QUEERE VIELFALT IM ALTER - Dokumentation des Jahresthemas des Run- den Tisches sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Mannheim 2021 2022 - Stadt ...

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QUEERE VIELFALT IM ALTER - Dokumentation des Jahresthemas des Run- den Tisches sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Mannheim 2021 2022 - Stadt ...
QUEERE
VIELFALT IM
ALTER
Dokumentation des Jahresthemas des Run-
den Tisches sexuelle und geschlechtliche
Vielfalt Mannheim 2021 – 2022
QUEERE VIELFALT IM ALTER - Dokumentation des Jahresthemas des Run- den Tisches sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Mannheim 2021 2022 - Stadt ...
Liebe Leser*innen,

    Sie alle wissen: Wir leben in einer alternden     Ergebnisse finden Sie in der vorliegenden
    Gesellschaft und der demografische Wan-           Dokumentation.
    del ist auch für Städte eine der wichtigen
    Herausforderung unserer Zeit. Das Leitbild         Abschließend möchte ich in diesem Zusam-
    Mannheim 2030 bezieht deshalb auch hier            menhang den Mitgliedern der Arbeitsgruppe
    explizit Stellung. So sollen unter anderem eine   „Queere Vielfalt im Alter“ meinen großen
    starke häusliche Versorgungsstruktur und ein       Dank ausdrücken, die durch ihren ehrenamtli-
    engmaschiges Unterstützungsnetzwerk auf            chen Einsatz die Veranstaltungsreihe erst er-
    Quartiersebene ein selbstbestimmtes Altern         möglicht haben. Mein weiterer Dank gilt allen
    in Würde ermöglich. Das Leitziel eines barri-      Beteiligten und Kooperationspartner*innen
    erefreien Gesundheitswesens in Mannheim            der Veranstaltungen.
    mit vielfältigen Angeboten in der Gesund-
    heitsförderung, Prävention und Versorgung         Mannheim, im Juni 2022
    vor Ort durch dezentrale Gesundheitstreff-
    punkte und Selbsthilfegruppen ermöglicht
    hierbei eine bedarfsgerechte Versorgung und
    eine selbstbestimmte Lebensführung.

    Schwule, lesbische, bisexuelle, transge-          Dr. Peter Kurz
    schlechtliche,    intergeschlechtliche  und       Oberbürgermeister
    nicht-binäre Menschen (LSBTIQ) sind ein
    selbstverständlicher Teil der Mannheimer
    Stadtgesellschaft. Ihre spezifischen Bedarfe
    im Alter in Versorgung und Pflege anzuerken-
    nen und in die strategischen Überlegungen
    mit einzubeziehen ist unser Auftrag, damit
    wir unser Leitbild 2030 in die Tat umsetzen
    können.

    Deshalb freue ich mich, dass es durch den
    aktiven Einsatz der Arbeitsgruppe „Queere
    Vielfalt im Alter“ des Runden Tisches sexuelle
    und geschlechtliche Vielfalt Mannheim und
    der relevanten Dienststellen der Stadtver-
    waltung gelungen ist, eine differenzierte Be-
    trachtung der Situation und der Bedürfnisse
    queerer Menschen im Alter zu beginnen und
    in einem Beteiligungs-Workshop zentrale An-
    liegen zu erarbeiten. Die bemerkenswerten

2   Queere Vielfalt im Alter
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Queere Vielfalt im Alter   3
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Sehr geehrte Mannheimer*innen,

    liebe Unterstützer*innen der queeren Community,

    die Kernaufgabe des Fachbereichs Arbeit und        schen im Alter auf Angebote der institutionel-
    Soziales ist es, allen Bürger*innen unserer        len Altenhilfe angewiesen, befürchten nicht
    Stadt ein menschenwürdiges Leben und die           wenige von ihnen erneute Ausgrenzung. Des-
    Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen        halb müssen wir darauf hinwirken, Akzeptanz
    Leben zu ermöglichen.                              und Respekt gegenüber geschlechtlicher und
                                                       sexueller Vielfalt zu schaffen. Wir müssen uns
    Der Sozialatlas der Stadt Mannheim hat ein-        die Frage stellen, wie ein diskriminierungsfrei-
    mal mehr nachgewiesen, dass wir in diesem          es Umfeld für queere Senior*innen aussehen
    Kontext eine bestimmte Zielgruppe stärker          könnte. Unser Ziel ist es, eine stabile Ver-
    in unseren Fokus rücken müssen, und das            sorgungssicherheit im Quartier herzustellen
    sind Menschen, die 65 Jahre und älter sind.        und eine ambulante Pflege anzubieten, in
    Denn die bundesweite demographische                der queere Bürger*innen in ihren Bedarfen
    Entwicklung spiegelt sich naturgemäß auch          wahrgenommen werden und nicht auf Unver-
    in unserer Stadtgesellschaft wider: Nahezu         ständnis oder gar Ablehnung stoßen. Unser
    19% aller Mannheimer*innen gehören dieser          Ziel „ambulant vor stationär“ gilt natürlich
    Altersgruppe an. Und mehr als ein Drittel von      auch hier. Wir möchten unsere ambulanten
    ihnen lebt allein, d.h., sie sind dem Risiko der   Angebotsstrukturen stärken derart, dass die
    Einsamkeit und ihrer negativen Implikationen       stationäre Pflege nach Möglichkeit vermie-
    ausgesetzt. Wir müssen uns deshalb der             den werden kann.
    Herausforderung stellen, die Lebensqua-
    lität älterer Menschen zu erhalten oder zu         Mannheim hat eine sehr starke Quartiersprä-
    verbessern, und zwar so, dass sie möglichst        gung. Der Fachbereich Arbeit und Soziales
    selbstbestimmt entscheiden können, wie sie         leistet mit seinen Aktivitäten einen Beitrag
    im Alter leben möchten. Dazu gehört mehr als       dazu, die Quartiersentwicklung voranzubrin-
    ein existenzsicherndes Einkommen und ein           gen. Dabei verfolgen wir nichts weniger als
    Dach über dem Kopf. Ältere Menschen brau-          die Vision, soziale Orte zu gestalten, an denen
    chen ein verlässliches soziales Umfeld, sie        bedarfsgerechte Angebote für alle Einwoh-
    brauchen angemessenen Wohnraum, stabile            ner*innen zur Verfügung stehen.
    Versorgungsstrukturen und bedarfsgerechte
    Angebote zur sozialen und kulturellen Teilha-      Aber wie sehen gelungene queere Angebote
    be direkt in ihrer Nachbarschaft. Und dabei        im Quartier aus? Welche spezifischen Ange-
    gilt es, die Mannheimer Stadtgesellschaft in       bote sind erforderlich, um Einsamkeit entge-
    ihrer Vielfalt wahrzunehmen.                       genzuwirken und Teilhabehürden für queere
                                                       Senior*innen zu beseitigen? Gemeinsam mit
    Die Biografien von älteren lesbischen, schwu-      der Beauftragung für die Chancengleichheit
    len, bisexuellen, transgeschlechtlichen, in-       von Menschen vielfältiger sexueller und
    tergeschlechtlichen und queeren Menschen           geschlechtlicher Identitäten entwickelt der
    sind nicht selten von Diskriminierungs- und        Fachbereich Arbeit und Soziales aktuell An-
    Gewalterfahrungen geprägt. Sind diese Men-         sätze zur Beantwortung dieser Fragen.

4   Queere Vielfalt im Alter
QUEERE VIELFALT IM ALTER - Dokumentation des Jahresthemas des Run- den Tisches sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Mannheim 2021 2022 - Stadt ...
Ziele sind eine kulturelle Öffnung der Gesell-
schaft und ihrer Institutionen, die Zusammen-
arbeit mit der queeren Community sowie die
Weiterentwicklung von Fortbildungsangeboten.

