Parallelpolitik - ja oder nein? - Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession?
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Parallelpolitik – ja oder nein? Mit einem Konjunkturprogramm gegen die drohende Rezession? 3 Deutschland ist zurzeit nicht Impulsgeber und Wachstumsmotor der EU, sondern Schlusslicht und Wachstumsbremse der Gemeinschaft. Wie sollte der ins Stocken gekommene Konjunk- turmotor wieder in Gang gebracht werden? Konjunkturgerechte agnose der Forschungsinstitute wird die- Konsolidierung erforderlich ses Vorgehen präferiert. Der SVR macht allerdings die Einschränkung, dass, sollte Die Finanzpolitik nicht nur in Deutschland, die wirtschaftliche Entwicklung spürbar sondern im gesamten Euroraum steht vor schlechter laufen als von ihm vorhergesagt, großen Herausforderungen. Der Konjunk- zusätzliche expansive finanzpolitische tureinbruch hat die Hoffnungen vieler Län- Maßnahmen wie eine Senkung der Ein- der, relativ rasch die öffentlichen Haushal- kommensteuer um 10% nach dem Stabi- litäts- und Wachstumsgesetz erforderlich te mehr oder minder auszugleichen, zu- seien. Eine solche Einschränkung fehlt im nichte gemacht. Dies gilt insbesondere für Minderheitsvotum. Die Mehrheit der For- die größeren Länder des Euroraums, schungsinstitute plädiert hingegen mit ih- Deutschland, Frankreich und Italien. Alle rem Votum für das Vorziehen der Steuer- Gustav Adolf Horn* drei werden die von ihnen selbst gesetz- reform für einen Weg zwischen den Alter- ten Ziele sowohl in diesem als auch im nativen zwei und drei. Zum einen sollen die nächsten Jahr zum Teil bei weitem nicht automatischen Stabilisatoren in vollem erreichen. Damit stellen sich entscheiden- Umfang wirken. Darüber hinaus soll auch de Fragen nach dem weiteren finanzpoli- die Reduzierung der strukturellen Defizite tischen Vorgehen. Sollen die Zielvorgaben im Vergleich zur bisherigen Planung um ein auch vor dem Hintergrund der schlechte- Jahr hinausgeschoben werden (Arbeits- ren Konjunktur eingehalten werden? Dies gemeinschaft wirtschaftswissenschaft- würde rasch zusätzliche Konsolidierungs- licher Forschungsinstitute 2001). programme erfordern. Oder sollen die Zie- le nur realistisch, d.h. unter Berücksichti- Wie sind diese verschiedenen Vorschlä- gung der Konjunkturschwäche, ange- ge nun aus gesamtwirtschaftlicher Sicht passt, und im Übrigen der Konsolidie- zu beurteilen? Das Kriterium, nach dem rungskurs fortgesetzt werden? Dies wäre ein Urteil in dieser Sache gefällt werden die Empfehlung, die so genannten auto- sollte, besteht dabei in den Konsequen- matischen Stabilisatoren wirken zu lassen zen, die das jeweilige Vorgehen auf län- und die strukturellen Defizite weiter – wie gere Sicht für Wachstum und Beschäfti- geplant – zu reduzieren. Oder gehört die gung hat. Eine wesentliche Rolle spielt hier gesamte Konsolidierungsstrategie auf den die Frage, ob konjunkturelle und struktu- Prüfstand? Demnach wäre auch die kon- relle öffentliche Fehlbeträge unterschied- junkturunabhängige Rückführung der lich in ihrer Wachstumswirkung einzu- strukturellen Defizite auszusetzen. schätzen sind. Dabei ist auch die Frage der Glaubwürdigkeit bedeutsam. Unstrit- Folgt man den nicht immer ganz klaren Be- tig ist zumindest in der Theorie, dass kon- kundungen der Europäischen Kommission junkturbedingte Defizite den Wachs- oder auch der Bundesregierung, so wer- tumspfad stabilisieren. Indem der Staat den entweder die erste oder die zweite Einkommen gleichsam automatisch über Alternative angestrebt. Gewichtet man die bestehende Leistungsgesetze z.B. durch Bekundungen mit Wahrscheinlichkeiten, die Zahlung von Arbeitslosengeld in Pha- läuft wohl alles auf die zweite Alternative sen konjunktureller Schwäche ausweitet, hinaus. Denn zusätzliche Konsolidie- gleicht er einen Teil des privaten Einkom- rungsprogramme, so sie denn kommen- mensverlust, der in Folge der schwäche- des Jahr greifen sollten, sind nicht in Sicht. ren wirtschaftlichen Aktivität zu erwarten Auch der Sachverständigenrat zur Begut- achtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- * Dr. Gustav Adolf Horn ist Leiter der Konjunkturab- wicklung (SVR 2001, Ziffer 390 ff.) und im teilung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- Minderheitenvotum zur Gemeinschaftsdi- schung (DIW), Berlin. 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
4 Zur Diskussion gestellt ist, aus. Damit verhindert er eine tiefere Rezession mit hö- wird, keine konjunkturell positiven Effekte mit sich bringen herer sich möglicherweise sogar verfestigender Arbeitslo- würde. Dahinter steht die Überlegung, dass zum einen eine sigkeit. Umgekehrt bremsen konjunkturbedingte Verände- solche Form der Staatsverschuldung irgendwann durch Steu- rungen bei einem starken Aufschwung das Expansions- ererhöhungen getilgt werden müsste. Denn sie können ja tempo und tragen damit zur Vermeidung einer konjunktu- auch durch einen Konjunkturaufschwung nicht wieder rück- rellen Überhitzung bei. Hieraus folgt unmittelbar, dass die gängig gemacht werden. Zum zweiten entstehen Zinszah- erste Alternative einer konjunkturunabhängigen Rückfüh- lungen durch die Kredite, die in den Folgejahren den öffent- rung der Hauhaltsdefizite unterlegen ausscheidet. lichen Haushalt belasten und gleichfalls durch höhere Steu- ern finanziert werden müssten. Rational handelnde Wirt- Gleichwohl wurde immer wieder der Eindruck erweckt, als ob schaftssubjekte wüssten all dies und würden durch entspre- dies ein gangbarer Weg sei. Nicht zuletzt sind die Stabili- chend vermehrtes Sparen Vorsorge tragen. Damit wäre der tätsprogramme der einzelnen europäischen Regierungen häu- positive Effekt höherer öffentlicher Nachfrage durch einen ent- fig so interpretiert worden. Auch kann die entsprechende sprechend negativen bei der privaten Nachfrage aufgehoben. Übereinkunft im Stabilitätspakt von Dublin durchaus so ver- standen werden.1 Damit wurde zumindest politischer Druck Diese Überlegungen sind jedoch aus zwei Gründen nicht entwickelt, die einmal vorgegebenen Werte einzuhalten, oh- überzeugend. Zum einen muss die Staatsschuld nicht ge- ne dass die konjunkturelle Lage berücksichtigt wird. Eine tilgt werden, sondern sie kann weiter vererbt werden, es solche Strategie ist in den USA allerdings schon vor zehn Jah- sei denn, man sähe das Ende des Staates voraus. Mehr ren gescheitert. Seinerzeit wurde dann auch der Gramm-Rud- noch, resultiert die Staatsschuld im Wesentlichen aus in- man Act, der ebenfalls auf Vorgabe von Defizitwerten ohne vestiven Ausgaben, dann sollten früher oder später Erträge Blick auf die Konjunktur basierte, abgeschafft. Zwar beto- dieser Investitionen z.B. in Infrastruktur oder Bildung sicht- nen die Regierungen nunmehr sehr stark, dass die Stabili- bar werden, die dann in Form höheren Wachstums tat- tätsprogramme sehr wohl unter Berücksichtigung der wahr- sächlich zur Tilgung der Schuld führen. Der Sachverständi- scheinlichen konjunkturellen Entwicklung entstanden seien genrat trägt diesem Gedanken im Übrigen Rechnung, in- und insofern bei einer veränderten Einschätzung auch ent- dem er zu Recht