Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit

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Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
ro je k te – D o k u m e n ta  tion
    Praxis p

                            c h t – M i g r a t ion –
                        Flu
                                            en
                        Männlichkeit
                                                 2020

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Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
INhalt
                                                                                                                                        Impressum

                                                                                                                                        Herausgeber
                                                                                                                 tion –
                                                                                                  Flucht – Migra
                                                                                                                                        Landesarbeitsgemeinschaft
                                                                                                               en                       Jungenarbeit in NRW e. V.
                                                                                                  Männlichkeit                          Huckarder Straße 12
                                                                                                                                        44147 Dortmund

                                                                               *
                                                                                                                                        Tel.: 0231/53 42 174
                     Vorwort                                                                                                            Fax: 0231/53 42 175
                     Malte Jacobi (Bildungsreferent,                               Das (Gender-)Sternchen (Asterisk*) wird von uns      www.lagjungenarbeit.de
                     LAG Jungenarbeit NRW)				                         S. 4        verwendet, um ein Wort geschlechtlich zu öff-        info@lagjungenarbeit.de
                                                                                   nen und zu verdeutlichen, dass Personene jeden
                     Was ist „Irgendwie hier!“?                                    Geschlechts, biologisch wie sozial, angesprochen     Gestaltung
                     Das Projekt					S. 5                                          sind.                                                pünktchen Text- und Grafikatelier
                                                                                                                                        Sandra Rodenkirchen, Haltern am See
    Praxisprojekte   Projektporträt ehrenMANN, Dormagen
                     Nur 68 Minuten für die Frage:
                                                                                   Hinsichtlich Jungen* und Männern* möchten wir
                                                                                   die geschlechtliche Vielfalt von Männlichkeiten      Text
                     Bin ich ein ‚Ehrenmann‘? 			                      S. 7        benennen, die darauf hinweisen, dass wir eine Hal-   Mareike Graepel, Haltern am See
                                                                                   tung der geschlechtlichen Selbstbestimmung von
                     Projektporträt L‘HomMan, Dortmund                             Personen vertreten.                                  Fotos
                     Mehr als ein Druck, der Eindruck macht		          S. 11                                                            Titelseite: M.Graepel
                                                                                                                                        S. 4, 15, 16, 18, 19, 20, 27, 29, 30, 33, 34, 37 (oben):
                     Projektporträt Live und ohne Grenzen, Köln                                                                         M. Graepel
                     Grenzenlos on air – für alle*: Online und sicher                                                                   S. 7, 8, 10, 24: ehrenMann/Prinz/Dirscherl
                     Fernsehen machen				S. 15                                                                                          S. 11, 12, 14: VKII Ruhrbezirk e.V.
                                                                                                                                        S. 35, 36, 37 (unten), 38: BorderlessTV
                     Vor Ort in Dormagen, ehrenMANN
                     Von Gefühls-Activity, Empathie-Training
                     und... Fast Food					S. 19

                     Vor Ort in Dortmund, L‘HomMan
                     Für Jungen* und Männer* of Colour existentiell
                     wichtig: Empowerment, Schutz und Sicherheit    S. 27

                     Vor Ort in Köln, Live und ohne Grenzen!
                     Überall sein können, nicht überall sein dürfen:
                     Junge Männer* reden				                           S. 33

                     Ausblick					S. 39
                                                                          2    3
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
Vorwort, Malte Jacobi

Herzlich
  willkommen...                                                                                                                                    Flucht – Migra
                                                                                                                                                   Männlichkeit
                                                                                                                                                                en
                                                                                                                                                                  tion –

... zu der Jahresbroschüre 2020 der Praxisprojekte
„Irgendwie Hier! Flucht-Migration-Männlichkeiten“
und damit zum Abschluss einer weiteren Projektphase.

Über vier Jahre sind wir mit unserer Arbeit in verschiede-                                                            Was ist „Irgendwie hier!“?
nen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit und darüber
hinaus unterwegs, indem wir pädagogische Settings um                                                                  Ein unbestimmtes Adverb eines Zustand und ein sehr       Zentrale Aufgaben der LAG Jungenarbeit sind es, im
flucht- und migrationssensible Geschlechterreflexion                                                                  präzises Adverb eines Ortes, nämlich dieses Ortes,       Rahmen des Projektes „Irgendwie Hier! Flucht – Migra-
erweitern.                                                                                                            dieses Platzes, dieses Raums, an, auf und in dem sich    tion – Männlichkeiten“ exemplarische Praxisprojekte
                                                                                                                      Menschen befinden – der Titel des Projektes, das 2016    der geschlechtsspezifischen, inter- und transkulturellen
Wer mit unserer Arbeit noch nicht vertraut ist, wird sich                                                             als „Beratungs-, Qualifizierungs-, Vernetzungs- und      Jugendarbeit zu initiieren, zu entwickeln und zu be-
fragen: Was bedeutet exemplarische Praxis der Jungen-                                                                 Praxisentwicklungsoffensive“ ins Leben gerufen wurde,    gleiten und Praxisseminare als Weiterbildung für die
arbeit im Kontext Flucht?                                                                                             verrät mit nur zwei Worten, welche Fragen sich junge     Jungenarbeit im Kontext von Fluchterfahrungen und Mi-
                                                                                                                      Menschen in unserer Welt stellen: Wie bin ich, und wo?   grationsbiografien zu organisieren und durchzuführen.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW               Als exemplarische Jungenarbeit stellen wir die Praxis-   Wer bin ich, wer werde ich sein? Und wie verändere ich
begleitet mit dem Projekt „Irgendwie Hier!“ die aus-         projekte in dieser Broschüre vor, um Ihnen und Euch      mich, wenn ich hier lebe? Und auch: Was verändert sich   Die LAG Jungenarbeit NRW hat im Jahr 2020 drei Träger
gewählten Projekte sehr intensiv. In 2020 wurden 3           Bilder, Ideen, Anregungen zu liefern. Niemals um zu      um mich, habe ich einen Einfluss auf die Welt, gibt es   bei der Konzeption, Durchführung und Evaluation von
Projektkooperationen ausgeschrieben. Träger der päd-         sagen „So sollte es gemacht werden“, sondern immer als   auf mich eine Resonanz?                                  Praxisprojekten begleitet. Alle drei Projekte bewegten
agogischen Arbeit aus ganz NRW haben sich darauf ge-         Beispiel dafür, wie solche Arbeit aussehen könnte.                                                                sich im Feld der geschlechterreflektierten Pädagogik
meldet und ihr Interesse an einer gemeinsamen inhalt-                                                                 „Irgendwie Hier! Flucht – Migration – Männlichkeiten“    mit Jungen* und jungen Männern* im Blick auf Fluchtge-
lichen Arbeit geäußert. Besonders wichtig war uns eben,      Viel Spaß beim Lesen!                                    der LAG Jungenarbeit NRW wird vom MKFFI NRW geför-       schichten und im Kontext von Migrationsgesellschaft:
dass es nicht um eine reine Förderung geht, sondern                                                                   dert und war von Anfang an als ein bedarfsorientiertes
darum, ein Kooperationsprojekt auf die Beine zu stellen.     Malte Jacobi                                             Angebot für Kolleg*innen und Träger der Kinder- und      - „L‘HomMan“ des VKII Ruhrbezirk e.V. Dortmund
                                                             (Bildungsreferent, LAG Jungenarbeit NRW)                 Jugendhilfe (insbesondere in den Handlungsfeldern des
Der übergeordnete thematische Zugang ist in allen                                                                     SGB VIII, §§ 11-14) gedacht.                             - „Live und ohne Grenzen!“ von BorderlessTV / CAT
Projekten obligatorisch: Wie können wir Geschlechter-                                                                                                                          Cologne
themen im Kontext Flucht reflektieren, welche inter-                                                                  Intention des Projektes war die Unterstützung von
sektionalen Perspektiven ergeben sich aus Migrations-                                                                 Trägerstrukturen und Fachkräften, um exemplarische       - „ehrenMANN“ des IB West in Dormagen
zuschreibungen und Geschlechtersozialisation, wie                                                                     Praxis mit jungen männlichen* Geflüchteten entwickeln
können die Brille der Jungenarbeit und die Reflexion                                                                  zu können, Fortbildungsmöglichkeiten und fachlichen      Es galt, auch im Projektjahr 2020 relevante Themen
von Fluchtzusammenhängen hilfreich für die pädagogi-                                                                  Austausch zu bieten und gelingende Ansätze und Pra-      der Jungenarbeit mit flucht- und migrationserfahrenen
sche Arbeit sein?                                                                                                     xen multiplikatorisch landesweit zugänglich zu machen.   jungen Männern* zu identifizieren, in pädagogische