Uns geht es darum, unsere Stadtteile senio-
ren- und generationengerecht bzw. inklusiv
weiterzuentwickeln und Barrieren zum Quar-
tiersangebot und zum Versorgungssystem
abzubauen. Dafür brauchen wir Impulse aus
der Bürgerschaft. Und deshalb freue ich mich
auf den weiteren Dialog mit Ihnen.

Ihr

Dr. Jens Hildebrandt
Fachbereich Arbeit und Soziales

                                                 Queere Vielfalt im Alter   5
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INHALTSVERZEICHNIS
     QUEERE VIELFALT IM ALTER

     AUSGANGSPUNKT                                                 seite 8

     HINTERGRUNDWISSEN                                      seiten 10 – 21

     ÄLTERE MENSCHEN IN MANNHEIM                                  seite 10
     Besondere Bedürfnisse queerer Menschen im Alter

     EXPERTISE QUEERES WOHNEN IM ALTER                            seite 17

     AKTIVES ERINNERN                                       seiten 22 – 25

     §§ 175/151                                                   seite 22
     Auswirkungen auf die queere Community

     LIEBE, SEX & HIV                                             seite 23
     Filmgespräch zu „Théo & Hugo“

     HIV DAMALS UND HEUTE                                         seite 25
     Generationsgespräch

     WISSEN UND RECHT                                       seiten 26 – 30

     GEKONNT ALTERN                                               seite 26
     Verfügungen und Vollmachten

     WANN BEGINNT DIE DEMENZ?                                     seite 28
     Überblick und Einstieg für Angehörige und Betroffene

     GESCHLECHTLICHE VIELFALT IN ALTER UND PFLEGE                 seite 30
     Workshop für Fachkräfte

6   Queere Vielfalt im Alter
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COMMUNITY –                                         seiten 31 – 41
ERFAHRUNGEN UND ENGAGEMENT
GENDERNAUTS & GENDERATION                                    seite 31
20 Jahre Erfahrungen

ZEIT FÜR DICH                                                seite 34
Erfahrungen des Berliner Besuchsdienst

GLÜCKLICH ALTERN IN MANNHEIM                           seite 36
Austausch mit Dr. Hildebrandt, Leiter des Fachbereichs
Arbeit & Soziales der Stadt Mannheim

BETEILIGUNGSWORKSHOP                              seite 40
„Queere Vielfalt und Selbstbestimmung beim Wohnen
im Alter“

ZUSAMMENFASSUNG & AUSBLICK                                   seite 42

AUTOR*INNEN DER DOKUMENTATION                                seite 45

HILFREICHES                                                  seite 46
Angebote in Mannheim und Umgebungen

KOOPERATIONSPARTNER*INNEN                                    seite 48
Der Reihe „QUEERE VIELFALT IM ALTER“

IMPRESSUM                                                    seite 48

                                            Queere Vielfalt im Alter    7
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AUSGANGSPUNKT

    Selbstbewusst und selbstbestimmt – so zei-        aufgegriffen hat und eine Veranstaltungsrei-
    gen sich schwule, lesbische, bisexuelle, quee-    he konzipiert und umgesetzt hat. Dank der
    re, nichtbinäre, trans und inter (kurz: queere)   Förderung durch das Ministerium für Soziales,
    Menschen bei der Parade zum Christopher           Gesundheit und Integration aus Mitteln des
    Street Day. Sie sind vernetzt in Mannheim im      Landes Baden-Württemberg im Rahmen des
    Offenen Netzwerk LSBTTIQ, beim Transtreff         Projektes „Queere Vielfalt im Quartier und
    Mannheim, sind aktiv im Sportverein mvd,          in der Community“ konnte die Reihe durch
    engagiert bei PLUS. Psychologische Lesben-        weitere Veranstaltungen ergänzt und die vor-
    und Schwulenberatung Rhein-Neckar, im             liegende Dokumentation erstellt werden.
    Queeren Zentrum Mannheim, dem Lesben-
    stammtisch und bei vielen weiteren Gruppen,       Als Einstieg in das Thema haben wir das von
    Organisationen und Anlässen. Bereits bei          Dipl. Sozialwissenschaftlerin Angela Jäger
    dieser Aufzählung fällt auf, dass die älteren     zusammengetragene Hintergrundwissen zur
    und vor allem die alten Menschen weniger          Situation älterer Menschen in Mannheim und
    sichtbar sind. Dies hat vielfältige Gründe:       zu den besonderen Bedürfnissen queerer
    Queere Menschen, die noch die Verfolgung          Menschen im Alter platziert. Angela Jäger
    und Tabuisierung in der Nachkriegszeit erlebt     gelingt es, sowohl die Situation älterer Men-
    haben, wollen sich nicht immer so öffentlich      schen in Mannheim als auch die besonderen
    zeigen. Lautstärke, Musikstil und fehlende        Anliegen queerer älterer Menschen deutlich
    Sitzplätze oder die aktuellen Themen treffen      zu machen und mit statistischen Zahlen und
    nicht immer die Wünsche und Bedürfnisse           wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterle-
    der Älteren.                                      gen. Es folgen Beschreibungen und Berichte
                                                      von den Veranstaltungen. Geprägt wird die
    Gleichzeitig ist klar: alle werden jeden Tag      Reihe durch drei zentrale Themen. Unter dem
    älter und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt   Blickwinkel des Aktiven Erinnerns an die Le-
    haben keine Altersgrenze. Queere Menschen         benserfahrungen und –bedingungen queerer
    wollen in jedem Alter sichtbar und gleichbe-      Menschen älterer Generationen stand die
    rechtigt sein.                                    Veranstaltung 㤤 175/151 РAuswirkungen
                                                      auf die queere Community“. Dazu gehör-
    Bisher sind explizite Angebote für ältere         ten auch die Veranstaltungen „Liebe, Sex &
    queere Menschen in der Metropolregion             HIV – Filmgespräch zu „Théo & Hugo“ und
    Rhein-Neckar eine Seltenheit. Der Runde           Generationsgespräch „HIV damals und heute“.
    Tisch sexuelle und geschlechtliche Vielfalt       DAktives Erinnern stand auch im Fokus der
    Mannheim hat die Beschäftigung mit den            Lesung „Queere Vielfalt im Alter“, bei der in
    spezifischen Bedürfnissen von älteren und         der Pflegeeinrichtung Fritz-Esser-Haus der
    alten queeren Menschen daher als erstes           AWO ein Text über die Lebenserfahrungen
    Jahresthema in den Mittelpunkt gerückt. Es        eines schwulen Mannes und eine Kurzge-
    entstand eine sehr aktive Arbeitsgruppe, die      schichte über das Altwerden eines Frauen-
    die vielfältigen Fragen, Sorgen und Themen        paares vorgelesen und im Anschluss diskutiert