die staatlichen Nettoinvestitionen bei der sprechend angepasst werden müssen. Aber selbst wenn der Ermittlung des strukturellen Defizits abzieht. Das Vorhan- Wechsel der Strategie nur ein wahrgenommener und kein densein einer Staatsverschuldung, insbesondere wenn sie wirklicher wäre, so berührt dies doch die Glaubwürdigkeit der von Investitionen herrührt, impliziert somit keine automati- gesamten Konsolidierungsstrategie. schen Steuererhöhungen. Bleiben die Belastungen durch Zinszahlungen. Steuererhö- Reichen die automatischen Stabilisatoren aus? hungen würden hieraus nur dann zwangsläufig folgen, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst und keine Preissteigerun- Um in Zukunft Glaubwürdigkeitsprobleme schon im Ansatz gen aufweist. Das ist nicht die Welt, in der wir leben. Auch zu vermeiden, ist es erforderlich, die Bedeutung der Kon- wenn es aktuelle Probleme gibt, so ist doch auf mittlere Sicht junktur für die Entwicklung der angestrebten Defizitwerte deut- – und die ist für die hier gemachten Überlegungen ent- lich zu machen. Insbesondere muss im Rahmen der beiden scheidend – mit einem nominalem Wachstum zu rechnen. letzt genannten Strategien der Öffentlichkeit erläutert werden, Dann aber ist auch bei steigenden Einkommen und stei- dass Defizite in Zeiten schwacher Konjunktur höher ausfal- genden Gewinnen mit steigenden Steuereinnahmen zu rech- len dürfen als geplant und bei günstiger Entwicklung sogar nen. Aus ihnen können die Zinszahlungen finanziert werden, stärker zurückgeführt werden sollten als vorhergesehen. Der ohne dass die Steuern erhöht werden müssten, wenn die Kern des Streits zwischen der Mehrheit der Forschungsins- Zinszahlungen schwächer zunehmen als die wachstums- titute auf der einen Seite und der Minderheit sowie dem Sach- bedingten Steuereinnahmen. Dies ist gleichzeitig ein Argu- verständigenrat auf der anderen Seite besteht nun darin, ob ment gegen ausufernde Fehlbeträge in öffentlichen Haus- das Wirken lassen der automatischen Stabilisatoren ausreicht, halten, die ohnehin niemand will. Es zeigt, dass auch bei um die Konjunktur zu verstetigen oder ob man darüber hin- steigenden strukturellen Defiziten Steuererhöhungen nicht aus gehen muss. Das Argument des SVR bzw. der Minder- zwangsläufig sind. Gerade rational handelnde Wirtschafts- heit ist, dass in einer Schwächephase eine über die Kon- subjekte haben dann überhaupt keinen Grund, zusätzlich junktureffekte hinausgehende Ausweitung der Fehlbeträge, zu sparen und damit die konjunkturelle Wirkung der höhe- die als eine Erhöhung des strukturellen Defizits aufgefasst ren öffentliche Defizite zu konterkarieren. 1 Im Stabilitätspakt heißt es in der Richtlinie F3 (Council Regulations (EC) Aus alldem folgt, dass auch von höheren strukturellen Defi- No 1466/97 in Punkt 4: »... whereas adherence to the medium-term ob- ziten bis zu einem gewissen Grad konjunkturell anregende jective of budgetary positions close to balance or in surplus will allow Mem- ber States to deal with normal cyclical fluctuations while keeping the go- Wirkungen ausgehen. Sind diese aber auch erwünscht? Dies vernment deficit within 3% of GDP reference value«. hängt von den Ursachen der aktuellen konjunkturellen Schwä- ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 5 che ab. Es geht dabei um die Frage, ob eine Angebots- oder setzt. Es handelt sich lediglich um eine durch die konjunk- eine Nachfrageschwäche vorliegt. Auch wenn bis zum Be- turelle Notlage bedingte zeitweilige Abweichung. ginn dieses Jahres der Ölpreisschocks die Angebotsbedin- gungen belastet hat, so ist die derzeitige Rezession im We- Genau dies wird im Minderheitsvotum als ein Verlust an sentlichen das Ergebnis einer Nachfrageschwäche, die ih- Glaubwürdigkeit für den gesamten Konsolidierungskurs kri- ren Ursprung in der Rezession in weiten Teilen der Weltwirt- tisiert. Auch dies überzeugt aus zwei Gründen nicht. Zum schaft vor allem in den USA und in dem restriktiv angelegten einen besteht gleichsam ein Automatismus zur Rückkehr geldpolitischen Kurs der EZB vom vergangenen Jahr hat. Un- auf den ursprünglichen Pfad: Wenn die Bundesregierung ter diesen Umständen kann die Fiskalpolitik stabilisierend wir- nichts tut, tritt dies ein. Glaubt man an diesen Pfad, besteht ken, indem sie den privaten Nachfrageausfall teilweise kom- also überhaupt kein Anlass zu zweifeln. Grundsätzlicher ist pensiert. Dies geschieht, indem die Defizite, ob strukturell aber zum zweiten zu fragen, wie eigentlich der ursprüngli- oder konjunkturell ist dabei unter den geschilderten Rah- che Konsolidierungspfad aussieht. Sind das die im bisheri- menbedingungen ohne Belang, ausgeweitet werden: Die Fis- gen Stabilitätsprogramm genannten Werte? Oder sind es kalpolitik muss sich antizyklisch verhalten. die schon angekündigten veränderten Werte? Sind diese Werte als tatsächliche Realisationen oder nur als strukturelle Genau dies ist der wesentliche Punkt der Empfehlung der Defizite, also konjunkturbereinigt, aufzufassen? Wenn als Mehrheit der Forschungsinstitute bei der Gemeinschaftsdi- strukturelle Werte, wie wurden sie dann berechnet? agnose. Um die schwache Konjunktur zu stützen, schla- gen sie vor, die nächste Stufe der Steuerreform von 2003 Mit anderen Worten, es besteht ein so erheblicher Interpre- auf 2002 vorzuziehen. Dies wäre ein expansiver Impuls von tationsspielraum, dass derzeit von einem klar definierten etwa 13 Mrd. DM. Dies ist nicht einmal besonders viel. Den- Konsolidierungspfad keine Rede sein kann. Das Glaubwür- noch wäre es unter den gegenwärtigen Bedingungen ein digkeitsproblem ist somit unabhängig von der Entscheidung kleiner Schritt in die richtige Richtung. Denn auf diese Weise der Bundesregierung schon existent, weil der Konsolidie- kann eine prozyklische, die Konjunktur noch mehr destabi- rungspfad bereits in der Vergangenheit unklar und insbe- lisierende Finanzpolitik vermieden werden. Wichtig ist da- sondere ohne explizite Berücksichtigung der Konjunktur- bei, dass das Vorziehen von weiteren Maßnahmen flankiert entwicklung definiert wurde. Jetzt wird offenbar, dass die wird. Insbesondere ist zu verhindern, dass die Steueraus- gesamte Konsolidierungsstrategie, die auf dem Erreichen fälle, die mit diesem Vorgehen verbunden sind, primär bei von Defizitzielen basiert, ergänzungsbedürftig ist. Sie muss den Kommunen nicht zu einem prozyklischen Verhalten führt. – wie die Forschungsinstitute im Frühjahr schon gemeinsam Üblicherweise reagieren die Gemeinden, weil ihnen der Zu- gefordert haben – durch Ausgabenziele flankiert werden. gang zu einer höheren Verschuldung rechtlich weitgehend verwehrt ist, auf geringere Steuereinnahmen mit einer Re- Vernünftig wäre es, wenn diese Ziele auf der einen Seite so duzierung ihrer Investitionen. Das aber würde die expansi- ehrgeizig wären, dass innerhalb eines überschaubaren Zeit- ve Wirkung der vorgeschlagenen Maßnahmen erheblich be- raumes bei »normaler« Konjunkturlage einen Budgetaus- einträchtigen. Um dem zu begegnen, hat die Mehrheit der gleich erreicht werden könnte. Sie sollten aber auch so groß- Institute empfohlen, dass der