Psychosoziale und psychosomatische Aspekte der Adipositas - Stephan Herpertz Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ...
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Psychosoziale und psychosomatische Aspekte der Adipositas Stephan Herpertz Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum
Entwicklung der Adipositas weltweit International Obesity Task Force, Nature 404, 2000
Umwelt oder Biologie ? Energiespeicherung ist ein evolutionäres Erfolgsmodell (300000 Jahre Evolution vs. 200 Jahre industrielle Revolution) Die Optimierung der Energienutzung durch genetische Varianten führte in der Evolution zu einem Überlebensvorteil dieser Individuen in Zeiten eines Energie- mangels („Thrifty Phenotype“)
Studien an getrennt aufgewachsenen monozygoten Zwillingen und Pima Indianern Ca. 70 % der Varianz des BMI wird genetischen Faktoren zu- gerechnet. Die genetische Dis- position bezieht sich auf Grund- umsatz, respiratorischen Quo- tienten, tägl. körperliche Bewe- gung, innere Unruhe und Hyperphagie. Ravussin & Bogardus, 2000 BMI bei Pima-Indianern: Mexiko: 25 kg/m2 Arizona (USA): 31-36 kg/m2 Allison et al. 1999
Ätiologie
Soziales Netzwerk in der Framingham-Studie N = 2200 Beobachtung: 25 Jahre roter Kreis: Frauen; blaue Verbindung: z.B. Freundschaft, Heirat blauer Kreis: Männer rote Verbindung: familiär gelber Punkt: adipös grüner Punkt. normalgewichtig Christakis et al. 2007
Das Risiko der Adipositas stieg: • um 57% bei Adipositas der Freundin/Freund • um 40% bei Adipositas des Bruders/Schwester • um 37% bei Adipositas der Ehefrau/Ehemann Effekt bei gleichgeschlecht- lichen Menschen grösser als bei Menschen unter- schiedlichen Geschlechts Christakis et al. 2007
Risikofaktoren für Übergewicht/Adipositas im Kindesalter Risikofaktoren Effektstärke Beeinflussbarkeit + - +++ + - +++ elterliche Adipositas +++ +/- niedriger Sozialstatus ++ +/- Makrosomie ++ + Bewegungsmangel ++ +++ hoher Fernsehkonsum ++ +++ hoher Fett-/Kalorienkonsum ++ +++ Starke Gewichtszunahme in ++ + (?) den 24 Monaten nicht Stillen + +++ wenig Schlaf + + (?) Rauchen in der ++ ++ (?) Frühschwangerschaft Wabitsch et al. 2002
Psychosoziale Aspekte der Adipositas robuste Prädiktoren für Übergewicht und Adipositas sind: • Gewicht der Eltern • Bildung und sozioökonomischer Status
BMI der Eltern als Einflussvariable für das Gewicht der Kinder Prävalenz der Adipositas und BMI bei fünf- bis siebenjährigen Kindern normalge- wichtiger und adipöser Eltern (mind. ein biologischer Elternteil mit einem BMI > 30 kg/m2) Müller et al. 1998
Adipositas der Kinder in Abhängigkeit vom Schulabschluss der Eltern Prävalenz der Adipositas und mittlerer BMI bei fünf- bis siebenjährigen Kindern in Abhängigkeit vom Schulabschluss der Eltern Müller et al. 1998
Häufigkeit übergewichtiger Kinder in Deutschland (BMIAGA>90.P.) in Abhängigkeit vom Herkunftsland Einschulungsuntersuchung Einschulungsuntersuchung Stuttgart 2002 Berlin 2001 21,2% 20,0% 20 17,8% 20 15 15 13,9% 10,5% 10 8,3% 10 türkisch deutsch andere deutsch türkisch andere 5 5 Rapp 2002
Zusammenhang von Bildung, BMI und Alter bei Kindern OP, 1P, 2P: no, one, two parents overweight Langnäse et al. 2003
Kieler Adipositas Präventionsstudie KOPS Plachta-Danielzik et al. 2011
