Popsterne in Addis Abeba - Norient

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Popsterne in Addis Abeba - Norient
Popsterne in Addis Abeba | norient.com                                    6 Jun 2022 14:51:32

    Popsterne in Addis Abeba
    I N T E R V I E W by Tobias Hagmann, Rahel Leupin

    Addis Abebas moderne Populärmusik teilt sich in drei
    Generationen auf. Ab den 1930er Jahren swingte die
    äthiopische Hauptstadt zu Bigband-Sounds. Die 1960er und
    1970er Jahren waren dominiert von der abessinischen Musik,
    ehe in den 1980er Jahren eine neue Popgeneration auf sich
    Aufmerksam machte. Nicht zur Freude von jedermann.

    Taxifahrer Filimon schliesst seinen blau-weissen Lada Baujahr 1969 kurz. Es
    ist Samstagnacht in Addis Abeba, 23 Uhr. Die Bole Road, eine der
    Hauptachsen der Stadt, ist fast unbevölkert. Nur vor dem Eingang der Disco
    Illusion stehen ein paar Glückliche der Jeunesse dorée. Wer am Türsteher
    vorbeikommt, trägt weder Plastiksandalen noch Turnschuhe. Hier tanzen die
    Reichen und Schönen der äthiopischen Metropole zu R 'n' B und den
    internationalen Charts. Wir tuckern vorbei, heute suchen wir den
    abessinischen Groove: im Nachtklub Gazebo.

    Filimon schmunzelt, als er den gähnend leeren Parkplatz entdeckt: «I wait.
    You be back soon.» Im schummerigen Innern begrüsst uns der Besitzer und
    Saxofonist Danny Boy. Er trägt sein langes Haar mit viel Pomade, eine
    sportliche Sonnenbrille und schweres Gold um sein Handgelenk. Danny Boy
    ist ein fester Bestandteil der Nachtklubszene von Addis Abeba. Nachtklub
    bedeutet in Äthiopien stets Livemusik. Eine so genannte Miniband,
    bestehend aus Keyboarder, Bassist und Saxofonist, begleitet eine Hand voll
    Sängerinnen und Sänger. Diese arbeiten in Rotation: Ein Sänger gibt zwei bis
    drei Lieder zum Besten, bevor er vom nächsten abgelöst wird. Von 22 Uhr
    abends bis 4 Uhr in der Früh, sechs Tage die Woche, singen sie die aktuellen
    Hits und modernen Klassiker der äthiopischen Popmusik. Danny Boy, einer
    von rund 20 Nachtklubbesitzern der Hauptstadt, spielt eine wichtige Rolle als
    Coach seiner Schützlinge. An der staatlichen Yared Music School wird kein

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    Gesang unterrichtet. Die äthiopischen Musikstars von morgen trainieren im
    Nachtklub, der gleichzeitig wichtigster Arbeitgeber ist. Die Stimmung im
    Gazebo ist noch auf dem Nullpunkt. Hinten im Raum sitzen einzelne
    Nachtschwärmer und gönnen sich ein lokal gebrautes Bier. Auf unsere Frage,
    wieso sich keine «ferenjis» (Ausländer) in die Nachtklubs trauten, lacht Danny
    Boy. «Ferenjis gehen in die zahlreichen Bars, um Prostituierte aufzureissen.
    Sie interessieren sich nicht für die aktuelle äthiopische Musik.»

    Drei Generationen von Musikern
    Äthiopiens moderne Populärmusik teilt sich in drei Generationen auf. In den
    letzten Jahren von Kaiser Haile Selassies Herrschaft (1930-1974) swingte die
    Hauptstadt zu Bigbands, die gekonnt nationales Liedgut mit Jazz aufpeppten.
    Zu dieser ersten Generation gehören die herausragenden Crooner Mahmoud
    Ahmed und Tlahoun Gessesse. Beide sind noch heute populär wie auch die
    1990 verstorbene Bzunesh Beqele, die in Begleitung der Imperial Bodyguard
    Band den äthiopischen Swing in die Nachtklubs brachte.

    Die Sechziger- und Siebzigerjahre waren das goldene Zeitalter der
    abessinischen Musik. Francis Falceto veröffentlichte die musikalischen
    Highlights dieser Epoche in der zwanzigteiligen Serie «Ethiopiques», die beim
    französischen Label Buda Musiques erscheint. Erst Ende der Achtziger
    machte eine neue Popgeneration von sich hören. Ihre bekannteste Vertreterin
    ist Aster Aweke, deren Debüt «Aster» 1989 sofort einschlug. Im
    amerikanischen Exil gross geworden, reicherten Sängerinnen wie Aster
    Aweke oder Chachi Tadesse den äthiopischen Pop mit dem Synthesizer und
    neuen Musikstilen wie Reggae an. Die aufstrebende Worldmusic- Industrie
    verhalf ihnen dann bisweilen zu internationaler Aufmerksamkeit.

