POINTS of RESISTANCE - MOMENTE des WIDERSTANDES - David Elliott
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POINTS of RESISTANCE – MOMENTE des WIDERSTANDES David Elliott Ein Punkt - eine konzentrierte Schärfe, durch die ein Gedanke, ein Licht, eine Materie, eine Handlung, eine Meinung, ein Druck oder eine Kraft übertragen werden kann - ist in der Lage, die Masse, die ihn umgibt, zu durchstoßen, zu durchdringen oder ihr Widerstand zu leisten. Unvermeidlich ein Produkt seiner chaotischen Umgebung, ist er sowohl eine Reaktion auf diese als auch notwendigerweise ihr Gegenteil. Als Metapher für Wahrheit schafft er Klarheit, die sich der Trübung der Masse widersetzt, aber er stellt auch einen Reibungspunkt dar, der in der Lage ist, eine Richtungsänderung zu bewirken - oder vielleicht eine komplette Kehrtwende. In ihrer größten Intensität kann eine ähnliche Reaktion auch durch die Kunst hervorgerufen werden. Ohne Klarheit fehlt es dem Widerstand sowohl an Form als auch an Bedeutung, und seine Energie kann sich entweder verflüchtigen oder in die Irre geführt werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist Berlin als internationale Hauptstadt der Kultur und der Gegenkulturen bekannt, aber die Interaktion zwischen ihnen hat manchmal katastrophale und tragische Ergebnisse verursacht. Im Verlauf dieser traurigen Geschichte haben sowohl der Widerstand als auch die Kunst unvorhersehbare und fließende Rollen gespielt - sie haben Zickzacklinien gebildet, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen - sie haben sich sowohl weiter weg als auch näher zueinander bewegt, da jede Aktion auch ihr Gegenteil hervorruft. In einer Welt, in der die Macht ihr chronisches Defizit an Empathie und Vorstellungskraft als „Stärke“ anpreist, kann der Widerstand nicht durch die einfache Skepsis von „falschen Fakten“ oder „Fake News“ minimiert werden. Eine ganze Anzahl der Arbeiten in dieser Ausstellung verknüpft daher auf radikal unterschiedliche Weise die alptraumhaften Handlungen der Vergangenheit mit Dystopien der Zukunft. 1 Ausgelöst werden solche Formen des Widerstands durch ihre Kontexte - durch das manipulative und synergetische Eigeninteresse von Regierungen und (Social-)Media-Tycoons, die in korrupter und ungerechter Machtausübung versuchen, menschliche Freiheiten und Rechte zu untergraben und dabei individuelle Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der wahrhaftigen Reflexion und der reflektierten Kritik auszulöschen. Eingesperrt in abgeschlossene, unversöhnliche Welten - undurchlässig für die Offenheit der Wahrheit oder für ihre Nuancen - verflüchtigt sich schnell der Unterschied zwischen einem „Freiheitskämpfer“ und einem „Terroristen“, und die einzige Möglichkeit der Lösung besteht entweder in der vollständigen Auslöschung des „Feindes“ oder in der instabilen Spitz-auf-Knopf-Situation einer kriegsähnlichen Koexistenz. Unter solchen Bedingungen, wie sie derzeit in Myanmar, Syrien, im Jemen oder in der äthiopischen Provinz Tigray herrschen, wird effektiver Widerstand mühsam, tragisch und lebensbedrohlich, kann aber angesichts der rohen Gewalt auch eine unvoreingenommene, autonome, moralische Position einnehmen, ähnlich wie die der Kunst. 