8   Queere Vielfalt im Alter
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werden. Aufgrund von Corona musste die            Wohnens im Alter erarbeitet werden. Dazu
Veranstaltung allerdings in den Mai verscho-      erstellte Andreas Kringe eine Expertise zu
ben werden und kann daher leider nicht in die     den Best-Practice-Beispielen für Queeres
Dokumentation aufgenommen werden. Eine            Wohnen im Alter in Deutschland. Seine
Erweiterung des Wissens und wichtige Infor-       Ergebnisse dienten als zentraler Input beim
mationen zu rechtlichen Bedingungen gaben         Beteiligungs-Workshop „Queere Vielfalt und
die Veranstaltungen „Gekonnt altern - Verfü-      Selbstbestimmung beim Wohnen im Alter“.
gungen und Vollmachten“, „Wann beginnt die        In drei Kleingruppen konnten konkrete Ziele
Demenz? Überblick und Einstieg für Ange-          für Mannheim für die nächsten Jahre erarbei-
hörige und Betroffene“ sowie der Workshop         tet werden. Die Dokumentation wurde von
für Fachkräfte „Geschlechtliche Vielfalt in       Margret Göth anhand des graphic telling von
Alter und Pflege“. Die Community mit ihren        Stefan Müller @thinkpen sowie der Protokol-
Erfahrungen und ihrem Engagement stand            le von Ronald Engler, Julian Hähnel und Sören
im Mittelpunkt der Veranstaltungen „Gender-       Landmann erstellt.
nauts & Genderation – 20 Jahre Erfahrungen“
und „»Zeit für Dich« Erfahrungen des Berliner     Die abschließende Zusammenfassung greift
Besuchsdienst“. Die meisten dieser Berichte       die zentralen Anliegen auf und bietet einen
wurden von Andreas Chagas López, Akade-           Ausblick auf die weitere Umsetzung des The-
mische Mitarbeiterin und Doktorandin an           mas. Hilfreiche Informationen in Form von
der Universität Mannheim, speziell für die        weiterführenden links und Literatur sowie
Dokumentation verfasst. Der Bericht zum           den Kooperationspartner*innen und wichti-
Generationsgespräch „HIV damals und heute“        gen Akteur*innen in der Region runden die
wurde von Em Brett erstellt.                      Dokumentation ab.

Unter dem programmatischen Titel „Glück-          An dieser Stelle möchten wir uns noch einmal
lich Altern in Mannheim“ fand ein Austausch       ganz herzlich bedanken bei
mit Dr. Hildebrandt, Leiter des Fachbereichs      •   den Aktiven der Arbeitsgruppe „Queere
Arbeit & Soziales der Stadt Mannheim, statt.          Vielfalt im Alter“: Sabine Berger, Uwe
Dr. Hildebrandt stellte die städtischen Ange-         Hörner, Matthias Kück und Klaus Schir-
bote für ein gutes und glückliches Alter vor          dewahn
und hörte Erfahrungen und Anliegen für ein        •   den Autor*innen: Max Appenroth, Sabine
glückliches Alter aus queerer Sicht. Aus dieser       Berger, Em Brett, Andrea Chagas, Angela
Veranstaltung lassen sich nächste Schritte für       Jäger, Andreas Kringe und Tobias Quell
die Verbesserung der Situation älterer und        • Herrn Dr. Hildebrandt und Dr. Artemis
alter queerer Menschen in Mannheim auf den           Tsoupas vom Fachbereich Arbeit und
Weg bringen.                                          Soziales
                                                  •   allen Beteiligten und Kooperationspart-
Noch konkreter sollten die Anliegen und               ner*innen
Bedarfe zur Fragen des selbstbestimmten

                                                                       Queere Vielfalt im Alter   9
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HINTERGRUNDWISSEN

     ÄLTERE MENSCHEN IN MANNHEIM
     BESONDERE BEDÜRFNISSE QUEERER MENSCHEN IM ALTER

     AUTORIN: ANGELA JÄGER

     Lesbische, schwule, bisexuelle und trans,        telpunkt – als wäre Vielfalt im Alter vorbei.
     intergeschlechtliche und queere Menschen         Eine kurze Abschätzung zur Anzahl an lsbtiq
     (kurz lsbtiq) gestalten Stadtgesellschaft auch   Senior*innen in Mannheim ist der Ausgangs-
     in Mannheim sichtbar mit. Die Selbstver-         punkt. Daten aus vier Alltagsbereichen bieten
     ständlichkeit in der Wahrnehmung, Dar-           eine Einordnung zur Lebens- und Wohnsitua-
     stellung und Berücksichtigung der Vielfalt       tion, den Ressourcen für eine selbstständige
     von Geschlecht und nicht-heterosexuellen         Lebensführung und Teilhabe, dem Engage-
     Lebensformen und -perspektiven hat in den        ment für die Gesellschaft und dem Bedarf an
     letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen.         professioneller Pflege.
     Ältere Menschen stehen dabei selten im Mit-

     Bevölkerungsanteile

     Jeder fünfte Mensch in Mannheim ist mindes-      Mannheim können heute ca. 4.200 Menschen
     tens 65 Jahre alt, 6% aller Mannheimer*innen     den lsbtiq Menschen zugerechnet werden,
     sind 80 Jahre oder älter [18]. Dieser Anteil     wenn konservativ ein Anteil von 7% lsbtiq
     wird in den nächsten Jahren noch anstei-         Menschen angenommen wird.
     gen [8, 18]. Unter den älteren Menschen in

     Allgemeine Schätzungen zum tatsächlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung gehen von einem
     Anteil von 5 bis 10% lsbtiq Menschen aus. Viele auch neuere Studien stützen diese Einschät-
     zung: Für Deutschland berichtete eine repräsentative Erhebung von 2018 einen Anteil von 7,4%
     lsbtiq Menschen [6]. 0,5% bis 1,2% der Bevölkerung identifizieren sich als trans; 0,2% bis 1,7%
     der Bevölkerung sind intergeschlechtliche Menschen [1]. 4,3% der Bevölkerung in Städten sind
     Lesben, Schwule, bisexuelle Menschen [7]. Dabei lebt in Deutschland „mehr als die Hälfte der
     Menschen, die sich als lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren, in Großstädten mit über
     100.000 Einwohner*innen“ im Gegensatz zu einem Drittel der heterosexuellen Menschen [5].
     Ein weiteres Indiz für den geschätzten Bevölkerungsanteil an lsbtiq Menschen in Deutschland
     liefert der Anteil an Eheschließungen: 2019 fanden in Deutschland 3,4% aller Eheschließungen
     mit gleichgeschlechtlichen Paaren statt [19].

     Unter diesen Menschen sind heute in Mann-        paare mit mindestens einer Person im Alter
     heim auch fast 90 gleichgeschlechtliche Ehe-     von 65 Jahren oder älter anzutreffen [16].

10    Queere Vielfalt im Alter
Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare trat im Oktober 2017 in Kraft. Dieses
Recht nutzen auch ältere Menschen Mannheims: Von den 351 Ehepaaren von zwei Frauen in
Mannheim (2021) ist bei 10% der Paare mindestens eine Person 65 Jahre oder älter und bei
17% der Paare mindestens eine Person im Alter von 55 bis 64 Jahren. Von den 631 Ehepaaren
von zwei Männern (2021) ist bei 17% mindestens eine Person 65 Jahre oder älter und bei 21%
mindestens eine Person im Alter von 55 bis 64 Jahren. Der Anteil gleichgeschlechtlicher Ehen an
allen Ehen in Mannheim nimmt zwar mit dem Anstieg der Alterskohorte deutlich ab, aber gerade
auch mit dem Blick auf die Erfahrungen der über 75-Jährigen ist es bemerkenswert, dass bereits
0,5% aller Ehen in dieser Altersgruppe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren bestehen – trotz
der sehr späten Gelegenheit dazu [16].

Nicht alle 4.200 Senior*innen werden dabei           Orientierung oder ihre geschlechtliche Iden-
die Adjektive lesbisch, schwul, bisexuell,           tität ihr Leben nicht an einer heterosexuellen
transsexuell, transident, intergeschlechtlich        Zweigeschlechtlichkeit orientieren konnten
oder queer für sich selbst zur Beschreibung          und im Laufe ihres Lebens auch in Mannheim
verwenden (wollen). Gemeinsam ist ihnen              einen enormen gesellschaftlichen Wandel
jedoch, dass sie mit Blick auf ihre sexuelle         erlebten und (mit-)gestalteten [4].