Schulinterventionen: 6 Unterrichtseinheiten mit folgenden Themen: Lebensmittelgruppierungen (zwei Einheiten) Sensorik Zucker in Lebensmitteln Fett in Lebensmitteln, gemeinsames „fittes“ Schulfrühstück Vermittlung durch Ernährungsmärchen, interaktive Spiele sowie praktisch durch die Zubereitung eines „fitten Schulfrühstücks“ Konzept „Bewegte Pause“: Animation und Motivation der Kinder zur körperlichen Aktibvität, Vermittlung der Freude an Bewegung Familienintervention richtete sich an Familien mit mindestens einem übergewichtigen Kind (fünf Beratungseinheiten) Ernährung, Bewegung Essverhalten Plachta-Danielzik et al. 2011
KOPS Vier- und Achtjahres-Inzidenzen von Übergewicht, overwaist und overfat für Schüler der Nicht-Interventionsgruppe (NI) und Interventionsgruppe (I)
KOPS Prävalenz der Achtjahres-exzessiven-Zunahme (>3%) bzw. Abnahme (
Psychosomatische Aspekte der Adipositas Psychische Komorbidität: • Depressive Störung (atypische Depression) • Essstörung (z.B. Binge Eating Störung, Grasen, etc.) • Persönlichkeitsmerkmale, -störungen (Impulskontrollstörungen) Psychodynamische, verhaltensanalytische Probleme • Adipositas als dysfunktionale Abwehr aversiver Kognitionen und Affekte (z.B. sexueller Missbrauch)
Die „psychogene Adipositas“ psychogene Adipositas z.B. Problemlöse- Verhalten, Affektregulation Adipositas
Adipositas und Depression Frauen Männer Ron Mueck – Melancholie neue Nationalgalerie Berlin Heo et al. 2006
GEO 1999
Studien zur Komorbidität von Adipositas und Depression Züricher Kohorten Studie (n= 4547); Katamnese: 20 Jahren • Pos. Zusammenhang von atypischer Depression, BED (T1) und Gewichtszu- nahme und Übergewicht (T2) • Neg. Zusammenhang von Angststörun- gen und Übergewicht • Depression stellt einen Risikofaktor für Gewichtsschwankungen (Körpergewichts- variabilität) dar. • Frauen: Depressivität zu T1 war mit höherem Gewicht und Adipositas zu T2 assoziiert • Männer: Depressivität zu T1 war mit höherem Gewicht, nicht aber Adipositas zu T2 assoziiert. Hasler et al. 2006
Zusammenhang von initialer Adipositas und Übergewicht und späterer Depression Favors A = negativer Zusammenhang von BMI und Depression Favors B = positiver Zusammenhang von BMI und depression Luppino et al. 2010
Zusammenhang von (initialer) Depression und späterer Adipositas/Übergewicht Favors A = negativer Zusammenhang von BMI und Depression Favors B = positiver Zusammenhang von BMI und Depression Luppino et al. 2010
Wunsch und Wirklichkeit in der Behandlung der Adipositas „Most obese persons will not stay in treatment for obesity. Of those who stay in treatment, most will not lose weight, and of those who do lose weight, most will regain it.“ Stunkard 1958 5 bis 10% aller Menschen können ihre Gewichtsabnahme über mehr als 5 Jahre halten. Goodrick & Foreyt 1991 15% konnten ihr Gewicht nach Gewichtsreduktion (9-11 kg) über einen Zeitraum von 3-14 Jahren (Median 5 Jahre) halten. Ayyad & Anderson 2000
Gewichtsverlauf in Gewichtreduktionsprogrammen Wadden et al., 1989
Lebensqualität nach Adipositas-Chirurgie und konservativer Behandlung bei Adipositas Grad 3: die SOS Interventionsstudie J Karlsson, C Taft, A Rydén, L Sjöström, M Sullivan HWL: high weight loss (> 10%), LWL: Low weight loss (< 10%) 10 Jahresvergleich: 655 (von 851) Adipositas-Chirurgie-Patienten u. 621 (von 852) konservativ behandelten Patienten CH: current health scale, SI: social interaction, OP: obesity related problems
