Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin

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Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
magazin für journalisten

                                                                                                                                               #04/2017
                                                                                                                                               EURO 10,–
EURO 10,– · Postfach 1152, 83381 Freilassing · ISSN 0178-8558 · Y9072 E · Foto: Anja Weber

                                                                                             FREI
                                                                                             WILD
                                                                                             Carola Dorner über
                                                                                             die verschärfte Lage

                                                                                                                          Plus
                                                                                             freier Journalisten

                                                                                                                          Werkstatt „Mobile Reporting“
                                                                                                                          Special Fotojournalismus
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
Editorial
                  ANNETTE MILZ
                  ist Chefredakteurin des „medium magazins“.

                  FOTO: E. HÄBERLE

Zahlen                                                                                                                      #freedeniz
                                                               dem Erkenntniswert und seinem Fazit befragt: „Der
                                                               angeblich massive Vertrauensverlust in die klassischen
                                                               Medien ist ein Mythos – leider mit weitreichenden                Es lebe
lügen nicht                                                    Folgen“ (Seite 40).

                                                               Weitreichende Folgen hat auch die derzeitige Lage
                                                                                                                              das freie
                                                                                                                                 Wort!
                                                               der Freien: Welches Medium kann schon ohne die
                                                               Arbeit der Freelancer auskommen, die keine Stechuhr
… oder doch? Auch mit Blick auf die                            kennen? Wir übrigens auch nicht, denn das „medium
Bundestagswahl im September                                    magazin“ besteht selbst – seit seiner Gründung – nur
                                                               aus freien Journalisten und Journalistinnen. Und das
lohnt ein genauerer Blick auf Um-                              aus Überzeugung – wie bei den meisten Freien. Nur:
fragemethoden.                                                 Die Situation im Markt hat sich für die Freien in einem
                                                               Maße verschärft, dass es vielen an die Substanz geht.
                                                               Katy Walther hat in unserem Titelschwerpunkt zu-
„Ich glaube nur den Statistiken, die ich selbst gefälscht      sammengetragen, wie die Situation in den einzelnen
habe“: Das geflügelte Wort eines unbekannten Zah-              Gattungen aussieht. Und sie hat die neue Freischrei-
lenfreundes fehlt in keiner launigen Diskussion über           ber-Vorsitzende Carola Dorner gefragt, was und wie
Umfragen. Wie witzig. Wie bitter ernst – wenn in die-          sich freie Kollegen und Kolleginnen heute aufstellen
sen Zeiten sogar US-Präsidentschaftswahlen mit Um-             sollten (Seite 14).
fragen manipuliert werden.
  Wir haben uns für dieses „medium magazin“ gefragt,           Mehr als nur ein PS: Ende Juni erhielt der in der Türkei
wem wir eigentlich noch glauben können bzw. sollen,            inhaftierte „Welt“-Kollege Deniz Yücel in erzwungener
wenn es um Glaubwürdigkeits-Umfragen geht. Davon               Abwesenheit den Theodor-Wolff-Preis. Die Zeitungs-
gibt es inzwischen so viele mit so vielen unterschied-         verleger haben so ein wichtiges Solidaritätszeichen
lichen Aussagen zumVertrauen der Bevölkerung in die            gesetzt. Während des Global Editors Network Summit
Medien, dass ein Überblick schier unmöglich scheint.           (GEN Summit) 2017 im Juni diskutierte ich mit Kollegen
  Inge Seibel hat sich dennoch daran gemacht – wahr-           aus der Türkei, ob diese öffentliche Personalisierung
lich keine vergnügungssteuerpflichtige Aufgabe. Aber           auch den türkischen inhaftierten Kollegen zugutekäme.
die Mühe hat sich gelohnt: Eine geballte Übersicht – 16        Die Antwort war ein eindeutiges JA. Öffentlichkeit
Studien insgesamt auf einen Blick – mit höchst ver-            helfe – auch beim Durchhalten. Es gilt, was die „Wa­
schiedenen Ergebnissen (siehe Seite 36).                       shington Post“ neuerdings als Claim für ihre ganze
  Die Erkenntnisse aus dem Vergleich möge jeder für            Marke laut in die Welt hinausträgt: „Democracy dies
sich ziehen, denn – so das Fazit von Inge Seibel – es          in darkness.“ Deshalb zum wiederholten Mal:
gibt keine Norm bisher, wie man am besten das Ver-             #freedeniz. Es lebe das freie Wort!
trauen in die Medien misst. Aber: „Wir brauchen keine
Vielzahl an Studien, die pauschal die Glaubwürdigkeit          In eigener Sache
abfragen und dann panisch oder freudestrahlend von             Es ist wieder so weit: Die Nominierungsphase für die                     magazin für journalisten

                                                                                                                                      30
den Medienpublikationen verbreitet werden, sondern             „Top 30 bis 30 2017“ läuft. Seit wir 2006 diese Wahl für               mediummagazin.de

Studien, die mit differenzierten Fragestellungen er-           den Journalistennachwuchs ins Leben gerufen haben,            Top
gründen, was gut oder schiefläuft. Dazu eignen sich            hat sich die Wahl der Top 30 bis 30 zum renommierten             bis
am besten die Universitäten, weshalb es begrüßenswert          Ausweis von Talent und Können entwickelt. Darauf sind
wäre, wenn Medien und Forschung hier mehr Hand in              wir ein bisschen stolz – aber das wäre nicht möglich
Hand arbeiten würden. Ansätze sind da.“                        ohne Ihre Mitwirkung: Nominieren Sie bitte ab sofort
  So hat Senta Krasser Professor Kim Otto von der              IHRE Favoriten für 2017. Bis zum 1. August sind Vor-
Universität Würzburg nach seiner Langzeitstudie,               schläge willkommen. Alle Infos auf: mmbeta.de

                                                                                                  Journalisten-Werkstatt „Mobile Reporting“

                                                                                                  Für Abonnenten ist unsere 16-seitige
                                                                                                  Werkstatt von Pauline Tillmann zum Thema
                                                                                                  „Mobile Reporting “ kostenfrei in dieser
                                                                                                  Ausgabe enthalten. Nachbestellungen (6,99
                   „medium magazin“ gibt es                                                       Euro zzgl. Versand) bitte über vertrieb@
                   auch im iKiosk – als                                                           mediummagazin.de oder newsroom.de/shop.
                   Einzelausgabe und im Abo.

                                                                                                                            MEDIUM MAGAZIN                         3
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
Inhalt #04/2017

I MP RESSUM
                                                 TITEL
                                                                                                SO GEHT’S
                                                                                                NICHT WEITER!
                                                                                                Wie Carola Dorner als neue Vorsitzende der
medium magazin                                                                                  Freischreiber die Lage der Freien verbessern will.
Unabhängige Zeitschrift für Journalisten                                                        Interview: Katy Walther
32. Jg., Nr. 4/2017                                                                             Fotos: Anja Weber                         Seite 14
Gegründet von Sebastian Turner
Chefredakteurin
Annette Milz (V.i.S.d.P., Frankfurt/Main)                                                       DIE ALTERSARMUT VOR AUGEN
                                                                                                Eine freie Printjournalistin berichtet.     Seite 20
Redaktion
Katy Walther (Frankfurt), Daniel Bouhs,
Jens Twiehaus, Dr. Anne Haeming,                                                                WER KANN SICH PRINT NOCH LEISTEN?
Daniel Kastner (Berlin), Senta Krasser                                                          Die Lage der Freien bei Zeitungen.          Seite 22
(Köln), Carolin Neumann, Inge Seibel
(Hamburg), Annette Walter (München),
Ulrike Langer (Seattle)                                                                         MEHR POWER FÜR DIE 12A-FREIEN
Autoren
                                                                                                Die Lage der Freien bei den Öffentlich-
Michéle Binswanger, Michael Bröcker,                                                            Rechtlichen.                                Seite 24
Christian Fahrenbach, Daniel Fiene,
Julian Heck, Anton Hunger, Norbert
Küpper, Peter Littger, Carl Wilhelm
Macke, Stephan Seiler, Bernd Stößel,
Pauline Tillmann                                     RUBRIKEN                                           BERUF UND MEDIEN
Anzeigen- und Medienberatung
Ruperta Oberauer
Tel. +43/6225/27 00-35                      6      Spektrum. Tipps, Termine, Urteile und        26    Wiener Worte
ruperta.oberauer@oberauer.com                      die dpa-Fotos des Jahres.                          Statements und Trends vom European
Redaktion                                                                                             Newspaper Congress 2017. Jens Twiehaus
                                            8      Meisterstücke. Drei herausragende Texte
Im Uhrig 31, 60433 Frankfurt am Main
Tel. 069/95 29 79-44, Fax -45                      und ihre Autoren.           Senta Krasser   28    Willkommene Kontrolle
E-Mail: redaktion@mediummagazin.de                                                                    Die Dokumentation des „Spiegels“ ist
                                            10     Digitale Perlen: Bemerkenswerte
www.mediummagazin.de                                                                                  legendär. Seit der „Agenda 2018“ steht
#twitter @mediummagazin                            Startups (Teil 16).         Julian Heck
                                                                                                      aber auch sie unter Druck. Daniel Bouhs
www.facebook.com/mediummagazin
                                            12     Junge Perspektiven. Wer uns und was
Verlag und Medieninhaber
                                                                                                32    Ein glorreicher Halunke
                                                   uns auffiel.             Jens Twiehaus
Johann Oberauer GmbH                                                                                  Constantin Seibt hat in der Schweiz
Postanschrift: Postfach 11 52,              84     Kiosk. Markt für Freie.      Bernd Stößel         gerade 3 Millionen Franken für das
83381 Freilassing                                                                                     Digitalmagazin „Republik“ eingesam-
Zentrale: Fliederweg 4,                     87     Layouttipp. „Mitteldeutsche Zeitung“
                                                                                                      melt. Ein Porträt. Michéle Binswanger
A-5301 Salzburg-Eugendorf                                                   Norbert Küpper
Tel. +43/6225/27 00-0, Fax -11                                                                  36    Zahlen lügen nicht – oder doch?
                                            88     PR-Personalien. (Seiten-)Wechsel in
Produktion                                                                                            Eine Vielzahl von Studien inzwischen
Martina Hutya, Sabrina Weindl,
                                                   der Branche.              Katy Walther
                                                                                                      belegen mal mehr, mal weniger
Fabian Helminger                            90     Die Hunger-Kolumne. Heißt von Trump                Glaubwürdigkeit. Aber was stimmt
Abo- und Vertriebshotline                          lernen siegen lernen?   Anton Hunger              denn nun?               Inge Seibel-Müller
Tel. +43/6225/27 00-41, Fax -44
E-Mail: abo@mediummagazin.de                91     Lesetipps. Bücher zum Querdenken             40    Sorgfalt gefragt
                                                                             Bernd Stößel            Niemand glaubt mehr Journalisten?
Druck
Druckerei Roser, Salzburg                   92     Personalien. Köpfe und Karrieren.		                Dem widerspricht eine Studie der Uni
                                                                                                      Würzburg: Nachfragen bei Professor
                                                                                                                                                        FOTOS: ANJA WEBER, GABY GERSTER,