2 Als Sinnbild für den Autoritarismus und sein Bestreben, die Redefreiheit zu beschneiden, bringt Microphone (2021), eine Bronzeskulptur von Mariana Vassilieva, diesen Punkt prägnant zum Ausdruck: Der Kopf eines Handmikrofons auf einem Ständer hat sich, fast unmerklich, in eine Handgranate verwandelt. Innerhalb dieses Paradoxons der Rückkopplung können die Folgen der öffentlichen Rede, ob frei, aufrührerisch oder nicht, in der Tat gefährlich sein, ebenso wie ihre weitere Vervielfältigung. Das Leben und Sterben des Theologen, Pazifisten und Anti-Nazi-Aktivisten Dietrich Bonhoeffer ist ein schmerzliches Beispiel für einen besonderen Tiefpunkt der Weltgeschichte.3 Vor seiner Inhaftierung im Berliner Gefängnis Tegel hatte er in den frühen 1930er-Jahren in der Zionskirche gearbeitet, in der diese Ausstellung nun 1 Dies könnte zum Beispiel auf so unterschiedliche Werke wie Margret Eichers Wandteppich It's a Digital World (2020), Doug Fishbones Video The Jewish Question, (2019) und sowohl auf Nina E. Schönefelds Video BTR (Born to Run), (2020) als auch auf ihre skulpturale Installation Truth Lamp (2021) zutreffen. 2 Dies ist die von Immanuel Kant (1724-1804) vorgeschlagene Autonomie, die Teil seines philosophischen und moralischen Arguments für die Verbindung der Idee der Schönheit (und ihres Gegenteils) mit der eines individuellen moralischen Gewissens in der Kunst ist. In solchen Ikonen der frühen Moderne, wie Jacques-Louis Davids Gemälde Der Tod des Marat (1793) oder Théodore Géricaults Das Floß der Medusa (1818-19), kann der Ausdruck des Gewissens auch politische Implikationen haben, aber dies gilt ohne Weiteres auch für alle Aspekte der künstlerischen Darstellung. Die Idee der Autonomie ist ihrem Wesen nach diktaturfeindlich, und dies, ebenso wie der subjektive Gehalt der Kunst, machte zum Beispiel Diktatoren wie Hitler oder Stalin misstrauisch, ja sogar ängstlich gegenüber jeder Manifestation „guter“ Kunst. Siehe David Elliott: „Die Schlacht um die Kunst“, in: Kunst und Macht im Europa der Diktatoren. 1930-1945, Köln, Oktagon, 1996. 3 Dietrich Bonhoeffer (1906 - 1945), deutscher lutherischer Pfarrer, Theologe, anti-nazistischer Dissident und Gründungsmitglied der Bekennenden Kirche. 1
stattfindet. Während dieser ganzen Zeit spiegelte sein Handeln seine Überzeugung wider, dass der Widerstand gegen das Böse eine gemeinsame Verantwortung sei, was sich in seinen öffentlichen Reden, seinem Netzwerk von Kontakten und seiner Verbindung mit den Verschwörern des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 deutlich zeigte. 4 Wie jedoch seine Unterdrücker in ihrem Aufstieg zur Macht deutlich gezeigt hatten, indem sie Moral, Gesetz und Religion ihrer Sache unterwarfen, konnten Ideen von „Widerstand“ und „Bösem“ nicht nur radikal unterschiedlich interpretiert, sondern auch so gestaltet werden, dass sie synonym zu sein schienen. Unmittelbar vor seiner Überführung in das Konzentrationslager Flossenbürg, wo er in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs hingerichtet wurde, dachte Bonhoeffer in einem Nazi-Gefängnis über solche Fragen nach. Die Machenschaften des Nationalsozialismus hatten in ihren Rechtfertigungen einer „Herrenrasse“ Fakt mit Unwahrheit und Gut mit Böse verwechselt - eine Umkehrung, die nur durch einen dies ermöglichenden Tsunami unkritischer Dummheit erreicht werden konnte, der sich wie ein Virus in der Bevölkerung ausgebreitet hatte; dies schuf ein intellektuelles und soziales Vakuum, das - unempfindlich gegen Vernunft, Bildung, Moral oder Glauben - das „Böse“ auch zum Synonym für den „Feind“ machte. Im nationalistisch-arischen Ideal war die Frage nach der Vielfalt erstickt worden. In der Dunkelheit seiner Kerkerzelle stellte sich Bonhoeffer die Frage: Wenn die Dummen die Erde erben sollten, wie könnte sich das Leben jemals ändern? Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch mit Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden, ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht... Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. ...5 Bonhoeffer hat die Nachwirkungen nicht mehr erlebt, aber erschreckenderweise sind die Unterscheidungen, die er hier vornimmt, Vorboten von ebenso paranoiden Konflikten in der Gegenwart.6 Ob sie mit den extremistischen Ideologien der extremen Rechten oder der extremen Linken in Verbindung gebracht werden, ob sie durch kulturelle Unterschiede, Armut oder fundamentalistische religiöse Überzeugungen provoziert werden - ihre Auswirkungen werden durch Desinformation und Verschwörungstheorien verstärkt, die sowohl offen als auch verdeckt über Medien, soziale Medien und das Internet verbreitet werden. Bei all dem nimmt Berlin nach wie vor eine zentrale Rolle ein.7 Im Laufe ihres relativ kurzen Lebens wurde die Zionskirche mit dem Widerstand gegen die Diktaturen des Nationalsozialismus und des Kommunismus in Verbindung gebracht, hat sie aber gelegentlich auch stillschweigend unterstützt. Schon in ihren Anfängen spiegelte sie viele der konfliktreichen Geschichten wider, 4 Das Komplott vom 20. Juli war ein gescheiterter Versuch des deutschen Militärs im Jahr 1945, ein Attentat auf Adolf Hitler zu verüben. Alle daran beteiligten Personen wurden hingerichtet. 5 Dietrich Bonhoeffer: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/604-dummheit-ist-ein-gefaehrlich/ 6 Die Bedrohung durch böswillige Vorurteile lauert hinter der manchmal aussichtslosen Hoffnung, die in allen in Points of Resistance gezeigten Arbeiten zum Ausdruck kommt. Diese Dualität wird zum Beispiel in Thomas Draschans Video Continental Divide (2010), Franziska Klotz' Ölgemälde Leviathan (2020), das die Bereitschaftspolizei im Tränengasnebel zeigt, und in Michael Wutz' äußerst surrealem Video Tales, Lies and Exaggerations (2011) deutlich. 7 Obwohl eine Minderheit, ist die 2013 gegründete Alternative für Deutschland (AfD) die größte deutsche nationalistische, rechtspopulistische Partei, die derzeit im Bundestag sitzt. Sie ist bekannt für ihre Ablehnung sowohl der Europäischen Union als auch der Zuwanderung und hat internationale Verbindungen zu anderen gleichgesinnten Gruppen. Seit 2017 zeigt sie sich zunehmend offen für die Zusammenarbeit mit rechtsextremen Gruppen wie PEGIDA, die rassistische, islamfeindliche, antisemitische und neonazistische Plattformen teilen. Im Jahr 2020 gründete der ehemalige Berliner Künstler und Kunsthändler Sebastian Bieniek in Anlehnung an QAnon das Sabmyk Network, das sich in letzter Zeit zu einem der aktivsten internationalen Verbreiter von Verschwörungstheorien im Internet entwickelt hat. Siehe: https://www.derstandard.at/story/2000125230412/sabmyk-network-qanon-nachfolger-mit-wurzeln-in- deutschland 2
die sich auch durch diese Ausstellung ziehen. Der Stil des hochdekorierten, historistischen Gebäudes entsprach der neu errichteten Rosenthaler Vorstadt, die ihrerseits im späten 19. Jahrhundert ein blumiger Ausdruck der industriellen und kolonialen Expansion Berlins von der preußischen Provinzhauptstadt zur grandiosen Metropole des vereinten Deutschen Reiches war.8 Finanziert durch die Reparationszahlungen aus dem siegreichen Krieg gegen Frankreich (wie viele andere Neubauten in Berlin zu dieser Zeit), wurde sie im März 1873 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm I. und Otto von Bismarck, dem „Eisernen“ Kanzler, eingeweiht, aber selbst in diesem triumphalen Moment bewegte sie sich auf prekäre Weise zwischen den Bruchlinien von Chancen, Bildung und Klasse. Auf einem ehemaligen Weinberg gelegen, dem damals höchsten Punkt Berlins, war es das „Juwel in der Krone“ des fünfeckigen Zionskirchplatzes, aber auch nicht weit entfernt von der bedrückenden Armut der schnell wachsenden Arbeiterbezirke Prenzlauer Berg und Wedding, die an ihn grenzten. Nach den religiösen