Gewichtsverlust und Depressivität Gewichtsverlust (%) Foulconbridge et al. 2009
BDI-II Probanden mit signif. Zunahme bzw. Abnahme einer klinisch relevanten Depressivität in den einzelnen Behandlungsarmen bei Therapieende Foulconbridge et al. 2009
1984 – 2002: Vergleich von 7929 (von 9949 operierten Patienten) mit nach Alter, Geschlecht und BMI gematschten Kontollprobanden Beobachtungszeitraum 7,1 Jahre Mortalität sank um 40% KHK: 56% Diabetes mellitus: 92% Krebs: 60% Traumatisch bedingte Todesfälle (Unfälle, Suizide) stiegen um 58%
Wahrscheinlichkeit einer bedeutsamen Gewichtszunahme in den ersten 3 Monate einer psychopharmakologischen Behandlung hoch mäßig gering Antidepressiva Amitriptylin Clomipramin Citalopram Doxepin Mirtazapin Fluoxetin Maprotilin Nortriptylin Fluvoxamin Imipramin Paroxetin Moclobemid Trimipramin Sertralin Tranylcypromin Bupropion Phasenprophylaktika Lithium Carbamazepin Gabapentin Valproat Lamotrigin Topiramat Antipsychotika Clozapin Zuckpenthixol Amisulprid Olanzapin Quetapin Aripiprazol Risperidon Haloperidol Ziprasidon Hamann 2006
Zusammenhang von Adipositas und Depression – Fazit • Querschnittsuntersuchungen zeigen widersprüchliche Ergebnisse, Ergebnisse sind abhängig vom: - Grad der Adipositas - bevölkerungsbasierte oder klinische Studien • Vieles spricht für eine - inverse Beziehung bei älteren Männern („Jolly Fat“) • Depression im Kindes- und Jugendalter stellt einen Risikofaktor für eine spätere Adipositas (insbesondere bei Frauen) dar. • Prospektive Untersuchungen im Erwachsenenalter sprechen eher für einen positiven Zusammenhang: Adipositas → Depression (insbesondere bei Frauen) • Depression bei adipösen Menschen ist in der Mehrzahl eine „state“- statt eine „trait“-Variable (siehe Adipositas-Chirurgie) • Es bestehen Hinweise auf eine signifikante Minderheit von Patienten mit konservativer wie auch chirurgischer Gewichts- reduktionsmassnahmen, die depressiver bzw. suizidaler werden
„Emotional Eating“ Nahrungsaufnahme als Reaktion auf negative Emotionen wie Depression, Enttäuschung oder Gefühle der Einsamkeit. „Emotional eating“ geht einher mit: • höheren Körpergewicht (Elfhag & Linné 2005) • höherer Konsum von „ungesunder Nahrung“ wie Süßigkeiten (Elfhag et al. 2008, Striegel-Moore et al. 1999) • höherer Konsum von Speiseeis (van Strien 2000) Neurotizismus N = 442; NEO-PI-R, • Impulsivität Dutch Eating Behaviour Questionnaire • Depression „Emotional Eating“ Gewissenhaftigkeit • Selbstdisziplin Extraversion „sensation seeking“ Elfhag & Morey 2008
Variationen des Essverhaltens ÜBERGEWICHT Binge nächtliches Eating Essen häufiges Überessen Essen bei “grazing” kein Mahlzeiten Überessen
Binge Eating Störung, BES (DSM-IV) Wiederkehrende Episoden von Essanfällen. Eine Episode von Essanfällen ist durch beide folgenden Merkmale charakterisiert: Es wird in einer umschriebenen Zeitspanne (z.B. inner- halb von 2 Stunden) eine Nahrungsmenge aufgenom- men, die wesentlich größer ist, als die meisten Leute innerhalb einer vergleichbaren Zeitspanne und unter ähnlichen Umständen essen würden; Kontrollverlust über das Essverhalten (z.B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder nicht kontrollieren zu können, was oder wieviel gegessen wird).