                                                                             Jens Twiehaus
                                                                                                      Kim Otto.                Senta Krasser
                                            97     Journalisten helfen Journalisten. Mit
                                                                                                42    Ideen und Projekte
                                                   Mut gegen die Misere.
                                                                                                      Interessante Projekte im Regionalen:
                                                   		                JHJ/Carl Wilhelm Macke
                                                                                                      Diesmal aus Köln, Hannover, Mün-
                                            98     Terminal. Fragebogen: Bascha Mika                  chen, Berlin, Ochtrup, Greven,Regens-
                                                   („Frankfurter Rundschau“), zivilisiert             burg und Hamburg. 
                                                   cholerische Zaunkönigin.                           			                      Katy Walther

4                                                                                                                             MEDIUM MAGAZIN #04/2017
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
PLUS: 16 Seiten Journalisten-Werkstatt „Mobile Reporting“
                         Wenn die Werkstatt fehlt: Extrabestellungen
                         via vertrieb@mediummagazin.de – oder am besten
                         gleich ein „medium magazin“-Abo, in dem die
                         Werkstätten enthalten sind.

                                                                                                                     K L E I N G E D RU C K T ES
                          „WER UNSPEZIFISCH FRAGT,                                    „ICH WERDE ETWAS
                          KOMMT NICHT ZU VALIDEN                                      PSYCHOPATHISCH“
                          ERGEBNISSEN“                                                Amrai Coen, „Die Zeit“ 	      Katzencontent
                          Prof. Kim Otto, Medienforscher                              Seite 54
                          Seite 40                                                                                   geht ja immer. Das wissen wir
                                                                                                                     spätestens seit dem Erfolg von
                                                                                                                     Buzzfeed. Oder seit unser alter,
                                                                                                                     kranker, starrsinniger, aber lie-
                                                                                                                     benswerter Kater binnen weniger
                                                                                                                     Monate zum fünften Mal entführt
                                                                                                                     wurde! Von Tierfreunden, die
                                                                                                                     keine Mühe scheuten, ihn einzu-
                                                                                                                     fangen und quer durch ganz
                                                                                                                     Frankfurt ins Tierheim zu trans-
                                                                                                                     portieren. Trotz Flugblatt mit dem
                                                                                                                     dringenden Appell, das freiheits-
                                                                                                                     liebende Tier in Ruhe zu lassen
                                                                                                                     (s. unten). Wenn sich die Menschen
                                                                                                                     doch nur genauso um Menschen
                                                                                                                     sorgen würden wie um Vierbeiner!
                                                                                                                       Das nehmen wir jetzt umso mehr
                                                                                                                     zum Ansporn, uns um die uns
                                                                                                                     besonders nahestehenden Men-
                                                                                                                     schen zu kümmern und Ihnen zu
                                                                                                                     danken: Liebe Abonnentinnen und
                                                                                                                     Abonnenten! Wir lieben Sie, weil
46   Der Kulturwandel ist enorm                       74    Die Folgen einer Nacht                                   Ihnen die Lektüre von „medium
     Wie Chefredakteur Joachim Braun die                    Drei Kölner Zeitungen machen sich um                     magazin“ im Jahr 54 Euro zzgl.
     „Frankfurter Neue Presse“ neu                          die Aufklärung der Silvesternacht                        8 Euro Zustellgebühr wert ist, weil
     aufstellen will.          Katy Walther                2015/2016 verdient. Die Chronologie. 		                  Sie uns in diesen stürmischen
                                                            			                      Daniel Kastner                  Zeiten die Treue halten und uns
48   Der Samstag als Lesetag
                                                                                                                     beflügeln mit Ihren Ideen und
     Immer mehr Regionalzeitungen bauen
                                                                PRAXIS                                               ihrem Zuspruch. Dafür mühen wir
     ihre Wochenendausgaben aus und um.
                                                                                                                     uns nach besten Kräften, Ihnen
     Ein Werkstattbericht.    Katy Walther
                                                                                                                     interessante und gewinnbringen-
                                                      77    Mit Verve auf die Ohren
52   Kleine Nischen – große Zukunft                                                                                  de Lektüre zu liefern inklusive
                                                            Sprachsteuerung von Inhalten ist auf
     Wie Lara Setrakian ihre Newsseite über                                                                          unserer Werkstatt, die es nur im
                                                            rasantem Vormarsch: Wie und warum
     Syrien zum Medien-Startup „News                                                                                 Abo dazugibt. PS: Falls Sie etwa
                                                            die „Rheinische Post“ sich für Audio-
     Deeply“ ausbaut. Christian Fahrenbach                                                                           noch keins haben – wenn Sie sich
                                                            Angebote engagiert. 
54   „Ich finde Teamarbeit beflügelnd.“                                             Daniel Fiene, Michael Bröcker   mit der Abobestellung beeilen,
     Wie arbeiten herausragende Reporter?                                                                            gibt es noch die aktuelle Werkstatt
     Folge 23 unserer Interviewserie: Amrai                                                                          „Mobile Reporting“ dazu, und ich
                                                                SPECIAL FOTOJOURNALISMUS                             garantiere Ihnen: Es wird sich für
     Coen, „Die Zeit“         Stephan Seiler
                                                                                                                     Sie auszahlen!        Annette Milz
62   Die kollaborative Mensch-Maschine                72    Grenzen der Manipulation
     Wie US-Medien Künstliche Intelligenz                   Wenn sich die Fototechnik ändert,
     für sich nutzen: Ein Blick in die Labore               ändert sich die Bildsprache: Das war
     von AP, NYT bis „Washington Post“. 	                  immer so. Doch nun verschärfen sich
     			                       Ulrike Langer                die Debatten.
66   „Ich will radikale Veränderung“		          73          Reine Oberfläche
     Der New Yorker Investor Albert                         Fotos als Rohmaterial: Michael Hauri,
     Wenger istgegen Donald Trump, aber                     Gründer von 2470media, erklärt,
     hofft, dass der Präsident einen Wandel                 welche Bilder online funktionieren und
     in der Gesellschaft auslöst. Dabei sieht               warum sich Henri Cartier-Bresson im
     er Medien in starker Verantwortung.                    Grabe umdrehen würde.
     			                    Christan Fahrenbach             			                       Anne Haeming

                                                                                                                                    MEDIUM MAGAZIN    5
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
Spektrum