                                                                                                                 4    5
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
Konzepte zu übersetzen und deren Umsetzung zu unter-      aussetzung. Der Grund: Alle Leiter*innen der Projekte
stützen und zu evaluieren. In dieser Dokumentation        haben sich unermüdlich dafür eingesetzt, die Anpassung
werden die Projekte begleitet, um die Erkenntnisse und    an die neue Situation und die Veränderungen ihrer Kon-
Konzepte aufzunehmen, sie zu abstrahieren und dann        zepte mit Engagement und Weitsicht anzunehmen.
als Praxismodelle, welche exemplarisch für die pädago-

                                                                                                                                 ehrenMANN, Dormagen
gische Arbeit mit geflüchteten und migrationserfahre-     Die Pandemie war und ist eine Komplikation, ein Hin-
nen Jungen* stehen können, der Praxislandschaft NRW       dernis, aber kein unüberwindbares, und sie war für nie-
zur Verfügung zu stellen.                                 manden ein Grund, aufzugeben. Auch das ist ein – wenn-
                                                          gleich unfreiwillig auferlegtes – pädagogisches Mittel,
Nicht unerwähnt bleiben kann in der gesamten Einord-      das den Jungen* und Männern* in den Projekten zeigt:
nung des Projektjahres 2020 die Corona-Pandemie, die      Optimismus und Aufmerksamkeit, die jede*r erfahren
die Umsetzung der drei teilnehmenden Praxisprojekte       möchte, gehören auch zu den eigenen empathischen
in sowohl organisatorischer als auch terminlicher Form    Aufgaben in einer Gemeinschaft.
nachhaltig verändert, teilweise verschoben und durch-
gängig beeinflusst hat. Viele Termine konnten nicht       Schwierigkeiten sind oft nicht leicht zu lösen, aber Kon-
als Präsenzveranstaltung stattfinden, einige wenige im    takt zu vertrauten Menschen und Offenheit im Falle von
Sommer hingegen schon. Während für eine der Projekt-      Unsicherheiten ermöglichen auch in sonst erzwungenen

                                                                                                                          Projektporträt
gruppen generell keine großen Zusammenkünfte Teil         unpersönlichen Situationen emotionale Nähe und Moti-
des Konzeptes waren, haben sich in anderen Projekten      vation zur Fortsetzung begonnener Ideen und Projekte.
die Teilnehmenden nicht immer so treffen können wie
ursprünglich geplant.                                     Die anberaumten Praxisseminare („Intersektionalität
                                                          in der Jungenarbeit“, „Männer und Frauen in der Arbeit
Menschliche Nähe und empathischer Zugang im Mit-          mit Jungen“ und „Patriarchale Ehrkonzepte“) für alle
einander wären in vielen Wochen nicht schutzverord-       Projektleiter*innen fanden „in echt“ statt. Die Jahres-
nungskonform gewesen und konnten nur durch Neupla-        fachtagung im Projekt „Irgendwie Hier! Flucht – Migra-
nung und Abwandlung der Pläne gewährleistet werden.       tion – Männlichkeiten“ allerdings fand in digitaler Form
Pädagogische Strukturen enthalten aber immer nicht        statt, bei der die einzelnen Projekte in Workshopform
nur eine erzieherische, sondern natürlich auch eine       vorgestellt wurden.
soziale Komponente – eine, die sich nur schwerlich über
Internetverbindungen und Bildschirme einer dreidimen-
sionalen Wirklichkeit angleichen lässt.

Dennoch soll der Corona-Situation in dieser Dokumen-
tation kein allzu großer Raum gegeben werden, sie
wird in den einzelnen Texten schlicht wie ein weiterer
Umweltfaktor behandelt, wie beispielsweise das Wetter
oder eine andere klimatische oder geografische Vor-

                                                                                                                 6    7
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
ehrenMANN, Dormagen

                                                          Joest-Museum und intensiven Schul-Einheiten mit viel         Standort in Dormagen außerdem mit der Einrichtung

Nur 68 Minuten
                                                          praktischem Einsatz wurde deutlich: „Die Jungen* wer-        Sprung(s)chance für Jugendsozialarbeit und Jugend-
                                                          den offener, erzählen mehr über sich und ihre Familien,      berufshilfe vertreten. Auf die Gesamtschule gehen etwa

für die Frage: Bin ich
                                                          ihre Traditionen“, so Tobias Dirscherl. „Da können wir in    1.500 Schüler*innen. Beide Einrichtungen, das Dreizack
                                                          Gesprächen ansetzen.“ So konnten gemeinsam eige-             und die Sprung(s)chance, kooperieren eng mit der Schu-

ein ‚Ehrenmann‘?
                                                          ne Handlungstrategien entworfen und Hilfe auf dem            le, führen dort regelmäßig Projekte durch und begleiten
                                                          Weg zur emotionalem, sozialen und sexuellen Reife            junge Geflüchtete in den Integrationsklassen.
                                                          angeboten werden. Zwei weitere Exkursionen standen
                                                          zusätzlich zu den weiteren Treffen in der Schule aus,        „Besonders in den Integrationsklassen tauchen immer
Dormagener Neuntklässler* auf der Suche                   konnten dann aber aus Pandemiegründen nicht statt-           wieder die Themen Flucht, Männlichkeit und Identi-
nach Antworten: Warum denke ich so und                    finden. Die eine hätte die „ehrenMann“-Gruppe in einen       tät auf“, erklären Elmar Prinz und Tobias Dirschl, als
nicht anders?                                             Kletterwald führen sollen, die andere in einen Escape        sie das Projekt „ehrenMann“ der LAG Jungenarbeit bei
                                                          Room. „Die Gruppe konnte trotzdem in eine Vertrautheit       der Bewerbung um die Teilnahme an „Irgendwie hier!
DORMAGEN. Ist Brad Pitt männlicher als Fußball?           hineinwachsen“, erklärt Elmar Prinz. „Ausflüge hätten da     2020“ vorstellten. „Wir haben an den IB-internen Fach-
Denkt ihr, dass Gewalt zu Beziehungen dazu gehört?        noch eine besondere Intimität und zudem dieses Wissen        tagungen ‚Gendersensibles Arbeiten‘ teilgenommen und
Will ich mit 30 einen Bugatti fahren? Wie sieht es        vermitteln können: ‚Hier kann ich alles sagen, das ist       bereits vorher Workshops am Boys‘ Day durchgeführt,
mit Heiraten aus? Und woher soll man eigentlich die       in Ordnung.‘ Wir wollen, dass die Jungen* die Chance         die sich mit dem Thema ‚Rollenbild‘ Mann beschäftigt
Antworten auf all diese Fragen wissen? Im „ehren-         haben, sich Gedanken zu machen. In aller Ruhe.“ Die          haben. Das hat in uns den Wunsch geweckt, den Fokus
Mann“-Projekt des Internationalen Bund West gGmbH         Ausflüge wurden mit besonderen, praktischen Aufgaben         in einem längerfristigen Projekt auf die Jungenarbeit in
suchten Elmar Prinz von der Beratungsstelle Sprung(s)     während der Präsenzzeiten in den Räumlichkeiten des          Dormagen zu legen – und Jungenarbeit so in Dormagen
chance und Tobias Dirscherl vom Kinder- und Jugend-       Dreizack in Ansätzen ersetzt, eine Kompensation auf          zu etablieren.“ Ihr Plan: Durch „Irgendwie hier! 2020“
zentrum Dreizack in Dormagen zusammen mit neun bis        allen Ebenen konnten diese selbstverständlich nicht          einen Türöffner zu schaffen für männliche* Jugendliche,
zwölf Jungen* mit Fluchterfahrung oder MIgrationsbio-     bieten.                                                      damit sie sich auch längerfristig und auf anderen Ge-
grafie nach Antworten auf diese Fragen.                                                                                bieten Unterstützung und Hife holen können.
                                                          Ziel des Projektes ist es, den Jungen* Orientierung in der
                                                          Vielfalt von Milieus, Lebensstilen, Kulturen und Wahl-       Unter dem Projekt-Titel „ehrenMann“ mit dem Plan, bei
Große Schritte trotz wackliger Füße                       möglichkeiten zu geben, mit denen sie täglich konfron-       der „Identitätsfindung vom Jungen* zum Mann* mit be-
„Wir beginnen mit Einschätzungen – lassen die Jungen*     tiert werden. „Rollenbilder, Stärken, Ängste, Zusammen-      sonderer Berücksichtigung kultureller Unterschiede“ zu
bei unseren Treffen zunächst aus dem Bauch heraus         leben in einer Gemeinschaft, Akzeptanz der sexuellen         helfen, bewarben sich die beiden Vertreter der IB-Ein-
einordnen, was sie empfinden, und sprechen dann darü-     Orientierung anderer Menschen – all das findet seinen        richtungen um die Teilnahme an „Irgendwie hier! 2020“.
ber“, so Elmar Prinz. Das Konzept „ehrenMann“ gehörte     Weg in unsere Projekttreffen.“                               „Jungen* müssen sich heute in einer Vielfalt von Milieus,
in die Reihe der Praxisprojekte von „Irgendwie Hier!                                                                   Lebensstilen, Kulturen und Wahlmöglichkeiten zurecht-
Flucht – Migration – Männlichkeiten“, es fand in dafür    Gendersensibel an Rollenbildern arbeiten                     finden. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen
bereitgestellten Unterrichtseinheiten von je 68 Minuten   Zum Verständnis der räumlichen Verortung muss er-            wandeln sich auch die Einstellungen und Verhaltenswei-
in der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule statt. „Wegen      klärt werden: Das Kinder- und Jugendzentrum Dreizack         sen. Sie sind heute kritischer gegenüber vorgegebenen
der Schulschließung stand unsere Planung eingangs auf     gehört zum Internationalen Bund IB West gGmbH für            Normen, Regeln und starren Abläufen. Autoritäten, Hie-
wackligen Füßen, aber dann sind wir schnell mittendrin    Bildung und soziale Dienste und ist angegliedert an          rarchien und Traditionen werden kritisch hinterfragt“,
gewesen und konnten sehr spannende Entwicklungen          das Schulgelände der Bertha-von-Suttner-Gesamtschu-          so Elmar Prinz. Zu Recht verlangten die Jungen* „nach
erleben.“ Bei einem ersten Ausflug ins Rautenstrauch-     le (BvS) in Dormagen. Der IB West gGmbH ist an dem           Argumenten und Bergündungen“. Prinz: „Sie wollen sich