    Mit der dritten und jüngsten Generation von Popmusikern erlebt die
    Musikbranche Äthiopiens derzeit einen Boom. Seit ein paar Jahren vertreten
    Sängerinnen wie Egigyehu alias Gigi oder der Überflieger Tewodros
    Kassahun, besser bekannt als Teddy Afro, einen aktuellen Pop, der
    Originalität und kommerziellen Erfolg verbindet. Die Newcomerin Zeritu
    Kebede zum Beispiel klingt beim ersten Hinhören wie Äthiopiens Antwort auf
    Céline Dion. Und wie so oft bewundern die Jungen die Alten - und die Alten
    kritisieren die Jungen. Der Komponist und Begründer des «Ethiojazz», Mulatu
    Astatke, dank Jim Jarmuschs Film «Broken Flowers» derzeit in aller Munde,
    hat wenig gute Worte für die «jungen Wilden» übrig: «Sie benehmen sich wie
    falsche Europäer», schimpft er im Gespräch. «Sie kopieren schlicht und
    einfach den westlichen Musikstil. Wir sollten nicht vergessen, dass wir
    Afrikaner sind!»

    Eine der Aufsteigerinnen am äthiopischen Pophimmel ist Tsedenia Gebre
    Markos (siehe Interview). Wir suchen sie im Nachtklub Cave auf, wo ihre
    Performance zum festen Repertoire gehört. Beim Herabsteigen in die dunkle
    Höhle schlagen uns laute Beats entgegen. Die Tanzfläche ist voll mit

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    Menschen zwischen zwanzig und fünfzig. Während sich die einen in Iskista
    üben, dem einheimischen Schultertanz, hüpfen andere ausgelassen über den
    Dancefloor. Nach Tsedenia schmettert Abdu Kiar, eine weitere lokale Grösse,
    seinen 2003-Hit «Addis Abeba». Die Ode an die Hauptstadt verwandelt das
    Cave sogleich in eine kollektive Karaokebar. Alle singen mit. Die Äthiopier
    lieben ihre Musik und kaufen diese fleissig - auf dem Schwarzmarkt. Im
    September 2005 wurde auf langjähriges Insistieren der Ethiopian Musicians
    Union ein Copyright-Gesetz in Kraft gesetzt. In ihrer Kampagne gegen die
    blühenden Raubkopien war die Musikervereinigung weniger um die
    Eigentumsrechte anderer als um die verlorenen eigenen Profite besorgt.
    Heute investiert ein Sänger durchschnittlich 10 000 Franken in die
    Produktion eines neuen Albums. Die Originalaufnahmen werden für 25 000
    bis 45 000 Franken an eine Plattenfirma verkauft, die sich damit gleich
    sämtliche Rechte sichert. Gewinnbeteiligung und Tantiemen sind
    Fremdwörter im äthiopischen Musikbusiness. Die Plattenfirma dupliziert das
    Master und verkauft dessen Kopien als Kassetten und CDs den zahlreichen
    Musikläden im Lande. Doch die «musicabets» (Musikhäuser) bringen sowohl
    Original- wie Schwarzkopien unters Volk. «Der Schwarzmarkt», versichert
    uns der Topproduzent Dagmawi Ali, «ist seit Beginn des Copyright-Gesetzes
    geschrumpft, funktioniert jedoch hervorragend!»

    Vor dem Cave bieten später schläfrige Bauchladenverkäufer Zigaretten,
    Taschentücher und Kaugummi feil. Filimon hat uns erspäht und bringt den
    Lada vor unseren Füssen zum Stillstand. Auf der Fahrt zum nächsten Klub
    Razzmatazz umzirkelt er die Schlaglöcher. Aus dem Radio rauscht ein Lied.

    Staatlich kontrollierte Radiosender
    Seit vier Jahren gibt es in Äthiopien FM-Radiosender. Die drei Stationen sind
    alle staatlich kontrolliert und spielen überwiegend nationale Musik.
    «Liebeslieder», wie der Musikjournalist Henok Semaegzer von der
    äthiopischen, auf Amharisch wie Englisch erscheinenden Zeitung «The
    Reporter» präzisiert. «Nach dem Motto: Lasst das Volk tagsüber in
    Romanzen schwelgen – das Politische regeln wir schon selbst.» Trotz
    gegenteiliger Beteuerung hat die äthiopische Regierung wenig Verständnis
    für ihre Kritiker. Das erlebt derzeit Superstar Teddy Afro, denn einige seiner
    Songs sind vom Radio verbannt. Auf seinem letzten Album «Yasstesseriyal»
    («Gott vergibt») beschwört Teddy den Traum eines vereinten Äthiopien, in
    dem sich politische Gegner vergeben. «Wann löst die Dämmerung die
    Dunkelheit ab?», fragt er im Titelsong und bedient sich damit einer alten
    lyrischen Tradition, die auf Amharisch «Wachs und Gold» heisst: Unter dem
    Wachs der wörtlichen Bedeutung liegt das Gold der tieferen Botschaft.
    Teddys Fans haben die böse Anspielung auf die Regierung sofort verstanden
    und dem Album einen Verkaufsrekord beschert. Denn während die Politik
    Salz in die Wunden streut, heilt die Musik Blessuren.