Bund den Gemeinden mit zu- zügig sein, dass eine prozyklische Politik bei schwacher Kon- junktur vermieden werden kann. Zu solchen – gesamtwirt- sätzlichen Investitionszuweisungen unter die Arme greift. schaftlich vernünftigen – Anforderungen hat sich auch die Dies hat zudem den Vorteil, dass das Programm eine stark Mehrheit der Institute nicht durchringen können. Dabei hät- investive Komponente aufweist und die Mittel ohne Friktio- te ein solches Vorgehen den Charme, das Endziel Konsoli- nen in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen. dierung beizubehalten und gleichzeitig konjunkturellen An- forderungen gerecht zu werden. Deren Vernachlässigung hat sich schon in diesem Jahr gerächt. Wer Glaubwürdig- Ausweitung des strukturellen Defizits nur keit bei der Konsolidierung will, sollte die Konjunktur immer temporär im Auge behalten. Ohne Zweifel führt der Vorschlag auch zu einer Ausweitung des strukturellen Defizits im kommenden Jahr. Dieser ist aller- Literatur dings nur temporär, da es sich ja lediglich um ein Vorziehen einer bereits beschlossenen Maßnahme handelt, und nicht Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute (2001), um ein zusätzliches Programm. Schon im Jahre 2003, wenn »Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2001«, DIW-Wochenbericht (43) und ifo Schnelldienst 54 (20), 3–43. die Maßnahmen ohnehin in Kraft getreten wären, würde Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- der ursprünglich geplante Pfad der Defizitentwicklung wie- wicklung (SVR), Für Stetigkeit – Gegen Aktionismus, Wiesbaden. der erreicht. Insofern impliziert der Vorschlag der Institute keine grundsätzliche Abkehr von einer Konsolidierungs- strategie, die auf fortlaufend reduzierte strukturelle Defizite 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
6 Zur Diskussion gestellt wegen eines gravierenden Nachfragemangels durch Kon- junkturprogramme »aus der Krise« führen müsse. Auch muss man analysieren, welche Ursachen denn eigent- lich hinter der Konjunkturschwäche stehen, bevor man die Therapie verordnet. Seit dem 11. September haben sich die kurzfristigen Konjunkturaussichten zweifellos verschlechtert. Aber was genau ist denn das Problem, das aus den Terror- anschlägen resultiert? Unter anderem haben die Verbraucher sich entschlossen, vorerst weniger zu konsumieren; dies ist eine natürliche Reaktion auf den Schock. Warum sollte der Staat oder auch die Notenbank diese Entscheidung, für die Joachim Scheide* es gute Gründe gibt – zumal sie den Präferenzen entspricht – korrigieren wollen? Hier haben wir es nicht mit einem typi- schen Problem der Nachfrageschwäche zu tun. Was die anderen Auslöser des konjunkturellen Abschwungs Geldpolitik hat erhebliche Vorteile seit Mitte 2000 angeht: Die Notenbanken haben die Zin- sen, die sie zuvor wegen der Inflationssorgen anheben mus- Die Frage, was die Finanzpolitik jetzt tun kann oder muss, sten, bereits wieder so deutlich verringert, dass man von hängt von verschiedenen Dingen ab. So geht es um eine Di- einer sehr expansiven Geldpolitik sprechen muss. Und die agnose, ob derzeit in Deutschland wirklich eine keynesiani- Ölpreise sind inzwischen drastisch gesunken, so dass auch sche Situation vorliegt. Ferner ist zu klären, in welchem Be- von dieser Seite ein Impuls für die Konjunktur ausgeht. Kurz- reich der Wirtschaftspolitik der komparative Vorteil hinsichtlich um: Die Konjunktur wird im kommenden Jahr wieder Fahrt der Konjunkturstabilisierung liegt. Und vor allem ist zu prü- aufnehmen. fen, ob die Finanzpolitik überhaupt so wirkt wie zumeist unter- stellt, oder ob Konjunkturprogramme nicht vielmehr kontra- produktiv sein können. Finanzpolitik eignet sich nicht zur Konjunktur- steuerung Keine Krise Unabhängig davon, wie die aktuelle wirtschaftliche Lage zu beurteilen ist, gibt es generell eine große Skepsis in der Wirt- Die deutsche Wirtschaft befindet sich nach der gängigen schaftswissenschaft gegenüber der Wirksamkeit der Fi- Definition fast in einer Rezession. Allerdings ist sie bei wei- nanzpolitik, wenn sie als Konjunkturpolitik gemeint ist. Ein tem nicht so ausgeprägt wie die Konjunktureinbrüche Konsens besteht darin, dass die automatischen Stabilisa- 1974/75, 1980/82 und 1992/93. Damals sank das reale toren wirken sollen, das heißt, der Staat soll diejenige Ab- Bruttoinlandsprodukt kräftig, und die Arbeitslosigkeit schnell- nahme des Budgetsaldos, die aus einer schwachen Kon- te in die Höhe. Auch waren die Auslöser jener Rezessionen junktur resultiert, nicht zum Anlass nehmen, von der ur- gravierende Schocks, die nicht vergleichbar sind mit dem, sprünglichen Ausrichtung der Finanzpolitik abzuweichen. was die jetzige Konjunkturflaute ausgelöst hat. Zu nennen Durch das Wirken lassen der Stabilisatoren leistet die Fi- sind als Faktoren etwa die Explosion der Ölpreise in den nanzpolitik bereits einen Beitrag, wenn es darum geht, eine siebziger Jahren, die massiven Zinsanhebungen durch die Konjunkturschwäche zu überwinden oder im umgekehrten Deutsche Bundesbank in allen drei Phasen, sowie teilweise Fall einen Boom zu dämpfen. Mehr sollte die Finanzpolitik die Kollision zwischen restriktiver Geldpolitik und aggressi- nur dann tun, wenn es keine anderen Mittel der Wirt- ver Lohnpolitik. schaftspolitik gibt, die besser geeignet sind. Auch dieser Vergleich macht deutlich, dass wir es gegen- Das gesamtwirtschaftliche Ziel der Wirtschaftspolitik besteht wärtig nicht mit einer Ausnahmesituation zu tun haben, die – so der weitgehende Konsens in der Literatur der Makro- außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Und schon gar ökonomie – darin, sowohl den Output Gap als auch die Dif- nicht kann davon gesprochen werden, dass wir nun in ei- ferenz zwischen der Inflation und der Zielinflationsrate so ge- ner keynesianischen Situation wären, in der uns der Staat ring wie möglich zu halten. Bei der Gewichtung der beiden Ziele mag es in den einzelnen Volkswirtschaften Unterschiede geben, und ein Problem ist auch, dass es zwischen der Sta- * Prof. Dr. Joachim Scheide ist Leiter der Abteilung Konjunktur am Institut bilisierung des Output und der Inflation einen Trade off gibt. für Weltwirtschaft (IfW) Kiel. Das ist aber für die hier behandelte Frage unerheblich. ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 7 Kann die Finanzpolitik dieses Zielbündel besser erreichen erfolgt, werden die zusätzlichen Staatsausgaben eben nicht als die Geldpolitik? Wohl kaum. Die Geldpolitik hat hinsichtlich den gewünschten positiven Effekt haben und schon gar nicht der Konjunkturstabilisierung erhebliche Vorteile: Sie kann eine Multiplikatorwirkung. Es kann sogar das Gegenteil ein- schneller reagieren, die Entscheidungslags sind wesentlich treten. kleiner als bei der Finanzpolitik. Und sie ist auch wesentlich flexibler, denn sie kann, wenn es erforderlich ist, Zinsent- Hier wird die Parallele zur Phillips-Kurve besonders deutlich: scheidungen schnell wieder korrigieren, was für die Finanz- So wie damals behauptet wurde, dass eine hohe Inflation politik nun wirklich nicht zutrifft: Man stelle sich nur vor, die Arbeitsplätze schaffe (dauerhafte sogar!), wird für die Fi- Höhe der Steuersätze würde mit der Höhe des Output Gaps nanzpolitik behauptet, der Staat brauche nur seine Ausga- variieren! Wenn die Geldpolitik also bereits die Aufgabe er- ben zu auszuweiten, um das reale Bruttoinlandsprodukt zu füllt, was kann dann die Finanzpolitik noch zusätzlich zum erhöhen, und zwar sowohl kurzfristig als auch auf Dauer. Erreichen der Ziele beitragen? Angenommen, sie ist tat- So wie man ausrechnete, bei welcher Inflation denn Vollbe- sächlich so wirksam wie vielfach unterstellt, kann sie dann schäftigung erreicht werde, kann man nun angeblich aus- nicht sogar die Aufgabe der Geldpolitik erschweren, wenn rechnen, wie stark die Staatsausgaben hochgefahren wer- sie nämlich erst – eben wegen der Entscheidungslags und den müssen, damit der Output Gap geschlossen wird. Ei- der Wirkungslags – relativ spät wirkt, also zu einem Zeit- ne exakte Wissenschaft hat ja so ihren Reiz, aber mit dem, punkt, wenn die Geldpolitik schon genug für das Ziel getan was die ökonomische Theorie zu solchen Fragen sagt, hat hat? Sicherlich wirkt auch die Geldpolitik nur verzögert, doch das nun herzlich wenig zu tun. ist die Unsicherheit bezüglich der Lags der Finanzpolitik er- heblich größer. Zu den grundlegenden Erkenntnissen gehört nun einmal, dass man mit Inflation das reale Bruttoinlandsprodukt nicht steigern kann, und mit höheren Staatsausgaben, die durch Es gibt keine Fiskalillusion Steuern finanziert werden, ist das ganz genau so. Anders gewendet: Was langfristig richtig ist, gilt manchmal eben Die meisten gängigen makroökonometrischen Modelle lei- auch schon kurzfristig. Die Theorie sagt uns, dass wir mit ten aus einem staatlichen Ausgabenprogramm oder aus mehr Inflation langfristig kein zusätzliches Realeinkommen Steuersenkungen stets positive Wirkungen für das reale Brut- schaffen können; da das langfristig nicht funktioniert, kann toinlandsprodukt ab. Und auch in der öffentlichen Diskus- es sein, dass ein Phillips-Kurven-Zusammenhang auch sion wird dieser Mechanismus selten hinterfragt. Nur kommt schon kurzfristig nicht zustande kommt. Die Theorie sagt es immer wieder vor, dass sich solche an Modellrechnun- uns ferner, dass die Volkswirtschaft langfristig nicht reicher gen geknüpfte Erwartungen nicht erfüllen. Beispiele gibt es wird, wenn der Staat anstelle der Bürger Güter kauft (es müs- in Hülle und Fülle. Woran liegt das? Die Modelle basieren auf ste sich schon um sehr produktive Ausgaben handeln für demselben Irrtum wie diejenigen Modelle, in denen vor ei- Güter, die der Markt sonst nicht hervorbringt!). Eben des- nigen Jahrzehnten eine stabile Phillips-Kurve unterstellt wur- halb kann es sein, dass der erhoffte positive Einkommens- de; geneigte Ökonomen und Politiker konnten dann dar- effekt auch kurzfristig nicht eintritt. aus ihre wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen ziehen – mit den bekannten Konsequenzen. Der Fehler, der dahinter steckte, war, dass man den wirtschaftlichen Akteuren Geld- Finanzpolitik wirkt nicht immer so, wie der illusion unterstellte. Keynesianer denkt Ganz ähnlich gilt für die Modelle, in denen die Effekte fi- Was die einen verwundert, nennen andere »nicht-keynesi- nanzpolitischer Maßnahmen untersucht werden sollen: Es anische Effekte«. Nun behauptet niemand, dass diese nicht- herrscht eine Fiskalillusion. Genau wie bei der Phillips-Kur- keynesianischen Effekte immer auftreten. Deshalb käme ve unterstellt man den Wirtschaftssubjekten, dass sie sich auch niemand auf die Idee, Steuererhöhungen zu empfeh- über die Auswirkungen der Politik keine Gedanken machen, len, um die Konjunktur anzukurbeln. Jedoch macht die Ana- in diesem Fall also die zukünftigen Wirkungen der finanz- lyse folgendes klar: Um die kurzfristigen Effekte finanzpoli- politischen Maßnahmen nicht berücksichtigen. Was die ma- tischer Maßnahmen abschätzen zu können, braucht man kroökonomische Forschung in den vergangenen drei Jahr- erstens eine Aussage darüber, wie sie langfristig wirken, und zehnten jedoch als sinnvolle Arbeitshypothese hervorge- zweitens darüber, wie die Wirtschaftssubjekte ihre Erwar- bracht hat, ist, dass die Wirtschaftssubjekte sich rational tungen bilden. Beides ist aber bei den herrschenden ma- verhalten. Anders als in den meisten Modellen spielen Er- kroökonometrischen Modellen meist ausgeblendet, und des- wartungen über die künftige Finanzpolitik eine entscheidende halb kommen sie rein mechanisch zu den Effekten, die man- Rolle. Konkret: Wenn die Staatsausgaben erhöht werden che als keynesianische Hydraulik bezeichnen. Ausgeblen- und die privaten Unternehmen und Haushalte vermuten, det ist dabei konkret: Die Wirtschaftssubjekte wissen im Fal- dass die Finanzierung in der Zukunft über höhere Steuern le höherer Staatsausgaben, dass die Steuern demnächst 54. 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8 Zur Diskussion gestellt erhöht werden. Unterstellt man vorausschauende Akteure Bundesregierung wird versprochen, die Steuern und die und macht so praktisch den Sprung vom IS/LM-Modell der Staatsausgaben (jeweils in Relation zum Bruttoinlandspro- ersten Generation zu dem der dritten Generation, können dukt) zu senken. Dies ist ein Wachstumsprogramm, wie es sich die Effekte umdrehen. Genau darum geht es. im (neuen) Lehrbuch steht, sofern es durchgehalten wird. Damit wird sozusagen die Regel für die Finanzpolitik fest- Das alles ist keine abstrakte theoretische Spitzfindigkeit, son- gelegt. Sie muss eingehalten werden, wenn die Regierung dern es ist für die aktuelle Debatte höchst relevant. Denn nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren will. Zusätzliche Staats- es gibt für die Vergangenheit zahlreiche Beispiele, bei de- ausgaben verbieten sich da. nen die üblicherweise unterstellten Effekte nicht eingetre- ten sind. Dabei muss man gar nicht einmal auf Japan oder Auch aus diesem Grund kann die Finanzpolitik nicht dazu auf das französische Experiment unter Mitterand verweisen. übergehen, die Haushaltskonsolidierung von der Konjunk- Diejenigen Länder, die einen scharfen Konsolidierungskurs tur abhängig zu machen. Mit der aktiven Konjunkturpolitik, in der Finanzpolitik eingeschlagen haben, indem sie Aus- wie sie jetzt gefordert wird, würde man von dem für richtig gaben kürzten, erlebten fast gleichzeitig einen Boom oder gehaltenen Konzept abweichen und diese Ankündigung erst zumindest eine gute Konjunktur und nicht einen Einbruch, recht unglaubwürdig machen. Denn die Bürger wissen doch, wie die gängige These lauten würde. Beispiele hierfür sind dass sich Staatsausgaben nicht von allein finanzieren und Irland in den achtziger Jahren sowie Finnland und Schwe- dass sie auch nicht wieder ganz zurückgefahren werden, den in den neunziger Jahren. wenn die Konjunktur besser läuft. Daher werden sie bei ih- rer Erwartung, dass die Steuern mittelfristig gesenkt wer- Nun kann man einwenden, dass die sog. nicht-keynesiani- den, Abstriche machen. Folglich treten genau die Effekte schen Effekte auf solche Fälle beschränkt sind, in denen Ex- ein, die eigentlich nicht sein dürfen, die aber