Patientenperspektiven 2018 - Qualitative Studie zur Digitalisierung im Gesundheitswesen aus Sicht von Patientinnen und Patienten in Deutschland ...
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Patientenperspektiven 2018 Qualitative Studie zur Digitalisierung im Gesundheitswesen aus Sicht von Patientinnen und Patienten in Deutschland Berlin, August 2018 Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler Patientenprojekte GmbH Für die 1
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie © Patientenprojekte GmbH Laerstr. 55 | 33775 Versmold Tel.: 0800 / 5678 123 E-Mail: schmidt-kaehler@patientenprojekte.de www.patientenprojekte.de August 2018 Für die Kassenärztliche Bundesvereinigung Schmidt-Kaehler, S. (2018): Patientenperspektiven. Qualitative Studie zur Digitalisierung im Gesundheitswesen aus Sicht von Patientinnen und Patienten in Deutschland. Berlin: Kassenärztliche Bundesvereinigung. 2
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie In aller Kürze Der vorliegende Bericht gibt einen Überblick sprachen sich für digitale Arbeitsunfähigkeitsbe- über die Ergebnisse einer qualitativen Studie scheinigungen aus und konnten sich häufig auch zur Digitalisierung im Gesundheitswesen aus eine Nutzung von Videosprechstunden vorstellen. Sicht von Patientinnen und Patienten in Mehr noch: Einige forderten die Einführung einer Deutschland. Gegenstand von vier Gruppendis- digitalen Patientenakte offensiv ein und wünsch- kussionen waren Informationen aus dem Inter- ten sich, dass Ärztinnen und Ärzte künstliche net, Gesundheits-Apps, Videosprechstunde, die Intelligenz in ihre Entscheidungen einbeziehen elektronische Patientenakte und künstliche würden. Intelligenz in der Medizin. Um Bedürfnisse, Motive und Handlungsmuster aus Niemals sicher der Patienten- bzw. Versichertenperspektive zu er- Getrübt wurde der Optimismus von kritischen schließen, wurden Fokusgruppen in Hamburg, Stimmen, deren größte Sorge sich auf die Sicher- Münster, Stuttgart und Leipzig durchgeführt. Die heit und den Schutz personenbezogener Ge- Gruppendiskussionen wurden mittels eines Leitfa- sundheitsdaten richtete. Derartige Bedenken dens im Sinne eines teilstandardisierten Interviews lagen wie ein ‚Damokles-Schwert’ über den unter- strukturiert, aufgezeichnet, transkribiert und mit- schiedlichen Themengebieten. Im Spannungsfeld tels einer deskriptiv-reduktiven Inhaltsanalyse zwischen den Potentialen digitaler Technologien ausgewertet. und einer möglichen Gefährdung der informatio- nellen Selbstbestimmung entwickelten sich ange- Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden regte Diskussionen, deren Ambivalenz auch im Ge- über Testpersonen-Panel regionaler Marktfor- sprächsverlauf nicht aufzulösen war. schungsinstitute rekrutiert und unterschieden sich in zentralen Merkmalen wie Alter, Wohnort, Geschlecht, aber auch in Hinblick auf das Vorliegen ‚Dr. Google’ hat das einer chronischen Erkrankung. Alle hatten schon letzte Wort mindestens ein Mal nach gesundheitsrelevanten In Bezug auf die Informationsrecherche im Netz Informationen im Internet gesucht. stützen die Beiträge aus den Fokusgruppen die Hy- pothese, dass Patientinnen und Patienten auf der Digitalisierung willkommen Basis von Gesundheitsinformationen aus dem Netz Die Beiträge aus den diesjährigen Gruppendiskus- auch Therapien abbrechen oder verordnete Arz- sionen machen deutlich, dass die Digitalisierung neimittel nicht einnehmen. Trifft diese Hypo- bei den Patientinnen und Patienten angekommen these zu, bleibt das Arzt-Patienten-Verhältnis von ist. ‚Dr. Google’ ist weit verbreitete Realität und den Informationen aus dem Netz keinesfalls unbe- auch mobile Gesundheitsanwendungen sind viel- rührt. Nichtsdestotrotz wurde in den Fokusgruppen fach im Einsatz. Patientinnen und Patienten rüs- immer wieder betont, dass Gesundheitsinformati- ten sich mit Informationen auf, vermessen sich onen aus dem Netz das Vertrauensverhältnis eher selbst, überprüfen, kontrollieren und hinter- stärken, da sie eine Rückversicherung ermöglich- fragen. ten. Insgesamt zeigten sich die Teilnehmerinnen und Bei der Bewertung von Gesundheitsinformationen Teilnehmer gegenüber der Digitalisierung im Ge- zeigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sundheitswesen sehr aufgeschlossen: Sie nutzten der Fokusgruppen eher selbstbewusst und trauten das Internet regelmäßig für Gesundheitsfragen, sich meist zu, die Qualität dieser Informationen wünschten sich Gesundheits-Apps auf Rezept, einzuordnen. Auf die Frage nach den dahinterlie- genden Bewertungsstrategien spielten Studien 3
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie und die methodische Güte der Informationen tungsübergreifender Informationsaustausch kei- jedoch keine Rolle. Stattdessen reichten eine nesfalls immer erwünscht ist. So dürfte die Akzep- ärztliche Qualifikation des Herausgebers, eine be- tanz digitaler Anwendungen nicht zuletzt auch von kannte Marke oder der Abgleich mehrerer Quellen, dem Ausmaß abhängen, in dem Patientinnen und um das Vertrauen zu gewinnen. Die Pläne für ein Patienten die Prozesse, Inhalte und den Zugang Nationales Gesundheitsportal wurden in diesem zu diesen Inhalten beeinflussen und kontrol- Zusammenhang sehr begrüßt. lieren können. Digitale Interaktion Verlust menschlicher Zuwendung mit dem Arzt Bei aller Offenheit und auch Begeisterung, die die Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fokus- Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fokusgrup- gruppen glaubten, dass es der behandelnden Ärz- pen für das Thema Digitalisierung mitbrachten, tin oder dem Arzt nicht recht ist, wenn Patientin- waren die Diskussionen auch von vielen Ängsten nen und Patienten sich im Netz informieren oder und der Befürchtung geprägt, digitale Technolo- Gesundheits-Apps nutzen. Gleichzeitig äußerten gien könnten den Zugang zu menschlicher Zu- sie aber den Wunsch, digitale Informationen wendung erschweren und den Menschen lang- und Anwendungen in die Arzt-Patienten- fristig verdrängen. Hier bestand in allen vier Interaktion stärker einzubinden: So wünschten Gruppen Einigkeit darüber, dass Mensch und sie sich von ihren Ärztinnen und Ärzten zum Bei- Maschine als Team zusammenarbeiten sollten, ein spiel Empfehlungen qualitätsgeprüfter Websites Computer aber niemals allein die Regie überneh- und Gesundheits-Apps. men darf. Viele konnten sich auch vorstellen, die auf dem Ärztinnen und Ärzte spielten in den Beiträgen eine Smartphone gesammelten Gesundheitsdaten mit wichtige Rolle als Bewertungsinstanz, die nach ihrer Ärztin oder ihrem Arzt zu teilen und auf diese Möglichkeit auch in Zukunft die Verantwortung Weise professionell bewerten zu lassen. In diesem für die medizinische Behandlung tragen sollte. So Zusammenhang war es vielen Teilnehmerinnen wandten sich viele