Perversionen der Nazis und den Brandbomben des 2. Weltkriegs wurden die Ruinen der Kirche in der DDR beschlagnahmt, denn sie befand sich nahe der Grenze und nach 1961 an der Mauer, die die Stadt teilte. Bis 1953 wurde die teilweise restaurierte Außenfassade wieder eingeweiht, und die mit ihr verbundenen Aktivitäten wurden langsam auf die illegale Diskussion der Bürgerrechte ausgedehnt. Als Reaktion auf die sowjetische Atomkraftwerkskatastrophe in Tschernobyl (Ukraine) wurde 1986 im Pfarrhaus der Kirche eine Umwelt-Bibliothek als Zentrum für Friedens- und Umweltstudien eingerichtet, wo auch politisch verbotene Literatur zu finden war. Diese wurde schnell zur Speerspitze eines Netzwerks von Protestgruppen im ganzen Land, die Meinungsfreiheit und Bürgerrechte einforderten. Auch Lesungen, Diskussionsrunden und Ausstellungen von Werken verbotener Künstler fanden dort statt. 1989 „fiel“ bekanntlich die Berliner Mauer und mit ihr der Eiserne Vorhang, aber trotz oder vielleicht gerade wegen des darauffolgenden großspurigen Aufschwungs des Neoliberalismus bleiben viele unbewältigte Ungerechtigkeiten, Spaltungen, Vorurteile, Erinnerungen und Gespenster bestehen.9 Points of Resistance, eine Ausstellung mit 65 Werken von 54 Künstlern 15 verschiedener Nationalitäten, spiegelt den eindeutigen und weitverbreiteten Wunsch nach einem Diskurs wider, der künstlerische Positionen gegenüber der Macht artikuliert; sie wird die erste einer Reihe sein, die unter diesem Namen stattfindet. Baseball Bats and Bricks, eine kollektive Werkschau von zwölf in Berlin lebenden Künstlern, lieferte die erste Inspiration für diese Idee.10 Als Ausdruck eines Gefühls der Dringlichkeit, das hier auf ein größeres Maß ausgedehnt wird, stellten sie den aktuellen kritischen und diskursiven Rahmen infrage, indem sie sich von dem vehementen Erstarken der Neuen Rechten in Deutschland distanzierten, indem sie „die zivilisatorischen Funktionen und universellen Sprachen der Kultur“ wieder betonten.11 8 Die Außenpolitik Otto von Bismarcks als Reichskanzler spielte dabei eine entscheidende Rolle. Nach den kurzen Stellungskriegen mit Dänemark, Österreich und Frankreich, die die Bildung eines geeinten Deutschen Reiches ermöglichten, spielte dessen Hauptstadt Berlin nun eine wichtige Rolle in der Welt: Auf dem Berliner Kongress von 1878 wurde die Neuaufteilung der Balkangebiete des Osmanischen Reiches vereinbart und auf der Berliner Konferenz von 1884-85 die koloniale Aufteilung Afrikas durch die „Großmächte“ ratifiziert. 9 After the Wall (1999), Lutz Beckers Montage der verschiedenen Geräusche des Abrisses der Berliner Mauer, beschwört viele solcher Geister in Points of Resistance herauf. Das war ursprünglich für eine gleichnamige Ausstellung produziert worden, die ich zusammen mit Bojana Pejić für das Moderna Museet (Stockholm), das Ludwig Museum (Budapest) und den Hamburger Bahnhof/Max-Liebermann-Haus (Berlin) in den Jahren 1999- 2000 kuratierte. Chto Delats Perestoika Songspiel (2008), das ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist, untersucht die soziale und politische Entwicklung in der UdSSR während der unmittelbar vorangegangenen Zeit. 10 Baseball Bats and Bricks wurde im Oktober 2020 in der Botschaft Uferhallen (ein Kreativzentrum in den ehemaligen Straßenbahnwerkstätten im Wedding) gezeigt. Bei der in Zusammenarbeit mit Dirk Teschner von Kunst gegen Rechts konzipierten Ausstellung waren Fritz Bornstück, Thomas Draschan, Else Gabriel, Marc Gröszer, Gudny Gudmundsdottir, Franziska Klotz, Karsten Konrad, Jan Muche, Manfred Peckl, Celine Wawruschka, Hansa Wißkirchen und Michael Wutz beteiligt. Diejenigen, die fett gedruckt sind, sind auch bei Points of Resistance vertreten. 11 Aus dem auf einer Schreibmaschine getippten Konzept für Baseball Bats and Brickbats, Berlin, Oktober 2020. Siehe auch Anmerkung 4. Durch die Propagierung von völkischem Nationalismus, Rassismus, autoritärer Gewalt und Verschwörungstheorien polarisiert die Neue Rechte in Deutschland und auch international sowohl die Kultur als auch das Leben, indem sie alle Formen des kritischen Denkens auslöscht. Um dies zu erreichen, 3