eben aus der tremsituationen vorlagen, was etwa die Höhe der Staats- oben beschriebenen Theorie folgen. verschuldung betrifft, und dass folglich alles, was aus die- ser Sackgasse heraus führte, sich positiv auf die Konjunk- Braucht diese These noch einen Beleg? Als die Bundesre- tur auswirkte. Doch gibt es zahlreiche Beispiele, in denen gierung im Herbst dieses Jahres zusätzliche Ausgaben für die Effekte der Finanzpolitik ebenfalls anders waren als er- die Sicherheit beschloss, erhöhte sie im Gegenzug die Steu- wartet. So wurde die Staatsquote in den USA in den neun- ern. Welch ein Signal für die Steuerzahler! Ferner laufen die ziger Jahren kontinuierlich verringert, was nicht verhinder- Staatsausgaben ohnehin aus dem Ruder: Die Ausgaben- te, dass die USA einen Superboom erlebten. In Deutsch- quote wird im Jahr 2002 um rund 3 Prozentpunkte höher land gab es im Jahr 2001 unter den größeren Staaten des sein als im Stabilitätsprogramm 2000 der Bundesregierung Euroraums den größten finanzpolitischen Impuls, gleichzei- angekündigt. Und da soll nun durch ein Konjunkturprogramm tig aber auch den größten konjunkturellen Rückschlag. All nochmals draufgelegt werden? dies passt nicht zu der herkömmlichen Auffassung bezüg- lich der Wirksamkeit der Finanzpolitik. Der andere Vorschlag, die nächste(n) Stufe(n) der Steuerre- form vorzuziehen, scheint diesen Makel nicht zu haben. Doch Immer mehr Ökonomen haben sich denn auch von dieser gilt auch hier: Es wird dadurch schwieriger, das Konsolidie- uralten Idee verabschiedet, darunter namhafte Keynesia- rungsziel zu erreichen. Nun mag man etwas gegen die Kon- ner wie John Taylor und Alan Blinder. Letzterer schrieb im solidierung an sich haben. Doch wer das Ziel unterstützt, dem muss daran gelegen sein, dass das Budgetdefizit nicht American Economic Review (Mai 1997, S. 242): »Yet the no- zu groß wird, denn ansonsten besteht das Risiko, dass spä- tion that what is called ›contractionary‹ fiscal policies may ter die Steuern doch nicht so gesenkt werden wie geplant in fact be expansionary is fast becoming part of the con- bzw. sogar erhöht werden müssen. Glaubwürdig – und des- ventional policy wisdom«. halb mit den gewünschten positiven Effekten verbunden – wäre das Vorziehen nur dann, wenn gleichzeitig entspre- chend gespart würde. Nur: Wenn Einschnitte bei den Aus- Ausgaben von heute sind die Steuern von morgen! gaben heute nicht möglich sind, wie soll man dann glaub- haft machen, dass man morgen ein noch größeres Spar- Damit sind die Risiken beschrieben, die man eingeht, wenn paket schnüren wird? Also: Wer nicht sparen kann, kann man gegenwärtig Konjunkturprogrammen das Wort redet. auch nicht die Steuern senken. Das sind die Lehren aus Tatsache ist doch, dass in Deutschland und in vielen ande- der Finanzpolitik in den vergangenen Jahrzehnten. ren Ländern die Staatsquote zu hoch ist. In den vergange- nen Jahrzehnten wurden deshalb zwangsläufig die Ver- schuldung und auch die Steuerlast erhöht. Niemand be- streitet heute, dass die Belastung mit Steuern und Abgaben in Deutschland zu hoch ist. Auch in der EU hat ein Umden- ken stattgefunden, und in den Stabilitätsprogrammen der ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 9 Die Schlussfolgerung also: Besser nichts tun. Die Wirtschaft wird schon alleine wieder aus der Krise finden. Das Say`sche Theorem setzt sich am Schluss doch durch. Die Gründe für ein Konjunkturprogramm Das alles ist richtig. Ich möchte trotzdem für eine offensive- re Strategie plädieren. Nicht so sehr, weil die gegenwärtige wirtschaftspolitische Zurückhaltung eine Dr. Eisenbarth-Kur ist, die relativ lange dauert und schmerzhaft ist (und die in der modernen Medizin niemand mehr empfehlen würde). Schmerz ist manchmal notwendig zur Durchsetzung wich- Martin Hüfner* tiger Maßnahmen. Wichtiger ist daher das Argument, dass man sich mit einer solchen Vorgehensweise der Chance be- gibt, Reformen in Gang zu setzen, die sonst nicht möglich wären, und die Wirtschaft wieder auf einen dauerhaften Plädoyer für eine offensive Strategie und anhaltenden Wachstumstrend zu bringen. Dass konjunkturpolitische Ankurbelungsmaßnahmen in der Erfolgreiche Unternehmen reagieren auf die schwierige La- Bundesrepublik derzeit nicht angezeigt sind, lässt sich gut ge auf den Märkten gegenwärtig nicht nur defensiv und pas- und einleuchtend begründen. Die wirtschaftliche Schwäche, sen ihre Kapazitäten nach unten an, sondern nutzen sie als die wir im Augenblick in Deutschland erleben, ist nur vor- Chance, neue Strukturen durchzusetzen, die sonst vielleicht übergehender Natur. Mitte nächsten Jahres wird es wieder nicht, nur sehr schwer oder nur sehr langsam zu realisieren aufwärts gehen. Jedes jetzt in Gang gesetzte konjunktur- wären. Genauso sollte es meines Erachtens auch die Re- politische Programm droht daher wegen der üblichen Zeit- gierung tun. Der Staat sollte jetzt Dinge anschieben, die er verzögerungen bis zur endgültigen Wirksamkeit prozyk- unter sonstigen Umständen nur schwer in Bewegung brin- lisch zu wirken. gen würde. Die gegenwärtige Schwäche ist zudem nicht zyklisch, son- Es gehört ja zu den erfreulichsten Dingen der derzeitigen La- dern strukturell bedingt. Es fehlt also weniger an Nachfra- ge, dass unter dem Druck der wirtschaftlichen Abschwä- ge als an angebotspolitischen Reformen. Nach den Erfah- chung, auch unter dem Schock des 11. September die Be- rungen der Vergangenheit kann man im Übrigen grund- reitschaft der sozialen Gruppen in Deutschland gewachsen sätzlich skeptisch gegenüber staatlichen Programmen sein. ist, über Reformen nachzudenken und Veränderungen zu Zusätzliche Ausgaben zum Beispiel für Infrastrukturmaß- akzeptieren. Die Gewerkschaften haben laut über Lohn- nahmen brauchen wegen der komplizierten Planungsvor- pausen gesprochen und über neue Entlohnungsmodelle, läufe relativ lange Zeit, bis sie ausgabewirksam werden und die eine stärkere Differenzierung ermöglichen. Offenbar haben den Nachteil, die Staatsquote weiter aufzublähen. Al- wächst auch in der breiten Öffentlichkeit das Verständnis, lenfalls kann man darüber nachdenken, bereits in Gang be- dass es so nicht weitergehen kann. Dies entwertet das Stan- findliche Maßnahmen zeitlich vorzuziehen. Steuersenkun- dardargument, dass in Vorwahlzeiten keine größeren politi- gen führen, so heißt es, angesichts der gegebenen Verun- schen Reformen mehr möglich sind. Die Regierung hat im sicherung der Verbraucher nicht zu mehr Nachfrage, son- außenpolitischen Bereich gezeigt, dass sie trotz Vorwahlzeit dern zu mehr Ersparnis. schwierige und unpopuläre Entscheidungen durchsetzen kann. Ganz abgesehen davon verbietet sich ein Konjunkturpro- gramm wegen des europäischen Stabilitätspaktes, der das öffentliche Defizit auf maximal 3% des Bruttoinlandspro- Konjunktur schlechter als ihr Ruf dukts begrenzt. Derzeit beträgt das öffentliche Defizit in Deutschland nach Schätzungen der EU-Kommission schon Im Übrigen sollte man auch bei der konjunkturellen Beur- rund 2,5%. Einzelne Bundesländer können sich wegen teilung nicht zu optimistisch sein. Wer zu sehr auf die kon- ihrer schwierigen Finanzlage gar keine Konjunkturpro- junkturelle Erholung im kommenden Jahr setzt, übersieht, gramme leisten. dass sich die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepu- blik in den nächsten Wochen und Monaten noch einmal deutlich eintrüben wird. Das Sozialprodukt, das sich schon * Dr. Martin Hüfner ist Chefvolkswirt der HVB Group (HypoVereinsbank). im dritten Quartal verringert hat, wird im vierten dieses und 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