Teilnehmerinnen und Teilneh- und Teilnehmern sehr wichtig, dass Ärztinnen und mer gegen eine mögliche Automatisierung ärztli- Ärzte sich mit digitalen Anwendungen und Infor- cher Tätigkeiten, gegen computergestützte Diagno- mationsangeboten vertraut machen und auf ver- sen auf dem Smartphone und gegen eine Verlage- lässliche Qualitätsinformationen zurückgreifen rung der Gesundheitsversorgung in den privatwirt- können. schaftlichen IT-Sektor. Viele Diskussionen über die fortschreitende Digitali- Wer hat die Macht? sierung mündeten in engagierte Plädoyers für Die insgesamt hohe Akzeptanz gegenüber digitalen den Faktor Mensch und eine zuwendungsbezo- Anwendungen traf in den Gruppendiskussionen gene Medizin. Sie machten deutlich, dass ärztli- immer dann an ihre Grenzen, wenn die Teilneh- ches Handeln keineswegs nur aus Diagnostik sowie merinnen und Teilnehmer fürchteten, die Kon- der Auswahl und Durchführung geeigneter Thera- trolle über Datenflüsse zu verlieren oder in ih- pien besteht. Stattdessen richteten die Teilnehme- rer Selbstbestimmung eingeschränkt zu wer- rinnen und Teilnehmer die Aufmerksamkeit auf den. Aspekte wie Empathie, Trost oder die Vermitt- lung von Zuversicht: Vielen war es beispielsweise sehr wichtig, anstelle einer Videosprechstunde immer auch ein persönli- "Der persönliche Kontakt ist das A und O. Der Arzt ches Gespräch von Angesicht zu Angesicht führen nimmt den Patienten ja auch die Angst. Das schafft zu können. Die Diskussionen zur elektronischen keine Maschine. [...] Die streichelt Dir nicht über Patientenakte sprechen dafür, dass ein einrich- die Hand und sagt: Das kriegen wir schon hin." 4
Inhalt 01 Zu diesem Bericht 6 02 Methodik 7 02.1 Fokusgruppen 7 02.2 Inhalte 7 02.3 Auswertung und Ergebnisdokumentation 8 03 Teilnehmerinnen und Teilnehmer 10 04 Ergebnisse 12 04.1 Digitale Patienteninformationen 12 04.1.1 Informationsrecherche 12 04.1.2 Arzt-Patienten-Beziehung 16 04.2 Gesundheits-Apps 21 04.3 Videosprechstunde 26 04.4 Elektronische Patientenakte 31 04.5 Künstliche Intelligenz 35 05 Literatur 39 5
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie 01 Zu diesem Bericht Um die Gesundheitsversorgung patientenorientiert im Gesundheitswesen: Im Mittelpunkt standen weiterentwickeln zu können, ist es notwendig, die dabei weniger die Vor- und Nachteile der unter- Perspektive der Patientinnen und Patienten zu schiedlichen Anwendungen als vielmehr die damit kennen und deren Wünsche, Befürchtungen und einhergehenden Auswirkungen auf das Arzt- Erfahrungen zu berücksichtigen. Ergänzend zur Patienten-Verhältnis. regelmäßig stattfindenden repräsentativen Versi- Die Patientenprojekte GmbH dankt allen Teilneh- chertenbefragung führt die Kassenärztliche Bun- merinnen und Teilnehmern der Fokusgruppen, die desvereinigung daher schon seit einigen Jahren mehrere Stunden ihrer Zeit eingesetzt haben, um auch qualitative Untersuchungen durch, um die ihre Erfahrungen mit der gesundheitlichen Versor- Sichtweisen und Erfahrungen der Patientinnen gung in Deutschland zu teilen. Ihre Schilderungen und Patienten zu erkunden. Der Bericht ‚Patien- leisten einen Beitrag zur Gewinnung neuen Wis- tenperspektiven 2018’ fasst die Ergebnisse der dies- sens und helfen den professionellen Akteuren des jährigen Untersuchung zusammen. Gesundheitssystems, die Versorgung an den Be- Im Rahmen der qualitativen Untersuchung wurden dürfnissen der Patientinnen und Patienten auszu- in vier deutschen Städten Fokusgruppen durchge- richten. führt. Inhaltlich ging es dabei um unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Ziel der Untersuchung war es hierzu, Erfahrungen, Einstellungen, Befürchtungen und Argumente von HINWEIS (potenziellen) Nutzerinnen und Nutzern der ge- Bezüglich der hier vorgestellten qualitativen sundheitlichen Versorgung zu sammeln und zu Aussagen und Befunde wird keine Reprä- analysieren. Nach einer Beschreibung der metho- sentativität für die Bevölkerung in Deutsch- dischen Vorgehensweise und des Teilnehmerkreises land beansprucht. Ziel qualitativer Untersu- werden die Ergebnisse im vorliegenden Bericht dif- chungen ist nicht die Generierung bevölke- ferenziert vorgestellt. rungsrepräsentativer Aussagen, sondern die Schon zum dritten Mal in Folge hat die Kassenärzt- Gewinnung von Informationen zur Ablei- liche Bundesvereinigung die Patientenprojekte tung explorativer Hypothesen, Erklärungs- GmbH mit der Durchführung der qualitativen Stu- muster und Interpretationsansätze. Um Ar- die beauftragt, so dass das Berichtswesen schon gumentationslinien, Meinungsbilder und bereits auf eine kleine Tradition zurückblickt (vgl. Einstellungen möglichst umfassend und Schmidt-Kaehler 2016, Schmidt-Kaehler 2017). In vollständig beschreiben zu können, werden diesem Jahr wurden einige Anpassungen vorge- auch die Positionen und Ansichten einzel- nommen, etwa bei der Visualisierung der Aussagen ner Teilnehmerinnen und Teilnehmer be- und Argumente. rücksichtigt. Im Unterschied zu den Berichten der Vorjahre setzt der diesjährige Bericht ‚Patientenperspektiven 2018’ außerdem einen thematischen Schwerpunkt und konzentriert sich ganz auf die Digitalisierung 6
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie 02 Methodik 02.1 Die Moderation der jeweils achtköpfigen Gruppen erfolgte in allen Fällen durch eine Moderatorin und Fokusgruppen einen Co-Moderator. Ihre Aufgabe war es, das Ge- spräch mittels Moderations- und Gesprächsfüh- Um mittels qualitativer Verfahren vertiefende In- rungstechnik auf ein vorgegebenes Thema zu formationen zu ausgewählten Themenkomplexen fokussieren und auf die (individuellen) Erfahrun- zu ermitteln, wurden für diese Studie Fokusgrup- gen und Sichtweisen der Teilnehmerinnen und pen (Stewart & Shamdasani 1990, Bortz & Döring Teilnehmer zu richten. Die dabei zur Anwendung 2005) eingesetzt. Diese Methode eignet sich gut, kommende Methodik folgte den für Fokusgruppen um Erfahrungen und Bedürfnisse, Motive, Einstel- typischen Regeln nach Flick (2006) und Bohnsack lungen und Handlungsmuster von (potenziellen) (2005), das heißt, die Teilnehmerinnen und Teil- Nutzerinnen und Nutzern der gesundheitlichen nehmer wurden gebeten, ihre Sichtweisen und Versorgung zu erschließen. Erfahrungen zu den vorgegebenen Themenberei- chen darzulegen und miteinander zu diskutieren. Die gegenseitige Stimulation von Antworten durch die Teilnehmenden weckt Erinnerungen und pro- Die jeweils 90-minütigen Fokusgruppen wurden duziert unterschiedliche Sichtweisen auf ein mit Einverständnis aller Teilnehmerinnen und Teil- Thema. Zudem erweitert sich im kommunikativen nehmer auf Video aufgezeichnet und anschließend Austausch der Reflexionsrahmen, so dass sich im transkribiert. Ergebnis ein breites Meinungsspektrum herausar- beiten lässt. Anders als bei quantitativen Verfahren lassen sich 