    Z I TAT E                                TIPPS                                           „Berliner Zeitung“ und „Havas Düssel-
                                                                                             dorf“. 61 Redakteure schreiben dort bis
                                            „Tagesspiegel“ zeigt die                         zum Herbst über die Themen, mit denen
                                            „Twitter-Netzwerke der AfD“                      sich die getöteten Journalisten beschäftigt
     „Democracy Dies                        Im Bundestagswahljahr 2017 startet der „Ta-
                                            gesspiegel“ ein umfangreiches Recherche-
                                                                                             haben und wollen damit den kritischen
                                                                                             Stimmen ihrer verstorbenen Kollegen Ge-
     in Darkness.“                          projekt zum Thema Twitter-Netzwerke und          hör verschaffen:
                                            hat im ersten Schritt das Twitter-Verhalten      zeitung-61.de
                                            der AfD untersucht. Das datenjournalistische
     Das neue Motto der „Washington Post“   Projekt ist eine Kooperation des Tagesspie-       URTEILE
     www.washingtonpost.com                 gels mit netzpolitik.org. Erste Artikel er-
                                            schienen Ende April….                            TV-Aufnahmen in „normalen“
                                            Projektverantworlich sind: Maria Fiedler,        Prozessen weiter verboten
                                            Michael Kreil, Hendrik Lehmann, Markus           So war es bislang: Wenn im Gericht alle Platz
                                            Reuter, Lisa Charlotte Rost                      genommen haben, verlassen Kamerateams
                                            digitalpresent.tagesspiegel.de/afd               den Saal. Das ändert sich in Zukunft etwas
     „Just facts.		                         digitalpresent.tagesspiegel.de/balleryna
                                            digitalpresent.tagesspiegel.de/afd-unterstuet-
                                                                                             Das Filmverbot für Urteile der obersten Bun-
                                                                                             desgerichte wurde gelockert
     No alternatives.“                      zernetzwerk                                      tiny.cc/gericht

                                            Social-Video-Projekt der Deut- Undercover-Recherchen
     Das neue Motto der „New York Times“    schen Welle zum Grundgesetz    erlaubt
     www.nytimes.com/
                                            Prädikat sehenswert: Am 23. Mai, dem Tag         Wegweisend für den investigativen Journa-
                                            des Grundgesetzes, hat die Deutsche Wel-         lismus: Der Hanauer Oberstaatsanwalt hat
                                            le (DW) ihr Social-Video-Projekt zum             Mitte Mai das Ermittlungsverfahren gegen
                                            Grundgesetz gestartet. Zielpublikum sind         den pakistanisch stämmigen Journalisten
                                            vor allem Menschen, die mit der Verfassung       Shams Ul Haq eingestellt. Der Terrorismuse-
                                            der Bundesrepublik Deutschland noch nicht        xperte und Investigativreporter hatte sich
                                            vertraut sind. Die DW setzt in den etwa          „under cover“ in Flüchtlingsheime aufneh-
                                            einminütigen Erklärvideos zu Deutschlands        men lassen, um dort zu recherchieren und
                                            Rechts- und Staatssystem auf Animationen,        war daraufhin wegen Betrugs und Urkun-
                                            eine neue, prägnante Bildsprache und we-         denfälschung angezeigt worden:
                                            nig Text.                                        tiny.cc/hanau
                                            tinyurl.com/DW-Grundgesetz
                                                                                              TERMIN
                                            Neues Portal rund um Interviews
                                            „10 grobe Journalisten-Fehler in Inter-          Scoopcamp 2017
                                            views“, „Journalistische Objektivität? Eine      Jigar Mehta, Experte für Online-Videofor-
                                            Mär …“, „11 Interviewtipps gegen Ausweich-       mate, Storytelling und digitale Strategien,
     „Erst wenn der letzte                  manöver“ – diese Themen, News, Buchtipps,        wird beim scoopcamp in Hamburg für sein
     Text kostenpflichtig,                  „Buntes“ und jede Menge Handwerkszeug
                                            rund um die Gattung „Interview“ gibt’s auf
                                                                                             bisheriges Schaffen mit dem scoop Award
                                                                                             2017 ausgezeichnet. Bei der Innovationskon-
     die letzte Neuigkeit                   der Plattform „Alles über Interviews“ der        ferenz für Medien wird der Senior Vice Pre-
     ausgedacht, der letzte                 beiden Journalisten, Volontärsausbilder und
                                            Trainer Tim Farin und Mario Müller-Dofel.
                                                                                             sident Video bei der Fusion Media Group in
                                                                                             San Francisco seine Erfahrungen mit dem
     Beitrag gesponsert                     Das Spannendste sind übrigens die Kritiken       Fachpublikum teilen. Veranstaltet von der
     ist, werdet Ihr fest-                  aktueller Interviews:
                                            alles-ueber-interviews.de
                                                                                             Initiative nextMedia.Hamburg und der Deut-
                                                                                             schen Presse-Agentur (dpa), findet das sco-
     stellen, dass man                                                                       opcamp am 28. September im Hamburger
     Katzenvideos nicht                     Online-Plattform für getötete                    Theater Kehrwieder statt. Mit dem scoop
                                            Journalisten                                     Award werden Medien-Entrepreneure prä-
     lesen kann!“
                                                                                                                                              FOTOS: RAINER MIRAU

                                            61 Journalisten wurden 2016 während der          miert, die journalistische Geschäftsmodelle
     Das neue Motto der taz                 Ausübung ihres Berufes getötet. An diese         auf eine besondere Weise mit den Möglich-
                                            erinnert seit dem Tag der Pressefreiheit         keiten digitaler Technologien verknüpfen:
                                            Anfang Mai das Portal „Projekt 61“ von           scoopcamp.de

6                                                                                                                   MEDIUM MAGAZIN #04/2017
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
D AT E N J O U R N A L I S M U S

GEN Summit 2017 zeichnet
Datenjournalismus aus
2017 war ein Rekodjahr für den Datenjour-
nalisus: 573 Einreichungen aus 51 Ländern
gab es für die diesjährigen „Data Journalism
Awards“, die beim „7. Global Editors Sum-
mit 2017“, veranstaltet vom Global Editors
Network (GEN). Ende Mai in Wien verliehen
wurden. Zu den Gewinnern in den elf Ka-
tegorien gehört auch das Interactive Team
derBerliner Morgenpost (siehe Foto rechts).
Die DJA Jury, unter dem Vorsitz von Pro-
Publica-Gründer Paul Steiger, wählte die-
se 12 Gewinner aus 63 Finalisten.

1. Data Visualisation of the Year
    The Rhymes Behind Hamilton, „The Wall
                                                              DAS INTERACTIVE-TEAM DER „BERLINER MORGEN“ (V. L.N.R.: JULIUS TRÖGER, ANDRE PÄTZOLD, PETER BALE -
    Street Journal“, USA                                      PRÄSIDENT DES GEN UND DAVID WENDLER) : setzte sich gegen starke Konkurrenz bei den „Data Journalismus
2. Investigation of the Year                                  Awards 2017“durch: Sie gewannen - als einzige Deutsche - einen Preis in den elf Kategorien und wurden für das
    Unfounded, „The Globe and Mail“, Ka-                      „beste Team Portfolio“ ausgezeichnet. In der selben Kategorie schlugen sie übrigens Konkurrenten wie das „Wall
    nada                                                      Street Journal Graphics Team, „El Confidencial“ data team und „Sydney Morning Herald“ .
3. News data app of the year
    Electionland, „ProPublica and The Elec-
    tionland Coalition“, USA
4. Open Data                                                  8. Best team portfolio                                   LINKTIPP
    Database of Assets of Serbian Politicians,                    „Berliner Morgenpost“ Interactive team,
                                                                                                                       Alle Gewinner und die preisgekrönten Sieten sind
    „Crime and Corruption Reporting Net-                          Deutschland                                          dokumentiert auf:
    work“ – KRIK, Serbien                                     9. Student and young data journalist of the              www.datajournalismawards.org
5. Data journalism website of the year                            year
    Rutas del Conflicto, „Rutas del Conflicto“,                   Yaryna Serkez for portfolio, New York                HINWEIS
    Kolumbien                                                     Times et al, Ukraine
                                                                                                                       Mirko Lorenz wird für uns im nächsten „medium
6. The Chartbeat award for the best use of                    10. Small newsroom (2 Preise)                            magazin“ 5/2017 einen Blick auf die Trends im
    data in a breaking news story, within first                   a) Crime in Context, „The Marshall Pro-              Datenjournalismus werfen und in der neuen
    36 hours                                                      ject“, USA                                           „Journalistenwerkstatt Datenjournalismus“ die
                                                                                                                       Arbeiten der Gewinner aus deutscher Sicht
    Fact Check: Trump And Clinton Debate                          b) Ctrl+X, „Abraji – Brazilian Association           analysieren.
    For The First Time, NPR / NPR Visuals &                       for Investigative Journalism“, Brasilien
    NPR Politics, USA                                         11. Public Choice Award
7. Best individual portfolio                                      “Researchers bet on mass medication to
    John Burn-Murdoch,“ Financial Times“,                         wipe out malaria in L Victoria Region”
    Großbritannien                                                von „Nation Media Group“ in Kenia

                                                                                                                               Aus- und Weiterbildung für
                                                                                                                               aufmerksame Journalisten

                                                              wachbleiben!
©fotolia/Amir Kaljikovic

                                                                                                                               www.journalistenschule-ifp.de

                                                                                                                                                    MEDIUM MAGAZIN         7
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Titel II. Lage der Freien                                                                    „Wenn ich so weiterarbeite,
                                                                                             stehen mir ab 66 Jahren
                                                                                             780 Euro monatlich zu.“
TEXT: ANNA BLUME*
                                                                                             Anna Blume

DIE ALTERSARMUT VOR
DEN EIGENEN AUGEN
Die Realität hinter der Statistik: Eine freie Printjournalistin
erzählt, warum sie sich trotz guter Auftragslage Sorgen um
ihre Zukunft und den Berufsstand macht.

