Predigten in der Thomaskirche Hegenheimerstrasse 229 - Kirchgemeinde Thomas
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Predigten in der Thomaskirche Hegenheimerstrasse 229 Predigt zum 3. Advent Jesaja 56,1-8 Stefan Glättli, 13. Dezember 2020 Kirchgemeinde Thomas Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt
Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerech- tigkeit, sie werden satt werden. Von dieser 4. Selig- preisung ausgehend will ich mit Euch heute einige Überlegungen teilen. Alle Seligpreisungen drücken eine starke Hoffnung aus, die Hoffnung getröstet zu werden, die Hoffnung Gott zu schauen, die Hoffnung auf Zugehörigkeit zum Himmel- reich. Mit der Geburt Jesu, mit seinem Leben unter uns, seinem Sterben und Auferstehen ist diese Hoff- nung in Erfüllung gegangen. Dies ist die Botschaft der Evangelien. Dies feiern wir in jeder Advents- und Weih- nachtszeit – auch dieses Jahr wieder. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Hungern und Dürsten – dies sind die existenziellsten Mangelerfahrungen, welche ich mir vorstellen kann. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich als Hausarzt in Ge- sprächen über das Sterben oft mit der Angst von Ange- hörigen konfrontiert bin, dass ihre Liebsten verhungern oder verdursten könnten. Ich möchte deshalb die Hoff- nung satt zu werden, als tiefe Sehnsucht bezeichnen. Die Sehnsucht, dass mein Mangel vollständig behoben wird. Ich möchte Euch dazu anregen, darüber nachzudenken, welchen Mangel ihr in der Tiefe eurer Seele findet - vielleicht Einsamkeit, Sorgen, Ängste - wonach Ihr eine tiefe Sehnsucht habt, wonach Ihr hungert und dürstet – vielleicht Frieden in euren Beziehungen, Heimatge- fühl, Angenommen-sein bei Gott – und möchte euch einen Moment Zeit geben, das in einem stillen Gebet Gott zu sagen. Jesus spricht: Selig, die hungern und dürsten nach Ge- rechtigkeit. Die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit ist eines der zentralen Themen der Bibel im alten und neuen Testament. Martin Forster hat vor vier Wochen bei seiner Auslegung einer Stelle aus dem Römerbrief 1
folgendes zur Gerechtigkeit Gottes gesagt: «Gerechtig- keit bezeichnet ein Verhältnis. Wenn zwei einen Bund geschlossen haben und sich treu in diesem Verhältnis verhalten, dann wird das im Hebräischen als «gerecht» bezeichnet.» Gerechtigkeit entsteht also nicht durch ein Vergleichen und Korrigieren von mehr oder weniger, von besser oder schlechter. Gerechtigkeit entsteht durch das treue Einhalten oder auch das Bereinigen ei- ner Beziehung – nämlich der Beziehung zwischen Gott und uns Menschen. Hier setzt nun der heutige Predigt- text an. Aus Jesaja 56 hören wir die Verse 1-8. So spricht der HERR: Wahrt das Recht und übt Gerech- tigkeit, denn bald kommt mein Heil und meine Gerech- tigkeit wird sich bald offenbaren! Selig der Mensch, der dies tut, und jeder Einzelne, der daran festhält, den Sabbat zu halten und ihn nicht zu entweihen und seine Hand vor jeder bösen Tat zu bewahren. Der Fremde, der sich dem HERRN angeschlossen hat, soll nicht sa- gen: Sicher wird er mich ausschließen aus seinem Volk. Der Eunuch soll nicht sagen: Sieh, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt und an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich einem jeden, der nicht ausgetilgt wird. Und die Fremden, die sich dem HERRN anschließen, um ihm zu dienen und den Namen des HERRN zu lieben, um seine Knechte zu sein, alle, die den Sabbat halten und ihn nicht entweihen und die an meinem Bund fest- halten, sie werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und sie erfreuen in meinem Haus des Gebets. Ihre Brandopfer und Schlachtopfer werden Gefallen auf meinem Altar finden, denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden. Spruch 2