Epidemiologie der Binge Eating Störung • Prävalenzraten: 1 – 3% in der Allgemeinbevölkerung bzw. 25% bei Teilnehmern von Gewichtsreduktionsprogrammen (Pull, 2004), bzw. ca. 30% von Patienten mit Adipositaschirurgie • Geschlechterverhältnis: relativ ausgeglichen (Tanofsky et al., 1997) • Erstmanifestationsalter: ca. 20 – 30 Jahre (Kinzl et al., 1998) • Unbehandelter Verlauf nach 6-12 Monaten: ca. 40 – 50% unverändert (Caechelin et al., 1999; Hay et al., 1996)
Komorbidität und assoziierte Merkmale der Binge Eating Störung • Adipositas: va. 60% der Frauen mit BES sind adipös (z. B. Striegel-Moore, 2000) • Depression: Hohe Komorbidität zwischen der BES und affektiven Störungen (z. B. Angst et al., 2002) • Überbewertung von Figur und Gewicht: Übergewichtige Personen mit BES zeigen bein höheres Ausmaß an Figur- und Gewichtssorgen als übergewichtige Personen ohne BES (z. B. Eldredge & Agras, 1996; Nauta et al., 2000; Wilfley et al., 2000)
Zusammenschau der Ergebnisse (Prä-Post-Vergleiche)
Psycho-sozio-biologisches Wechselspiel der Adipositas schlechte Lebensqualität Herz-Kreislauferkrankungen Schlaf-Apnoe-Syndrom Arthrose, metabolisches Syndrom Depression, soziale Phobie problematisches Selbstwertgefühl „weight-cycling“ („yo-yo“) soziale Isolation Unzufriedenheit mit dem Körper Stigmatisierung Adipositas Binge Eating Fasten und Diäten weibliches Geschlecht junges Alter
Persönlichkeitsmerkmale und Adipositas Eine Persönlichkeitseigenschaft (trait), auch Persönlichkeitsmerkmal genannt, ist eine relativ überdauernde (zeitstabile) Bereitschaft (Disposition), die bestimmte Aspekte des Verhaltens einer Person in einer bestimmten Klasse von Situationen beschreiben und vorhersagen soll. z.B. „Big Five“ (Borkenau & Ostendorf 1993): Neurotizismus (neuroticism), Extraversion (extroversion), Offenheit für Erfahrungen (openness), Verträglichkeit (agreeableness), Gewissenhaftigkeit (consciousness)
Die Subgruppen des NEO-PI-R Neurotizismus Offenheit für Extraversion Erfahrungen und… Ängstlichkeit Herzlichkeit …Phantasie Reizbarkeit Geselligkeit …Ästhetik Depression Durchsetzungsfähigkeit …Gefühle Befangenheit Aktivität, …Handlungen Impulsivität Erlebnishunger, …Ideen Verletzlichkeit Frohsinn …Werte und Normen Verträglicheit Gewissenhaftigkeit Vertrauen Kompetenz Freimütigkeit , Ordnungsliebe Altruismus Pflichtbewusstsein Entgegenkommen Leistungsstreben Bescheidenheit Selbstdisziplin Gutherzigkeit Besonnenheit McCrae & PT Costa 1985/1992
Impulsivität • “Acting without thinking” (Barrett, 1993) Urgency Handeln ohne Vorsatz Mangelnde Berücksichtigung langfristiger Konsequenzen zugunsten von “Instant-Befriedigung” Sensation Seeking (Whitesyde & Lynam, 2001) • Impulsivität als Persönlichkeitsmerkmal Müller 2010
ADHS im Erwachsenenalter - Diagnostik • Anhand der Wender-Utah-Kriterien (Wender, 1995) ist die Symptomverschiebung im Erwachsenenalter besser abbildbar: 1. Aufmerksamkeitsstörung 2. Motorische Hyperaktivität 3. Affektlabilität 4. Desorganisiertes Verhalten 5. Affektkontrolle 6. Impulsivität 7. Emotionale Überreagibilität Diagnose ADHS
ADHD und Adipositas zweifach erhöhtes Risiko einer Adipositas bei Probanden mit ADHS * OR=2, auch nach Berücksichtigung soziodemographischer Variablen, binge eating und Depression. de Zwaan et al., 2011
ADHS und Adipositas - Hypothesen Annahme: Adipöse Patienten leiden häufig unter ADHS bzw. Patienten mit ADHS haben ein höheres Risiko für Übergewicht und Adipositas. Warum? Zwei Hypothesen: (Cortese & Angriman, 2008): • ADHS trägt über impulsives und desorganisiertes Essverhalten zu Adipositas bei (mit der Binge-Eating-Störung als möglichen Mediator). • ADHS und Adipositas liegen ähnliche biologische Mechanismen zugrunde (z.B. eine dopaminerge Dysfunktion).
Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie deutliche Impulsivität. Der Beginn liegt oftmals im frühen Erwachsenenalter bzw. in der Pubertät und manifestiert sich in verschiedenen Lebensbereichen. Prävalenz Allgemeinbevölkerung: 2 – 4% Klinische Stichproben: 8%
• Prospektive Studie über sechs Jahre, 264 Patienten mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) in psychiatrischer stationärer Behandlung • BPD Patienten hatten ein signifikant höheres Risiko, adipös zu werden und an einer Adipositas assoziierten Erkrankung zu leiden.
Zusammenfassung Innerhalb der „big five“ sind die Persönlichkeitsmerkmale • Neurotizismus (Frauen) und Extraversion (Männer) Risikofaktoren für eine Gewichtszunahme • hohe Impulsivität ist ein Risikofaktor für Übergewicht, Adipositas und Essstörungen • Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben ein erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Adipositas und adipösitasassoziierter Erkrankungen
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