                                                      8   9
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
ihre eigenes Urteil bilden, ihren eigenen Stil entwickeln.   Drei Schwerpunkte im Projekt
Lebensrelevanz und Authenzitität sind wichtig.               In dem Projekt „ehrenMann“ ging es um drei inhaltliche
                                                             Schwerpunkte:
Wegen dieser Vielzahl und Unübersichtlichkeit der
Wahlmöglichkeiten sind Jungen auch heute noch auf            Rollenbild des Mannes (auch in anderen Ländern)
der Suche nach Antworten auf Sinnfragen und Orientie-        - Was ist männlich?

                                                                                                                                   L‘HomMan, Dortmund
rung für ihr Leben.“                                         - Was macht einen Mann aus? (Ehrenmann/Respekt)
                                                             - Wie stelle ich mir mein Leben mit 30 vor?
Inhaltliche Schwerpunkte
Es sei angemerkt, dass die Wichtigkeit der Wertethema-       Stärken und Ängste
tik auch mit Blick auf Zeit und Respekt für sich selbst      - Wie mutig muss man(n) sein?
und füreinander in der Planung des Projekts eine große       - Kann ein Mann Schwäche zulassen?
Rolle gespielt hat. Tobias Dirscherl dazu: „Jungenzeit       - „Faires Kämpfen“:
ist Lebenszeit. Sie läuft wie jede andere, ist gleich viel       - Umgang mit Wut
wert und braucht Unterstützung. Um diese besondere               - Verständnis und Einhalten von Regeln
Zeit sinnvoll zu erleben, braucht es Menschen, die sich
mit ihnen in eine wacklige Position begeben, gut ge-         Team & Kooperation

                                                                                                                            PROJEKTPORTRÄT
sichert sind und im besten Falle Antworten auf wichtige      - Teamregeln
Lebensfragen finden oder bei der Suche nach Antworten        - verschiedene Stärken und wie sie sich ergänzen
behilflich sein können.“                                     - Auseinandersetzung mit dem Thema Mann durch das
                                                             Bespielen eines selbst erstellten Escape Rooms zum
                                                             Thema Mann

                                                             Geplant waren, mit Ausnahme der Wochen, in denen
                                                             die Schulen in NRW wegen der Pandemie geschlossen
                                                             blieben, wöchentliche Gruppenarbeit in einer festen
                                                             Konstellation durchzuführen. Von den Exkursionen
                                                             konnten zwei der drei im Projekt-Portfolio angegebe-
                                                             nen umgesetzt werden.

                                                             Durch das Projekt sollten die Jungen* die vielfältigen

Schritt
                                                             Hindernisse, auch im Hinblick auf ihre Fluchterfahrung,
                                                             auf dem Weg vom Jungen* zum Mann* bewusst wahr-
                                                             nehmen lernen. Sie sollten eigene Handlungsstrategien
                                                             entwickeln. Die feste Gruppe sollte dabei als Hilfe-

Weise
                                                             stellung bei der emotionalen, sozialen und sexuellen
                                                             Entwicklung und Reife dienen. Das Ziel innerhalb der
                                                             Gemeinschaft sollte sein, soziale Kompetenz zu erwer-
                                                             ben und männliche Identität in der Gruppe zu entfalten.

                                                                                                                 10    11
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
L‘HomMan, Dortmund

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Mehr als ein Druck,
                                                           großem Erfolg. „Eva Busch, eine weiße Künstler*in aus         hörigkeit selbst zu ermächtigen, durch Gruppengesprä-
                                                           dem Kollektiv atelier automatique in Bochum hat Siebe         che eigene Erfahrungen als kollektive wahrzunehmen,