Seit 20 Jahren arbeite ich als freie Journa-    der kostenfreien Fotos im Netz. Meinen            Ich bin jetzt Mitte 50. Als ich mich mit
listin. Aber so voll wie meine Auftragsbü-      Stundenlohn rechne ich vorsichtshalber          Mitte 30 selbstständig machte, weil mein
cher derzeit sind, waren sie noch nie! Urlaub   nicht aus, denn sonst bekäme ich das große      Sohn zur Welt kam, konnte ich gut Mut-
ist aus Zeitmangel nicht drin und die Wo-       Heulen. Der Versicherungsmensch vom             terschaft und Beruf unter einen Hut brin-
chenenden, an denen ich nicht am Schreib-       Presseversorgungswerk ist aber ganz stolz       gen. Die Honorare waren genauso hoch wie
tisch sitze, kann ich an einer Hand abzäh-      auf mich: „Sie sind eine der wenigen freien     heute – 20 Jahre später (!) – aber allein die
len. Und trotzdem schwimme ich nicht im         Journalisten, die noch von ihrem Honorar        Miete meiner Wohnung kostet heute das
Geld; ich kann so eben meine Miete und          leben können.“                                  Doppelte. Häufig wurde das Freien-Hono-
meine Brötchen bezahlen. Ich schreibe vor         Während mir die 180 Euro für eine ein-        rar in den letzten Jahren sogar drastisch
allem Reisereportagen. Wenn diese in gro­       seitige Reisereportage als Honorar über-        gekürzt, während die Redaktionskollegen
ßen Tageszeitungen erscheinen, sieht die        wiesen werden, erscheint mein Text quer         regelmäßige Tariferhöhungen erhalten.
Rechnung wie folgt aus:                         durch die Republik in diversen Titeln des         Über 12 Jahre lang habe ich als festange-
>Vorrecherche: ein bis zwei Tage.               Verlags in diversen Städten. Meine Zustim-      stellte Redakteurin gearbeitet, als Freie über
> Recherchereise: drei bis fünf Tage.           mung zur unentgeltlichen Weiterverwer-          die Künstlersozialkasse ebenfalls in meine
> Schreiben der Reportage: ein bis zwei Tage.   tung meiner Reportage musste ich dem            Rente eingezahlt. Kürzlich ist sie mir aus-
> Honorar: um die 160 bis 180 Euro – ohne       Verlag erteilen, sonst hätte ich nicht mehr     gerechnet worden: Wenn ich so weiterar-
Spesen.                                         für ihn schreiben können. Wenn der Text         beite wie bisher, stehen mir ab 66 Jahren
  Denn Spesen zahlen die Verlage schon          in mehreren Tageszeitungen erscheint,           780 Euro monatlich zu. Und da ich zwar
lange nicht mehr. Manchmal kann ich auch        kann ich ihn aber nicht mehr weiteren Re-       fleißig geschrieben und veröffentlicht habe,
noch ein bis zwei Fotos dazu liefern. Aber      daktionen anbieten. Diese Chose ist geges-      aber immer knapp honoriert worden bin,
meist bedienen sich die Fotoredaktionen         sen. Also schnell zum nächsten Thema.           konnte ich auch keine anderen Reserven
                                                  Die meisten meiner freien Kollegen arbei-     bilden, wie man heute so schön sagt.
                                                ten deshalb „zweigleisig“. Sie schreiben          Ich liebe meinen Beruf, er ist abwechs-
                                                auch PR-Texte. Die werden weitaus besser        lungsreich, völlig frei von Routine und vor
                                                bezahlt. Manchmal geht es sogar um das-         allem: Ich kann jeden Tag lernen. Seit ein
                                                selbe Themengebiet, in dem sie journa-          paar Jahren lerne ich aber: Jeder, der als
                                                listisch arbeiten. Sie sagen: „Du machst ja     freier Journalist agiert – ob nun freiwillig
                                                auch nichts anderes als PR, wenn du auf         oder nicht – muss damit leben, dass er viel
                                                Pressereise fährst.“                            mehr arbeiten muss als seine festangestell-
                                                  Ganz kann ich das Argument nicht ent-         ten Kollegen, aber das für viel weniger Geld.
                                                kräften. Denn seitdem die Verlage keine         Ich muss für mein Arbeitszimmer, meinen
                                                Reisekosten mehr für Recherchereisen            Computer, meine Software selbst aufkom-
                                                übernehmen, sind freie Journalisten darauf      men, auch den Computermenschen bezah-
                                                angewiesen, sich von Reiseveranstaltern         len, der mir bei Problemen hilft. Dafür sind
                                                einladen zu lassen. Who pays: says!             die festangestellten Kollegen zurzeit extrem
                                                                                                freundlich. Bedingt durch die vielen Kün-
                                                                                                digungen in den Verlagen sind sie froh,
                                                                                                wenn wir Freien sie bei der anfallenden
                                                                                                Mehrarbeit unterstützen. Aber: Während
                                                        *Anna Blume ist ein Pseudonym. Der
                                                        echte Name der Autorin ist der          viele sich schon auf die Zeit ihres Ruhe-
                                                        Redaktion bekannt.                      stands freuen, winkt mir die Altersarmut.

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Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
Medien. Formate

TEXT: CHRISTIAN FAHRENBACH

Kleine Nischen – große Zukunft
Lara Setrakian hat aus einer hyperthematischen Newsseite                                       ben wir während der Epidemie in West­afrika
über Syrien das Medien-Start-up „News Deeply“ gemacht.                                         „Ebola Deeply“ gestartet und wir dachten,
                                                                                               dass sich möglicherweise weitere Umwelt-
Das Konzept: Experten schreiben für ein spezialisiertes                                        und Gesundheitsthemen lohnen könnten:
Publikum – zu Themen, die andere übersehen.                                                    Malaria, Altern, Klimawandel“, sagt die
                                                                                               Mittdreißigerin. „Species Level Issues“ nennt
                                                                                               Setrakian diese Themen, also Komplexe, die
Jeder, der Nachrichten schreibt, kennt die-     überhaupt möglich war, es gab ja immer         unsere gesamte Spezies betreffen.
sen Spagat: Wie lassen sich schnell die neu-    noch Menschen, die dort jeden Tag gestorben      Seit dem Start der Ozeanseite Mitte Juni
esten Entwicklungen erklären und gleich-        sind.“ Und noch ein weiterer Gedanke be-       2017 gibt es sechs hyperthematische Seiten,
zeitig der nötige Kontext vermitteln? Das       schäftigte Setrakian: Wenn die US-Medien       stets aufgebaut nach gleichem Muster: Neben
Unternehmen von Lara Setrakian beweist,         schon nicht über Kriege berichten, in denen    eigenen und kuratierten Nachrichtenartikeln
dass es dieses Problem online nicht geben       das eigene Militär kämpft, wie war das erst    gibt es tägliche Briefings, Hintergrundarti-
muss: „News Deeply“ heißt Setrakians Start-     bei Konflikten, in denen die Vereinigten       kel mit Basisinfos und einen Community-
up. Es bietet auf monothematischen Seiten       Staaten nicht involviert waren?                Bereich. Die Erzählformate sind frisch und
Nachrichten und versierte Hintergründe zu         Als sich einige Zeit später in Syrien der    vielfältig, neben Konflikt-Landkarten stehen
umfangreichen aktuellen Themen. Das Team        nächste Großkonflikt in der Region anbahnt,    Präsentationsfolien und Timelines. Renom-
rund um Setrakian schafft es dabei, zu jedem    wägt Setrakian im Jahr 2011 von Dubai aus      mierte Fachjournalisten sorgen als festan-
Komplex von „Syria Deeply“ über „Arctic         ab, ob sich eine neue Webseite lohnt: „Wie     gestellte Redakteure für Expertise, Kontakte
Deeply“ bis zum Mitte Juni frisch gestarteten   wäre es, einen allgemeinen Überblick zum       zu einem weltweiten Freelancer-Netzwerk
„Oceans Deeply“ etablierte Experten zu          bisherigen Geschehen mit syrischen Berich-     und die nötige Anbindung an das Unterneh-
versammeln. Uns führt die Gründerin durch       ten von vor Ort zu verbinden? Jeder wusste,    men mit Sitz in New York und San Francis-
die bisherige Geschichte ihres Unternehmens     dass das Thema Syrien riesengroß würde         co. Vieles erledigt zudem die Community,
– dem Thema angemessen in vier separat          und ich wollte diese Idee verfolgen. Deshalb   deren Mitglieder häufig Inhalte beisteuern.
verständlichen Teilen, die zusammen eine        habe ich schließlich gekündigt.“ 2012 grün-      Der Entscheidungsprozess für ein neues
                                                                                                                                                FOTOS: THOMAS HENDRICH, MARTIN GAPA/PIXELIO

größere Geschichte erzählen.                    det Setrakian „Syria Deeply“. Schnell wird     Angebot sei immer der gleiche, erklärt
                                                die Seite zur wichtigen Informationsquelle     Setrakian: „News Deeply“ sucht Themen mit
Die Idee                                        für alle mit einem Interesse an der Region:    extremen Auswirkungen, aber relativ wenig
„Ich wurde 2007 als Reporterin in den Mitt-     andere Journalisten, genauso wie NGO-Mit-      Berichterstattung. Steht eine Idee, beginnt
leren Osten geschickt, mitten im Irakkrieg“,    arbeiter oder Politiker in aller Welt.         die Recherche direkt in den einzelnen Com-
erzählt Setrakian heute. „Aber wir in den                                                      munities. „Wir haben gemerkt, dass wir sehr
Medien hatten schon das Interesse verloren.     Der Ausbau                                     enge Beziehungen zu unseren Lesern haben.
Wir hatten vorher schon Afghanistan einfach     „Syrien war das Thema, an dem ich selbst       Die Zirkel sind ja sehr klein, die kennen uns
fallen gelassen und ich merkte wie, dann        interessiert war“, sagt Setrakian heute.       und wir kennen sie, auch aus vielen direkten
das Gleiche mit dem Irak passierte“, erinnert   „Aber dann kamen immer mehr Menschen           Beziehungen, die nicht auf Social Media an-
sie sich. „Ich habe mich gefragt, wie das       mit weiteren Themen auf mich zu. Also ha-      gewiesen sind“, sagt sie. Die ersten gezielten