Points of Resistance erweitert die Bandbreite dieses Ideals in Form einer Aneinanderreihung von sich überschneidenden und miteinander verknüpften Erzählungen, die, oft ironisch, Fragmente von Geschichten ansprechen, sowohl individuelle als auch gemeinsame. In TBQ (2017-18), einer Drei-Kanal-Installation, die in Tel Aviv, Rom und Istanbul gedreht wurde, stellen die türkische Künstlerin Nezaket Ekici und der Israeli Shahar Marcus auf feierliche Weise die einzigartigen Erlösungsansprüche der drei abrahamitischen Religionen in Frage, indem sie gemeinsam halbernste Sühne-Rituale für die heiligen Bücher des Judentums, des Christentums und des Islams aufführen. Die Videoinstallation The Lost Girl (2020) der australischen Künstlerin Kate McMillan versetzt den Betrachter in eine dystopische Zeit jenseits von Sprache und Kultur, in der ein junges Mädchen, das schreiend in einer Höhle liegt und in Plastikmüll aus dem Meer gekleidet ist, koloniales Grauen und Umweltzerstörung in der bitteren Armut und unterbrochenen Schönheit ihres vom Wasser umgebenen Lebensraums wachruft. In Tempest (Study for The Raft) (2005) konzentriert sich Bill Viola auf ein einziges traumatisches Ereignis: Eine Gruppe von neunzehn Männern und Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher wirtschaftlicher und ethnischer Herkunft wird plötzlich von einem lang anhaltenden Hochdruck-Wasserstrahl getroffen und zu Boden geschleudert. Stumm und in Zeitlupe gefilmt, wird jede noch so kleine Körperbewegung und jeder Gesichtsausdruck akzentuiert, und es scheint, als würde jede Person an ihrer eigenen privaten Welt teilnehmen. Doch sobald ihre Tortur begonnen hat, platzt ihre individuelle Blase, wenn sie versuchen, sich gegenseitig zu umarmen, um Hilfe, Sicherheit und Trost zu finden. Als das Wasser abrupt aufhört und sie benommen, zerschunden und verwirrt sind, formieren sie sich langsam wieder zu einer Gruppe und beginnen gemeinsam und solidarisch, sich zu beruhigen, um sich von ihrem gewaltigen Schock zu erholen. In dieser sehr an Ballett erinnernden Studie über das menschliche Handeln unter Zwang, in der die Ursache ihrer Notlage nie genannt wird, führt Viola zuvor nicht miteinander verbundene Individuen in Anlehnung an Théodore Géricaults Meisterwerk Das Floß der Medusa (1818-19) zusammen. Im Ozean vor der Küste Westafrikas treibend, waren viele der Männer auf dem Gemälde bereits gestorben, doch als Fleck am fernen Horizont wurde gerade ein Schiff - und die Möglichkeit der Rettung - gesichtet. Basierend auf einer tatsächlichen Geschichte über Feigheit und Korruption in der französischen Marine, die, nachdem sie von den Rettern und Überlebenden aufgedeckt worden war, einen politischen Skandal auslöste, unterstreicht Géricault, dass es auch inmitten von Tod und Schmerz Hoffnung gibt. In Violas Werk jedoch gibt es keine solche Rettung - oder auch nur einen Horizont - und der Wasserstrahl könnte sie jederzeit erneut treffen; ihre einzige Hoffnung liegt in der Menschheit selbst. In ihrer Zweikanal-Videoinstallation Memory of a Square (2005) verknüpft und trennt Gülsün Karamustafa über einen Zeitraum von fünfzig Jahren die Entwicklungsgeschichte des Lebens einer Familie in