der Eindruck macht
                                                           mit dem Logo des Projekts ‚L’HomMan‘ und dem Logo             Gefühle und eigene Betroffenheit sprachlich formu-
                                                           des VKII Ruhrbezirk vorbereitet.“ Die teilnehmenden           lieren zu können. Die Gruppe sollte über die kreative
                                                           Männer* konnten bei Picknick-Atmosphäre und Musik             und sportliche Betätigung in den Austausch kommen
                                                           T-Shirts bedrucken. Megha Kono-Patel: „Sehr gut kam           und erfahren, dass sie nicht nur auf die Flucht- und /
Empowerment für Männer* of Color                           das Logo an, das Patu Patu, eine Illustrator*in aus Berlin,   oder Migrationsgeschichte reduziert adressiert werden.
wird bei „L’HomMan“ auf allen Ebenen                       entworfen hatte, da sich die Charaktere an Fotos der          Außerdem sollten auf dieser Basis Männlichkeitskon-
gefördert                                                  Männergruppe orientieren.“                                    zepte reflektiert werden und Referent*innen of Color/
                                                                                                                         Schwarze Referent*innen als Repräsentant*innen und
DORTMUND. „Rassismus muss immer mitgedacht                 Verschiedene Aspekte flossen bei Einheiten wie dieser         Vorbilder kennengelernt werden.
werden, immer“, sagt Megha Kono-Patel vom Verein           in die Projektarbeit mit ein. Auf allen Ebenen wird Em­
Kamerunischer Ingenieur*innen und Informatiker*in-         powerment gefördert. Megha Kono-Patel: „Zum Beispiel,         Im Juli gab es für die Teilnehmenden pandemiebedingt
nen (VKII) Ruhrbezirk e.V., der eins der Praxisprojekte    indem wir die Frage nach der Heterogenität zu beant-          einen Online-Vortrag von Dr. Vanessa Eileen Thomp­
im Rahmen von „Irgendwie Hier! Flucht – Migration –        worten suchen, und niemanden auf seinen Körper oder           son, die an der Goethe Universität Frankfurt und nun
Männlichkeiten“ durchführte. Daher, so die Leiterin des    Stereotypen reduzieren. Unter anderem steht in einem          in Bern forscht. Sie hat den Begriff des Polizierens zum
Projekts „L’HomMan“, sei es das Ziel, Rassismus deutlich   Workshop das Thema ‚Gefühle und die Diskrepanz der            Thema gemacht. „Der Vortrag war selbstermächtigend
zu benennen und darüber hinaus auch Männlichkeit           Rollenbilder von schwarzen und weißen Männern‘ im             für rassifizierte Teilnehmende, da die Gewalt, die sie im
und Repräsentanz zu thematisieren.                         Vordergrund. Wir wissen, dass Männer* of Color mehr           Alltag durch das Zurechtweisen von weißen Menschen,
                                                           Sicherheiten benötigen und wollen die erkennen und            weißen Institutionen und weißen Räumen erfuhren,
Gefühle und Diskrepanz der Rollenbilder                    erarbeiten.“                                                  einen Begriff bekam und dadurch eine strukturelle
„Wenn wir ein Treffen im Park anberaumen, erleben                                                                        Ebene dessen sichtbar gemacht wurde“, erklärt Megha
wir immer wieder, wie sehr ‚racial profiling‘ in unserem   Pädgogische Perspektive                                       Kono-Patel. „Der Beitrag diskutierte Racial Profiling aus
Alltag präsent ist. Offene Anfeindungen und polizeiliche   Der Verein Kamerunischer Ingenieur*innen und Infor-           einer postkolonial-feministischen Perspektive und mit
Kontrollen sind an der Tagesordnung.“ Deswegen sei es      matiker*innen Ruhrbezirk ist ein lokaler Akteur für die       Bezug auf gegenwärtige Kämpfe gegen Racial Profiling
wichtig, sichere Orte zu schaffen, an denen ein Umgang     afrikanische Diaspora. Idee des Projektes in Zusammen-        in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Inspiriert
mit dem Verhalten der Gesellschaft und ein Stärken ei-     arbeit mit der LAG Jungenarbeit NRW ist es für Schwarze       durch einen postkolonialen Blick(-wechsel) wurden
ner eigenen Selbstsicherheit erarbeitet werden können.     Männer*/Männer* of Color einen Empowerment-Raum zu            Widerstände gegen rassistisches Polizieren sowie trans-
Ob das in der Öffentlichkeit oder in einem virtuellen      schaffen, der ohne gesellschaftliche Zuschreibungen auf-      formative Alternativen diskutiert.“
Raum aufgrund von Pandemie-Maßnahmen geschehe,             grund ihrer Körper gestaltet wird. So galt es aus pädago-
sei dabei irrelevant. Immer gelte: „Der Redebedarf ist     gischer Perspektive, in diesem Jahr Konzepte von Männ-

                                                                                                                            Druck
groß, und die Notwendigkeit, die eigene Betroffenheit      lichkeit, Rassismus und Repräsentanz als Querschnitt in
und Männlichkeitskonzepte zu reflektieren, ebenso.“        Angeboten sowohl zu thematisieren, aber vor allem in
                                                           der Gestaltung der Angebote mitzudenken.
Zielgruppe des Projekts sind junge Männer* of Color.

                                                                                                                            frisch
„Zu dem Projekt gehören Praxiseinheiten wie zum Bei-       Schon im Vorjahr konnte der Verein Kamerunischer In-
spiel eine Filmwerkstatt, Fußballtraining und eine Sieb-   genieur*innen und Informatiker*innen Ruhrbezirk erste
druckwerkstatt.“ Die hat unter Pandemie-Bedingungen        Angebote im Rahmen von „Irgendwie hier!“ schaffen.

                                                      12   13
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
Performative Männlichkeit                                   „Dieser Safer Space hat eigene Schutzmöglichkeiten für
Im August fand im Rahmen von „Irgendwie hier! 2020“         Betroffene fokussiert, sowie durch den Pass national
der Empowerment-Workshop für Betroffene von Racial          Zugehörige BIPoC angeregt, dieses Privileg im Kontext
Profiling mit dem Titel „Erfahrung, Wirkung, Widerstand”    Racial Profiling zu nutzen.“

                                                                                                                                  Live und ohne Grenzen!, Köln
statt. Mohamed Wa Baile, einer der Referent*innen, hat
ein Buch mit diesem Titel veroffentlicht, er ist Biblio-    Ab September waren Präsenztermine zum Fussballspie-
thekar an der Universität Bern und Aktivist* im Kontext     len geplant.
Polizeiliche Gewalt. Er hielt den Workshop zusammen
mit Mira Koch. Sie ist ebenfalls Aktivist*in aus Bern und   Im November standen an zwei aufeinanderfolgenden
hat bereits mehrere Veranstaltungen/Workshops in            Tagen die Filmwerkstatt und der Workshop mit dem
diesem Kontext organisiert/durchgeführt.                    Titel „Performative Männlichkeit II“, der vom VKII ent-
Megha Kono-Patel erklärt: „Wir haben bei diesem             wickelt wurde, um Männlichkeit rassismuskritisch zu
Workshop keine Bilder gemacht, auf denen Menschen           reflektieren, auf dem Programm des Projekt-Portfolios.
erkennbar sind, weil über rassistische Vorfälle gespro-     „Bei dem Workshop wurden queere Perspektiven
chen, Emotionen geteilt und Erfahrungen ausgetauscht        miteinbezogen und mediengestützt organisiert“, so
wurden.“ Außerdem, so die Leiterin, haben auch illegali-    Megha Kono-Patel.
sierte Menschen am Workshop teilgenommen.

                                                                                                                           PROJEKTPORTRÄT
                                                                                                                 14   15
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
Live und ohne Grenzen!, Köln

                                                              line-Schulungen, in denen er den Rezipient*innen Tipps     mit einem breiteren Publikum zu teilen. Dabei hat sich

Grenzenlos on air – für
                                                              bei der Umsetzung von Social-Media-Ideen gibt.             der medienpädagogische Ansatz als zentral herausge-
                                                                                                                         stellt. Die 15 Sendungstermine sind sowohl live als auch

alle*: Online und sicher
                                                              Zum anderen auf der menschlichen, sozialen Seite. „Die     im Archiv in den sozialen Medien von BorderlessTV zu
                                                              Themenauswahl unserer Studiogäste ist breit gefächert,     sehen und regen durch die Kommentarfunktion der So-

Fernsehen machen
                                                              weil wir niemanden begrenzen.“ Ob es um Ausbildung,        zialen Medien zum Austausch mit Freunden und Alters-
                                                              Sport, Männlichkeit oder Flucht geht – der Gast* ist       genossen an.
                                                              völlig frei und darf sich in der Atmosphäre des kleinen,
                                                              aber professionellen Studios sicher und unbefangen         Im Workshop, der im Rahmen der Projektreihe „Irgend-
Von der Kulturszene in die Jungenarbeit                       fühlen. Bashir beispielsweise spricht über seinen syri-    wie hier! 20202“ stattfand, stellten die Leiter*innen Julia
und in die Medienlandschaft: Borderless TV                    schen Ausweis, der irgendwann zwischen dem Moment,         Haarmann und Alaa Nassif Makki konkrete Beispiele
präsentiert Leben und Lehren live                             als er Damaskus verlassen musste, und der Ankunft in       aus dem Projekt vor (teilweise namentlich, teilweise
                                                              Köln einen Riss bekam. „Wie meine Identität“, sagt er.     anonym) und erklärten, welche Themen bearbeitet
KÖLN. Haider ist Journalist, er kommt aus dem Irak.           Die habe auch einen Riss bekommen. „Was hat mich zu        wurden, welche Herausforderungen sich ergaben und
Yasser studiert und hat einen YouTube-Kanal. Amer hat         dem gemacht, der ich bin? Was bringt mir meine Ent-        welche Fragen und Aussagen einzelner Teilnehmender
Träume für die Zukunft. Bashir ist aus Syrien und sein        scheidung, her (nach Deutschland) zu kommen?“              wichtig waren.
Ausweis hat einen Riss. Ganz unterschiedliche Men-
schen, die offen über sich und ihr Leben sprechen – in        Die Livestreams sind Sendungen, die berühren. Sendun-      „Wir haben das Projekt an junge Erwachsene im Alter
einem Online-Livestream. Mit ihnen und zahlreichen            gen, die gut recherchiert sind, unterhalten und fach-      von 17 bis 27 Jahren gerichtet, die sich mit und ohne
weiteren jungen Männern* hat Borderless TV in Köln            lich moderiert werden. „Live und ohne Grenzen!“ gibt       Fluchterfahrung und Zuwanderungsgeschichte melden
(CAT Cologne) eine Projektreihe mit dem Titel „Live und       individuelle Einblicke in die Erfahrungen und Lebens-      konnten“, erklärt Alaa. „Der Zugang erfolgt in der Regel
ohne Grenzen!“ begonnen, die ein Praxisprojekt von            wirklichkeiten junger Geflüchteter* und schafft einen      über Vertrauenspersonen, Multiplikatoren, Lehrer*innen
„Irgendwie Hier! Flucht – Migration – Männlichkeiten“         transkulturellen wie mehrsprachigen Erlebnis- und Be-      und persönliche Kontakte unserer Mitarbeiter*innen
geworden ist.                                                 gegnungsraum. Teilhabe und Wissensvermittlung ohne         und Workshopleiter*innen.“
                                                              Hürden bilden so die Stützen des Konzepts, mit dem
Der Studiogast ist völlig frei                                sich Borderless TV (CAT Cologne) als Praxisprojekt bei
„Wir hatten schnell Ideen für partizipative Möglich-          „Irgendwie hier! 2020“ beworben haben.
keiten in der Corona-Krise“, erklärt Leiterin Alaa Nassif
Makki. „Workshops haben wir online angeboten und              Zugang über Vertrauenspersonen
die Kommunikation auch über soziale Medien vorange-           BorderlessTV ist seit 2018 mit eigenem Studio in der
trieben.“ Mit der Folge, dass die Zuschauer*innen nicht       Kölner Südstadt verankert und mit einem großen Netz-