10 Zur Diskussion gestellt vielleicht auch im ersten Quartal des nächsten Jahres wei- der Deutschen innerhalb der Europäischen Union aus. Wer ter zurückgehen. Die Arbeitslosigkeit wird ansteigen und zu der kranke Mann Europas ist, hat auch auf anderen Gebie- einem wichtigen Thema der öffentlichen Debatte werden. ten nicht so viel zu sagen. Das wird die Politik unter Druck setzen und es ihr schwer machen, keine zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen. Wachstum ist zudem nicht nur »nice to have«; es schafft die dringend erforderliche Beschäftigung, und es erleich- Es ist zudem nicht so sicher, dass sich die Wirtschaft im Lau- tert ganz entscheidend die Anpassungsfähigkeit einer Wirt- fe des kommenden Jahres wirklich erholt. Die Argumente, schaft, die Ordnung der staatlichen Finanzen, die Finanzie- die hier genannt werden, sind eher weicher Natur: die Zins- rung der Sozialversicherungen, die Stabilität der Preise etc. senkungen, die Verringerung der Preissteigerung, die die Kaufkraft der Konsumenten erhöht, die automatischen Sta- bilisatoren in der Fiskalpolitik, die konjunkturbedingte Steu- Vier-Punkte Programm ermindereinnahmen und Mehrausgaben toleriert, und die Restrukturierungen in den Unternehmen, die ihre Wettbe- Wie sollte ein konjunkturpolitisches Programm aussehen? werbsfähigkeit stärken, zusammen mit Innovationen zur Ein- Sicher sollte es kein 08/15 Programm sein, sondern ein auf führung neuer Produkte. die konkreten Bedürfnisse der aktuellen Situation abgestelltes Paket. Es sollte sowohl die strukturpolitischen als auch die Das stärkste Argument für einen Aufschwung ist vermutlich, konjunkturellen Probleme adressieren. Das eine tut weh und dass die Vereinigten Staaten mit einem massiven geld- und ist schwerer durchzusetzen, stärkt aber das Wachstum. Das fiskalpolitischen Programm ihre Wirtschaft ankurbeln (wo- andere lindert die Schmerzen, hilft bei der politischen Rea- bei der fiskalpolitische Teil allerdings noch im Kongress ver- lisierung und stabilisiert die Konjunktur. Insgesamt also ein handelt wird) und dass dies sich dann auch positiv auf die Wolf im Schafspelz. deutsche und europäische Wirtschaft auswirken wird. Die Frage stellt sich aber, ob Deutschland und Europa sich in Es geht um vier Punkte: dem Maße auf die amerikanischen Aktivitäten verlassen und Erstens: mutige angebotspolitische Maßnahmen zur Ver- nichts eigenes tun wollen. Ist dies wirklich das europäische besserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das Selbstverständnis? Auf außen- und militärpolitischem Ge- ist das allerwichtigste, um die deutsche Wirtschaft wieder biet – also dort, wo die Union bisher die größten Defizite auf- auf Kurs zu bringen. Dazu gehören in erster Linie die Ein- wies – zeigt Europa inzwischen mehr Eigenständigkeit und führung flexiblerer Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt, eigene Aktivitäten. • die es den Unternehmen ermöglichen, schneller und un- Es ist bemerkenswert, dass der Sachverständigenrat zur komplizierter auf veränderte Nachfrageverhältnisse zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation die Mög- reagieren, lichkeit einer 2002 ausbleibenden konjunkturellen Erholung • die die nach wie vor zu hohen Arbeitskosten verringern ausdrücklich als ein Szenario (wenn auch nicht das wahr- und scheinliche) aufgestellt hat. • die durch Ausweitung der Differenz zwischen Nettolöh- nen und Sozialhilfe das Angebot an Arbeitskräften vor Unabhängig von der aktuellen Wirtschaftsschwäche ist das allem im Niedriglohnbereich erhöht. Wachstum in Deutschland schon seit Jahren unbefriedigend, und die Situation wird von Jahr zu Jahr ungünstiger. Inner- Dazu kommen könnten auch weitere Maßnahmen im ge- halb Europas ist Deutschland in punkto Wachstum schlech- werbeaufsichtsrechtlichen Bereich und/oder zur Deregulie- ter als alle anderen Länder der Europäischen Union – bis vor rung zum Beispiel die Aufhebung des Ladenschlussgeset- kurzem konnte es sich diese Position noch mit Italien tei- zes und der Abbau von wettbewerbsverzerrenden Sub- len. Beim Pro-Kopf-Einkommen steht Deutschland inner- ventionen und – ganz wichtig – die Stabilisierung der Sozi- halb Europas an Nr. 6. Das hängt sicher nach wie vor mit alversicherung, damit nicht jedes Jahr über neue Beitrags- den Spätfolgen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung erhöhungen diskutiert werden muss. Ziel muss es sein, die zusammen. Hinzu kommt aber auch, dass durch die ge- deutsche Wirtschaft so zu stellen, dass sie in Europa in punk- meinsame Währung in Europa für die Bundesrepublik der to Wachstum wieder wenigstens eine Mittelstellung ein- Vorteil niedrigerer Zinsen und damit niedrigerer Kapitalkos- nimmt. Das erfordert einen Ruck in der Wirtschaft. ten weggefallen ist, durch den die Wettbewerbsnachteile auf anderen Gebieten überdeckt werden konnten. Dies wird be- Zweitens: nachfragepolitische Maßnahmen zur Stabilisie- sonders in wirtschaftlichen Schwächephasen spürbar. rung der Konjunktur. Hier kann man einmal daran denken, die zweite Stufe für 2003 vorgesehene Stufe der Steuer- Die unbefriedigende wirtschaftliche Performance der Deut- reform vorzuziehen. Freilich handelt es sich dabei nur um schen wirkt sich natürlich auch auf die politische Position eine relativ bescheidene Maßnahme (rund 14 Mrd. DM), die ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 11 gerade einmal ausreicht, um die für 2002 vorgesehenen der Stabilitätspakt wird nicht wirklich beschädigt und die Steuer- und Abgabenanhebungen zu kompensieren. Wenn Staatsquote sinkt, weil die Steuersenkungen nur vorüber- man die Konjunktur wirklich abfedern und auch kurzfristig gehend sind, die Ausgabenkürzungen dagegen dauerhaft. mehr Wachstum schaffen will, muss man schon weiter aus- Dies ist ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Ange- holen. Es muss in den Portemonnaies der Menschen botsbedingungen in der Bundesrepublik. rucken, damit sie auch wirklich reagieren. Man könnte dagegen einwenden, dass die Menschen auf Angesichts des engen zeitlichen Rahmens kann man hier Steuersenkungen, die durch Ausgabensenkungen finanziert auf das alte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1969 zu- werden, nicht mit mehr Konsum reagieren, weil sich ihre Net- rückgreifen und eine zeitlich befristete Senkung der Lohn- toposition gegenüber dem Staat nicht verändert (Ricardia- und Einkommensteuer in Kraft setzen. Eine 10%ige Sen- nische Äquivalenz). Das Argument ist ernst zu nehmen. Hier kung für ein halbes Jahr würde ein Volumen von 20 Mrd. DM ist wichtig, dass das Steuersenkungsprogramm aktiv kom- ausmachen. Das würde zusammen