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    Interview: «Ich singe ausschliesslich für die Liebe»

    Die Sängerin Tsedenia Gebre Markos ist ein Shootingstar der jungen
    äthiopischen Popszene. Über Politik zu singen, hält sie für keine gute Idee.

    [Tobias Hagmann & Rahel Leupin]: Sie gehören zu einer neuen Generation
    von Sängerinnen, die stark von westlichem Pop beeinflusst sind. Wo bleibt
    das Äthiopische in Ihrer Musik?

      [Tsedenia Gebre Markos]: Das Äthiopische kommt nicht zu kurz! Ich singe
      in meiner Muttersprache Amharisch, andere Interpreten singen in Oromo.
      Weiter dominieren einheimische Rhythmen und Skalen unseren Sound. Die
      äthiopische Musik baut auf Fünftonreihen auf, so genannten
      pentatonischen Tonleitern. Davon gibt es vier Varianten, die nach
      verschiedenen äthiopischen Ortschaften benannt sind: Tizita, Bati, Ambasel
      und Anchihoy. Aber auch, wie wir die Lieder singen, mit diesem Vibrato in
      der Stimme, macht unsere Musik unverwechselbar. In der Zukunft möchte
      ich vermehrt traditionelle Elemente wie die Krar-Laute in meinen Songs
      aufnehmen. Aber viel Spielraum habe ich nicht. Ich muss mich dem Markt
      anpassen.

    [TH/RL]: Genau das kritisieren Musikveteranen wie Mulatu Astatke, der dem
    heutigen Pop vorwirft, die musikalischen Wurzeln des Landes zu
    vernachlässigen.

      [TGM]: Die alte Generation behauptet immer, dass die Jungen es zu nichts
      brächten. Tatsache ist, dass das Publikum heute westliche und
      einheimische Musik hört. Bereits zu Beginn meiner Karriere coverte ich
      deshalb regelmässig englische Songs. Das war damals eine Neuheit, ich war
      damit fast alleine. Heute verdiene ich monatlich stolze 800 Franken, indem
      ich fünfmal die Woche in einem Nachtklub auftrete. Zuvor arbeitete ich für

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      die staatliche Musikagentur. Die liess mich in sämtlichen Militärcamps des
      Landes auftreten. Ich musste mir meine Karriere hart verdienen und weiss,
      was es heisst, untendurch gehen zu müssen.

    [TH/RL]: Wie hat sich die Popszene in den letzten Jahren entwickelt?

      [TGM]: Die gesamte Musikbranche ist im Umbruch, und die Anzahl Sänger
      hat rapide zugenommen. Das hat zwei Gründe. Einerseits boomt die
      Wirtschaft. Immer mehr Künstler können von ihrer Musik leben.
      Andererseits haben sich die Leute an westliche Musik wie Hiphop oder
      Reggae gewöhnt. Sie wollen deshalb einen zeitgenössischen äthiopischen
      Sound, der diese Tendenzen aufnimmt. Das Problem ist jedoch, dass wir
      derzeit nur drei, vier Produzenten in Addis Abeba haben, die diese
      Verbindung schaffen. Hat das neue Copyright-Gesetz etwas bewirkt? Ganz
      und gar nicht, weil es die Regierung nicht durchsetzt. Das betrifft nicht nur
      die Musikverkäufer: Auch unter den Sängern wird viel voneinander kopiert
      (lacht). Wir klauen alle voneinander!

    [TH/RL]: Und wie wirkt sich das politische Klima auf die Popszene aus?
    Können Sie singen und sagen, was Sie wollen?

      [TGM]: Nein. Diese künstlerische Freiheit besteht nicht. Das beste Beispiel
      ist Teddy Afro. Mit seiner indirekten Kritik an der Regierung hat er sich auf
      ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel eingelassen. Politik in Afrika ist nicht
      zum Spassen. Darum kümmere ich mich nicht um Politik. Mit Ausnahme
      von einigen Songs, in denen es um Aids geht, singe ich ausschliesslich über
      die Liebe. Es lohnt sich nicht, politische Themen aufzunehmen. Das bringt
      nur Ärger.

    → Published on November 09, 2010

    → Last updated on June 03, 2021

    Tobias Hagmann ist Politikwissenschaftler und ehemaliger Minister der
    Demokratischen Republik Tam Tam..

    Rahel Leupin ist Kulturmanagerin und Mitglied der Programmgruppe des Zuercher
    Theaterspektakels. Website: www.theaterspektakel.ch/

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