                                                                                                                                   FILM
nur aus Köln und NRW, sondern aus ganz Deutschland            werk aktiv. Das Projekt mit der LAG Jungenarbeit NRW
und sogar über die Grenzen hinaus kommen. Passend zur         formiert sich als wöchentlicher Livestream, in welchem
Idee, schließlich sind die Livestreams „grenzenlos on air“.   die Akteur*innen sich medial öffentlich mit biografi-

                                                                                                                                     reif
                                                              schen und gesellschaftlichen Themen rund um Migra-
Das Projekt setzt auf verschiedenen Ebenen an – zum           tion und Geschlecht befassen.
einen auf der technischen Seite. Zein Al Salem, seit vier
Jahren in Deutschland, ist nicht nur einer der Studiogäs-     Es geht darum, gleichzeitig Schutzräume für Jungs* und
te*, sondern bei Borderless TV auch Referent in On-           junge Erwachsene zu schaffen und relevante Inhalte

                                                       16     17
Praxisprojekte - Dokumentation - Flucht - Migration - Männlichkeiten 2020 - LAG Jungenarbeit
Während des Förderzeitraums im Jahr 2020 waren 15             Für das technische Know-How und das Vermitteln von

                                                                                                                                             ehrenMann
     Termine geplant, bei denen jeweils eine Sendung im            Fachwissen rund um Online- und Film-Medien hat Zein
     Livestream übertragen wurde. Im Studio haben die              Al Salem gesorgt, und immer wenn das „real life“-Lehren
     Projektleiter*innen für jeden Teilnehmer* jeweils einen       aus Pandemie-Gründen nicht möglich war, eben per
     Safe Space geschaffen. Jede*r wurde ermutigt, eigene          Video-Anleitung.
     Beiträge und gegebenenfalls Interviewpartner*innen
     vorzuschlagen. Der Themenspielraum wurde von                  BorderlessTV wollte mit der Projekt-Teilnahme auch
     Projektbeginn an weit gefasst. Alaa Nassif Makki: „Wir        fortsetzen und vertiefen, was schon vorher Teil des Kon-

                                                                                                                                   Vor Ort in Dormagen,
     haben nichts vorgegeben, die Schwerpunkte hätten              zeptes war: Die Förderung junger Menschen mit Flucht-
     alles sein können von ‚Ausbildung und Studieren in Köln‘      und/oder Migrationshintergrund sowie ihre Integration
     über ‚Mein Lieblingsmusiker‘, ‚Mein Sportverein‘ bis hin      in lokale Strukturen. Nach Erfahrungen in der Frauen-
     zu ‚Jung(e) sein‘ war alles möglich.“ Einziger inhaltlicher   und Mädchenarbeit hatten sich die Projektleiter*innen
     Fokus in der Vorgabe: Die Themen sollten inbesondere          die Vertiefung in Sachen „Männlichkeit“ gewünscht.
     junge Männer betreffen und interessieren – und das
     Thema Männlichkeit reflektieren.

     „Für uns war der geschlechtspädagogische Ansatz noch
     neu und wir haben für, mit und in dem Projekt im Rah-
     men von ‚Irgendwie hier! 2020“ unsere Kompetenzen
     in diesem Gebiet geschult und ausgebaut“, erklärt Julia
     Haarmann.

     Auch mal mehr „Männlichkeit“, bitte
     „Wir wollen mit dieser Reihe an Live-Sendungen junge
     Teilnehmer* darin unterstützen, ihren Raum und Platz in
     der Gesellschaft zu finden“, so stand es im Konzept-Port-
     folio. Wie das gelang, wird im Text ab Seite 34 deutlich.
     „Die Sendungen waren darauf ausgelegt, unterhaltsam,
     gut recherchiert und mit zusätzlichem filmischen Mate-
     rial angereichert zu werden“, so Alaa Nassif Makki.

Die Sendungen im Projekt „Live und ohne
Grenzen!“ werden teils auf Deutsch, teils
auf Arabisch bei BorderlessTV ausgestrahlt.
Mit dem Community Art Team (CAT) Colog-
ne hat BorderlessTV einen internationalen
Partner in der Zusammenarbeit.
                                                                                                                        18    19
ehrenMann, Dormagen

                                                             mit der Schule möglich gemacht. Die Jungen sollten           auf dem Entwurf unseres Ablaufplans.“

Von Gefühls-Activity,
                                                             außerdem aus der Jahrgangsstufe 9 sein – die ursprüng-       Tatsächlich sind zum allerersten der Termine nur sieben
                                                             liche Planung, jüngere Schüler anzusprechen wurde im         der in der entsprechenden Jahrgangsstufe angesproche-

Empathie-Training
                                                             Zusammenhang mit durch Schulschließung bedingten             nen zwölf Jungen* gekommen. Der Grund: Das Wetter.
                                                             Unterrichtsausfall geändert. Was in einem engeren            Und ausnahmsweise nicht die Pandemie. „Es gab eine