Für verschiedene Geburtskohorten waren verschiedene historische Wendepunkte und kollek-
tiven Erfahrungen von Bedeutung. Selbstverständlich waren die Erfahrungswelten dennoch für
lsbtiq Menschen eines Jahrgangs sehr unterschiedlich, jedoch wurden kulturelle und persönliche
Möglichkeiten wesentlich durch diese gesellschaftlichen Kontexte mitbestimmt [2, 3, 20, 20].

Abb.: Verschiedene Entwicklungen prägen Lebenswelt und Erfahrungen älterer lsbttiq
Menschen.

90 Jährige                 80 Jährige                70 Jährige                 60 Jährige
geb. vor 1930              geb. in den 40ern         geb. in den 50ern          geb. in den 60ern

• Krieg und                • Fortsetzung der         • Protest der 1968er       • Diskurs zur Aids-
  Nationalsozialismus        Verfolgung in den                                    Epidemie
                                                     • Beginnende
• Aufwachsen mit
                             neuen Staaten
                                                       Emanzipation             • Transsexuellengesetz
  Verfolgung               • Restaurierung von                                    TSG
                                                     • Gründung von             • beginnende
                             Geschlechterrollen
• Kampf ums                                            Selbstvertretungen         öffentliche Präsenz
  Überleben                • für Frauen weitere
                             Einschränkungen                                    • Abschaffung § 175
                                                                                • Selbstvertretung

Geburt 1920        1930       1940          1950     1960       1970         1980       1990         2000

Historische
Wendepunkte         1933             1945          1957/8      1969           1981           1994

                                                                            Queere Vielfalt im Alter        11
Für die heutigen lsbtiq Senior*innen sind das     chert es, sich in der Öffentlichkeit nicht auf
     Wissen und die Erfahrungen fehlender Ak-          den Schutz durch die Allgemeinheit verlassen
     zeptanz prägend. Gerade im privaten Kontext       zu können.
     wiegt Ablehnung schwer, zusätzlich verunsi-

     Zwei Zahlen illustrieren die besondere Situation lsbtiq Senior*innen: Nur 60% der Menschen
     in Deutschland haben keinerlei Probleme, wenn zwei Männer bzw. zwei Frauen sich in der
     Öffentlichkeit küssen [20]. 11% der Mannheimer und 4% der Mannheimerinnen ab 75 Jahren
     würden keine homosexuellen Nachbarn akzeptieren im Gegensatz zum Durchschnitt von 3%
     über alle Altersgruppen [15]. Für die Reaktion auf eine nicht eindeutige Geschlechtszuordnung
     oder unerwartete Körperlichkeit liegen keine repräsentativen Zahlen vor. Klare Indizien für die
     oft manifeste soziale Distanz im öffentlichen Raum zeigt sich in verschieden Studien. Für den
     Rhein-Neckar-Kreis zeigte sich, dass vier von fünf trans oder nicht-binären Befragten in der
     Öffentlichkeit Beschimpfungen, Beleidigungen und Auslachen in einem Jahr erlebten, bei cis-ge-
     schlechtlichen lesbischen, schwulen oder bisexuellen Menschen waren es zwei von fünf [13].

     Privates Leben

     In Deutschland leben ältere Menschen häu-        allen jüngeren Altersgruppen weniger als 10%
     figer allein und erleben im Durchschnitt eher    beträgt [15].
     eine geringere soziale Einbindung und höhere
     Unsicherheit. Der Siebente Altenbericht des      Die Möglichkeit, selbstständig außerhalb der
     Bundestags wie auch der Sozialatlas Mann-        eigenen vier Wände in Kontakt zu kommen, ist
     heims bieten dazu wichtige Eckdaten [20, 18]:    dabei für ältere Menschen im Schnitt schwie-
     Auch in Mannheim lebt ein erheblicher Anteil     riger. Nicht nur wird gesellschaftliche Teilhabe
     der Menschen über 65 Jahre allein in einem       durch finanzielle Ressourcen bestimmt, son-
     Einpersonenhaushalt: Die Quote bei älteren       dern Krankheit sowie ein im Alter schrump-
     Frauen liegt dabei jeweils deutlich höher als    fender Bekannten- und Freundeskreis können
     der Anteil unter den älteren Männern. Von        Möglichkeiten dafür reduzieren [9]. Gleichzei-
     den 60- bis 79-Jährigen leben 28% der Män-       tig wird öffentlicher Raum für soziale Begeg-
     ner bzw. 38% der Frauen allein. Bei der Grup-    nung unsicherer wahrgenommen: So fühlt
     pe ab 80 Jahren und älter liegen diese Anteile   sich ein großer Anteil der über 65-Jährigen
     bei 29% bzw. 50% [18]. Das Risiko der Verein-    in Mannheim in der eigenen Wohngegend
     samung im Alter wird allerdings erst an einer    nachts allein nicht sicher. Dabei bestehen hier
     weiteren Zahl eklatant sichtbar: Ein Viertel     deutliche Unterschiede zwischen Frauen und
     der Mannheimer*innen über 75 Jahre kommt         Männern: 25% der Männer über 60 Jahre be-
     nach eigener Auskunft seltener als einmal im     stätigen diese Aussage im Gegensatz zu 42%
     Monat in Kontakt zu nahestehenden Men-           der Frauen zwischen 60 und 74 Jahren bzw.
     schen wie Freund*innen, Verwandten oder          60% der über 74-Jährigen [15].
     Nachbar*innen, während dieser Anteil in

     Für die Gestaltung im Alter können sich viele lsbtiq Menschen auf entwickelte Strategien, Res-
     sourcen und die aktiv aufgebaute „Wahlfamilie“ und freundschaftlichen Netzwerke stützen. Die
     Notwendigkeit wie die Erfahrung der Selbstgestaltung ermöglichen die aktive Gestaltung und
     auch die Bewältigung von Belastungen und Herausforderungen im Alter. [1, 11].

12    Queere Vielfalt im Alter
Soziale Sicherheit – Risiko Armut

Als Indiz für Altersarmut dienen zwei Zahlen:       strengungen oder Vorsorge aus Armut wieder
6% der Menschen ab 65 Jahren in Mannheim            herauszukommen [9]. Eingeschränkte Ge-
leben mit der Grundsicherung [18]. Ein ver-         sundheit, geringere soziale Kontakte sowie
gleichbarer Anteil der Mannheimer Senior*in-        nachlassende physische wie psychischer Wi-
nen und Senioren kommt schlecht bzw. sehr           derstandsfähigkeit verschärfen die Bürde von
schlecht mit dem Haushaltseinkommen aus             Armut.
[15]. Allerdings fällt dieser Anteil im Vergleich
unter jüngeren Menschen höher aus, was für          Dabei besteht ein Armutsrisiko nicht für alle
die Gesamtbewertung nicht außer Acht gelas-         älteren Menschen gleichermaßen. Ein rele-
sen werden sollte [9]. Die Altersarmutsquote        vanter Unterschied besteht auch bei älteren
wird in Deutschland aus verschiedenen Grün-         Menschen zwischen den Geschlechtern:
den in den statistischen Daten systematisch         Frauen sind in stärkerem Maße von Armut im
und deutlich unterschätzt [12]. Darüber hin-        Alter betroffen. Gründe sind hier u.a. gender-
aus legen mehrere Befunde den Schluss nahe,         basierte Benachteiligungen bis in die 1970er
dass Altersarmut derzeit deutlich zunimmt           Jahre, ungleiche Löhne und die Nicht- bzw.
und weiter zunehmen wird. Das Spezifische           ungenügende Berücksichtigung von Care-
ist, dass Armut im Alter „im Regelfall nicht        und Familienarbeit für die Rente [20].
mehr umkehrbar“ ist und ältere Menschen
kaum eine Chance haben, durch eigene An-