einer Wohnung im Zentrum von Istanbul. Der alltägliche Austausch wird neben dokumentarischen Bildern der oft traumatischen politischen Ereignisse auf dem Taksim-Platz gezeigt, einem symbolischen Versammlungsort der türkischen Republik, der an die Wohnung angrenzt. Einige der Demonstrationen waren freudig, doch schon bald erhob die Gewalt ihr hässliches Haupt: beim Pogrom im September 195512, beim Militärputsch im Mai 1960, beim „Blutsonntag“ im Mai 1969 und beim „Taksim-Platz-Massaker“ am 1. Mai 1977, als nicht näher identifizierte rechtsgerichtete Bewaffnete wahllos das Feuer auf die feiernde Menschenmenge eröffneten. Mit dieser Gegenüberstellung zweier Welten, der häuslichen und der politischen, zeigt Karamustafa, wie der häusliche Raum trotz all seiner wiederkehrenden Traurigkeit und der Konflikte irgendwie von der fluktuierenden Gewalt des Platzes abgekoppelt bleibt, auch wenn er von ihr beeinträchtigt werden kann. Die Familie und der Staat sind in ihrem stets fragilen Zustand immer noch geteilt. Der Taksim bleibt bis heute ein Ort gewalttätiger Auseinandersetzungen.13 fördert sie Gefühle der Kränkung und des Verrats durch „neuen Bildersturm“ und „Kulturkriege“, die Paradigmen der Offenheit und Vielfalt attackieren, indem sie Kulturinstitutionen finanzielle Ressourcen entziehen, kritische Veranstaltungen stören und - in einem erschreckenden Anklang an die Entartete Kunst der Nazis - versuchen, Kunstwerke, die sie als feindlich empfinden, lächerlich zu machen oder sogar zu zerstören. 12 Das Pogrom richtete sich hauptsächlich gegen griechisch-orthodoxe Christen, aber es waren auch einige jüdische Menschen und Armenier betroffen. 13 Das Atatürk-Kulturzentrum, ein ikonisches modernistisches Gebäude aus den 1960er Jahren, das die säkularen Ideale der Republik zum Ausdruck brachte, nahm eine Seite des Platzes ein und wurde im Jahr 2008 geschlossen; an seiner Stelle war eine große Moschee geplant. Nach wütenden Protesten wurde diese Idee aufgegeben, aber das Gebäude wurde abgerissen und ein neues kommerziell-kulturelles Zentrum ist in Planung. Im Jahr 2013 kam es rund um den Gezi-Park, neben dem Taksim-Platz, zu weit verbreiteten Protesten 4
In ihrem Video Perestroika Songspiel (2008) wirft das in St. Petersburg ansässige Kollektiv Chto Delat einen eher boshaften Blick auf den historischen Wandel in einem ironischen, an Brecht angelehnten Kommentar zu den Strömungen und Ereignissen, die den Übergang Russlands von einer kommunistischen Planwirtschaft zu einer pseudo-demokratischen Kleptokratie markierten.14 Wie in einem mittelalterlichen Drama wird die Handlung von stereotypen Symbolfiguren gespielt: dem Demokraten, dem Oligarchen, dem nationalistischen Patrioten, dem Arbeiter. Deren kurze dramatische Zwischenspiele werden durch den Kommentar eines „griechischen Chors“ unterbrochen - einem Chor, der die Ängste, Hoffnungen und tieferen Motive der Hauptfiguren erklärt und debattiert -, während als Tiere verkleidete Kinder ein märchenhaftes Element hinzufügen, indem sie im Geschehen hin und her huschen. Im weiteren Verlauf, in einer schaurigen Anspielung auf den Schluss von Fritz Langs Stummfilm Metropolis (1927), verbündet sich der nationalistische Patriot mit dem Demokraten und dem Arbeiter unter der wohlwollenden Macht des allmächtigen Oligarchen.15 Die Ordnung ist für einen Moment wiederhergestellt, und eine starke Hand hat das Sagen. Russland ist wieder im Frieden, während die vom Chor gesungene weltliche Liturgie die Stationen des Kreuzes für die Leiden eines Ideals darstellt. In seiner Serie von digitalen Fotografien Pretending to be in Control (2018) und seinen beiden Videos Melania (2019-20) befasst