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Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
„Wir haben uns Engagement und ‚Einflussreiche
Leser‘ als wichtigste Kennzahlen gegeben.“
Lara Setrakian

Umfragen hätten gezeigt, wie viele Leser an     papier.“ Außerdem habe sie bei matter           INFO
Universitäten arbeiten, CRM-Tools wie Hub-      gelernt, dass Kennzahlen immer in Bezie-
spot halfen, weitere User anzusprechen.         hung zu einem Ziel stehen müssten. „Man         News Deeply
 „Wir fangen dann mit Userinterviews an,        kann natürlich Views oder Klicks verfolgen,
segmentieren unser Publikum, beispiels-         aber wenn man darüber seine Standards           Seit Mitte Juni gibt es „Oceans Deeply“,
weise in Menschen im Policy-Sektor und in       aufgibt, wird man nicht glücklich. Wir haben    eine monothematische Seite mit News
allgemein Interessierte und sprechen mit        uns Engagement und „Einflussreiche Leser“       und Hintergründen zu den Weltmeeren.
Vertretern der einzelnen Gruppen. Dann          als wichtigste Kennzahlen gegeben, also zum     Es ist das sechste Angebot von „News
entwickeln wir Kennzahlen und ein Ange-         Beispiel Philanthropen im entsprechenden        Deeply“, einem Medien-Start-up mit Sitz
bot“, sagt Setrakian. „Es gibt einen klar       Sektor, denn die sind unsere Kunden.“           in San Francisco und New York. Nach
definierten Arbeitszyklus nur dafür, die User                                                   dem Start 2012 mit einer Seite über den
kennenzulernen.“ Später bleibt die enge         Die Bilanz                                      Bürgerkrieg in Syrien folgten Themen­
Beziehung zu den Lesern auch finanziell         Die im Inkubator gelernte Flexibilität zeigt    seiten zur Dürre in Kalifornien, Arktis,
wichtig, denn alle Seiten verstehen sich im-    sich auch in der Präsentation des Geschäfts-    Flüchtlingen sowie Frauen und Mädchen.
mer auch als Anlaufstelle für Praktiker.        modells: „News Deeply“ bezeichnet sich          Alle Seiten bieten neben tagesaktuellen
                                                inzwischen als „new media and technology        News auch Überblicke und Studien. Sie
Das Geschäftsmodell                             company“ auf der eigenen Webseite. Ein          zielen nicht nur auf Informationsvermitt-
„Am Anfang haben viele Menschen gratis          Team aus Journalisten und Technikern            lung ab, sondern wollen auch Teil der
für uns gearbeitet und uns ihre Arbeitszeit     arbeite nicht nur an Nachrichten, sondern       jeweiligen Community sein.
gespendet, auch mein Geschäftspartner           auch daran, Live Events, Informations­          „Syria Deeply“ hat 2013 den Excellence
und ich haben kein Geld verdient“, sagt         vermittlung und soziale Teilhabe voranzu-       in Online Journalism Award der National
Setrakian. „Am Tag des Launchs von ,Syria       bringen.                                        Press Foundation in den USA gewonnen,
Deeply‘ fragte aber schon ein Kunde bei uns       Und wie lautet heute ihre Bilanz nach fünf    „Time Magazine“ nennt „News Deeply“
an, ob wir die Webseite für einen Think Tank    Jahren „News Deeply“ und sechs Themen-          „die Zukunft der Nachrichten“.
gestalten und mit Studien füllen könnten.“      seiten? Statt einer persönlichen Antwort
Neben Stiftungsgeldern etablierten sich sol-    zum Ende des Interviews empfiehlt Setra-        Den TED-Talk von Setrakian „3 ways to
che Verträge als Finanzierungsmodell für        kian einen TED-Talk, den sie im Februar in      fix a broken news industry“ gibt es mit
die „News Deeply“-Seiten.                       New York hielt. Darin fasst sie die Geschich-   deutschen Untertiteln unter:
  Das bleibt nicht ohne Zweifler. Bis heute     te von „News Deeply“ in drei Lektionen          bit.ly/setrakian
sei dieses Modell ein wenig „verworren“,        zusammen, die ihrer Meinung nach Journa-
schreibt die Gründerseite inc.com in ihrem      lismus insgesamt voranbringen könnten:          Die Abschluss-Präsentation vom
Firmenporträt, eben ein „Hybrid aus Spon-       „Wir brauchen Nachrichten, die mit wirklich     Inkubator matter steht unter:
sorengeldern, Live Events, Stiftungen und       tiefgehendem Wissen des Themas geschrie-        bit.ly/setrakian-matter
Auftragsarbeiten für Organisationen wie das     ben werden“, sagt sie da als Erstes. Mehr
World Economic Forum und die Global             echte Zusammenarbeit mit lokalen Jour-          Und einen Vortrag Setrakians bei der
Ocean Commission“.                              nalisten sei nötig - Schluss also mit der       re:publica 2014 gibt es unter:
  Einen Teil der betriebswirtschaftlichen       Behandlung der Freien als Fixer zum             bit.ly/setrakian-republica
Annäherung an das Geschäft habe sie wäh-        schnellen Herstellen von Kontakten.
rend einer kurzen Zwischenstation bei             „Wir brauchen einen Hippokratischen
McKinsey gelernt, sagt Setrakian selbst.        Eid für die Nachrichtenbranche“, fährt
  Spätestens die Teilnahme am Medien-           Setrakian fort. Der sensationsheischende
Inkubator matter.vc im ersten Halbjahr 2015     Umgang mit Ebola habe Menschen das
habe den Start-up-Aspekt von „News              Leben gekostet, weil wirklich nötige Dis-
Deeply“ noch einmal auf ein neues Niveau        kussionen nicht durchgedrungen waren.
gehoben. „Bei matter haben wir gelernt, das       Und schließlich: „Wenn wir unsere Welt
Start-up im Silicon-Valley-Stil zu führen,      besser verstehen wollen, müssen wir Kom-
gelernt, wie man ein Team steuert, etwas        plexität mehr schätzen lernen.“ – Wer
von Grund auf aufbaut – aber eben auch,         vorgibt, dass es einfache Antworten gibt,
wie man besser über den Nutzer und den          führe die Menschen geradewegs auf eine
Markt nachdenkt und dessen Informations-        sehr steile Klippe zu.
bedürfnis überhaupt versteht“, erklärt die
Gründerin.                                      CHRISTIAN FAHRENBACH
  „Das hat uns sehr geholfen, neue Kollegen     ist freier Journalist und Trainer zu neuen
mit Business-Erfahrungen zu finden, die         Medienthemen in New York und Deutschland.
wissen, wie ein gutes Produkt gemacht
                                                info@christianfahrenbach.de
werden muss, egal ob Event oder Studien­                                                        Lara Setrakian, die Gründerin von „News Deeply“

                                                                                                                        MEDIUM MAGAZIN      53
Plus FREI WILD Carola Dorner über die verschärfte Lage freier Journalisten - Medium Magazin
#2
Special. Fotojournalismus