Für ältere lsbtiq Menschen sind besondere Armutsrisiken festzustellen. Auswertungen des
Deutschen Alterssurvey (DEAS) kommen 2017 zum Ergebnis, dass die Armutsquote bei Männern
mit homo- oder bisexueller Orientierung im Alter von 60 bis 90 Jahren bei 12% lag, bei Männern
der gleichen Altersgruppe mit heterosexueller Orientierung bei 6% [20]. Für trans und interge-
schlechtliche Menschen im Rentenalter liegen noch keine belastbaren Daten zum Armutsrisiko
vor. Auch bei älteren Frauen mit homo- oder bisexueller Orientierung im Alter von 60 bis 90 Jah-
ren liegt die Armutsquote mit 11% höher als bei Frauen dieser Altersgruppe mit heterosexueller
Orientierung (8%). Gerade auch Brüche in der (Erwerbs-)Biografie durch gesetzliche Verfolgung,
Alltagsdiskriminierung, geringere familiäre Unterstützung, aber auch HIV-Infektionen und das
Engagement zur Unterstützung HIV-positiver Menschen sowie die Sorge für ältere Angehörige,
die oft gerade den kinderlosen lsbtiq Menschen angetragen wird, tragen zu diesen Armutsrisiken
bei [1].

Jenseits des Armutsrisikos bestehen deut-           DEAS ergaben zudem auch ein Indiz für die
liche Geschlechterunterschiede auch hin-            biographisch wirksamen Ausgrenzungen und
sichtlich der finanziellen Ressourcen generell:     Belastungen für homo- und bisexuelle Ältere.
So verfügen Frauen mit homo- oder bisexu-           So konnten hohe Bildungsabschlüsse über die
eller Orientierung im Alter ab 60 Jahren im         Erwerbsbiographie hinweg von Lesben nicht
Durchschnitt über ein um 10% geringeres             in gleicher Weise am Arbeitsmarkt verwertet
Einkommen als Frauen mit heterosexueller            werden wie dies heterosexuellen Frauen ge-
Orientierung. Gleichzeitig liegen diese bei-        lang [20].
den Durchschnittswerte unter den durch-
schnittlichen finanziellen Ressourcen der
gleichalten Männer [20]. Die Analysen des

                                                                        Queere Vielfalt im Alter     13
Soziales Engagement und
     politische Einbindung

     Unabhängig von besonderen Belastungen             Darunter sind auch viele Ältere: Unter den
     im Alter wie abnehmender Gesundheit und           60 bis 74-Jährigen war 2021 knapp 40% eh-
     geringeren sozialen Kontakten bringen sich        renamtlich aktiv, ein vergleichbarer Anteil wie
     viele ältere Menschen aktiv in die Stadtgesell-   unter Menschen der 45 bis 59-Jährigen und
     schaft ein. Mannheim verzeichnet ein hohes        etwas mehr als bei unter 45-Jährigen. Immer-
     ehrenamtliches Engagement über alle Alters-       hin 19% bzw. 27% der älteren Frauen bzw.
     gruppen hinweg.                                   Männer über 74 Jahre brachten sich 2021
                                                       ehrenamtlich ein [15].

     Eine Abfrage durch die LSBTI Beauftragung nach der Beteiligung und dem Engagement älterer
     lsbtiq Menschen in der Community Mannheims ergab, dass Ältere auch in vielen lsbtiq Gruppen
     aktiv sind - sei es im Sportverein, in Selbsthilfegruppen, bei Gay and Grey, bei der ökumenischen
     HUK Homosexuelle und Kirche, in Berufsverbänden oder als Ehrenamtliche beim CSD, PLUS
     oder KOSI.MA. Die Quote der Aktiven im Alter über 65 Jahren liegt in den unterschiedlichen
     Gruppen zwischen 5% und 68%. Hinzu kommen jeweils weitere 10% bis 30% an Aktiven im
     Alter über 55 Jahre [17].

     Gleichermaßen haben ältere Menschen               allerdings bei der ältesten Kohorte der über
     auch ein vergleichsweise hohes Vertrau-           74-Jährigen nicht festzustellen. Dieses Ver-
     en in Stadt und politische Institutionen.         trauen in die politischen Institutionen wird
     Etwa 60% stimmten (sehr) der Aussa-               auch beispielhaft in der sehr hohen Zustim-
     ge zu: „Im Allgemeinen kann man dem               mung zur Europäischen Union: 88% der über
     Gemeinderat in Mannheim vertrauen“.               74-Jährigen und 84% der 60- bis 74-Jährigen
     Im Durchschnitt fällt das Vertrauen bei           halten die Mitgliedschaft Deutschlands in der
     Frauen geringer aus. Dieser Unterschied ist       EU für eine gute Sache [15].

     Pflegebedürftigkeit

     Ein Großteil der älteren Menschen über 64         Unabhängig vom Alter bzw. Pflegegründen
     Jahre ist nicht auf Pflege angewiesen und         lebt in Mannheim nur ein geringer Anteil der
     lebt weitgehend selbstständig in der eigenen      Pflegebedürftigen in stationärer Pflege un-
     Häuslichkeit. Für sie ist intergenerationelle     tergebracht ist. Basierend auf den Angaben
     Unterstützung durch Familie, Freund*innen         zu den im Jahr 2019 bezogenen Leistungen
     oder andere sozialen Netzwerke bestimmend.        waren 20% in stationärer Pflege unterge-
     2013 waren in Mannheim 13% der Älteren            bracht, 20% erhielten ambulante Pflege und
     pflegebedürftig. Allerdings lag der Anteil        der Großteil von 60% erhielt Unterstützung
     in der Gruppe der über 74-Jährigen bereits        in Form von Pflegegeld für die Pflege durch
     bei 22%, bei den über 84-Jährigen bei 43%.        nahestehende Menschen oder Angehörige im
     Unter den Älteren ab 75 Jahren besteht            häuslichen Umfeld [18].
     dabei ein Unterschied zwischen Frauen mit
     einem durchschnittlich höheren Anteil an
     Pflegebedürftigen von 25% und Männern im
     gleichen Alter mit einem Anteil von 16% [9].

14    Queere Vielfalt im Alter
Für ältere lsbtiq Menschen bestehen besondere Risiko-Faktoren für einen erhöhten Bedarf an
Pflege im Alter: Sie sind eher kinderlos, erhalten im Vergleich zu heterosexuellen Senior*in-
nen seltener Unterstützung durch die Herkunftsfamilien und sind häufiger in altershomogene
soziale Netzwerke eingebunden. Infolgedessen können sie heute weniger auf intergene-
rationelle Unterstützung bauen. Statistische Daten liegen dazu kaum für Deutschland vor,
mehrere bahnbrechende qualitativen Studien sowie internationale Studien geben allerdings
klare Indizien [1, 8, 14]. Gleichzeitig berichten lsbtiq Menschen aufgrund des großen Un-
wissens zu homosexuellen und trans Lebenswelten unter Fachkräften von einem hohen
Unbehagen gegenüber regulären Angeboten der Pflege und Betreuung [10, 11, 12]. Den Aus-
künften der Befragten zufolge bewirkt erst ein tieferes Verständnis der Lebenswelten der
lsbtiq Senior*innen, dass diese und deren Angehörige sich nicht verstecken müssen [1, 11].
Erkennbarkeit von queer-freundlichen Einrichtungen ist eine wichtige Unterstützung. Raum für
eigene Identität ist auch bei versteckt gelebten Identitäten notwendig.