02.2 auf diesem Wege keine für die Bevölkerung bzw. die Patientinnen und Patienten in Deutschland re- Inhalte präsentativen Aussagen ableiten. Stattdessen Die Inhalte der Gruppendiskussionen orientierten schafft der offene Charakter der Fokusgruppe aber sich an einem einheitlichen Gesprächsleitfaden mit Transparenz über die Gedanken- und Erlebniswelt vorgegebenen Themen. Innerhalb dieser Themen- der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und erlaubt blöcke hatten die Moderatoren die Möglichkeit, die Ableitung explorativer Hypothesen, Erklärungs- den Diskussionsverlauf flexibel zu gestalten. Die muster und Interpretationsansätze. Die Untersu- Festlegung der Themen erfolgte im Vorfeld der Teil- chung ist somit als komplementäres Element der in nehmerrekrutierung in Abstimmung mit der Kas- diesem Jahr durchgeführten, quantitativen Versi- senärztlichen Bundesvereinigung. chertenbefragung zu verstehen. Konkret wurden fünf Themenblöcke vorgegeben, Die Durchführung der insgesamt vier Fokusgruppen die unterschiedliche Bereiche der Digitalisierung im erfolgte im Mai 2018 in den Städten Hamburg, Gesundheitswesen betreffen: Münster, Leipzig und Stuttgart. Insgesamt beteilig- ten sich 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an • Digitale Patienteninformationen den Diskussionen, die mittels eines Leitfadens im • Gesundheits-Apps Sinne eines teilstandardisierten Interviews struktu- • Videosprechstunde riert wurden. • Elektronische Patientenakte • Künstliche Intelligenz 7
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Jede Fokusgruppe begann mit der Begrüßung der und kodiert. Dabei kam eine Kombination aus in- Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie mit einer duktiver und deduktiver Kodierung zum Einsatz. Einführung in den organisatorischen Rahmen und Das Ergebnis wurde im nächsten Schritt anhand den Hintergrund der Untersuchung. Nach einer sogenannter Diskussionskarten visualisiert. Aufklärung über Datenschutz und Videoaufzeich- Vorbild für die Visualisierung bildete die aus dem nung wurden Diskussionsregeln vorgestellt, die angelsächsischen Bildungssystem entliehene sich vor allem auf einen vertraulichen und res- Methode des ‚Argument Mapping’ (Harrel 2010) zur pektvollen Umgang der Gruppenmitglieder unter- grafischen Abbildung von Debatten und Offenle- einander bezogen. Zum Einstieg wurden alle gebe- gung von Argumentationslinien. Die geäußerten ten, Anwendungsbeispiele zur Internetnutzung im Argumente werden dabei ähnlich den Hierarchien Kontext der eigenen Gesundheit zu beschreiben. eines Organigramms mit farbigen Kästen und Ver- Im Anschluss wurden die einzelnen Themenblöcke bindungslinien grafisch dargestellt. diskutiert. Wie in Abbildung 1 auf der folgenden Seite illus- triert, bildet jeweils ein Thema bzw. eine Kategorie (schwarz) den Kern jeder Diskussionskarte. Jede 02.3 einzelne Kategorie der Gruppendiskussionen Auswertung und wurde in alphabetischer Reihenfolge mit einem Buchstaben (A-Z) kodiert. Jeder Kategorie wurden Ergebnisdokumentation dann die von den Teilnehmerinnen und Teilneh- mern getroffenen Aussagen zugeordnet, die wie- Die vier Fokusgruppen wurden auf Basis der Video- derum einen Code erhielten, der sich aus dem aufzeichnungen vollständig transkribiert. Dabei Buchstaben der Kategorie und der laufenden kam das vereinfachte Transkriptionssystem nach Nummerierung der Aussage zusammensetzt (X.1, Dresing und Pehl (2013) zur Anwendung. Um ho- X.2, X.3). hen Ansprüchen an Datenschutz und Datenspar- samkeit gerecht zu werden, wurden die Videoauf- Neben den eigentlichen Aussagen (1. Ordnung) nahmen im Anschluss an die Transkription ge- wurden von den Teilnehmerinnen und Teilneh- löscht. Die Auswertung der pseudonymisierten mern weitere Aspekte ins Feld geführt, die auf die Transkripte erfolgte anschließend gemäß der the- ursprünglich vorgetragene Aussage Bezug nehmen. menspezifischen Analyse nach Krueger und Casey Diese Argumente und Aussagen der 2. Ordnung (2009). Die hierzu erstellte, deskriptiv-reduktive wurden den Hauptaussagen wie in einem Organi- Inhaltsanalyse reduziert die Fülle des Datenmateri- gramm nachgeordnet und entsprechend durch- als und führt so zum Informationsgewinn. nummeriert (X.1.1, X.1.2, X.1.3). Zum Teil wurden auch Argumente der 3. Ordnung identifiziert und Im Rahmen der Analyse wurden die geäußerten entsprechend kodiert (X.1.1.1). Positionen, Argumente und Meinungen systema- tisch herausgearbeitet, verdichtet und miteinander Mittels dieses Verfahrens wurde jedes Argument in Beziehung gesetzt. Im Interesse einer möglichst mit einem Code versehen, über den es sich später multiperspektivischen Analyse wurde die vom Co- eindeutig identifizieren lässt. Der Code gibt außer- Moderator durchgeführte Auswertung in einem dem Aufschluss zur Einordnung des Arguments in- Review-Verfahren durch eine weitere Person über- nerhalb einer Argumentationslinie und gibt an, auf prüft. welches Thema sich ein Argument bezieht. Mit den Diskussionskarten entsteht zudem ein visuelles Ab- Im Rahmen der Analyse wurden insgesamt 81 Aus- bild von Inhalt und Struktur der Gruppendiskussi- sagen, Argumente und Positionen identifiziert. Sie onen. wurden den Themenblöcken inhaltlich zugeord- net, in ein hierarchisches Ordnungssystem gebracht 8
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Abbildung 1: Schematische Darstellung einer Diskussionskarte Um den Informationsgehalt der Diskussionskarten noch zu steigern, wurden die von den Teilnehme- ZUR INTERPRETATION DER rinnen und Teilnehmern getroffenen Aussagen DISKUSSIONSKARTEN durch den Autor inhaltlich qualifiziert, unter- Die Diskussionskarten dienen der Illustra- schiedlichen Typen zugeordnet und farblich ge- tion und Visualisierung von Argumentati- kennzeichnet: onssträngen zu einem Thema. Sie schaffen Zustimmung, Wertschätzung, posi- einen schnellen Überblick über die Inhalte tive Aussagen (grün) und die im Diskussionsverlauf vorgebrach- ten Argumente. Ablehnung, Widerspruch, negative Im Interesse einer möglichst breiten Abbil- Aussage (rot) dung der unterschiedlichen Positionen und Einstellungen finden auch die Positionen kleiner Gruppen Berücksichtigung in den Bedingung, Forderung, wichtiger Diskussionskarten. Die Anzahl von Argu- Hinweis (gelb) menten für oder gegen ein Thema lässt da- her keine Rückschlüsse auf die Mehrheits- Information, Auskunft, neutrale verhältnisse innerhalb der Fokusgruppen Aussage (blau) zu. 9