INTERVIEW: ANNE HAEMING

„REINE OBERFLÄCHE“
                                                                                                   seine Bilder hochladen und über einen Al-
                                                                                                   gorithmus ausrechnen lassen, welche Fotos
                                                                                                   im Gedächtnis bleiben: Jene, die Gewohntes
                                                                                                   zeigen, eine Landschaft, ruhig, vergisst man
                                                                                                   schneller als Gesichter und alles, was knallig
Fotos als Rohmaterial: 2470media-Gründer Michael Hauri                                             und kontrastreich ist.
erklärt, welche Bilder online funktionieren und warum sich                                         Eine der aktuellen Debatten im Fotojourna-
Henri Cartier-Bresson im Grabe umdrehen würde.                                                     lismus betrifft die Bildmanipulation. Verste-
                                                                                                   hen Sie die Aufregung?
Herr Hauri, was muss ein Bild haben, damit       Im Sinne dieser Sehgewohnheiten: Wie hat            Für mich ist sie Teil der Fake-News-Debat-
Sie es gelungen finden für eines Ihrer On-       sich die Bildsprache verändert?                   te. Es kann nur einen Weg geben für profes-
lineformate oder Scrollytelling-Konzepte?          Die visuelle Dominanz von Instagram wirkt       sionelle Bildjournalisten: so wenig wie mög-
  Michael Hauri: Es muss einen auf einem         sich auf alle Bereiche der Fotografie aus. Etwa   lich ins Bild eingreifen, um Glaubwürdigkeit
Smartphonedisplay anspringen können.             wegen Motivserien wie den Wendeltreppen-          zurückzugewinnen. Ich warte auf eine Platt-
Daher ist es wichtig, dass ein Foto nicht zu     Bildern mit dem #worldneedsmorespiral-            form, auf der Fotografen die RAW-Version
kleinteilig gestaltet und schnell zu erfassen    staircases oder Fotos vom Fußboden mit            – so etwas wie das digitale Negativ – ihrer
ist, eine Stimmung transportiert wird – und      #ihavethisthingwithfloors.                        Bilder hinterlegen können, die dann mit den
am besten auch einen Bildwitz beinhaltet.                                                          von Redaktionen veröffentlichten Versionen
                                                 Aber das ist doch ein Ding von Laien.             verknüpft sind: um so immer auch das Ori-
Das klingt nach eierlegender Wollmilchsau.         Ja, aber alle Fotografen haben die Möglich-     ginal anzeigen zu können.
  Wir gehen davon aus, dass die Hälfte der       keit, da mitzumachen – und somit ihr Pub-
Nutzer die Inhalte auf dem Smartphone an-        likum zu erweitern. Hinzu kommt, dass             Sie teilten neulich bei Twitter einen Text, der
schaut, die andere auf Laptop oder großem        wegen Instagram verstärkt im Quadrat und          überschrieben war mit „Fuck Fotojourna-
Bildschirm. Die Bilder müssen also ganz un-      im Hochformat fotografiert wird, da diese         lism!“. Unterschreiben Sie das?
terschiedlich zugeschnitten werden. Henri        Bilder auf Smartphones größer angezeigt             Dieser Provokation stimme ich nicht zu,
Cartier-Bresson würde sich im Grabe rum-         werden als Querformate. Und mir fällt auf,        allerdings hat der Text über Bildmanipula-
drehen! Was er mit seiner Leica festhielt,       dass auch Print die Instagram-Ästhetik            tionen einen wichtigen Kern: Als Fotorepor-
durfte auf Abzügen nicht verändert werden.       aufgreift. Die „Berliner Morgenpost“ etwa         ter muss ich mich fragen, mit welchen Mit-
Für uns sind Bilder vor allem Rohmaterial:       machte gerade mit einem Sommermotiv auf,          teln ich meine humanistischen Ansichten
Daraus müssen wir extreme Querformate            das 1:1 die Lichtstimmung und das Life­stylige    transportiere. Fotografie ist in erster Linie
für Facebook genauso anfertigen wie Bilder,      abbildet, das auf Instagram üblich ist.           Mittel zum Zweck. Reine Oberfläche reicht
die in Scrollytelling-Formaten auf dem                                                             da nicht.
Smartphone funktionieren.                        Sie meinen, wir haben uns an diesen Look
                                                 einfach gewöhnt?
Motive quer und hochkant abliefern: Das war        Es ist momentan schwer für klassische
doch immer schon Pflicht.                        Reportagefotografie. Eines der Hauptmerk-
 Schon, aber heute ist es viel extremer. Foto­   male von Instagram-Bildern ist, dass sie sehr
grafen verstehen sich als Autoren, sie dürfen    flach wirken, da die meisten mit Smartpho-
nicht das Gefühl bekommen, austauschbar          nes aufgenommen sind – und somit alles
zu sein. Redaktionen müssen sie von Anfang       gleich scharf ist. Mit Schärfentiefe zu arbei-
an in die Konzeption digitaler Geschichten       ten, um einen Raumeindruck zu schaffen,
mit einbeziehen.                                 wie mit Spiegelreflexkameras, geht nicht.
                                                 Beim Runterscrollen bleiben wir maximal
Wenn Sie an den 2470media-Start 2009 den-        drei, vier Sekunden an einem Foto hängen.
ken: Was erwarteten Sie damals vom Foto-         Mich langweilen Bilder, die keine Irritation,
journalismus?                                    keine Details haben, die mich dazu bringen,
  Wir gingen davon aus, dass wir den klassi-     mich näher mit dem Bild auseinanderzuset-
schen Fotojournalismus multimedial ergän-        zen. Aber mittlerweile kann man sogar aus-
zen. Heute wissen wir, dass wir ihn komplett     rechnen lassen, welche Bilder ankommen
neu denken müssen. Die Millennials inte­         und welche nicht.
ressieren sich nun einmal nicht für ästheti-
sche Qualitätsstandards. Wir müssen die          Wie das?
                                                                                                   Michael Hauri ist Gründer der auf digitales Storytel-
Sehgewohnheiten unserer Leserinnen und            Als Teil eines Forschungsprojekts hat das
                                                                                                   ling spezialisierten Redaktionsagentur 2470media.
Leser einnehmen, um eine Geschichte zu           MIT die Seite LaMem (http://memorability.         Für ihre Serie „Berlinfolgen“ erhielten die Berliner
konzipieren.                                     csail.mit.edu) entwickelt: Dort kann man          2012 den Grimme Online Award. www.2470.media

                                                                                                                                 MEDIUM MAGAZIN        73
S T R AT E G I E
                                                                                                                                             P
Audio ist der Text der
mobilen Generation
Es ist die neue Geste in der mobilen Welt.
Menschen halten ihr Smartphone leicht
schräg vor das Gesicht, sprechen eifrig in das
Gerät, dazu Kopfhörer im Ohr – zu sehen an
der Bushaltestelle, in der Bahn, auf dem
Bürgersteig. Sprechen statt tippen. Egal ob
Facebook-Post, E-Mail oder Chat-Nachricht.
Jeder zweite Smartphone-Besitzer bedient
laut einer aktuellen Bitkom-Studie sein Gerät
per Stimme, die Unter-30-Jährigen sogar zu
60 Prozent. Tendenz: rasant steigend. Reden      Alles zum Mithören: Ende Juni war die Sportlerin Magdalena Neuner zu Gast in der „Rheinischen Post“. Daniel
ist die einfachste Verständigungsform.           Fiene (Mitte) und Michael Bröcker nutzen das gleich für einen Audiomitschnitt und Facebook-Livestream.
Sprache das schnellste Kommunikations­
medium. Bequemer lassen sich Nachrichten         Spracherkennung mehr Fortschritte gesehen                 Ein Aha-Erlebnis hatten wir vor zwei Jahren,
nicht verschicken.                               als in den letzten 30 Jahren“, sagt Shawn               als wir einen WhatsApp-Nachrichtenkanal
Nur: Was hat das alles mit Journalismus zu       DuBravac, Chefökonom der US-Elektronik-                 starteten und Meldungen texteten. Mehrere
tun? Eine ganze Menge. Wenn die Smart­           messe CES. 1995 lag die Fehlerrate bei der              Nutzer fragten irritiert zurück: „Warum nicht
phone-Generation ihre Informationsnutzung        Spracherkennung noch bei 43 Prozent. Heute              als Sprachnachricht?“ Heute produzieren wir
verändert, müssen sich die Informationsme-       sind es 6,3 Prozent, etwa das Niveau der                vier Podcast-Formate pro Woche. Das
dien auch verändern. Siehe Bewegtbild.           menschlichen Fehlerrate. Tausende Forscher              erfolgreichste Format ist der morgendliche
Audio ist der nächste Trend. Wenn Nutzer         bei Apple, Google, Microsoft und Amazon                 Nachrichtenüberblick um 7 Uhr, mit dem wir
sprechen, um Texte zu verschicken, dann          perfektionieren gerade ihre Sprachassistenten           Pendler erreichen. Der „Aufwacher“ ist ein
wollen sie vielleicht lieber hören als lesen?    Siri, Now, Cortana und Echo.                            fünf- bis zehnminütiges „Best-of“ aus der
Radio überlebte alle Medienbrüche, Podcasts                                                              Zeitung, moderiert von Redakteuren, die einst
gibt es seit zehn Jahren. Die Allgegenwart des   2. Das Publikum will es so. Einfach, maßge-             für das Radio arbeiteten. Kurzweilig, professi-
Smartphones und neue Technologien machen         schneidert, überall.                                    onell, schnell. Direkt aus dem Newsroom, live
Audio-Content noch einfacher konsumierbar        Eine Heimatzeitung muss da sein, wo die                 auf Facebook, im Dialog mit den Nutzern,
und massentauglich. Laut Umfrage von ARD/        Menschen Heimatnachrichten empfangen                    etwa bei Wetterupdates. Dazu O-Töne von
ZDF hörten 2015 schon 1,4 Millionen Deutsche     wollen. Wie oft hören wir von unseren                   Experten und Gästen sowie Erläuterungen von
regelmäßig Podcasts im Netz – doppelt so         Abonnenten die Klage, dass ihnen der                    Redakteuren. Dienstags und mittwochs
viele wie im Vorjahr. In den USA sind es         Familienstress morgens und der Feierabend-              veröffentlichen wir themenspezifische
bereits 60 Millionen. Eine eigene Mediengat-     stress abends nicht mehr den Blick in die               Podcasts, das Gesundheits- und Ernährungs-
tung. Experten rechnen mit weiteren zehn         Zeitung erlaubt. Aber beim Autofahren,                  format „ Gut leben“, den Medien-Talk „Was
Millionen bis Ende 2017. Audio ist das Medium    Laufen oder in der S-Bahn würden sie gerne              mit Medien“ von Daniel Fiene oder den
für die mobile Generation, die Multitasking      unsere Nachrichten verfolgen, sagen viele.              Borussia-Mönchengladbach-Kanal „Fohlen-
liebt. Wer hört, kann noch andere Dinge tun      Gut gemachte Podcasts sind ein Weg, dieses              futter“. Freitags gibt es eine Plauderstunde
– Auto fahren, Joggen, Kochen ... Und            Interesse zu befriedigen. Warum sollten wir             über die Themen der Woche mit Daniel Fiene
Podcasts sind Radio ohne feste Sendezeit.        also staugeplagten Nordrhein-Westfalen ihre             und mir. Unsere Zwischenbilanz ist gut. Mehr
Stets abrufbar, zielgruppengerecht. Printmar-    Nachrichten nicht direkt ins Auto liefern,              als 260.000 Zugriffe pro Monat und ein
ken können mit ihrer lokalen Kompetenz eine      wenn sie dort viele Stunden pro Woche                   kleines, aber wachsendes neues Vermark-
Nische füllen. Zwei Entwicklungen sprechen       verbringen? Oder in ihr Wohnzimmer?                     tungsformat. Ein netter Nebeneffekt: Viele
dafür, dass der Boom sich fortsetzt.               Seit Mitte Juni sind wir Teil der Welt des            Kollegen aus der Redaktion sind neugierig
                                                 Amazon Echo: Sie müssen nur laut „Hey                   geworden, wollen mitmachen und denken
1. Die technologische Entwicklung, der Treiber   Alexa, was gibt es Neues?“ sagen, dann hören            sich eigene Formate aus. Journalisten, das ist
für digitale Veränderungen.                      Sie die überregionalen Top-Meldungen der                eben Teil unserer DNA, reden gerne. Podcasts
Professionelle Audio-Formate brauchen keine      „Rheinischen Post“. Im nächsten Schritt                 sind dafür eine gute Spielwiese.
üppige Technik. Zugleich wird der Nutzerzu-      wollen wir diese Nachrichten lokalisieren. Per
gang durch Sprachsoftware erleichtert. „Wir      Sprachbefehl „Düsseldorf“ geht es dann zu               Der Autor: Michael Bröcker ist Chefredakteur
haben in den letzten 30 Monaten bei der          Meldungen aus der Lokalredaktion.                       der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf.