Verwendete Daten und Literatur:

Praxisbücher

[1]   AWO Bundesverband e.V. (Hg.) (2021), Praxishandbuch zur Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen für LSBTIQ*,
      https://queer-im-alter.de/materialien/praxishandbuch

[2]   Freie Hansestadt Bremen, Referat 21 (2021): Queere Perspektiven in der Pflege und im Alter. https://www.ratund-
      tat-bremen.de/PDF-Archiv/Downloads-Beratung/Queere_Perspektiven_in_der_Pflege_und_im_Alter-web.pdf

[3]   Evangelische Hochschule Ludwigsburg / Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V. (Hrsg.) (2019): Pfle-
      ge, Biographie und Vielfalt – Begleitung von LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg, Stuttgart. https://www.
      netzwerk-lsbttiq.net/themen/pflege

[4]   Rubicon e.V. (2014): „Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule“: Informationen für die professionelle Altenpfle-
      ge. https://rubicon-koeln.de/publikationen/

Empirische Studien

[5]   Pöge, K.; Dennert, G.; Koppe, U.; Güldenring, A.; Matthigack, Ev B.; Rommel, A. (2020): Die gesundheitliche Lage
      von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Journal of Health Moni-
      toring, 2020 5(S1). Robert Koch-Institut, Berlin

[6]   Dalia Research (2016): Counting the lgbt population: 6% of Euopeans identify as lgbt. https://perma.cc/ZRL3-5W72

[7]   van Kampen, S. C.; Lee, W.; Fornasiero, M.; Husk, K. (2017): The proportion of the population of England that self-
      identifes as lesbian, gay or bisexual: producing modelled estimates based on national social surveys. BMC Research
      Notes 10(1):594. doi: 10.1186/s13104-017-2921-1

[8]   Lottmann, R. (2018): LSBT*I-Senior_innen in der Pflege: Zu Relevanz und Besonderheiten sozialer Netzwerke
      und der Arbeit mit Angehörigen. Pflege & Gesellschaft, 03/ 2018. https://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/
      uploads/2019/10/PG-3_2018.pdf

[9]   Bericht zur Lebenslage älterer Menschen in Mannheim 2015, Fachbereich Arbeit und Soziales der Stadt Mannheim.
      https://www.mannheim.de/de/service-bieten/soziales/sozialplanung/zentrale-veroeffentlichungen/bericht-zur-le-
      benslage-aelterer-menschen

                                                                                         Queere Vielfalt im Alter            15
[10] Almack, Kathryn; Crossland, John (2018): Erfahrungen von LSBT Patient_innen am Ende ihres Lebens Die Situati-
           on Sterbender in England und Erkenntnisse der Studie „The Last Outing“. In: Pflege & Gesellschaft Zeitschrift für
           Pflegewissenschaft. 23.Jg. Heft 3. Beltz Juventa Verlag.

     [11] Lottmann, Ralf & Kollak, Ingrid. (2018). A diversity sensitive long term care for gay and lesbian elders in need
           of care Results of the research project GLESA. International Journal of Health Professions. 5(1), S. 53-63
           doi:10.2478/ijhp-2018-0005

     [12] White, J.T., Gendron, T.L. (2016). LGBT Elders in Nursing Homes, Long-Term Care Facilities, and Residential Com-
           munities. In: Harley, D., Teaster, P. (eds) Handbook of LGBT Elders. Springer, Cham.

     [13] Göth, M.; Jäger, A. (2018) (Hg.): Sicher out?! – Ergebnisse einer Kurzbefragung im November 2018. Herausgege-
           ben von PLUS e.V. https://www.plus-rheinneckar.de/seite/551780/ver%C3%B6ffentlichungen.html

     [14] Heiko Gerlach und Markus Schupp (2016). Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-/pflegerische Versor-
           gung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland. Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. Ber-
           lin: Deutsches Zentrum für Altersfragen. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-49927-5

     Datenquellen

     [15] Auswertungen der Mannheimer Bürgerbefragung 2021, Stadt Mannheim, Fachbereich Demokratie und Strategie,
           Strategische Steuerung

     [16] Daten zu verheirateten Paaren 2021, Stadt Mannheim, Fachbereich Bürgerdienste

     [17] Abfrage durch LSBTI-Beauftragung Mannheim, Margret Göth, Winter 2022

     [18] Sozialatlas 2021, hrsg. vom Fachbereich Arbeit und Soziales / Sozialplanung. Berechnungen nach Daten der Bun-
           desagentur für Arbeit, des Fachbereichs Arbeit und Soziales und der Kommunalen Statistikstelle,
           www.mannheim.de/sozialplanung

     [19] Bundeszentrale für politische Bildung: Kurz und knapp. Eheschließungen und Ehescheidungen. https://www.bpb.
           de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61578/eheschliessungen-und-ehescheidun-
           gen/

     [20] Deutscher Bundestag (2016): Siebter Altenbericht Deutschen Alterssurvey. Drucksache 18/10210. https://www.
           siebter-altenbericht.de/fileadmin/altenbericht/pdf/Der_Siebte_Altenbericht.pdf

     [21] Drucksache 19/28233, Antwort der Bundesregierung zur Soziale und gesundheitliche
           Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen

           (LSBTI) in Deutschland, Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode 01.04.2021.
           https://dserver.bundestag.de/btd/19/282/1928233.pdf

16    Queere Vielfalt im Alter
HINTERGRUNDWISSEN

 EXPERTISE QUEERES WOHNEN
 IM ALTER
AUTOR: ANDREAS KRINGE

Beim Beteiligungsworkshop „Queere Vielfalt und Selbstbestimmung beim Wohnen im Alter“ (s.
S. 38) gab Andreas Kringe eine verkürzte Übersicht dieser Expertise als Grundlage zur Zusam-
menarbeit und Diskussion. Hier nun die ungekürzte Fassung:

1. Einführung

Zunächst werden diverse allgemeine Wohn-            und des Wohnumfeldes.“ (https://sanubi.de/
formen vorgestellt und anschließend Fragen          pflege/betreutes-wohnen; letzter Aufruf: 2022)
zum Wohnen im Alter formuliert, die in die
besonderen Bedürfnisse der LSBTI-Commu-             „Beim Service-Wohnen hingegen werden
nitys münden.                                        meist barrierearme Wohnungen mit ein-
                                                     fachen Dienstleistungen für Senioren wie
Darauf folgt die Vorstellung von vier ver-           Alltagshilfen für Wäsche, Hausnotrufsysteme,
schiedenen Einrichtungen, die die Bedarfe            Besuchsdienste, einem Menübringedienst
und Bedürfnisse der Communitys in unter-             (Essen auf Rädern) sowie einem ambulanten
schiedlicher Weise aufgenommen haben.                Dienst angereichert. Einen professionellen
                                                     Pflegebereich gibt es beim Service-Wohnen
Im letzten inhaltlichen Teil wird auf die Zerti-     jedoch nicht, so dass bei höherem Pflegebe-
fizierung von queer-freundlichen Senior*inne-        darf ein Umzug ins Heim erforderlich wird.“
neinrichtungen eingegangen.                          (https://www.pflege.de/altenpflege/betreu-
                                                     tes-wohnen; letzter Aufruf: 2022)
Das Ende bildet ein Fazit mit Ausblick in die
Zukunft.                                            Senioren-Wohngemeinschaften