und... Fast Food
                                                             Projektblock hätte stattfinden sollen, wurde über einen      Sturmwarnung“, erklärt Elmar Prinz, „und in den Nach-
                                                             längeren Zeitraum gestreckt.                                 barstädten hatten die Schüler*innen schulfrei.“ Verunsi-
                                                             Jetzt, im Dezember, sind die Jungen* miteinander und         chert ob der Lage blieben einige Dormagener Jugend-
                                                             mit den Projektleitern schon gut vertraut, weil der          liche auch zu Hause. Los ging es trotzdem mit ganzer
In Dormagen reflektieren die Teilnehmer*                     Raum ihnen „gehört“. Und weil sie alle eine mehr oder        Kraft.
des Projekts „ehrenMann“ sich und die                        minder aktuelle Flucht- oder Migrationsgeschichte
zentrale Frage: Was ist „männlich“?                          mitprägt. Hier muss sich niemand (mehr) erklären. Hier       Wann ist ein Mann* „ein Mann*“?
                                                             kann sich jeder reflektieren. Hier muss sich aber jeder      Keinem der Teilnehmenden war vorher klar, was ihn er-
DORMAGEN. Die Jungen* im Sportraum des Kinder- und           auch herausfordernde Fragen gefallen lassen wie diese        warten würde. „Wir haben ein Poster mit den Fragestel-
Jugendzentrums Dreizack im Souterrain der Bert-              von Elmar Prinz:                                             lungen des Projektes beim ersten Termin aufgehängt“,
ha-von-Suttner-Gesamtschule in Dormagen sitzen auf           „Was helfen Regeln denn, wenn es jeden unterschiedlich       so Elmar Prinz.
den Bänken, die im Rechteck des Raumes aufgestellt           betrifft?“ Kurze Stille.
sind. Es ist der vorletzte Termin in dieser Konstellation,   Hassan, der eingangs noch etwas ironisch angekündigt         Wann ist ein Mann* „ein Mann*“? Was ist männlich?
bald wird das Projekt „ehrenMann“ als Teil von „Irgend-      hatte, nichts sagen zu wollen, schließlich habe er in der    Was macht einen Mann* aus? Wie stelle ich mir mein
wie hier! 2020“ abgeschlossen sein.                          Vorwoche schon so viel erzählt, schaltet sich nun doch       Leben mit 30 vor? Wie mutig muss man(n) sein? Kann
                                                             ein: „Es kann ja auch sein, dass der eine Mensch das will,   ein Mann* Schwäche zulassen? Wie gehen wir mit Wut
                                                             und ein anderer das nicht.“ Das – damit ist das Spiel,       und Aggressionen um? Wie können wir kooperieren, die
Herausfordernde Fragen müssen sein                           das Kabbeln, das Aus-dem-Gleichgewicht-Bringen ge-           Stärken der anderen ergänzen, ein Team werden?
„Warum wir Regeln brauchen? Vielleicht, weil es sonst        meint. „Genau“, lobt Elmar Prinz – wer Regeln aufstelle,
wehtut?“ beantwortet Alper die Frage auf dem White-          gebe allen Teilnehmenden die Möglichkeit, vor einem          „Alles Fragen, die die Jungen* sofort spannend fanden
board vor dem Turnmatten-Wagen mit einer Gegen-              Spiel oder einer Aufgabe zu wissen, ob sie sich darauf       und auch erstmal salopp kommentieren mussten“, er-
frage. Sieben Jungen* aus der „ehrenMann“-Gruppe             einlassen möchten oder nicht.                                innern sich die Projektleiter. „Um erste Ansätze einer
sind heute da, an anderen Terminen waren es neun                                                                          Sicherheit im Miteinander zu schaffen, haben wir dann
oder zehn, manchmal sogar zwölf. „Die Teilnahme              Sieben Einheiten und drei Exkursionen                        ein bekanntes Kennenlern-Spiel, das Vier-Ecken-Spiel,
war von Anfang an freiwillig, aber wir haben erwartet,       Wer aus der Gruppe beim ersten „ehrenMann“-Termin            gemacht, in dem die Jungen sich die Kategorien, also
dass die Jungen* nicht sporadisch kommen, sondern            vielleicht noch mit einem alterstypischen Hinter-            Ecken, selbst ausgesucht haben.“
sich für das Projekt entscheiden“, erklärt Elmar Prinz       gedanken („Alles ist besser als Schule“) in den Raum
von der Sprung(s)chance (Jugendcafé und Beratungs-           geschlendert kam, war nach der finalen 68. Minute            Die, die aus Syrien kommen, stellen sich in die eine
stelle) eine der Voraussetzungen, um bei „ehrenMann“         der Einheit gespannt auf die nächste. „Wir haben die         Ecke, die mit drei Geschwistern in eine andere, wer
dabei sein zu können. Die Teilnehmenden sollten alle         gleiche Länge der hier an der Schule üblichen Stunden        gerne Fußball spielt in wieder eine andere und so fort
Schüler der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule sein, das        als Vorgabe genommen, und geplant, uns alle 14 Tage          – und natürlich kann und muss gewechselt werden. Der
Projekt hat der Internationale Bund West gGmbH, dem          mittwochs in der ersten Stunde zu treffen“, erklärt          Vorteil: „Die Bewegung sorgt dafür, dass die Jungen*
das Jugendcafé „Sprung(s)chance“ und das Kinder- und         Tobias Dirscherl vom Kinder- und Jugendzentrum Drei-         lockerer werden, sich entspannen und über die Einord-
Jugendzentrum „Dreizack“ angehören, in Kooperation           zack. „Sieben Einheiten und drei Exkursionen standen         nung hinaus mehr von sich erzählen.“ Und die höchste

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Erkenntnis ganz automatisch mitnehmen: Niemand               listischen Einordnungen bezüglich Gehaltsvorstellung,        kann im Gespräch weitergearbeitet werden, um Rollen-        lich zu machen, dass diese den Umgang in dem Raum
passt in nur eine Ecke, in nur eine Schublade – auch         Berufsplanung und Persönlichkeitsentwicklung.                bilder, Stereotype und Anforderungen zu reflektieren.       bestimmt.
nicht die Jungen*, die bis dato vielleicht von außen die-
se Schublade oder Ecke aufgebürdet bekommen haben.           „Pädagogisch sind solche starken Ausschläge in die ver-      Das Gespräch im weiteren Verlauf der Stunde drehte          Mit dem Lernen von Körperlichwahrnehmung und sen-
Ein stärkendes Erlebnis schon in der ersten Stunde.          schiedenen Richtungen der Rollenvorstellungen super          sich um die Frage „Was, wenn dein bester Freund auf         siblem Körperkontakt lag auch das Thema des letzten
                                                             in einer relativ kleinen Gruppe“, erklärt Elmar Prinz.       Jungs stehen würde?“ Auch hier reichten die Reaktionen      Termines auf dem Tisch: „Ist es peinlich einen ande-
„Wir haben uns beide Notizen gemacht – zwar können           Eine von außen (und oberflächlich) homogen wirkende          von stark bis entspannt – während die einen diese Situ-     ren Jungen zu berühren? Wie funktioniert männliche
wir uns viel merken, aber manche Familienkonstellatio-       Gruppe, die in sich stark in den Ansichten variiert, biete   ation als „eklig oder peinlich“ bezeichnen würden, wäre     Nähe?“
nen, bestimmte Vorgeschichten und Lebensumstände             sehr gute Ansätze, um die Gespräche zum Thema Männ-          das für andere hingegen kein Problem. Eine Freund-
würden auch für die weitere Arbeit mit den Jungen            lichkeit und Flucht bzw. Migration aus verschiedenen         schaft müsse, so einige der Jungen*, nicht beendet wer-     Für die Sozialpädagogen ein Anlass, der Runde einen
wichtig werden“, so Elmar Prinz, „das wussten wir.“ Und      Blickwinkeln zu beleuchten. „In einem weiteren Punkt         den, weil der Freund sich in einen verliebe – auch nicht,   Raum für Gedanken und Gefühle zu eröffnen. „Es sind
er schmunzelt: „Welche Hobbys wer hat, das kriege ich        ging es noch um das Thema Kindererziehung und auch           wenn man selbst nicht in ihn verliebt sei. Im Gespräch      Ängste, die da mit reinspielen“, erklärt Elmar Prinz.
auch so abgerufen.“                                          dort gingen die Meinungen weit auseinander – wie sehr        haben die Projektleiter die verschiedenen Standpunkte       „Ängste, die zum Teil in Religionen, Kulturen und Le-
                                                             sollte es denn wichtig sein, dass auch ein Mann dem          mit den Jungen* erörtert und eingeordnet.                   bensumständen verankert sind.“
Familienvater oder Lamborghini-Fahrer?                       Kind zeige, wie das Leben funktioniere.“
Im nächsten Schritt ging es direkt an die härteren                                                                                                                                    Besprochen wurde, ob Berührung zwischen Jungen*
Fragen, aber noch immer in der Spielphase der vier           Brad Pitt mit nacktem Oberkörper                             Raum für Gedanken und Gefühle                               sich gut anfühlen kann, ob man das mag, ob es sinn-
Ecken: „Stell dich in diese Ecke, wenn du denkst, dass       In einer weiteren Einschätzungsübung bekamen die             „Bei jedem neuen Termin haben wir immer auf den             voll wäre überhaupt nach Geschlecht zu unterscheiden
Männer* körperlich stark sein sollten. Oder stell dich in    Jungen* des „ehrenMann“-Projekts eine Vielzahl von           vorherigen zurückgeblickt, um das Besprochene noch          oder ob man per se Schwierigkeiten damit hat, körper-
diese Ecke, wenn du findest, dass Haushalt Frauensache       Fotos – etwa 15 bis 20 – hingelegt, die es einzusortieren    mal aufzurufen“, so Elmar Prinz. „Beim zweiten Termin,      liche Nähe mit fremden Menschen zuzulassen. Eine
ist. Und in diese Ecke, wenn du findest dass Pilot ein       galt in zwei Kategorien: „wenig männlich“ und „sehr          als alle zwölf Teilnehmer* dabei waren, mussten wir         gute Gelegenheit, um die Homophobieproblematik zu
Männerberuf ist. Wenn gar nichts auf dich zu trifft, bleib   männlich“.                                                   allerdings auch noch organisatorische Dinge bespre-
einfach in der Mitte stehen.“ Ein interessanter Moment,                                                                   chen – wie beispielsweise die zu diesem Zeitpunkt
wie sich schnell herausstellte – weil die Anschlussfrage
lautete: „Warum ordnest du dich genau da ein, wieso
                                                             Tobias Dirscherl: „Da ist etwas sehr Interessantes
                                                             passiert – Bilder von, wie wir dachten, sehr männlich
                                                                                                                          noch geplanten drei Ausflüge.“ Dass es nur einen
                                                                                                                          geben können würde, wollte zu diesem Zeitpunkt noch
                                                                                                                                                                                      schwul oder was?!
denkt ihr so und nicht anders?“                              wirkenden Personen, wie beispielsweise einem Brad Pitt       keiner glauben. „Außerdem mussten wir die Einver-            Bei homophoben Äußerungen geht es oft um ge-
                                                             mit nacktem Oberkörper, wurden neben zwei küssen-            ständniserklärungen für Film- und Fotoaufnahmen              sellschaftliche Heteronormativität. Die Jungs* haben
Schnell wurde deutlich: Rollenvorbilder sind allen           den Männern* als wenig männlich eingeordnet. Mit             verteilen.“ Danach knüpfte die Stunde an die vorherige       gelernt, dass da etwas anders oder komisch dran ist.
Jungen* wichtig. Für die einen ist es das Bild der tra-      Vorsicht und Humor als Schutzmechanismus kommuni-            an, und diesmal nicht nur theoretisch – körperliche          Das verunsichert sie. Auch kennen wir die Dynamik,
ditionellen Aufteilung Frau (zu Hause)/Mann (Arbeit),        zierten die Jungen*, dass ‚wenig männlich‘ eben schnell      Nähe sollte an diesem Tag das Thema sein. „Mit ver-          dass verunsicherte Männlichkeit sich über Ablehnung
das vorrangig wichtig ist – aber mit der Begründung:         auch als ‚schwul‘ gilt. Andere Kategorisierungen, wie        schiedenen Methoden wollten wir den Jungen einen             von scheinbar Nicht-männlichem stabilisiert. Die
„Aus Respekt vor der Frau verlangen wir nicht, dass          beispielsweise Mike Tyson bei ‚sehr männlich‘ , waren        achtsamen Umgang mit dem eigenen und mit anderen             Jungs* vergewissern sich selbst und gegenseitig, wie
sie arbeiten geht.“ Für einen anderen der Teilnehmer         wie erwartet.“                                               Körpern nahe legen.“ Bei Übungen zu Körperlichkeit           hetero (und damit angeblich männlich) sie sind, in-
war klar, dass er sich später eher als Lamborghini-Fah-                                                                   und Kontakt ist es sehr wichtig, dass die Jungen keinen      dem sie schwul sein ablehnen.
rer sehen möchte, ohne Familienkutsche, ohne Frau.           Denn genau darum geht es in der pädagogischen Arbeit:        grenzüberschreitenden Situationen ausgeliefert sind.
Allerdings wolle er sich auch nicht um den Haushalt          Das Spektrum von Männlichkeit liegt im Auge des Be-          Dafür müssen sie ihre eigenen Grenzen allerdings             Das mit den Jungs* so zu besprechen ist natürlich
kümmern – dazu müsse ggf. eine Putzhilfe her, das sei        trachters. Wenig männlich wird von Jungen* manchmal          erstmal kennen- und fühlen lernen. Eine sensible An-         etwas viel verlangt. Diese „Brille“ hilft aber, um zu
eher Frauensache. Im Gespräch sind die Projektleiter         als weiblich, manchmal als nicht hetero und manchmal         leitung seitens der Pädagogen ist hier sehr wichtig, um      verstehen, wie die Jungs* auf ihre Meinung kommen.
auf die einzelnen Ansichten eingegangen, auch mit rea-       auch als kindlich gelesen. Mit diesen Einschätzungen         eine Kultur der Achtsamkeit zu etablieren und deut-