                                                                                                                                     MEDIUM MAGAZIN       79
Junge Werkstatt. 360-Grad-Film

TEXT: JENS TWIEHAUS | FOTOS: SUSANNE DICKEL

Mit dem Rundumblick
durch eine Region
Erstmals drehen Journalistenschüler einen 360-Grad-Film als Abschlussprojekt.
„Auf heißen Kohlen“ dokumentiert den Druck der Tagebau-Region Lausitz – und
den Aufwand, den eine Produktion in der virtuellen Realität erfordert.

Zum Ende ihrer Ausbildung machen die             Für ihr Projekt „Auf heißen Kohlen“ ler-   Ungewöhnlich für
Volontäre der Electronic Media School          nen 16 Schüler im Crashkurs die Arbeit in    Protagonisten
(ems) lange Tage durch. Der 10. Jahrgang       der virtuellen Realität. Sie organisieren,   Schnell findet jedes Team heraus, wie emo-
der Potsdamer Journalistenschule muss          drehen, schneiden und präsentieren. Si-      tional das Thema Tagebaue für viele Men-
im März sein Gesellenstück liefern: eine       cher ist zu Beginn nur eines: der Abgabe-    schen ist. Etwa für Dietmar Quander, der
journalistische Virtual-Reality-Filmpro-       termin. Und das Thema: Die Volontäre         früher in Haidemühl wohnte – ein Dorf,
duktion zu einem regionalen Thema. Und         sollen dokumentieren, wie die Tagebaue       das bald den Braunkohle-Baggern weichen
das innerhalb von drei Wochen. Die ems         in der Lausitz eine ganze Region und das     soll. Er lässt sich auf das Experiment ein:
ist, nach eigenen Angaben, damit die ers-      Leben der Menschen verändern. Unter-         Echtes Neuland ist die Virtual-Reality-Pro-
te Schule, die Virtual Reality so prominent    stützung bekommen sie von ihrer Fern-        duktion nämlich nicht nur für die Produ-
in ihre Ausbildung integriert.                 sehtrainerin, der RBB-Redakteurin Katrin     zenten, sondern auch für Protagonisten
                                               Röger, und von Susanne Dickel aus dem        wie Dietmar Quander.
                                               freien Produktionsteam IntoVR.                 In einer Filmsequenz nimmt der ehema-
INFO                                                                                        lige Bewohner die Zuschauer in sein altes,
                                               Sechs Filmcrews ziehen los                   verlassenes Dorf Haidemühl mit. Während
16 Schüler, 3 Wochen,                          Dickel gehört 2015 zu den Top 30 bis 30
                                               von „medium magazin“ und ist außerdem
                                                                                            bei einer TV-Reportage der Autor direkt
                                                                                            neben der Kamera steht und eine Bezugs-
360 Grad                                       Videoredakteurin bei „ze.tt“, dem jungen     person bildet, steht die Kamera mit Rund-
                                               Portal des Zeitverlags. Sie ist zusammen     umsicht mitten im Geschehen und das
Das Projekt:                                   mit IntoVR-Gründer Martin Heller zugleich    Team muss sich verstecken. So sagte die
„Auf heißen Kohlen“ beschreibt in              diejenige beim Lausitz-Projekt, die am
360-Grad-Filmen, wie der Kohleabbau in         besten Bescheid weiß über die komplexe
der Lausitz die Region und ihre Menschen       Arbeit mit 360-Grad-Kameras. Ein Film-
verändert. Das Storytelling verbindet Repor-   team nutzt einen GoPro Mount, also ein
tage-Elemente mit echten Betroffenen und       Gestell, an dem sechs GoPro-Kompaktka-
Spielszenen mit einem Schauspieler.            meras befestigt sind und zunächst unab-
                                               hängig voneinander aufzeichnen. Fünf
Die Umsetzung:                                 weitere Filmteams sind mit der Samsung
16 Journalistenschüler der Electronic Media    Gear 360 unterwegs – beide Kamerasys-
School setzen Planung, Dreh und Postpro-       teme produzieren Bilder in unterschied-
duktion innerhalb von drei Wochen um. Das      licher Qualität. Eine Expertin wie Dickel
auf virtuelle Realitäten spezialisierte        sieht Abweichungen und ärgert sich, nor-
Produktionsbüro IntoVR unterstützt sie mit     male Zuschauer bemerken eher nichts.
Technik und Wissen.                              Für die Journalistenschüler beginnt die
                                               Produktion mit journalistischem Alltag:
Die Veröffentlichung:                          Fakten recherchieren, Protagonisten fin-
Im Web, für Smartphones und VR-Brillen.        den. Um die Menge möglicher Themen zu
Die Videos laufen im Player des Berliner       portionieren, bilden die Schüler fünf
                                                                                            Auch für Schauspieler Andreas Stadler ist 360-Grad-
Start-ups DelightVR, der auf sehr vielen       Teams, die sich je um einen Schwerpunkt
                                                                                            Film (noch) kein Alltag: Er spricht in „Auf heißen
Plattformen funktioniert; zudem auf            kümmern.                                     Kohlen“ in verschiedenen Rollen direkt zu den
YouTube.                                                                                    Zuschauern.