sich der amerikanische Künstler Brad Downey die absurden Auslöser und Mechanismen der Macht. Die Fotografien zeigen inkongruente Bilder von Bereitschaftspolizisten in voller Kampfmontur, die akrobatisch in einer bukolischen Landschaft herumtollen, wobei sich ihre insektenartigen Panzer wie spielende Kinder - oder Liebende - ineinander verhaken. Ausgelöst durch seine Abscheu vor Donald Trumps rassistischer Einwanderungspolitik und seine Erkenntnis, dass Melania Trump als slowenische Einwanderin in die USA gekommen war, besuchte Downey ihre Heimat und entdeckte dort Maxi, einen Amateur-Bildhauer, der sich auf die Herstellung von Holzporträts mit einer Kettensäge spezialisiert hat. Der Zufall wollte es, dass er am selben Tag, im selben Jahr und im selben Krankenhaus wie Melania Trump geboren worden war, und Downey beauftragte ihn, eine große, feierliche Porträtstatue anzufertigen, um ihre bescheidene Herkunft und ihren Erfolg öffentlich zu würdigen. Der erste Teil von Downeys Video Melania besteht aus einer Reihe von Interviews, die zeigen, wie diese Skulptur erdacht und entwickelt wurde. Im Jahr 2019 wurde sie schließlich in Rožno, nicht weit von Melanias Geburtsort, am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli, enthüllt. Vorsorglich hatte Downey Abgüsse des hölzernen Originals angefertigt und anschließend eine Miniaturausgabe und eine lebensgroße Version in Bronze hergestellt. Sein zweites Video schildert die beeindruckende Medienreaktion auf die Skulptur, sowohl vor Ort als auch weltweit. Die Tatsache, dass sie nicht mimetisch sein sollte und über „primitive“ expressionistische Eigenschaften verfügte, hatte viele Menschen empört und manche amüsiert. Exakt ein Jahr nach der Einweihung wurde das Werk von unbekannten Tätern verbrannt und zerstört. Downey hat die verkohlten Überreste seitdem durch eine Bronzeversion ersetzt. Nunmehr ist sie eine Touristenattraktion, die nicht nur eine der berühmtesten Töchter Sloweniens würdigt, sondern auch die vielfältigen kommunikativen Kräfte der Kunst. Eine ähnlich kritische Umkehrung aller üblichen Erwartungen ist die Prämisse hinter dem Video von AES+F, Inverso Mundus (2015). Nach einem feierlichen Auftakt, in dem Straßenreiniger die Stadt mit Scheiße besudeln, kommt es zu einem unblutigen Umsturz, bei dem sich die Obdachlosen und Armen in die Mächtigen und Reichen verwandeln, allerdings gespielt von denselben entnervten, melancholischen Schauspielern. Aus diesem "Klassenkrieg" heraus wird der Transformationsprozess nicht nur auf einen Krieg der Geschlechter ausgedehnt, in dem Frauen in einer Parodie auf die Inquisition Männer zu Objekten degradieren und foltern, sondern auch auf einen Krieg der Generationen, in dem sich Kinder mit alten Menschen in ritualisierten gegen die kommerzielle Entwicklung und die Beseitigung seiner Grünfläche, die gewaltsam unterdrückt wurden. Die Proteste weiteten sich schnell aus und konzentrierten sich im ganzen Land auf die Aushöhlung der Menschenrechte und des Prinzips des Säkularismus durch die Regierung sowie auf die anhaltende Zerstörung der Umwelt. 14 Perestroika bedeutet ‚Umstrukturierung‘ und steht in engem Zusammenhang mit der Kampagne des sowjetischen Führers Michail Gorbatschow für Glasnost (‚Offenheit‘), die ab 1986 die politische, kulturelle und gesellschaftliche Landkarte der Sowjetunion veränderte. 15 Siegfried Kracauer beleuchtet diesen Aspekt der aus dem Reichtum abgeleiteten paternalistischen Macht in seiner Auseinandersetzung mit Fritz Langs deutschen Filmen in Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1949). 5