                                                                                                                   22     23
entdramatisieren. Man war sich einig, dass es hilft die     Die Fragestellung, die die Jungen* an dem Tag mit ge-       Pläne reichen?“, so Tobias Dirscherl. Aus diesen Fragen       ten) und das abfällige Sprechen über Ausländer unten
eigenen körperlichen Grenzen zu kennen und diese zu         nommen haben, war am ehesten die nach einer wich-           heraus erarbeitete die Gruppe eine Angleichung an ihre        (= am wenigsten stark) stand. „Auch das Thema der
verbalisieren. Gegenüber allen unbekannten Menschen,        tigen Grenze: Ist Berührung zwischen Jungen* für mich       Realität und eine mögliche Umsetzung der „Visionen“.          Stärke einer alleinerziehenden Mutter wurde mit der
egal ob Mädchen oder Junge.                                 okay, mag ich das, unterscheide ich überhaupt nach                                                                        Methode besprochen.“
                                                            Geschlecht, oder möchte ich per se nicht, dass jemand       „Dabei ist es wichtig, darauf zu schauen, was für die
Zentral war es, mit den Jungs* genau zu klären, wor-        auf meinem Schoß sitzt, mit dem ich nicht liiert oder be-   Jungen* in ihrer Lebenssituation und mit allem, was sie       Weiter ging es um das Thema Toleranzgrenze – und
um es bei ihren Vorbehalten eigentlich geht: Meinen         sonders nah bin? Oder ist mir das zu viel, und wenn ja,     mitbringen an Eigenschaften, machbar ist – und was sie        wann die überschritten werde? „Für einige der Jungen
homofeindliche Äußerungen Mann-Mann-Sex? Sind das           warum ist mir das zu viel, zu nah?                          für das Erreichen der ‚Pläne‘ tun können.“ Der Blick auf      schien es normal, dass ein Vater seinen Sohn ohrfeigt
eigentlich Fragen an Analverkehr? Oder gibt es da Angst                                                                 schulische, berufliche und finanzielle Zukunftspläne ge-      bei schlechten Noten, andere wiederum ordneten so
vor männlicher Nähe? Geht es vielleicht gar nicht um        „Bei einer Aussage mussten wir auch noch einmal tiefer      höre zu der Traumvorstellung des eigenen Lebens eben          etwas als Kinderrechtsverletzung ein“, so Elmar Prinz.
die Körperlichkeit, sondern um die Befürchtung keine        eintauchen in das Thema, was denn Homosexualität in         dazu.                                                         Auch solche kontroversen Themen wurden diskutiert.
emotionale Distanz zu einem Mann einzuhalten?               der Familie bedeuten würde – wie Nähe zwischen Män-
Auch der Selbstbezug wurde befragt: „Was hat das            nern erlebt und gelebt wird, auch in den Familien.“ In      Die Toleranzgrenze – und wann                                 „Nachdem wir uns mit den Fragen der Toleranzgrenze
eigentlich mit dir zu tun, ob einer schwul ist?“ „Warum     der Kommunikation mit den Jugendlichen war da eine          ist sie überschritten?                                        beschäftigt haben, stand der erste der geplanten drei
ändert das etwas an eurer Freundschaft, warum ändert        geschützte Ebene besonders wichtig.                         „In einer der Gruppenstunden im September haben wir           Ausflüge an – und dann waren erst einmal sieben Wo-
das dein Bild von der Person?“                                                                                          ‚Gefühlsactivity‘ gespielt – die darstellerische Um-          chen Pause, wegen der Herbstferien, des Betriebsprakti-
                                                            Ein ganz normaler Tag mit 30?                               setzung von Gefühlen hat allen Jungen* noch einmal            kums und des Elternsprechtages.“
„Besonders hilfreich ist es immer, die Jungen* miteinan-    Wie wird wohl unser Leben in Zukunft aussehen? Wie          gezeigt, dass das Thema Emotionen und Stärken eng
der sprechen zu lassen und als Pädagoge erstmal die         stelle ich mir vor, werde ich mit 30 sein? Wie lebe,        verknüpft ist“, kann Elmar Prinz im Nachgang sagen. Die       Gemeinsame Erlebnisse verbinden
unterschiedlichen Meinungen auszuhalten. Trotzdem           liebe und arbeite ich? Zur Entwicklung einer eigenen        pantomimische Darstellung der Emotionen wie Stolz,            Die Exkursion in ein Museum nach Köln konnte während
haben wir keine Menschenverachtung oder unsachliche         Zukunftsvorstellung hatten die Projektleiter nach der       Zufriedenheit, Freude oder Einsamkeit war nicht leicht.       der Pandemie unter geänderten Bedingungen stattfin-
Abwertung geduldet“, so einer der Projektleiter. Es hilft   sehr physischen Praxisübung eine selbstreflektierende       Daraus wurde dann abgeleitet und weiterbearbeitet             den. Zwar gab es keine persönliche Führung zum The-
immer, die Jungs* zur Begründung ihrer Meinung zu           Übung vorbereitet.                                          was Stärke bedeutet. „Wir mussten die Jungen* auch            ma „Soziale Identität“ wie geplant, sondern „nur“ eine
bewegen. Oft fallen ihnen dann gar keine guten Argu-                                                                    fragen: Was ist denn eigentlich ‚stark‘? Was lässt sich nur   per Audio-Guide, aber sowohl die Inhalte der Ausstel-
mente ein oder die anderen Jungen liefern den nötigen       „Wer mochte, konnte die Augen schließen, alle durften       schwer ‚spielen‘, was weniger schwer?“                        lung als auch das gemeinsame Erlebnis „Ausflug“ hatten
Widerspruch. Und am Ende provozieren viele Jungen           sich entspannt hinsetzen und jeder für sich überlegte                                                                     einen starken Einfluss auf die Zusammengehörigkeit der
auch, um mal zu gucken, was man so sagen kann. „Da          sich die Antworten auf einige persönliche Fragen.“ Tobi-    „Im längeren Teil der Stunde haben wir uns mit der            zu dem Zeitpunkt neun Jungen starken Gruppe.
kann ich am besten anknüpfen, indem ich sie ernst           as Dirscherl bat die Jungen, sich vorzustellen, sie seien   Frage beschäftigt, wer denn mehr Stärke beweise: Zum          „Wer bestimmt denn über Werte und Normen, über
nehme.“                                                     30 Jahre alt und fragte in die Runde:                       Beispiel der gutgelaunte Nachtpfleger am Morgen nach          Mode und Marken? Über Ausdruck und Persönlichkeit?
                                                                                                                        einer anstrengenden Dienstnacht. Oder ein Junge, der          Wie komplex sind Systeme, deren Symbolik Schmuck
                                                            Wann stehst du auf? Wohin gehst du? Wer sitzt neben         sich abfällig über Ausländer äußert. Oder doch der Jun-       oder Kleidung sind? Was sagen Tattoos, Kopftuch und
                                                            dir? Bist du alleine? Wo und was frühstückst du?            ge, dessen Vater schlechte Noten mit Ohrfeigen bestraft       Co. wirklich?“ Die Fragen hinter der Ausstellung waren
                                                                                                                        und der nie davon spricht. Oder der Sportler, der im          für einige sehr interessant, während andere aus der
                                                            „Wir haben im Anschluss die Auswertung gemeinsam ge-        Gewichtheben glänzt.“                                         Gruppe eher „durchsausen“ wollten. „Bei einem solchen
                                                            macht und darüber gesprochen, was die Jungen* emp-                                                                        Ausflug hat man als Pädadgoge auch die Gelegenheit,
                                                            funden haben – waren die Zukunftsvorstellungen schön        In der Gruppe ordneten die Jungen diese und weitere           mal in Ruhe mit denjenigen zu sprechen, die sonst eher
                                                            oder nicht so schön? Und was hast du bei den ‚Visionen‘     Beschreibungen in eine Reihenfolge von oben (stark)           nicht laut sind“, beschreibt Elmar Prinz den sensiblen
                                                            deiner Mitschüler gedacht, fandest du die interessant,      nach unten (nicht besonders stark). Diese wurden so ein-      Vorgang, Zugang zu den stilleren Teilnehmern* zu be-
                                                            spannend oder neu? Denkst du, dein Geld wird für diese      geordnet, dass der Krankenpfleger oben (= am stärks-          kommen. „Das war vor allem unser Ansatz: Eine Intimi-