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie 03 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Um möglichst viele unterschiedliche Meinungen wohnten nur 16 der insgesamt 32 Gesprächsteil- und Einstellungen ermitteln zu können, wurden nehmerinnen und -teilnehmer in einer dieser die Diskussionsgruppen mittels ‚deviant sampling’ Städte, während die andere Hälfte aus einer länd- zusammengestellt: Die Teilnehmerinnen und Teil- lichen Region bzw. einem Wohnort mit weniger als nehmer sollten sich in zentralen Merkmalen wie 25.000 Einwohnern stammte. Alter, Wohnort, Geschlecht, aber auch in Hinblick Das Durchschnittsalter der Teilnehmerinnen und auf das Vorliegen einer chronischen Erkrankung Teilnehmer betrug 46,5 Jahre und rangierte zwi- unterscheiden. Dabei wurde berücksichtigt, dass schen 23 und 67 Jahren (Median 48). Auch in Bezug Erfahrungen und Bedürfnisse in Abhängigkeit von auf die Geschlechterverteilung war das Verhältnis diesen Merkmalen stark variieren können. aus Männern (16) und Frauen (16) ausgeglichen. Auf dem Wege vorab definierter Unterscheidungs- Gleiches gilt für das Vorliegen einer chronischen kriterien konnten durch die so herbeigeführte He- Erkrankung. Hier berichteten 16 der insgesamt 32 terogenität der Gruppen Meinungsbilder breit er- Teilnehmerinnen und Teilnehmer von einer sol- fasst werden. Die Diskussionsteilnehmerinnen und chen Diagnose. -teilnehmer wurden über Testpersonen-Panels re- gionaler Marktforschungsinstitute rekrutiert. Die Sozialstatus vorgelagerte Abfrage zentraler Hintergrundvariab- 22 Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmer len ermöglichte dabei die gezielte Zusammenstel- waren teilweise oder voll erwerbstätig, eine Person lung der Gruppen nach vorgegebenen Merkmalen war im Haushalt tätig, drei waren Schüler oder (vgl. Abb. 2 auf der folgenden Seite). Studenten, weitere zwei waren arbeitslos bzw. Namen und Kontaktdaten verblieben beim Testla- arbeitssuchend und vier bezogen eine Rente. bor und wurden dem Studienteam im Interesse des 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten Abitur, Datenschutzes nicht bekannt gegeben. Um einer zwölf hatten mittlere Reife oder einen vergleichba- spezifischen Selbstselektion entgegenzuwirken, ren Schulabschluss. Fünf hatten einen Hauptschul- wurden die Mitglieder der Diskussionsgruppen oder Volksschulabschluss und eine Teilnehmerin über das Gesprächsthema vorab nicht informiert. hatte keinen Schulabschluss. Vier Teilnehmerinnen Über die regionalen Testinstitute erhielten alle Teil- und Teilnehmer waren privat krankenversichert, nehmerinnen und Teilnehmer eine Aufwandsent- die übrigen 28 waren Mitglied der Gesetzlichen schädigung in Höhe von 45 Euro (Stadt) bzw. 65 Krankenversicherung. Euro (Land). Alter und Wohnort Internetnutzung Eine ausgewogene Zusammenstellung in Hinblick Im Unterschied zu den qualitativen Untersuchun- auf Geschlecht, Alter, Wohnort (Stadt vs. Land) und gen der Vorjahre wurde angesichts des diesjährigen Gesundheitsstatus wurde in allen vier Gruppen Themenschwerpunkts die Internetnutzung als Teil- sichergestellt. Aus Datenschutzgründen werden nahmekriterium vorgegeben. Alle Teilnehmerinnen hier jedoch nur die aggregierten Daten genannt: und Teilnehmer hatten zuvor schon einmal im Die Gruppendiskussionen wurden in Hamburg, Internet nach Gesundheitsinformationen gesucht Münster, Leipzig und Stuttgart durchgeführt. Dabei oder nutzten eine Gesundheits-App auf dem Smartphone. 10
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Abbildung 2: Beschreibung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fokusgruppen 11
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie 04 Ergebnisse 04.1 Neben der klassischen Information über Erkran- kungen und Behandlungsmethoden spielten bei Digitale vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch Arzt- und Klinikbewertungsportale eine wichtige Patienteninformationen Rolle. Aber auch Arzneimittelinformationen oder digitale Angebote der Krankenkassen wurden häu- Den thematischen Einstieg in die Gruppendiskussi- fig erwähnt. onen bildete die klassische Recherche nach ge- sundheitsrelevanten Informationen im Inter- net. Einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stif- tung zufolge, informiert sich die Hälfte der deut- 04.1.1 schen Onliner mindestens einmal im Monat über Informationsrecherche Gesundheitsthemen im Netz (Haschke et al. 2018). Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fo- Eine kleinere Gruppe der Gesprächspartner zeigte kusgruppen nutzten die Angebote von ‚Dr. Google sich über den grenzenlosen Informationszugang & Co.’, um sich unter anderem über Symptome, eher besorgt als erfreut. Sie beschrieben, dass sie Therapien und Versorgungsstrukturen der gesund- zwar regelmäßig im Internet nach gesundheitsre- heitlichen Versorgung, aber auch über einen ge- levanten Informationen suchten, im Ergebnis aber sunden Lebensstil zu informieren. häufig verunsichert seien (A.2.2): "Man weiß ja immer nicht, ob das so alles stimmt, was da im Internet steht. Da bin ich dann immer verunsichert. Das war ich früher nicht." Leitfragen zu diesem Thema "Wenn man dann bei Google sucht, hat man am • Wie finden Sie die passende Infor- Ende ja immer alles Mögliche. Das bringt Unruhe mation und woran merken Sie, dass in die Beziehung zu meinem Arzt." Sie einer Information aus dem Netz Eine größere Gruppe schien sich zwar bewusst zu vertrauen können? sein, dass Informationen aus dem Netz nicht im- mer seriös und vertrauenswürdig sein müssen • Verändern Gesundheitsinformatio- (A.2), traute sich aber zu, diese zu identifizieren nen aus dem Internet das Arzt- und sich eine eigene Meinung zu bilden (A.2.1). Patienten-Verhältnis? "Ich nutze das Internet sehr oft - wohlwissend, • Wünschen Sie sich Unterstützung dass man da auch auf unterschiedliche Meinun- von Ihrem Arzt bei der Suche nach gen trifft. Aber ich nutze die Informationen für Gesundheitsinformationen? meine persönliche Meinungsbildung. Und wenn • Wie denken Sie über ein nationales ich drei Ärzte frage, kriege ich ja auch drei unter- Gesundheitsportal? schiedliche Meinungen." 12
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Bewertungsstrategien Stattdessen bildete der inhaltliche Abgleich meh- rerer Quellen neben der Bewertung der Informati- Vor dem Hintergrund der möglichen Tragweite fal- onsanbieter die offenbar dominierende Strategie scher oder irreführender Gesundheitsinformatio- zur Prüfung der Informationsqualität (A.2.1.3): nen brachten die Moderatoren die große Flut ver- fügbarer Angebote zur Sprache und fragten die "Also ich gebe das bei Google ein und dann lese Teilnehmerinnen und Teilnehmer, in welchem Fall ich mir die verschiedensten Seiten durch. Man liest sie eine Information denn als vertrauenswürdig sich in das Thema ein und sucht weiter und weiter. einstufen würden. Diese zeigten sich wiederum Und so ergibt sich dann ein Gesamtbild, auf das eher selbstsicher und beschrieben eine Reihe von man sich verlassen kann." Strategien, um die Qualität der angebotenen Informationen zu überprüfen (vgl. auch Konsequenzen Schmidt-Kaehler 2017). Ein wichtiger Faktor war Im Gesprächsverlauf zeigte sich, dass Informatio- dabei die medizinische Qualifikation der Autoren nen aus dem Internet das Gesundheitsverhalten und Herausgeber (A.2.1.1). aber auch die Therapietreue sowie die Inan- „Die Seiten müssen schon von Fachärzten geschrie- spruchnahme der ärztlichen Versorgung durch- ben werden, das ist ganz wichtig. Sonst kann da aus beeinflussen können. So räumten mehrere ja jeder was behaupten. Ärzteorganisationen oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, schon ein- Krankenhäuser sind meistens verlässlich.