GOTTES, des Herrn, der die Versprengten Israels sam- melt: Noch mehr, als ich schon von ihnen gesammelt habe, will ich bei ihm sammeln. Wir wollen uns kurz vergegenwärtigen, in welche Situa- tion hinein dieser Text vermutlich geschrieben wurde. Etwa 530 Jahre vor Christi Geburt war nach 70 Jahren Exil in Babylon ein Teil des Volkes Israel nach Jerusa- lem zurückgekehrt. Sie waren voller Enthusiasmus, vol- ler Hoffnung, dass ihr Volk wieder an Kraft und Bedeu- tung gewinnen würde. Diesem Enthusiasmus folgte bald Ernüchterung und Enttäuschung. Unter grossen Entbehrungen mussten sie Jerusalem wiederaufbauen. Sie wurden angefeindet von den Menschen, die im Land geblieben waren. Es dauerte Jahre, bis der Tempel und die Mauern Jerusalems wieder gebaut waren. In diese Situation hinein gibt Gott die unglaubliche Zu- sage: «...bald kommt mein Heil und meine Gerechtig- keit wird sich bald offenbaren.» Gott bestätigt, dass er am Bund mit Israel festhält. Er ermutigt, gerade in ei- ner Zeit der Verunsicherung die Hoffnung und das Ver- trauen auf ihn weiter zu behalten. Die Sehnsucht nach dem Heil, nach der vollständigen Versöhnung mit Gott hat die Juden durch ihre ganze Geschichte hindurch begleitet und prägt auch heute das Leben der jüdischen und christlichen Menschheit. Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Got- tesdienst hier in der Kirche oder zu Hause, dieser Zu- sage von Gott geht ein Befehl voraus: «Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit!» Das Handeln Gottes steht nicht in einem luftleeren Raum, ist nichts einseiti- ges, sondern sucht immer die vertrauensvolle Antwort von uns Menschen. «Wahrt das Recht und übt Gerech- tigkeit!» Das ist unser Auftrag. Im folgenden Vers ist das noch präzisiert: «Selig ist der Mensch, der daran festhält: der den Sabbat hält und ihn nicht entweiht 3
und der auf seine Hand achtet, dass sie nichts Böses tut.» Es sind also zwei Aufgaben, die uns Menschen ge- stellt sind: Die Beziehung zu Gott pflegen, immer wie- der zu ihm umkehren, ihm liebend und treu begegnen. Solches Handeln rechnet Gott uns als Gerechtigkeit an. Eng damit verbunden ist das Zweite, das Wahren des Rechts. Hier geht es um den Umgang mit den Mitmen- schen, mit der Schöpfung, um sozialen Ausgleich, sozi- ale Gerechtigkeit. In der Bibel finden sich viele Beispie- le, wo wir aufgefordert werden, benachteiligte Glieder unserer Gesellschaft – und dies waren damals Fremd- linge oder Witwen und Waisen – besonders zu schüt- zen. In unserem Text wird das Schwergewicht etwas anders gelegt. Das Grundanliegen in diesen prophetischen Worten von Jesaja ist nämlich, dass wir Menschen die treue und vertrauensvolle Beziehung zu Gott suchen sollen. Es geht um die Menschen, welche den Sabbat halten, Menschen, welche sich Gott anschliessen, um ihm zu dienen und seinen Namen zu lieben. Teil des Volkes Israel zu sein ist dafür nicht mehr ent- scheidend. Die ethnische Zugehörigkeit spielt keine Rolle mehr. Paulus hat diesen Gedankengang noch wei- ter geführt, als er im Galaterbrief schrieb: «Da ist we- der Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.» Jesaja nennt zwei Menschengruppen beispielhaft: Fremdlinge und Eunuchen. 1. Die Fremdlinge: Das Volk Israel hatte das Fremd- sein wieder am eigenen Leibe erfahren, zuerst in Babylon, dann aber auch bei der Rückkehr nach Jerusalem, als die Rückkehrer von der einheimi- schen Bevölkerung angefeindet wurden. Dabei war die Sehnsucht, die Heimat wiederzufinden doch so 4