Kickboxkämpfen messen - und nicht zuletzt auf einen Krieg der Arten, in dem ein rachsüchtiges Schwein zum König des Schlachthofs wird und seine früheren menschlichen Peiniger abschlachtet und ausweidet. Diese Bildsprache erinnert an traditionelle Sprichwörter und Redensarten, die häufig in populären Drucken und Gemälden dargestellt wurden. In Anlehnung an die seltsamen „mittelalterlichen“ mutierten fliegenden Hybriden, die eine tragende Rolle spielen, und an die Körper - menschliche, soziale und politische -, die ein wiederkehrendes Thema in all ihren Arbeiten sind, setzen AES+F Entfremdung sowohl als visuelles als auch als erzählerisches Mittel ein.16 Wie eine Reihe von Künstlern in Points of Resistance sind sie im Kommunismus aufgewachsen und haben in der Zeit der Perestroika stärker als zuvor erkannt, dass die Mechanismen der Macht in jedem System, in das man verstrickt ist, in gleichem Maße verhängnisvoll sind und dass unterschiedliche Strategien notwendig sind, um das eigene Schicksal innerhalb dieses Systems in die Hand zu nehmen. AES+F leben in einem kritischen Klima, in dem Bildsequenzen allzu leicht im Sinne der persönlichen Vorurteile der Betrachter interpretiert werden. Sie bestehen darauf, dass die Ambivalenz, die Inverso Mundus auszeichnet, als eine Form der Unterhaltung betrachtet werden sollte, die, obwohl sie kaum zum Lachen ist, die zeitgenössische Apokalypse auf „eine leichte, süße und amüsante Art“ illustriert. Ohne jegliche Ironie präsentieren sie eine sarkastische Parodie einer vom Kapitalismus beherrschten Welt, die von roboterhaften, invertierten Doppelgängern bevölkert wird, ähnlich wie im Mittelalter die Sacra parodia die allumfassende Macht der Kirche widerspiegelte und in Frage stellte. Unabhängig davon, in welcher Form oder in welchem Medium sie in Erscheinung treten, bestätigen alle Kunstwerke in dieser Ausstellung, dass sie, obwohl sie im Angesicht roher Macht nutzlos sind, dennoch eine eigene spezifische Kraft besitzen. Die Kunst sollte niemals belehren, und doch birgt sie Wissen; sie sollte niemals moralisieren, und doch ist sie unweigerlich moralisch. Ihre Funktion ist es, nichts Anderes zu sein als sie selbst - was bedeutet, dass sie nichts „tun“ muss. Auch wenn ihre Palette das ganze Universum und die Emotionen, die in ihm umherschwirren, sein können, ergibt sich ihre Kraft aus der Uneigennützigkeit ihrer Tätigkeit. Der Künstler hat nur eine Verantwortung: Kunst zu machen, die so gut wie möglich ist, und nur er darf entscheiden, ob und wann seine Aufgabe erfüllt ist. Wir müssen ihrem Empfindungsvermögen, ihrer künstlerischen Integrität und ihrer Intelligenz vertrauen, und im Großen und Ganzen hat die Geschichte gezeigt, dass dieses Vertrauen nicht unangebracht war. Aufgrund ihrer Scharfsinnigkeit, ihrer Uneigennützigkeit, ihrer Menschlichkeit und ihres Engagements ist jede Kunst, wenn sie etwas taugt, zwangsläufig ein Point of Resistance, ein Punkt des Widerstands gegen Etwas. ENDE 16 Viktor Shklovsky (1893-1984), ein führender Vertreter der russischen formalistischen Schule der Literaturkritik mit engen Verbindungen zum Futurismus, skizzierte das literarische Mittel der Entfremdung (Ostranenie) erstmals in seinem Aufsatz Kunst als Mittel, Moskau, 1917. Am Beispiel von Tolstoi und anderen russischen Schriftstellern definierte er sie als eine Methode, mit der soziale oder politische Kritik durch die „Aufhebung des Automatismus der Wahrnehmung“ ermöglicht werden konnte. In den 1920er-Jahren tauchte diese Idee im sowjetischen und deutschen Theater in Form von kritischer, satirischer Parodie auf; insbesondere Bertolt Brechts (1898-1956) Idee des Verfremdungseffekts wurde davon beeinflusst. 6
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