“ mal eine Therapie abgebrochen oder ein verordne- tes Medikament nicht eingenommen zu haben, Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer nannten nachdem sie sich im Internet informiert hatten darüber hinaus den Bekanntheitsgrad der Infor- (A.1): mationsanbieter als wichtigen Faktor bei der Be- wertung der Informationsqualität (A.2.1.2). ‚Net- "Mein Arzt hat mal gesagt, dass ich am Auge ope- doktor’, die ‚Apotheken Umschau’ und ‚Wikipedia’ riert werden müsste. Da habe ich dann im Internet wurden dabei besonders häufig erwähnt: noch mal nachgelesen, was das eigentlich bringt und was alles schiefgehen kann. Da habe ich mir "Mit Netdoktor habe ich auch schon sehr gute Er- dann einfach keinen OP-Termin geholt." fahrungen gemacht. Also es sollten schon be- kannte Namen sein, die dahinterstehen." "Bei meiner Mutter wurden Depressionen diagnos- tiziert und dann hat sie Psychopharmaka bekom- "Ich vertraue der Apothekenumschau. Die hole ich men. Und dann hat sie sich im Internet über die mir auch regelmäßig aus der Apotheke. Das ist Nebenwirkungen informiert und hat die Tabletten auch einfach und verständlich erklärt und nicht so am Ende nicht genommen, weil es ihr einfach zu ein Medizinerdeutsch." riskant war.“ "Wikipedia ist ja wohl der seriöseste Anbieter, weil Auf Nachfrage der Moderatoren führten die Teil- sich die Leute, die was schreiben, gegenseitig kon- nehmerinnen und Teilnehmer meist aus, dass sie trollieren. Außerdem gibt es da keine Werbung, ihren Arzt über diese Entscheidungen nicht infor- das ist für mich das Entscheidende." miert und ihre Internetrecherchen verschwiegen In Einzelfällen wurden auch Behörden und öffent- hätten. liche Einrichtungen als seriöse Quelle genannt. Auffällig war jedoch, dass die Absicherung der In- formationen durch wissenschaftliche Studien und empirische Evidenz in keiner der vier Diskussi- onsgruppen als Qualitätskriterium überhaupt erwähnt wurden. So spielte die methodische Güte des angebotenen Wissens praktisch keine Rolle. 13
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Abbildung 3: Diskussionskarte zur Informationsrecherche im Internet (A) 14
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Nationales Gesundheitsportal „Das ist an sich eine schöne Idee. Ich werde aber immer misstrauisch, wenn Regierungen Informati- Trotz der beschriebenen Strategien zur Bewertung onsportale machen. Dahinter steht natürlich auch gesundheitsrelevanter Informationen räumten die immer die Absicht, zu steuern.“ Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder auch ein, dass sie die Fülle der verfügbaren In- „Irgendwie stellt sich mir die Frage: Woraus ergibt formationsangebote vor Probleme stellt. sich die Notwendigkeit für ein solches Portal? Das kommt ja vom Gesundheitsministerium. Die den- "Wenn ich bei Google suche, dann lande ich am ken sich ja was dabei. Ob es ihnen darum geht, Ende immer in den Foren und man hat alles Mög- den Patienten was Gutes zu tun – das weiß ich liche. Da kommt man irgendwie auf keinen grü- nicht. Vielleicht wollen die damit auch dem Ärzte- nen Zweig.“ mangel auf dem Land vorbeugen.“ In diesem Zusammenhang lenkten die Moderato- Einzelne Kritiker gingen noch einen Schritt weiter ren das Thema auf die aktuellen Pläne des Bun- und vermuteten die Lobby der Pharmaindustrie desministeriums für Gesundheit zur Schaffung ei- hinter den Plänen für ein nationales Gesundheits- nes nationalen Gesundheitsportals. Die Teilneh- portal (A.3.5): merinnen und Teilnehmer wurden im Diskussions- verlauf informiert, dass vertrauenswürdige Ange- "Das Gesundheitsministerium und die Lobby der bote in einem Gesundheitsportal zusammenge- Pharmaindustrie sind doch eng verbandelt. Die führt werden sollen, um so den Zugang zu quali- Regierung lässt sich ja gerne von Beratern beraten tätsgeprüften, aktuellen Gesundheitsinformatio- und die kommen dann oft von der Pharma. Also nen zu erleichtern. Die Mehrheit begrüßte diese wenn, dann müsste so ein Portal von einer neut- Idee und sprach sich für die Schaffung eines ralen Stelle kommen." solchen Portals aus (A.3, A.3.1). Auf die Rückfrage der Moderatoren, welche neut- „Also das wäre wirklich gut. Dann wüsste man, rale Instanz hierfür infrage käme, wussten die dass alles fundiert ist. Und wenn das vom Gesund- meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer keine heitsministerium ist, würde ich dem schon mehr Antwort (A.3.5.1). Einig waren sie sich lediglich da- vertrauen.“ hingehend, dass die Pharmaindustrie keinen Ein- fluss auf das Portal haben dürfe. Einzelne Stimmen beteuerten sogar, dass sie ein nationales Gesundheitsportal an die erste Stelle ei- "Nicht, dass da irgendwelche Pharma-Lobbyisten ner Internetrecherche setzen würden (A.3.2). dahinterstehen. Ich wüste nicht mal, wem man heutzutage noch trauen kann." „Also das ist ja viel sicherer, wenn man da jetzt was von einer Behörde bekommt, als wenn man Vorgeschlagen wurde auch das Modell einer ge- bei Google irgendwas sucht. Wenn es sowas gäbe, genseitigen Kontrolle von Ärzten, Krankenhäusern dann würde ich mir Google schenken und gleich und Kostenträgern (A.3.5.2). direkt dort einsteigen.“ "Grundsätzlich finde ich es auch immer gut, wenn mehrere Parteien dahinterstehen, die dann disku- Misstrauen tieren, was wirklich richtig ist." Nichtsdestotrotz meldete sich in allen vier Grup- Schließlich sprachen sich Einzelne für die Verortung pendiskussionen eine Fraktion von Skeptikern zu eines nationalen Gesundheitsportals bei Verbrau- Wort, die auch die übrigen Teilnehmerinnen und cherschutzorganisationen aus (A.3.5.3). Teilnehmer nachdenklich stimmte. Die Skeptiker hinterfragten die Zielsetzung und Absicht der "Ich wäre für eine Stiftung Warentest. Eine Institu- Bundesregierung zur Schaffung eines solchen tion, die von niemandem Geld kriegt außer vom Portals (A.3.3) und brachten diese meist mit dem Staat." einsetzenden Ärztemangel im ländlichen Raum in Verbindung (A.3.4). 15
