten Halbjahr 2002 noch
schaftspolitik nicht diesseits, sondern eher jenseits von zwei       erreichbar. Dies ist dann sachgerecht und zeitgerecht, wenn
Quartalen liegen und dies bei Geld- wie Finanzpolitik.               die Nachfrageschwäche länger als in den heutigen best-
                                                                     case Szenarios anhalten sollte. Das heißt, entsprechende
Also wozu bitte das Getöse und die Debatte um Stimulie-              Maßnahmen wären also wahrscheinlich angemessen. Zu
rung, die offenbar gar nicht gebraucht wird? Schaut man et-          denken ist vor allem an das Vorziehen der für 2003/2005
was genauer hin, stellt man fest, dass praktisch alle heu-           beschlossenen Steuersenkungen. Um konjunkturell effek-
tigen Quantifizierungen für Jahr-2002-Prognosen nicht                tiv zu sein, sollte man außer der Senkung der Steuersätze,
»base-case« Prognosen, sondern »best-case«-Prognosen                 einen Teil der Grundfreibetragserhöhungen, die für 2005 vor-
sind. Allenthalben wird gesagt, dass es anders als darge-            gesehen sind, jetzt umsetzen, notfalls retroaktiv für das Jahr
stellt, nämlich allein schlechter, kommen könne. Ein sol-            2002. Für diese Maßnahmen und rasch verwirklichbare In-
cher Befund mahnt zur Vorsicht. Er zeigt, dass eine länge-           frastrukturinvestitionen sprechen nicht nur die daraus re-
re und tiefere Rezession in der Welt und in Europa keines-           sultierenden stützenden Impulse für die Gesamtnachfrage.
wegs als unwahrscheinlich angesehen wird. Er gibt also               Mindestens ebenso wichtig sind die angebotspolitischen Ef-
gute Gründe, etwas gegen diesen durchaus wahrschein-                 fekte, nämlich die Förderung des mittelfristigen Wirt-
lichen Fall zu unternehmen.                                          schaftswachstums durch verbesserte Leistungsanreize und
                                                                     durch Verminderung von Infrastrukturengpässen (Staus auf
                                                                     Straßen etc.).
Welche Therapie?
                                                                     Wenn das alles aus nationalen, europäischen, ja internatio-
Wenn es denn Bedarf für wirtschaftspolitisches Handeln gibt,         nalen Erwägungen und für Nachfrage- und Angebotsüber-
so scheint der Konsens weiteren Zinssenkungen der EZB,               legungen gleichermaßen erwünscht ist, warum dann die-
aber auch der Bank of England zuzuneigen. Bei klaren Pers-           ser Widerstand allenthalben: bei Teilen der Wissenschaft,
pektiven für unter 2% liegende Inflationsraten für die nächs-        Teilen der Wirtschaft, Teilen der Opposition, am meisten aber
ten eineinhalb bis zwei Jahre erscheinen Notenbankrefi-              bei der Regierung und insbesondere dem Finanzminister?
nanzierungssätze von 31/2 bzw. 4% als noch zu hoch. Die-             Offenkundig ist, dass bei meiner base-case-Prognose be-
se Beurteilung würde noch stärker gelten, wenn der Euro              reits ohne Veränderung der Haushaltspläne 2002 das Haus-
gegen Yen und Dollar aufwertet. Eine solche Perspektive              haltsdefizit bei oder gar über 3% des Bruttosozialproduk-
wird zwar am Markt eher nicht geteilt. Gleichwohl halte ich          tes liegen wird.
sie für recht wahrscheinlich, da das japanische und das
US-Interesse an einer fairen Bewertung ihrer Währungen in            Meine Anregungen für die Änderung der Finanzpolitik bräch-
der nächsten Zeit vehementer vorgetragen werden wird. (Ja-           ten für Deutschland 2002 ein Haushaltsdefizit außerhalb des-
panische Deflation und US-Leistungsbilanzdefizit sollten ge-         sen, was im Maastricht-Vertrag zugelassen ist. Da ich ei-
nug Anlass für eine Euro-Aufwertung sein.)                           nen Rückgang des Sozialprodukts von über 2% nicht vor-
                                                                     aussehe (2002), gilt die eine, explizite Ausnahme von der
Werden Fed- und EZB-Zinssenkungen ähnlich wenig ef-                  Masstricht-Regel nicht. Schlage ich also vor, die Maastricht-
fektiv sein wie die Zinssenkungen in Japan? Diese Ansicht            Regel zu missachten?
teile ich nicht. Freilich hielte ich es für erforderlich, dass Eu-
ropa die USA in der finanzpolitischen Stimulierung beglei-           Nein: Stattdessen schlage ich vor, die Ermessensentschei-
tet. Für eine stimulierende europäische Finanzpolitik beste-         dungen anzuwenden: Mit zwei Drittel der Stimmen (der übri-
hen gute Gründe. Nicht allein die Nachfragestimulierung,             gen EU-Länder) sollte als Reaktion auf ein Ereignis außer-
vielmehr auch angebotspolitische Reformen, sind gefordert.           halb der Kontrolle (11. September) eine Maßnahme ergrif-
Europa ist auch deswegen gefordert, weil die Weltnachfra-            fen werden, die vorübergehend (d.h. für 2002) eine Verlet-
ge durch Japan und die Emerging Markets faktisch nicht               zung der 3% Regel duldet, weil mit ihr eine realistische Chan-
mehr angeregt werden kann. Japanische Zinsen sind nicht              ce auf eine Rückkehr zum Wachstumspfad im Jahre 2003

                                                                                        54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
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