                                                                                                                  24    25
tät schaffen, eine Situation, in der alle sagen konnten,   ja ein anderes Verständnis von Gewalt als mit anderen,
was sie auf dem Herzen haben. Dafür waren die Aus-         fremden Menschen. Dennoch wurde schnell klar: Ohne

                                                                                                                                     L‘HomMan
flüge besonders gedacht.“ Das gemeinsame Wegfahren,        Regeln geht es nicht.
sich außerhalb der Schulwelt als Gruppe fühlen und
gemeinsam etwas erleben, was nur die Gruppe erfährt,       Heiße Lava und ein Fallschirm-Teppich
das habe nachhaltig Eindruck gemacht. Es gab keinen        So kommt es an der vorletzten Stunde dazu, dass Alper
Zeitdruck, niemand sei gestresst gewesen und das           fragt: „Warum wir Regeln brauchen? Vielleicht, weil es
Besondere: Alle sind zusammen essen gegangen. Ein          sonst weh tut?“ Und nicht nur das, denn wenn etwas

                                                                                                                           Vor Ort in Dortmund,
besonderer Moment für die Gruppe.                          weh tut, verliert auch jeder Mensch den Spaß an dem,
                                                           was er tut. Die Bedeutung von Regelungen, die helfen,
Einordnung von Eifersucht und Kontrolle                    Aggressionen abzubauen, ohne den anderen zu verlet-
Nach vielen langen Wochen gab es nach den Herbst-          zen und mit Rücksicht aufeinander und die individuelle
ferien und weiteren anderen Verpflichtungen endlich        Definition der Grenzen, wurde von den Jungen* selbst
wieder ein paar Treffen – und das direkt mit einem         erarbeitet. In einem Geschicklichkeitsspiel galt es nun,
besonders starken Themenschwerpunkt über zwei              den Gegenspieler aus dem Gleichgewicht zu bringen
Wochen hinweg. „Die Jungen sollten ihre Meinung zu         – in einem weiteren darum, als Team imaginäre „heiße
verschiedenen Rollenkonflikten äußern und sortieren.       Lava“ zu überqueren. Das Ziel: Probleme gemeinsam zu
Auch wurden die unterschiedlichen Toleranzgrenzen          lösen (und die Packung Schokoriegel auf der anderen
verhandelt. Tobias Dirscherl erklärt die Details: „Auf     Seite des Hofes zu erreichen).
einem roten Strahl sollten die Teilnehmenden verschie-
dene Handlungen in Liebesbeziehungen in ‚nicht okay‘       Geschicklichkeit in der Gruppe war auch gefragt, als
bis ‚okay‘ einsortieren.“ Es ging um Eifersucht, Gewalt,   es um das Wenden eines gefalteten „Fallschirms“ oder
Kontrolle und Eigenständigkeit. Ein privates Gespräch      eines „Zauberer-Teppichs“ ging, ohne diesen zu ver-
der Partnerin mit einem anderen Jungen*, waghalsige        lassen. Es kostet die Jungen mehrere Versuche, aber sie
Autofahrten, Freizeitaktivitäten, Haushalt und Familie     erreichen ihr Ziel – ab dem Moment, als sie beginnen,
waren Themen.                                              gemeinsam zu planen, unabhänig von ihrer Vorge-
                                                           schichte, ihrer Herkunft, ihren Einstellungen und ihren
„Es gab in der strikten Einordnung einige deutliche        Zukunftsvisionen.
Unterschiede zwischen den Jungen.“ Aus diesen Kontro-
versen heraus ergab sich in der nächsten Stunde wieder     Projektleiter*innen & Kontakt:
eine praktischere Übung, die das Thema Gewalt direkt
aufgriff. „Weil aus Pandemie-Gründen die nächsten            Elmar Prinz
beiden Ausflüge unmöglich wurden, die Schulen aber           Beratungsstelle Sprung(s)chance
noch geöffnet waren, haben wir das Konzept überarbei-        Internationaler Bund West gGmbH
tet und das behandelt, was aus der Woche vorher noch         Heesenstr. 8, 41540 Dormagen
offen lag. „Wir haben psychische und physische Gewalt        Tel.: 02133 3672
erläutert und uns dann gemeinsam erste Gedanken
über das Aufstellen von Regeln und ihre Wichtigkeit ge-      Tobias Dirscherl
macht.“ Unter Freunden, fanden die Jungen*, gebe es da       Kinder- und Jugendzentrum Dreizack
                                                             Internationaler Bund West gGmbH
                                                             Marie-Schlei-Str. 6, 41542 Dormagen
                                                             Tel.: 02133 92787                                  26    27
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