gross gewesen. Auch in uns heutigen Menschen ist das Bedürfnis Heimat zu haben, in einer Umge- bung der Vertrautheit zu leben tief verankert. Die Coronakrise hat uns schmerzlich vor Augen ge- führt, wie gefährdet, wie unsicher das ist, was wir als Heimat erlebt haben. Einschränkungen beim Treffen mit Freunden, kein Kino- oder Konzertbe- such, die Gottesdienste online, Weihnachten feiern höchstens noch in kleinstem Familienkreis mit strikten Abstandsregeln, am liebsten erst wieder im nächsten Jahr. Da haben wir alle ein Stück Heimat verloren. Franz Schubert hat vor bald 200 Jahren in der Winterreise ein Gedicht vertont, wel- ches dieses Lebensgefühl eindrücklich aufnimmt: Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh' ich wieder aus. Der Mai war mir gewogen, Mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, Die Mutter gar von Eh', - Nun ist die Welt so trübe, Der Weg gehüllt in Schnee. Ich kann zu meiner Reisen Nicht wählen mit der Zeit, Muß selbst den Weg mir weisen In dieser Dunkelheit. Gott zeigt in den Worten von Jesaja einen anderen Weg. Er spricht: «Sie – die Fremden - werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und sie erfreuen in mei- nem Haus des Gebets.» Nicht wir müssen uns selbst den Weg in der Dunkelheit weisen, wie der Dichter dies in seinem Gedicht formuliert, nein, Gott handelt und schenkt uns Hoffnung und Freude in der Beziehung zu ihm. Daran dürfen wir festhalten, das ist wirklich frohe Botschaft- Weihnachtsgeschichte! 5
2. Die Eunuchen: Eunuchen waren Männer, welche an Königshöfen dienten. Sie waren kastriert worden, damit sie dem König, welchem sie dienten, nicht zur Konkurrenz werden konnten. Ihre Unfruchtbar- keit verunmöglichte das Gründen einer Familie und damit das Bilden einer eigenen Dynastie. In dieser Situation waren sie ganz von ihrem Herrscher ab- hängig und ihm gegenüber meist sehr loyal. In Is- rael gab es diese Praxis des Kastrierens nicht. Aber es gab offenbar Gesetzesbestimmungen, die Eunu- chen vom Tempelbesuch und von der Zugehörig- keit zu Gottes Volk ausschlossen. Für die Israeliten muss es absolut erstaunlich, ja schockierend ge- wesen sein, dass diese Menschen – wie übrigens auch die Fremdlinge – nun Zugang zum Tempel haben sollten, wenn sie die Beziehung zu Gott suchten. Ja noch mehr! Gott sichert ihnen zu, dass ihre Namen für ewig festgehalten sind als Denkmal in seinem Tempel. In der Offenbarung wird dies als «Eingetragen Sein im Buch des Lebens» beschrie- ben. Ich sehe diese prophetischen Worte in unserer heutigen Zeit ganz stark als Ermutigung für Men- schen, welche aus unterschiedlichsten Gründen keine Familie gründen und keine Kinder haben. Dass unser aller Name bei Gott eingetragen ist, dies ist – ich zitiere Jesaja – «mehr wert als Töch- ter und Söhne». Das heisst aufgenommen Sein in die Familie Gottes. Darin besteht letztlich der Sinn unseres Lebens. Liebe Gemeinde, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf dem Livestream, Gott hat sich nicht von seinem Volk, von Israel, abgewendet. Aber er hat sich den Ausges- tossenen, den Fremden, den Unfruchtbaren und schliesslich allen Völkern zugewandt. Das ist sein gros- 6
ser Heilsplan. Und mit der Geburt Christi ist dieser Plan in Erfüllung gegangen. Dies feiern wir auch dieses Jahr wieder an Weihnachten. Gottes Heil ist gekommen, seine Gerechtigkeit ist offenbar geworden und leuchtet ins Dunkel dieser Welt hinein. Durch die Geburt, das Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus Christus ist Gottes himmlische Realität im Leben von dir und von mir, von uns allen erfahrbar geworden. Dies obwohl wir nach wie vor in einer Adventszeit, einer Wartezeit le- ben. Wir sehnen uns nach einer Zeit der vollständigen Versöhnung. Wir hoffen auf den vollkommenen Frieden. Und wir halten fest an der Zusage: «Selig seid ihr, die ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn ihr werdet satt werden.» Amen. 7
Sie können auch lesen