mit weiteren Zinssen- muniziert wird, dass die Ausgabensenkungen nur bestimmte kungen von Seiten der Europäischen Zentralbank die Nach- Schichten treffen und dass der Bürger merkt, dass sich ei- frage zweifellos stabilisieren. Es wäre von der Größenord- ne niedrigere Staatsquote für ihn positiv auswirkt. nung etwas geringer als das entsprechende konjunkturpo- litische Programm der Vereinigten Staaten (was kein Fehler Viertens: die Einbindung des Programms in den europäi- ist, weil der Einbruch der Konjunktur in Europa geringer ist). schen Kontext, da es sonst verpufft. Auch dies ist eine Eine solche Maßnahme hätte den ordnungspolitischen Vor- schwierige Aufgabe, da die Partnerländer in Euroland der- teil, dass sie die Steuern senkt und nicht die Ausgaben er- zeit keine große Neigung zu einem Konjunkturprogramm auf höht, sie würde vor allem auch den weniger Verdienenden europäischer Ebene verspüren. Das hängt damit zusam- zugute kommen, und sie könnte aufgrund des Stabilitäts- men, dass Europa ohne Deutschland immer noch ganz or- gesetzes ohne Bundestagsbeschluss nur durch Rechts- dentlich wächst (2001 um 1,8%, 2002 um 1%), dass die Be- verordnung, der der Bundesrat zustimmen muss, verwirk- reitschaft zur Überschreitung der nach dem Stabilitätspakt licht werden. Die Zustimmung der Länder ist sicher schwer erlaubten öffentlichen Defizite gering ist und dass in Euro- zu erhalten, müsste angesichts der Größe der Aufgabe aber pa wie in Deutschland eine gehörige Portion Skepsis gegen- möglich sein. über staatlichen Konjunkturprogrammen herrscht. Hilfreich wäre für die Wirkung der Steuersenkung, wenn man Die Einbindung des deutschen Konjunkturprogramms in ei- nach amerikanischem Vorbild mit Steuerschecks arbeiten nen europäischen Kontext heißt freilich nicht, dass alle in könnte, statt darauf zu vertrauen, dass die Menschen die Europa das gleiche machen müssen. Die Verhältnisse in den Steuersenkung in ihren Gehaltsabrechnungen identifizieren. einzelnen Ländern sind dazu zu unterschiedlich. Einbindung heißt zunächst lediglich, die für Deutschland geplanten Maß- nahmen im Rat der europäischen Finanzminister zu disku- Ein neues 30 Mrd. Paket tieren und den Ländern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, die Möglichkeit zu bieten, sich zeitlich mit den deut- schen Maßnahmen abzustimmen. Ein Land, das hier auch Drittens: ein Ausgabenkürzungsprogramm, das gleichzei- ein Interesse haben könnte, wäre vermutlich Frankreich. tig mit der Steuersenkung beschlossen, aber erst wirksam wird, wenn die Konjunktur wieder läuft. Das ist nötig, weil Auch die Europäische Zentralbank wäre sicher an einer sol- mit dem Steuersenkungsprogramm allein die Obergrenze chen Diskussion interessiert, auch wenn es sicher nicht da- von 3% für öffentliche Defizite nach dem Stabilitätspakt ver- rum gehen kann, zinspolitische Maßnahmen abzustimmen. letzt würde. Der Stabilitätspakt ist ein wichtiges Element der Europäischen Währungsunion, und seine Verletzung ge- Die Attraktion dieses Programms liegt im Zusammenspiel rade durch Deutschland wäre ein gefährliches Präjudiz für der einzelnen Punkte. Jede Maßnahme für sich allein ge- die Zukunft, das in jedem Fall vermieden werden muss. Dies nommen ist problematisch und so vermutlich auch nicht gilt gerade zu einem Zeitpunkt, wo der Euro als allgemei- durchsetzbar. Zusammengenommen ermöglichen sie einen nes Zahlungsmittel eingeführt wird. Schub, der die deutsche Wirtschaft endlich wieder voran- bringt und der gleichzeitig einen Schritt voran für Europa Bei dem Ausgabenkürzungsprogramm könnte man an et- ermöglicht. Die Fortschritte, die auf politischem Gebiet in was ähnliches denken wie bei dem Konsolidierungspro- Europa nach dem 11. September in Europa erzielt wurden, gramm, das Finanzminister Eichel bei seinem Amtsantritt würden damit auf ökonomischem Gebiet flankiert. durchsetzte. In jedem Fall muss man an die großen Töpfe der Staatsausgaben, um positive Wirkungen zu erzielen, auch Privatisierungen sind möglich. Damit nimmt man der Steuersenkung den haut gout einer unsoliden Finanzierung, 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
12 Zur Diskussion gestellt Markets gleichzeitig. Im vierten Quartal 2001 sind die Rück- gänge markant. Dominierender Faktor für die Schrumpfung sind noch immer die Investitionen (Ausrüstungen und Lä- ger), in jüngster Zeit freilich verstärken die Entscheidungen der Konsumenten die Abwärtsbewegung. Der internationale Handel schrumpft beträchtlich. In der Privatwirtschaft breiten sich Konkurse und ausge- prägte Finanzprobleme aus. In den staatlichen Budgets bre- chen zunehmend die Einnahmen weg und (automatische) Ausgabesteigerungen (v.a. im Bereich der Arbeitslosen- unterstützung) treten vermehrt auf. In der deutschen Wirtschaft hat die wirtschaftliche Dyna- Norbert Walter* mik schon seit vergangenen Herbst merklich nachgelassen. Im zweiten Quartal dieses Jahres (gegenüber Vorquartal) stagnierte die gesamtwirtschaftliche Produktion und im drit- Gute Gründe für eine stimulierende ten Quartal (also überwiegend vor dem 11. September) ging europäische Finanzpolitik sie sogar zurück. Es ist wahr. Hätten wir unsere Hausaufgaben gemacht, dann Seit dem 11. September ist es zu einer weitere Ver- wären jetzt nicht solche schwierigen Fragen aufgeworfen. schlechterung gekommen. Die Auftragseingänge sind stark Das Thema lautet hier aber nicht: Was haben wir falsch ge- zurückgegangen (im September – 41/2% gegenüber Vor- macht, es lautet: Wie wir uns in der jetzigen Situation ver- monat). Bei Unternehmen und Verbrauchern herrscht gro- halten sollen? Diese Abstinenz heißt nicht, dass es zu den ße Unsicherheit. Sie äußert sich in Investitions-Attentismus »alten Sünden« nichts zu sagen gäbe. und Maßnahmen zur Kostendämpfung bei den Unterneh- men und in Kaufzurückhaltung bei den Verbrauchern. In der Folge sind die Unternehmen derzeit mit einem ausge- Diagnose prägten Nachfragerückgang konfrontiert. Der ifo Ge- schäftsklima-Index ist auf den niedrigsten Stand seit acht Japan und eine Reihe von Emerging Markets befanden sich Jahren (d.h. seit der Rezession 1992/93) gefallen. Dies lässt vor dem 11. September bereits in der Rezession. Und wie auch in naher Zukunft eine schwächelnde Produktion er- wir jetzt durch offizielle Bestätigung wissen, gilt dies seit dem warten. ersten Quartal des Jahres auch für die USA. Europa war vor dem 11. September in der Stagnation. Überall war dies All diese Indikatoren deuten auf Rezession im Winterhalbjahr auf ausgeprägte Investitionszurückhaltung zurückzuführen, hin. Für das gesamte Jahr 2001 dürfte beim Bruttoinlands- zum Teil auch auf die zögerliche Nachfrage von Konsu- produkt lediglich ein minimaler Zuwachs erreicht worden sein. menten. Ein Teil der globalen Schwäche reflektiert die Im- Der Begriff Wachstum ist hierfür ein Euphemismus. Da das plosion der Neuen Ökonomie, für die der Absturz des Nas- Wachstum weit schwächer ist als die Erweiterung des Pro- daq-Index von rund 5 000 auf rund 1 500 Punkte binnen duktionspotentials bzw. der Produktivität, fällt die Kapazi- Jahresfrist steht. Das Ausmaß der