Betreutes Wohnen und Service-Wohnen                 Grundsätzlich gilt, dass alle Bundesländer
                                                    eigene rechtliche Rahmenbedingungen auf-
 Für beide Formen gibt es keine offizielle Defi-    gestellt haben. Die Bestimmungen können
 nition. Ein Blick in die Online-Literatur ergibt   daher sehr unterschiedlich sein.
 folgende Informationen zur Orientierung:
„Betreutes Wohnen ist ein Leistungsprofil für       Ambulant betreute Wohngemeinschaften un-
 ältere Menschen, die in einer barrierefreien       terscheiden sich von Pflegeheimen dadurch,
 Wohnung und Wohnanlage leben, das Grund-           dass Mietvertrag und Pflegevereinbarung
 leistungen/allgemeine Betreuungsleistungen         getrennt voneinander abgeschlossen werden.
 und Wahlleistungen/weitergehende Betreu-
 ungsleistungen umfasst. Es unterstützt eine        Dabei wird zwischen träger- und selb-
 selbstständige und selbstbestimmte Haus-           storganisierten WGs unterschieden. In
 halts- und Lebensführung und die Einbindung        letzteren bestimmen die Angehörigen bzw.
 in soziale Strukturen der Hausgemeinschaft         die Bewohner*innen und die gesetzlichen

                                                                        Queere Vielfalt im Alter     17
Betreuer*innen z. B. darüber, wer einziehen        Cluster-Wohnen
     darf, und sie beauftragen einen Pflegedienst.
     In der Regel wohnen zwischen 6 und 12 Men-         Cluster-Wohnungen bestehen aus persön-
     schen zusammen, die auch bei erhöhtem Pfle-        lichen Wohneinheiten mit direktem Zugang
     gebedarf bis zum Lebensende dort wohnen            zu den Gemeinschaftsräumen. Zuschnitt und
     bleiben können. Manche WGs richten sich            Ausstattung der privaten Wohneinheiten sind
     an bestimmte Zielgruppen z. B. an Demenz           je nach Projekt unterschiedlich. Dasselbe gilt
     Erkrankte.                                         für die Gemeinschaftsbereiche.

     Die Angehörigenvertretung kann informell           Interessant an dieser Form ist, dass es ver-
     zusammenarbeiten oder sich als Verein zu-          schiedene Gemeinschaftsräume gibt, wie
     sammenschließen.                                   z. B. einen Multimediaraum, ein Raum fürs
                                                        Handwerken, einen Sportraum, eine Biblio-
     Als Vermieter*innen kommen Wohnungs-               thek, eine Küche, einen Wohnraum, einen
     baugesellschaften und Genossenschaften in          Spieleraum und andere. Verlassen die Bewoh-
     Frage.                                             ner*innen ihren privaten Raum, treffen sie an-
                                                        dere in den Räumen gemäß ihrer Interessen.
     Die anfallenden Kosten beziehen sich auf
                                                        Senior*innenresidenz,
     Miete, Pflege, Betreuung, Verpflegung, An-
                                                        Senior*innenzentrum, Pflegeheim
     schaffungen und Instandhaltungen.

                                                        Senior*innenresidenzen gleichen eher einem
     Als Starthilfe für solche WGs können nach §
                                                        Hotel als einem Heim. Sie sind daher die Lu-
     45e SGB XI pro Person 2.500,- € beantragt
                                                        xusvariante eines Senior*innenheims in bester
     werden.
                                                        Lage, qualitativ hochwertig ausgestattet und
                                                        verfügen über Angebote wie Schwimmbad,
     Mehrgenerationenwohnen
                                                        Bibliothek, Fitnessraum, Café und/oder Res-
                                                        taurant und natürlich auch über Pflegeplätze.
     Der Begriff ist nicht geschützt, weshalb es
     zahlreiche Unterformen und Begriffsvariatio-
                                                        In einem Senior*innenzentrum finden sich
     nen gibt. Gemein ist allen, dass verschiedene
                                                        verschiedene Wohnformen auf einem Ge-
     Generationen unter einem Dach wohnen,
                                                        lände. Vom freien Wohnen, über betreutes
     ohne miteinander verwandt sein zu müssen.
                                                        Wohnen, bis hin zur Tagespflege und zur Pfle-
                                                        gestation sind alle oder einige der genannten
     Körperliche Altenpflege ist in der Regel nicht
                                                        Einrichtungen vertreten. Der Übergang von
     Teil des Konzepts, allerdings hoffen viele älte-
                                                        der einen zur anderen Form ist leicht, da die
     re und alte Menschen, durch ihr Engagement
                                                        Umzugswege kurz sind und meist werden die
     in einem solchen Projekt den Einzug in eine
                                                        Bewohner*innen beim Freiwerden eines Plat-
     Altenhilfeeinrichtung hinausschieben zu können.
                                                        zes in der jeweiligen Einrichtung bevorzugt.

     Mehrgenerationenhäuser können in genos-
                                                        Ein Pflegeheim ist für Menschen mit hoher
     senschaftlicher Form entstehen oder als
                                                        Pflegebedürftigkeit vorgesehen.
     Eigentümer*innengemeinschaft. Hin und
     wieder finden sich vor Ort Investor*innen, die
     dieses Modell finanzieren. Dann steht man
     mit den Besitzer*innen des Hauses in einem
     Mietverhältnis.

18     Queere Vielfalt im Alter
2. Fragestellungen zum Thema                      geprägt sind von Diskriminierung, Psychia-
                                                  trisierung, Ausgrenzung, medizinischen Ein-
   Wohnen im Alter
                                                  griffen und juristischer Verfolgung besondere
                                                  Anforderungen an das Thema Wohnen im
Welche Wohnform für einen persönlich in
                                                  Alter. Selbstverständlich haben sich nicht we-
Frage kommt, entscheidet zum einen das ver-
                                                  nige aus den Communitys emanzipiert, sind
fügbare Budget. Darüber hinaus ist es sinnvoll,
                                                  selbstbewusst geworden und vertreten ihre
sich seine eigene Wohnhistorie der letzten
                                                  Bedürfnisse und Belange in den verschiede-
Jahrzehnte anzusehen.
                                                  nen Bereichen ihres Lebens.
•   Habe ich in den letzten Jahrzehnten
    alleine gelebt?                               Umso stärker ist der Wunsch, im Alter auch
•   Habe ich die Wohnung mit einem oder           mit möglichen körperlichen und geistigen
    einer Partner*in geteilt?                     Einschränkungen die mühsam erarbeiteten
•   Habe ich jemals in einer Wohngemein-          persönlichen und gesellschaftlichen Freihei-
    schaft gelebt? Wie waren die Erfahrungen?     ten zu erhalten.
•   Möchte ich in einem Haus mit mehreren
    Generationen leben?                           Bei erhöhter Vulnerabilität ist es darüber hin-
•   Wie verstehe ich mich mit meiner aktu-        aus umso wichtiger, Anwält*innen in eigener
    ellen Nachbarschaft? Bringe ich mich ein?     Sache an der Seite zu wissen – eine Heraus-
    Lebe ich zurückgezogen?                       forderung für alle in den Communitys.
•   Wie groß ist der Bedarf an persönlichem
    Rückzugsraum? Bin ich bereit Gemein-          Zu den unter 2 gelisteten Fragen kommen
    schaftsräume mitzugestalten und zu            andere hinzu:
    nutzen?
                                                  •   Möchte ich mit anderen aus den LSBTI-
Dies sind Fragestellungen, die nicht nur wich-        Communitys wohnen?
tig sind für die Zeit, in der jeder noch selb-    •   Welche Community-Angebote hätte ich
ständig entscheiden kann. Auch wenn eine              gerne, wenn ich in eine Einrichtung gehe,
stationäre Unterbringung ansteht, ist es gut,         die stark von heterosexuellen Weltbil-
wenn Freunde, An- und Zugehörige wissen,              dern geprägt ist?
welche Wohnform passend ist. Denn diese           •   Hätte ich gerne Besuche im Rahmen
Personen entscheiden für andere, wenn die             eines Besuchsdienstes aus der LSBTI-
eigene Entscheidungskraft nicht mehr gege-            Community?
ben ist.