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie FAZIT | Informationsrecherche 04.1.2 Die Aussagen der Teilnehmerinnen und Teil- Arzt-Patienten-Beziehung nehmer verdeutlichen, dass Gesundheitsin- formationen aus dem Internet für sie eine sehr Im weiteren Gesprächsverlauf ging es um die wichtige Rolle spielen. Dies kann so weit ge- Frage, inwiefern sich die Informationen aus dem hen, dass Patientinnen und Patienten „Dr. Netz auch auf die Arzt-Patienten-Beziehung aus- Google“ die letzte Entscheidung treffen lassen. wirken könnten. Den Einstieg bildete die Frage der Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn sie Moderatoren, ob Ärztinnen und Ärzte bei der Aus- auf Basis von Rechercheergebnissen ein Medi- wahl und Bewertung von Informationsquellen aus kament nicht einnehmen oder eine Therapie abbrechen – ohne die Ärztin oder den Arzt zu dem Netz eine Rolle spielen könnten. Viele Teil- informieren. nehmerinnen und Teilnehmer konnten sich zu- nächst nicht vorstellen, wie ihr Arzt sie bei der In- Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer schie- nen sich zwar bewusst zu sein, dass Informa- formationsrecherche im Netz unterstützen sollte: tionen aus dem Netz nicht immer seriös und "Ich weiß nicht, ob das nicht ein bisschen zu viel vertrauenswürdig sind. Sie trauten sich aber verlangt ist, dass sich der Arzt damit auch noch häufig zu, die Informationsqualität einschät- zen zu können und machten dies vor allem an beschäftigt." der ärztlichen Qualifikation der Autoren, dem Auf konkrete Nachfrage der Moderatoren bekräfti- Bekanntheitsgrad des Informationsanbieters gen jedoch fast alle Teilnehmerinnen und Teilneh- und der Übereinstimmung unterschiedlicher mer, dass sie sich eine Empfehlung seriöser Informationsquellen fest. Die Fundierung der Informationen durch wissenschaftliche Stu- Informationsquellen durch ihre Ärztin oder ih- dien wurde in den Diskussionsgruppen nicht ren Arzt wünschten (B.1). erwähnt. "Wenn der Arzt jetzt sagen würde: Gehen Sie doch Die große Mehrheit der Teilnehmerinnen und mal auf die und die Seite. Da können sie das alles Teilnehmer brachte zum Ausdruck, dass sie die noch mal nachlesen. Also das fände ich toll. Dann Schaffung eines nationalen Gesundheitspor- könnte ich die vielen Informationen schon mal ein tals begrüßen würde. Nichtsdestotrotz hinter- fragten Viele die Absicht der Bundesregierung bisschen eingrenzen und müsste nicht lange bei zur Schaffung eines solchen Portals und Google rumsuchen." brachte dies häufig mit dem einsetzenden "Die Zeit für die Beratung reicht ja meist nicht, dass Ärztemangel im ländlichen Raum in Verbin- der Arzt einem wirklich alles erklären kann. Und dung. Andere vermuteten die Pharmaindust- rie hinter dem Vorhaben. dann geht man mit so einem Halbwissen aus dem Sprechzimmer und möchte gerne mehr wissen. Eine neutrale und unabhängige Verankerung Und dann muss man auf eigene Faust im Internet eines nationalen Gesundheitsportals wurde in den Gruppendiskussionen offensiv eingefor- suchen. Da wäre es gut, wenn der Arzt einem was dert. Für ein nationales Gesundheitsportal er- empfehlen könnte." scheint die diesbezügliche Akzeptanz und das Lediglich eine Stimme wandte sich gegen die ärzt- entgegengebrachte Vertrauen in der Bevölke- rung fundamental. Die Beiträge aus den Fo- liche Empfehlung vertrauenswürdiger Informati- kusgruppen liefern jedoch Hinweise auf eine onsquellen, weil sie das Recht auf eine ausführli- Reihe von Befürchtungen und zugeschriebe- che persönliche Aufklärung gefährdet sah (B.1.1): nen Motiven, die im Rahmen der Bildung ei- "Ich bekomme meine Aufklärung lieber vom Arzt ner Vertrauensmarke zu berücksichtigen wä- ren. persönlich. Und wenn es dann solche Seiten im Internet gibt, dann schiebt der Arzt das einfach auf den Patienten ab. Das finde ich nicht gut, denn das ist Aufgabe des Arztes." 16
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Abbildung 4: Diskussionskarte zur Arzt-Patienten-Beziehung im Kontext digitaler Patienteninformationen (B) Im Unterschied zu dieser kritischen Position wertete zu kurzer Zeit und viele Sachen fallen einem erst die große Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teil- später ein. Und da wäre es natürlich super, wenn nehmer elektronische Patienteninformationen je- der Arzt einem dann noch mal was empfehlen doch nicht als Gegenspieler, sondern als wertvolle würde: Da können Sie das alles noch mal nachle- Ergänzung zum persönlichen Arzt-Patienten-Ge- sen und da können Sie sich Hilfe holen. Sowas spräch. habe ich aber leider noch nie erlebt." "Da wartet man monatelang auf einen Arzttermin Auch die anderen Diskussionsteilnehmerinnen und und dann ist nach 5 Minuten schon wieder alles -teilnehmer hatten diese Erfahrung in der Regel vorbei. Da sind einfach zu viele Informationen in nicht gemacht und hatten ärztlicherseits noch 17
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie keine Empfehlungen zu seriösen Informations- Aussage meines Arztes verlassen, weil ich keine In- angeboten im Internet erhalten (B.1.2). Nur ein- formationsquellen hatte. Und jetzt ist es schon so, zelne Stimmen berichteten Gegenteiliges: dass ich das, was mein Arzt sagt und macht, im Internet kontrolliere." "Meine Hausärztin sucht manchmal sogar direkt in der Sprechstunde was für mich raus und druckt mir Ebendiese Kontrollfunktion in Bezug auf ärztli- das dann aus. Das hilft mir sehr." ches Handeln wurde wiederholt thematisiert (B.2.2). Im Falle einer Inkongruenz zwischen ärztli- Folgt man den Ausführungen der Teilnehmerinnen chen Empfehlungen und den im Netz gefundenen und Teilnehmer, so wären ärztliche Hinweise auf Aussagen würden viele Teilnehmerinnen und Teil- seriöse Quellen im Internet bei den Patientinnen nehmer einen anderen Arzt konsultieren: und Patienten also hochwillkommen. Dabei sollen die Informationen aus dem Netz das persönliche "Ich kann den Arzt kontrollieren. Wenn ich da Aufklärungsgespräch mit dem Arzt aber keinesfalls zehn Mal dieselbe Information finde und nur mein ersetzen, sondern vielmehr ergänzen (B.1.3). Arzt behauptet was Anderes, dann würde ich den Arzt wechseln oder mir zumindest eine zweite Mei- Gut vorbereitet nung holen." Neben der Nachbereitung eines Arztgesprächs Die Möglichkeit, ärztliche Empfehlungen oder spielten digitale Information auch im Vorfeld eines Handlungen kontrollieren zu können, nahmen die Arztbesuchs eine wichtige Rolle. Dabei ging es den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer keines- Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach eigenen wegs als Schwächung des Vertrauensverhältnisses Angaben keineswegs nur um eine virtuelle Diag- wahr. Im Gegenteil sahen sie das Vertrauen im nose von ‚Dr. Google’. Durch eine gute Vorberei- Arzt-Patienten-Verhältnis sogar gestärkt tung auf den Arztbesuch wollten sie sich stattdes- (B.2.2.1): sen auf Augenhöhe mit der Ärztin oder dem "Viele Ärzte haben ja den Ruf, schnell zu operieren, Arzt bringen (B.2.1). um Kasse zu machen. Ja und da fühlt man sich "Wenn ich zum Arzt gehe, habe ich mich vorher doch verunsichert. Man weiß nicht, ob die Opera- informiert und weiß schon sehr viel. Und das führt tion notwendig ist oder ob nicht ein anderer Weg dann dazu, dass man vielleicht gezielter Fragen besser wäre. Und in solchen Fällen hilft einem das stellen kann. Und dann weiß ich auch, wie ich mit Internet wirklich weiter. Und wenn es da keine dem Arzt sprechen kann." Widersprüche gibt, kann man seinem Arzt auch vertrauen." "Man ist besser vorbereitet. Wenn man sich vorher ein bisschen eingelesen hat, kann man mit dem Ein weiterer Aspekt, der im Kontext des Arzt- Arzt diskutieren. Man muss sich nicht nur was an- Patienten-Verhältnisses häufig thematisiert wurde, hören, sondern kann auch was dazu sagen und waren Arztbewertungen im Netz. Eine große Fragen stellen." Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern nutzte entsprechende Bewertungsportale und Alles unter Kontrolle hatte den Eindruck, die freie Arztwahl so souverä- ner ausüben zu können (B.2.3). Ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer fühlte sich nach eigenen Angaben durch Gesund- "Die Arztbewertungen im Internet haben das Ver- heitsinformationen aus dem Netz gestärkt (B.2) hältnis zwischen Arzt und Patient extrem verän- und beschrieb in diesem Zusammenhang eine Ver- dert. Wenn man jetzt zu einem Facharzt muss, änderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses im Ver- dann guckt man ja schon, was da für Kritiken lauf der letzten Jahre: drinstehen. Das ist heute schon anders als früher. Früher ist man da einfach hingegangen. Heute in- "Also der Wissensstand hat sich ja schon verändert. formiert man sich vorher über die Ärzte und kann Früher habe ich mich hundertprozentig auf die sich die aussuchen. Weil man mehr über sie im In- ternet rausfinden kann." 18
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie In der Gesamtschau beschrieben die Teilnehmerin- Mit kleinen Sachen kann man sich dann ja selber nen und Teilnehmer eine Reihe von Einflüssen und helfen und muss das Wartezimmer nicht verstop- Veränderungen digitaler Patienteninformationen fen." auf das Arzt-Patienten-Verhältnis. Die Bewertung "Also es gibt Ärzte, die finden das toll, wenn man dieser Veränderungen hing häufig auch von der sich informiert, weil es für die dann einfacher ist, wahrgenommenen Haltung der Ärztinnen und die Sachen zu erklären." Ärzte ab. Einzelne Stimmen schilderten auch Situationen, in Was Ärzte davon halten denen Patientinnen und Patienten auf Basis von Gesundheitsinformationen aus dem Internet kon- In der Frage, ob die behandelnden Ärztinnen und krete Vorschläge in die Behandlungsgestaltung Ärzte die Internetrecherchen ihrer Patienten gut- einbrachten und so die eigene Therapie mitgestal- heißen, zeigte sich in den Gruppendiskussionen teten: ein geteiltes Bild. Gut die Hälfte der Teilnehme- rinnen und Teilnehmer ging davon aus, dass "Mein Mann hatte Ohrenschmerzen und war damit Ärztinnen und Ärzte von Gesundheitsinforma- fünf Mal beim Ohrenarzt ohne dass der etwas fin- tionen aus dem Internet nicht viel halten den konnte. Dann haben wir im Internet gelesen, (B.3.1): dass das auch vom Zähneknirschen kommen kann. Mein Mann hat dann eine Knirscherschiene "Mein Hausarzt und auch mein Zahnarzt können bekommen und es ging ihm wieder gut. Der Oh- das definitiv nicht leiden. Die sagen: Jetzt bist Du renarzt hat gesagt, dass er viel von uns gelernt bei mir und jetzt sage ich, wie es gemacht wird. hätte und jetzt auch anderen Patienten mit einer Die Ärzte wollen lieber selber viel erzählen. Sie Knirscherschiene vom Zahnarzt helfen konnte." wollen nicht, dass Patienten selbst den Arzt spie- len." "Mein Arzt sagt mir immer: Gucken Sie das jetzt FAZIT | Arzt-Patienten-Beziehung bloß nicht im Internet nach! Meine Ärzte waren Folgt man den Ausführungen in den vier Dis- noch nie begeistert, wenn ich denen erzählt habe, kussionsgruppen, so sind ärztliche Hinweise was ich neues im Internet entdeckt habe. Ich gehe auf seriöse Quellen im Internet bei Patientin- dann immer in die Apotheke und frage da nach.“ nen und Patienten hoch willkommen. Die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilneh- Ob sich Ärztinnen und Ärzte von möglichen Vorab- mer wünschte sich eine solche Empfehlung. recherchen angegriffen fühlten, hing nach Ansicht Gleichzeitig glaubten viele, dass ihre Ärztin- einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch vom nen und Ärzte es nicht begrüßen würden, kommunikativen Geschick während des Arztge- wenn sie sich im Internet informierten. Dies sprächs ab (B.3.3): dürfte einer der Gründe sein, weshalb die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Arzt "Es kommt darauf an, wie man das Gespräch über ihre Suche im Internet eigenen Angaben führt. Man sollte erst den Arzt reden lassen und zufolge häufig nicht in Kenntnis setzten. nicht sagen, was man selbst schon weiß." Darüber hinaus lassen sich neben der Nach- Knapp die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teil- bereitung eines Arztbesuchs Motivationslagen nehmer teilte diese Auffassung nicht und ging da- für eine Internetrecherche identifizieren, die eher im Verborgenen erfolgen: So liefern die von aus, dass ihre Ärztinnen und Ärzte es begrü- Fokusgruppen Indizien dafür, dass sich Pati- ßen würden, wenn sie sich über ihre eigene Er- entinnen und Patienten mit Hilfe von krankung im Internet informieren (B.3.2, B.3). Gesundheitsinformationen aus dem Internet gezielt vorbereiten und ‚aufrüsten’, um im "Also wenn ich mich als Patient informiere, dann Arzt-Patienten-Gespräch mitreden zu kön- muss der Arzt das doch gut finden. Und wenn er nen. Offensichtlich erfüllen Gesundheitsinfor- das kritisiert, dann würde ich schon skeptisch wer- mationen aus dem Netz aber auch eine den. Ich glaube, die Ärzte sehen das eher positiv. Kontrollfunktion, bei der Patientinnen und 19
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie Patienten ärztliche Therapieempfehlungen ohne Wissen der Ärztin oder des Arztes abglei- chen und prüfen. In der Gesamtschau liefern die Beiträge wenig Anlass zu der Vermutung, dass die Informatio- nen aus dem Netz das Arzt-Patienten-Ver- hältnis nachhaltig belasten oder schwächen könnten. Im Gegenteil fühlten sich die Teil- nehmerinnen und Teilnehmer durch die Ge- sundheitsinformationen aus dem Netz eher gestärkt und beschrieben in der Folge einen Vertrauenszuwachs in die so abgesicherten Behandlungsentscheidungen. 20