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KO M M E N TA R

                                                                                                        Aufnahmen mit dem
                                                                                                        gewissen „Wow-Effekt“

Crew ihrem Protagonisten Quander: Gehen          ist. Einzelne Clips liefern tiefere Einblicke          Virtual Reality ist ein Hype in Teilen
Sie doch einfach mal hier umher und er-          in einzelne Themen. Mit einer VR-Brille                der Videoszene – und das Lau-
zählen Sie mal was zum Dorf. Eine sehr           lassen sich die einzelnen Videos besonders             sitz-Projekt der Journalistenschüler
dokumentarische Arbeitsweise – aber mit          eindrucksvoll anschauen, doch auch ein                 zeigt, warum. Es gibt journalistische
einer künstlichen Komponente. Denn die           Smartphone reicht aus, um sich durch die               Themen, die sich perfekt eignen für
Kamera fällt auf und jedem ist klar: Sie         Lausitz zu bewegen. Die langen Produk-                 VR. Der Wandel der Lausitz gehört
filmt gerade alles, jeden Winkel um sie          tionstage haben nach drei Wochen fast                  definitiv dazu.
herum.                                           ununterbrochener Arbeit nicht nur das                    Die Schüler wollen ihre Zuschauer
                                                 Team belastet, sondern auch ihre Technik:              mit auf eine Reise in die Region im
Spielszenen bilden roten Faden                   Die eigens gekaufte 5-Terabyte-Festplatte              fernen Osten Deutschlands nehmen
Ungewöhnlich war dies auch für Andreas           ist zum Abschluss fast voll.                           und das gelingt ihnen wunderbar.
Stadler. Der Schauspieler bildet ein zentra-                                                              Der Rundumblick lässt die giganti-
les Element im Storytelling des Lausitz-Pro-                                                            schen Dimensionen der Tagebaue
jekts. Stadler spielt den Jogger, den Arbeiter                                                          besser erahnen als ein flaches
und den Umweltschützer – er spricht die                                                                 Fernsehbild. Viele Aufnahmen tragen
Zuschauer direkt an und gibt sich als fiktiver                                                          einen gewissen „Wow-Effekt“ in sich.
Charakter zu erkennen. Über die Spielszenen                                                             Das gilt zum Beispiel auch für die Tour
versuchen die Journalistenschüler, Ge-                                                                  durch eines der verlassenen Dörfer.
schichten ganz knapp und auf den Punkt zu                                                               Die Zuschauer scheinen tatsächlich
erzählen. Im Hauptfilm „Auf heißen Kohlen“                                                              mitten zwischen den abrissreifen
vermischen sie Fiktion und die Realität mit                                                             Häusern zu stehen. Ein intensives
authentischen Protagonisten, um ein Ge-                                                                 Reportageerlebnis, das Wörter kaum
samtwerk zu schaffen, das Zuschauer hin-                                                                erzeugen können.
einzieht in die Region.                          JENS TWIEHAUS                                            Die journalistische Idee, für das
                                                 ist „medium magazin“-Redaktionsmitglied
  Dieses Gesamtwerk präsentieren die                                                                    Storytelling einen Schauspieler zu
                                                 und freier Medienjournalist in Berlin.
Journalistenschüler in einem elfminütigen                                                               nutzen, ist ein interessanter Kniff.
Film, der auch auf ihrer Website zu finden       mail@JensTwiehaus.com                                  Warum er sinnvoll oder nötig ist,
                                                                                                        erfährt der Zuschauer leider nicht.
                                                                                                        Doch der Schauspieler macht einen
                                                                                                        super Job: Er beherrscht die Geschich-
                                                                                                        te nicht, aber er trägt sie voran.
                                                                                                                                 Jens Twiehaus

                                                                                                        LINKTIPP
                                                                                                        Das Projekt und seine Macher
                                                                                                        http://www.360lausitz.de/

                                                                                                        Video-Playlist auf YouTube
                                                                                                        http://tinyurl.com/Lausitz-Liste

                                                                                                        Schnittsoftware: Kolor Autopano Video
                                                 Volontärin Julia Fischer auf einem Braunkohlebagger:   http://www.kolor.com/
                                                 Die jungen Journalisten besuchen mit ihren Kameras
                                                 viele Orte der Lausitz und fliegen sogar mit einem     Der verwendete Player für VR-Videos
                                                 Flugzeug darüber hinweg.                               https://delight-vr.com/

                                                                                                                                MEDIUM MAGAZIN    83
Terminal. Fragebogen

FOTO: GABY GERSTER

Bascha Mika,
zivilisiert cholerische
Zaunkönigin
Warum sind Sie Journalistin          Wie würde man Sie am tref-
geworden?                            fendsten karikieren?
 Bascha Mika: Weil ich mit Ge-         Zaunkönigin – klein, immer in
schichten groß geworden bin,         Bewegung, unmöglich zu über-
die mein Vater uns Kindern er-       hörende Stimme, gern auch für
zählte. Das war so schön und         alle sichtbar auf dem Garten-
spannend, das wollte ich auch.       zaun.

Wie kamen Sie an Ihren ersten        Wo haben es Frauen im Journa-
Beitrag?                             lismus schwerer?
  Als Studentin hörte ich von der      Überall, selbst im Netz. Das ist   BASCHA MIKA,
italienischen Prostituiertenbe-      besonders fatal, weil sich damit     geboren 1954 in einem schlesischen Dorf in Polen und als Kind in die Bundesrepublik
                                                                          übergesiedelt, ist seit 2014 Chefredakteurin der „Frankfurter Rundschau“ (FR), wo sie
wegung, fuhr nach Norditalien,       üble Verhältnisse in die Zukunft     zu Studienzeiten ihren ersten Zeitungsbeitrag veröffentlicht hatte. Nun führt sie die
wohnte ein paar Tage bei den         fortschreiben. Da müssen Frau-       „FR“ in einer Doppelspitze zusammen mit Arnd Festerling, der die Umstrukturierung
Anführerinnen und schrieb ihre       en laut werden und Druck er-         der „FR“ nach der Übernahme durch den Societäts-Verlag zunächst allein gestemmt
Geschichte auf. Die „FR“ gab mir     zeugen – öffentlich und in den       hatte. Inzwischen haben sie in der „FR“ eine Menge verändert, beispielsweise im
                                                                          Oktober 2016 das Wochenendmagazin „FR7“ eingeführt, 2017 den Online- und
dafür eine ganze Seite, der SFB      Redaktionen. Außerdem braucht        Print-Auftritt relauncht. Mika studierte – nach einer Lehre bei der Deutschen Bank in
15 Minuten Radiozeit.                es die Quote, um die Strukturen      Aachen – Germanistik, Philosophie und Ethnologie. 1988 ging sie als Redakteurin zur
                                     aufzubrechen.                        Berliner „taz“, deren Chefredakteurin sie 1998 wurde. Mika blieb es bis 2009 und
Ihre Vorbilder im Journalismus?                                           arbeitete bis zu ihrem Antritt in Frankfurt als Publizistin und Studiengangs-Leiterin an
                                                                          der Universität der Künste Berlin. Mika veröffentlichte Bücher über Alice Schwarzer,
  Jürgen Leinemann. Vor allem        Ihre Stärken und Schwächen?          die „Feigheit der Frauen“ und das Älterwerden bei Frauen. Am 1. Juli ehrte der
seine großartigen Porträts. Da-        Leidenschaft, Freude am Wag-       Journalistinnenbund bei seiner 30-Jahre-Jubiläumsgala Bascha Mika für ihr
rin verstand er es – wie kaum        nis, wenig Angst, gutes Gespür       Lebenswerk mit der Hedwig-Dohm-Urkunde.
ein anderer – einfühlsam und         für Menschen und Situationen.
scharfsichtig Bilder von Men-        Mein hohes Energielevel ist
schen zu zeichnen, wo alles drin     zwar schön, hat aber die Kehr-
war: Teddy, Tod und Teufel.          seite, dass ich streitlustig und     Auf welchen Beitrag sind Sie be-               Anna Netrebko als Violetta in
                                     mitunter dickköpfig daher­           sonders stolz?                                „La Traviata“.
Ein Journalist ist ein guter Jour-   komme. Zudem bin ich (ererbt)          Auf meine Reportage aus Ro-
nalist, wenn er/sie …?               cholerisch – aber in zivilisierter   stock-Lichtenhagen, als ich als               Wie und womit entspannen Sie
 … für die Sache brennt, sich        Form.                                einzige Journalistin mitten unter             sich?
nicht mit den Mächtigen gemein                                            den Brandsatz-Werfern stand.                    Bücher lesen, Laufen, Gärt-
macht, die eigenen und die           Was macht Sie wütend?                                                              nern, Malen.
Schwächen der Branche kennt.          Wenn wir Dinge, die wir ver-        … welcher ist Ihnen peinlich?
                                     ändern können, nicht anpacken.        Hmmm… habe ich verdrängt.                    Welcher Rat hat Ihnen auf Ihrem
Die Herausforderung des Jour-                                                                                           beruflichem Weg besonders ge-
nalismus in 140 Zeichen?             Sind Sie Mitglied einer Partei?      Ihre drei Lieblings-Medien?                   holfen?
 Geld + Personal aufbringen für       Als Journalist*in ein Parteibuch      G2 vom „Guardian“, „Missy                    Nicht sofort loszustürmen,
gut recherchierte Geschichten,       zu haben, finde ich unanständig.     Magazin“, „Informationen am                   sondern noch mal eine Nacht
die auch zeigen: Journalismus ist                                         Morgen“ vom Deutschlandfunk.                  drüber zu schlafen. Allen, die mir
Lebensmittel für die Demokratie.     Welche sozialen Medien nutzen                                                      das geraten haben, bin ich dank-
                                     Sie?                                 Ihr Lieblings-(Fremd)-App?                    bar.
Wie wichtig ist Klatsch?              Im professionellen Umfeld sind        BBC News.
 Sehr wichtig offenbar – sonst       soziale Medien extrem wichtig,                                                     Was sollte Ihnen später einmal
wären wir Journalist*innen nicht     auch für die „FR“. Für mich pri-     Mit wem würden Sie gerne mal                  nachgesagt werden?
die größten Klatschweiber.           vat nicht.                           einen Tag die Rolle tauschen?                  Schade, dass sie weg ist.

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