Konjunkturschwäche hat- tätsauslastung, während die Arbeitslosigkeit steigt. Ein An- te auch mit den (bezogen auf die Nachfragesituation unan- stieg auf deutlich über 4 Mill. ist bereits vorgezeichnet. gemessen) hohen Energie- und Nahrungsmittelpreisen (Eu- ropa-Tierseuchen) zu tun, nur zum geringen Teil mit hohen Ein schneller Aufstieg aus dem Tal im Jahr 2002 ist m.E. Zinsen (USA). Die Ereignisse des 11. September haben den nicht zu erwarten. Nach den derzeit starken Einbrüchen der Abwärtstrend akzentuiert. Inzwischen gibt es kaum noch wirtschaftlichen Aktivität wird es im kommenden Jahr sehr Zweifel: Im zweiten Halbjahr 2002 befinden sich die domi- schwer, überhaupt ein Wirtschaftswachstum zu erreichen. nierenden Teile der Weltwirtschaft zum ersten Mal seit Mit- te der siebziger Jahre wieder gleichzeitig in der Rezession: Status quo (ante)-Prognose Im dritten und vierten Quartal 2001 schrumpfte das Sozial- produkt in Japan, den USA, Europa und vielen Emerging Nähme man die derzeitig gängigen Konsensprognosen zur Grundlage, etwa die von IWF, OECD oder Sachverständi- * Prof. Dr. Norbert Walter ist Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe, Deut- genrat, so wäre wohl kaum wirtschaftspolitisches Handeln sche Bank Research. herausgefordert. Zumeist erwarten die Auguren eine (durch ifo Schnelldienst 23/2001 – 54. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 13 heutige Weichenstellungen bereits angelegte) Erholung spä- mehr absenkbar, und japanischer Stimulierungspolitik steht testens ab Jahresmitte 2002. Untermauert wird diese Sicht der himmelhohe Schuldenberg des Staates entgegen. Die mit Hinweis auf bisherige Zinssenkungen, vermutete niedri- Entwicklungsländer schließlich haben – wie die zumeist ex- ge Energiepreise, erwartete Erfolge amerikanischer Stimu- trem hohen Risikoprämien zeigen – ein ausgewachsenes lierungspolitik und »stabilitätspaktgemäße« Finanzpolitik in Glaubwürdigkeitsproblem an den Finanzmärkten. Europa. Wenn diese Faktoren das geschilderte Profil des Konjunkturverlaufs erwarten lassen, so ist pro-aktives fi- Aber sind nicht die Wirkungslags der Finanzpolitik zu lange nanzpolitisches Handeln in Europa unangebracht. Denn An- für eine solche Therapie? Die Antwort ist (kann) ein Nein regungen für eine Wirtschaft, die (dann wieder) mit Normal- (sein). Entscheidet man sich für solche Maßnahmen, die – raten wächst, sind selbstverständlich nicht angebracht – zu- weil in der Schublade liegend – keine Vorbereitung mehr mal doch jedermann weiß, dass die »lags« jeder Art von Wirt- erfordern, so wären Effekte im zweiten Halbjahr 2002 noch schaftspolitik nicht diesseits, sondern eher jenseits von zwei erreichbar. Dies ist dann sachgerecht und zeitgerecht, wenn Quartalen liegen und dies bei Geld- wie Finanzpolitik. die Nachfrageschwäche länger als in den heutigen best- case Szenarios anhalten sollte. Das heißt, entsprechende Also wozu bitte das Getöse und die Debatte um Stimulie- Maßnahmen wären also wahrscheinlich angemessen. Zu rung, die offenbar gar nicht gebraucht wird? Schaut man et- denken ist vor allem an das Vorziehen der für 2003/2005 was genauer hin, stellt man fest, dass praktisch alle heu- beschlossenen Steuersenkungen. Um konjunkturell effek- tigen Quantifizierungen für Jahr-2002-Prognosen nicht tiv zu sein, sollte man außer der Senkung der Steuersätze, »base-case« Prognosen, sondern »best-case«-Prognosen einen Teil der Grundfreibetragserhöhungen, die für 2005 vor- sind. Allenthalben wird gesagt, dass es anders als darge- gesehen sind, jetzt umsetzen, notfalls retroaktiv für das Jahr stellt, nämlich allein schlechter, kommen könne. Ein sol- 2002. Für diese Maßnahmen und rasch verwirklichbare In- cher Befund mahnt zur Vorsicht. Er zeigt, dass eine länge- frastrukturinvestitionen sprechen nicht nur die daraus re- re und tiefere Rezession in der Welt und in Europa keines- sultierenden stützenden Impulse für die Gesamtnachfrage. wegs als unwahrscheinlich angesehen wird. Er gibt also Mindestens ebenso wichtig sind die angebotspolitischen Ef- gute Gründe, etwas gegen diesen durchaus wahrschein- fekte, nämlich die Förderung des mittelfristigen Wirt- lichen Fall zu unternehmen. schaftswachstums durch verbesserte Leistungsanreize und durch Verminderung von Infrastrukturengpässen (Staus auf Straßen etc.). Welche Therapie? Wenn das alles aus nationalen, europäischen, ja internatio- Wenn es denn Bedarf für wirtschaftspolitisches Handeln gibt, nalen Erwägungen und für Nachfrage- und Angebotsüber- so scheint der Konsens weiteren Zinssenkungen der EZB, legungen gleichermaßen erwünscht ist, warum dann die- aber auch der Bank of England zuzuneigen. Bei klaren Pers- ser Widerstand allenthalben: bei Teilen der Wissenschaft, pektiven für unter 2% liegende Inflationsraten für die nächs- Teilen der Wirtschaft, Teilen der Opposition, am meisten aber ten eineinhalb bis zwei Jahre erscheinen Notenbankrefi- bei der Regierung und insbesondere dem Finanzminister? nanzierungssätze von 31/2 bzw. 4% als noch zu hoch. Die- Offenkundig ist, dass bei meiner base-case-Prognose be- se Beurteilung würde noch stärker gelten, wenn der Euro reits ohne Veränderung der Haushaltspläne 2002 das Haus- gegen Yen und Dollar aufwertet. Eine solche Perspektive haltsdefizit bei oder gar über 3% des Bruttosozialproduk- wird zwar am Markt eher nicht geteilt. Gleichwohl halte ich tes liegen wird. sie für recht wahrscheinlich, da das japanische und das US-Interesse an einer fairen Bewertung ihrer Währungen in Meine Anregungen für die Änderung der Finanzpolitik bräch- der nächsten Zeit vehementer vorgetragen werden wird. (Ja- ten für Deutschland 2002 ein Haushaltsdefizit außerhalb des- panische Deflation und US-Leistungsbilanzdefizit sollten ge- sen, was im Maastricht-Vertrag zugelassen ist. Da ich ei- nug Anlass für eine Euro-Aufwertung sein.) nen Rückgang des Sozialprodukts von über 2% nicht vor- aussehe (2002), gilt die eine, explizite Ausnahme von der Werden Fed- und EZB-Zinssenkungen ähnlich wenig ef- Masstricht-Regel nicht. Schlage ich also vor, die Maastricht- fektiv sein wie die Zinssenkungen in Japan? Diese Ansicht Regel zu missachten? teile ich nicht. Freilich hielte ich es für erforderlich, dass Eu- ropa die USA in der finanzpolitischen Stimulierung beglei- Nein: Stattdessen schlage ich vor, die Ermessensentschei- tet. Für eine stimulierende europäische Finanzpolitik beste- dungen anzuwenden: Mit zwei Drittel der Stimmen (der übri- hen gute Gründe. Nicht allein die Nachfragestimulierung, gen EU-Länder) sollte als Reaktion auf ein Ereignis außer- vielmehr auch angebotspolitische Reformen, sind gefordert. halb der Kontrolle (11. September) eine Maßnahme ergrif- Europa ist auch deswegen gefordert, weil die Weltnachfra- fen werden, die vorübergehend (d.h. für 2002) eine Verlet- ge durch Japan und die Emerging Markets faktisch nicht zung der 3% Regel duldet, weil mit ihr eine realistische Chan- mehr angeregt werden kann. Japanische Zinsen sind nicht ce auf eine Rückkehr zum Wachstumspfad im Jahre 2003 54. Jahrgang – ifo Schnelldienst 23/2001
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