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie 04.2 Apps aus dem medizinischen Bereich. So zum Bei- spiel eine Anwendung zur Tinnitus-Behandlung Gesundheits-Apps mittels gefilterter Musik, eine Migräne-App die mittels Faktorenanalyse Anfälle vorhersagt und Im zweiten Themenabschnitt der Gruppendiskussi- eine Diabetes-App, die im Alltag hilft, Informatio- onen wurde der Fokus von den reinen Informati- nen und Gesundheitsdaten zu dokumentieren. onsangeboten auf mobile Gesundheitsanwendun- Die vorgestellten Anwendungen unterstützen auf gen gelenkt. Solche Gesundheits-Apps versorgen unterschiedlichen Wegen das Selbstmanagement ihre Anwender nicht nur mit Informationen. Sie oder den Umgang mit chronischen Erkrankungen, motivieren, messen, werten individuelle Gesund- messen, erheben und erfassen Daten und sind als heitsdaten aus und unterstützen Patientinnen und Medizinprodukt zertifiziert. Im Bereich der Diag- Patienten im täglichen Umgang mit ihrer Erkran- nostik wurde als Beispiel ein an der Universität kung. Stanford entwickelte App zur Melanomerkennung Anders als bei den reinen Informationsangeboten beschrieben. gehen diese Anwendungen also weiter - und kommen den Anwendern mit Hilfe von Sensoren buchstäblich näher. Aber verändert sich dadurch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient? Hierzu Leitfragen zu diesem Thema wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesem Abschnitt der Gruppendiskussionen be- • Wie denken Sie über Gesundheits- fragt. Apps, die Krankheitssymptome lin- dern oder Krankheiten diagnostizie- Erklärungsbedürftig ren können? Bereits bei Durchführung der ersten von vier Grup- • Glauben Sie, dass eine App einen Teil pendiskussionen wurde deutlich, dass sich die der Aufgaben eines Arztes überneh- Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Wirkungs- men könnte? mechanismen und Potentiale digitaler Gesund- heitsanwendungen meist nicht bewusst waren. • Würden Sie sich wünschen, dass Ihr Bei dem Begriff „Gesundheits-Apps“ hatten sie vor Arzt Ihnen geprüfte Gesundheits- allem Schrittzähler und Ernährungs-Apps vor Au- Apps empfiehlt? gen. Viele von ihnen konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass eine App Einfluss auf Beschwerden und Symptome ausüben oder gar eine Erkrankung feststellen könnte (C.1). Breite Zustimmung "Also wenn das wirklich funktioniert, dass man Die Vorstellung der Beispiele traf bei der Mehrheit damit Beschwerden lindern könnte. Also ich kann der Teilnehmerinnen und Teilnehmern zunächst mir das noch nicht wirklich vorstellen, aber das auf große Zustimmung und Offenheit. Sie machten wäre natürlich wirklich bombig." deutlich, dass sie die Möglichkeiten und Potenti- "Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine App eine ale digitaler Gesundheitsanwendungen noch richtige Wirkung entfalten soll, solange man das gar nicht kannten und machten sich dafür stark, Smartphone nicht runterschluckt. Dann habe ich dass solche Apps auch im deutschen Gesundheits- Bauchschmerzen." system zum Einsatz kommen (C.1.1) und Ärztinnen und Ärzte mit entsprechenden Informationen Um in den Gruppendiskussionen zu einem einheit- versorgt werden: lichen Verständnis zu gelangen, wurde der Leitfa- den situativ angepasst. Die Moderatoren beschrie- ben eine Reihe von Beispielen für Gesundheits- 21
Patientenperspektiven 2018 | Qualitative Studie "Also ich wusste das gar nicht und ich finde das kann. Und mit Gesundheitsdaten sollte man nicht wirklich eine tolle Sache. Und da finde ich es wich- spielen." tig, dass die Ärzte da auch mit genug Informatio- Ein weiterer Kritikpunkt bezog sich auf die Aus- nen versorgt werden. Die Ärzte müssen das wissen, übung von Kontrolle und Steuerung mittels di- weil ich finde, das ist eine ganz tolle Sache. Ich bin gitaler Anwendungen (C.4). Einzelne Stimmen begeistert, wenn ich das höre." befürchteten, dass Apps in Zukunft auch das Ge- Unterstützung erhielten die Befürworter von Ge- sundheitsverhalten sowie die Inanspruchnahme sundheits-Apps durch die Teilnehmerinnen und medizinischer Leistungen manipulativ beeinflussen Teilnehmer mit einer chronischen Erkrankung. Sie könnten. beschrieben, dass sie sehr häufig ein Tagebuch "Ich habe den Eindruck, wir werden viel zu ab- führen und Symptome, Gesundheitsdaten und hängig von diesen technischen Sachen. Man will andere Informationen dokumentieren müssten. ja keinem was Böses unterstellen, aber wenn ir- In diesem Zusammenhang werteten sie den Einsatz gendwas gelenkt werden soll, dann geht es über von Gesundheits-Apps als große Erleichterung die technische Schiene am einfachsten.“ (C.2). "Also ich habe Diabetes Typ I. Und das erschwert Apps im Überfluss mir mein Leben schon arg. Und man muss da so Die Zahl der verfügbaren Gesundheits-Apps ist ein Tagebuch führen, wo man jeden Tag auf- groß. Über 100.000 digitale Gesundheitsanwen- schreibt, was man isst. Bisher hat man das alles dungen werben um die Gunst der Anbieter (Alb- schriftlich gemacht und musste immer so ein recht 2016) und der Markt ist weitestgehend in- Büchlein dabeihaben. Jetzt gibt es aber die Apps, transparent. So ist es nicht verwunderlich, dass die es einem viel leichter machen. Ganz egal, was sich ein Großteil der Diskussionsteilnehmerin- man dokumentiert. Im Smartphone kann man das nen und -teilnehmer für eine ärztliche Emp- leicht eingeben und freut sich drauf. Das macht fehlung geeigneter Gesundheits-Apps aus- Spaß und auf Papier ist das eher altbacken." sprach (C.5): Skepsis "Dann weiß man wenigstens, dass das kein Schnickschnack ist. Sonst hat man nur wieder eine In die insgesamt wohlwollende Diskussion um den App mehr auf dem Smartphone. Aber wenn der Einsatz von Gesundheits-Apps mischte sich auch Arzt mir das empfiehlt, weiß ich, dass das gut ist." eine Reihe kritischer Stimmen. Die am häufigsten genannte Kritik bezog sich auf die Sicherheit Die Moderatoren gingen noch einen Schritt weiter und den Schutz personenbezogener Daten (C.3). und fragten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer reagierten was sie davon halten würden, wenn Ärztinnen sehr sensibel auf dieses Thema und zeigten sich und Ärzte qualitätsgeprüfte Gesundheits-Apps auch von der Ergreifung technischer und organisa- ‚verordnen’ und die Krankenkassen bei vorlie- torischer Maßnahmen zum Datenschutz wenig be- gendem Wirkungsnachweis die Kosten hierfür eindruckt: übernehmen würden. Auch diese Idee stieß auf breite Zustimmung. Nichtsdestotrotz wurden Be- "Das hat auch eine Kehrseite. Da wird man sowas dingungen formuliert, die Einzelne noch nicht er- von transparent, wenn man durch so eine App füllt sahen (C.5.1, C.5.2): überwacht wird. Dann können die den ganzen Lebensstil nachvollziehen. Und hinterher sagt "Die Apps müssten auch zertifiziert werden und dann die Versicherung: Sie hätten ja schon mal dann in einer Datenbank für die Ärzte zusammen- früher auf sich Acht geben können. Man hört im- gestellt werden. Die Ärzte müssten aber auch wie- mer wieder von Datenschutz-Skandalen. Am An- der irgendwie geschult werden, dass sie auch mit fang wird immer gesagt: Ist alles sicher! Aber die den Apps umgehen können und sie vor allem ken- Skandale zeigen, dass doch alles gehackt werden nen." 22
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