Entscheidungshilfe geben in jedem Bundes-
                                                  4. Die Anbieter*innen
land unterschiedliche Organisationen. In
Baden-Württemberg ist es z. B. die Fachstelle
                                                  Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Einrich-
ambulant unterstützte Wohnformen (FaWo)
                                                  tungsanbietern im Senior*innenbereich, die
https://www.fawo-bw.de/
                                                  sich aufgemacht haben, Angebote für Alte der
                                                  LSBTI-Communitys vorzuhalten.

3. Die Mitglieder der                             BISS e. V. (Bundesinteressenvertretung
                                                  schwuler Senioren) und der Dachverband
   Communitys und ihre                            Lesben und Alter bieten regelmäßige Netz-
   Bedürfnisse                                    werktreffen queer-freundlicher Pflegeein-
                                                  richtungen an, bei denen ein reger Austausch
Senior*innen aus den LSBTI-Communitys             stattfindet.
haben durch ihre Lebenserfahrungen, die

                                                                      Queere Vielfalt im Alter      19
Nachfolgend wird eine Auswahl von Anbie-           trum hat der Verband einen guten Anker in
     ter*innen präsentiert.                             Frankfurt. So gibt es u. a. auch einen Pflege-
                                                        bereich für Menschen mit HIV.
     Lebensort Vielfalt Niebuhrstraße (Berlin)

                                                        Der Frankfurter Verband hat sich in seiner
     Der Lebensort Vielfalt in Berlin ist das Vorzei-
                                                        Qualitätssicherung am Roze Loper aus den
     geprojekt nicht nur in Deutschland, sondern
                                                        Niederlanden orientiert.
     auch in Europa hinsichtlich gemeinschaft-
     lichem Leben von LSBTIQ. Bereits im Jahr           Wohn- und Begegnungszent-
     2003 wurde der gedankliche Grundstein              rum Zehnthof (Dortmund)
     für das Projekt gelegt. Das „Netzwerk An-
     ders Altern“ entwickelte zusammen mit der          Der Zehnthof ist eine städtische Einrichtung
     Schwulenberatung Berlin in einer sechsjähri-       und richtet sich mit 95 von 130 Plätzen an
     gen Konzeptions- und Umsetzungsphase den           Menschen zwischen 18 – 65 Jahren. Um da-
     Lebensort Vielfalt mit 24 Wohnungen, eine          rüber hinaus dort wohnen bleiben zu können,
     betreute WG für schwule Männer mit Pflege-         stehen die restlichen Plätze im Wohnbereich
     bedarf und Demenz, eine Bibliothek sowie der       3 für Senior*innen zur Verfügung.
     Schwulenberatung. Die betreute WG verfügt
     über acht Plätze.                                  Der Zehnthof hat auf seiner Webseite den
                                                        Unterpunkt LSBTI eingefügt und richtet sich
     Im Lebensort Vielfalt in der Niebuhrstraße         so direkt an die Communitys. Die Einrichtung
     59/60 in Berlin-Charlottenburg leben mehre-        hat sich vom Lebensort Vielfalt zertifizieren
     re Generationen in Vielfalt zusammen. Etwa         lassen. Dieser Weg war eine Top-Down-Ent-
     60% der Bewohner*innen sind schwule Män-           scheidung, was bedeutet, dass die Mitarbei-
     ner über 55 Jahren. Rund 20% sind Frauen,          ter*innen für die einzelnen Zertifizierungs-
     weitere 20% sind jüngere schwule Männer.           schritte freigestellt wurden.

     Frankfurter Verband für Alten- und
                                                        Der Zertifizierungsprozess war für alle ein
     Behindertenhilfe e. V.
                                                        Gewinn. Der Zehnthof kann sich über man-
                                                        gelnde Bewerbungen von Pflegekräften nicht
     Der Verband betreibt mehrere Pflegeheime
                                                        beschweren.
     für Senior*innen, ein Zentrum für Menschen
     mit Behinderung, Tagespflegeeinrichtungen,
                                                        Beginenhof
     einen ambulanten Pflegedienst sowie einen
     Betreuungsdienst für Seniorenwohnanlagen,
                                                        Die Blütezeit der Beginen war zwischen
     Treffpunkte für ältere Menschen (ab 50 Jahre)
                                                        dem 13. und 16. Jahrhundert. Sie waren für
     und weitere soziale und nachbarschaftliche
                                                        weibliche Angehörige von Laienorden gebaut
     Angebote.
                                                        worden, die ein asketisches und andächtiges
                                                        Leben führten. Der Beginenhof war eine
     Bereits in den Nullerjahren kamen drei
                                                        Wohn- und Lebensform von vielen und meist
     schwule Männer auf den Verband zu und
                                                        ein abgeschlossenes Stadtviertel mit eigener
     fragten nach Angeboten für ihre Community.
                                                        Verwaltung.
     Der Geschäftsführer nahm diesen Kontakt
     zum Anlass und baute in den Folgejahren
                                                        Die moderne Beginenkultur mit ihren Wohn-
     Angebote auf und aus für Menschen aus den
                                                        höfen zeichnet sich durch den Wunsch aus, ein
     LSBTI-Communitys.
                                                        eigenständiges Leben zu führen im Rahmen
                                                        einer Wohn-, teilweise auch Arbeitsgemein-
     Bereits auf der Startseite finden man den
                                                        schaft. Die Frauengemeinschaften sind durch
     Punkt Regenbogenpflege. Zusammen mit der
                                                        ein hohes Maß an Vielfältigkeit hinsichtlich
     AIDS-Hilfe Frankfurt und dem Schwulenzen-

20    Queere Vielfalt im Alter
Alter, Herkunft, Ausbildung und Lebenslauf
                                                    6. Fazit
gekennzeichnet. Es finden sich geschiedene
und ledige sowie verwitwete Frauen zusam-
                                                    Lesben, Schwule, Trans*Personen, Inter*-
men. Sie sind und leben sowohl heterosexuell
                                                    Personen, bisexuelle und queere Menschen
als auch lesbisch, queer, bi- und pansexuell.
                                                    haben besondere Bedarfe und Bedürfnisse,
                                                    wenn es um Pflege und Wohnen im Alter geht.
Beginenhöfe stehen in z. B. in Bielefeld, Köln,
Bremen und Tübingen. Sie alle sind organisiert
                                                    Eine Einbindung der Community vor Ort in
im Dachverband der Beginen e. V.
                                                    Öffnungsprozesse von Einrichtungen ist nötig
                                                    und zwingend.

                                                    Steter Tropfen höhlt den Stein! Sind Einrich-
5. Zertifizierung                                   tungen anfänglich abweisend und sehen die
                                                    Notwendigkeit nicht, sich einem Diversitäts-
Roze Loper
                                                    prozess zu verschreiben, ist regelmäßiges
                                                    Bemerkmachen hilfreich.
Der Roze Loper (Regenbogenschlüssel) ist ein
Zertifizierungssiegel für queer-freundliche
                                                    Darüber hinaus kann es helfen, die Mitar-
Senior*inneneinrichtungen.
                                                    beiter*innen in den Häusern, die aus den
                                                    Communitys kommen, anzusprechen und
Um den Regenbogenschlüssel zu erhalten,
                                                    einzubinden.
muss im Leitbild der Einrichtung Aussagen zu
LSBTI gemacht werden. Des Weiteren muss
                                                    Der Prozess muss Top-Down entschieden
ein Diversitätskonzept vorhanden sein und in
                                                    werden. Nur wenn die Geschäftsführung hin-
der öffentlichen Darstellung muss sofort er-
                                                    ter dem Diversitätsmanagement steht, kann
kennbar sein, dass sich die Pflegeeinrichtung
                                                    eine erfolgreiche Implementierung gelingen.
für die Communitys engagiert.

                                                    Diversität im Bereich Pflege und Wohnen für
Die niederländische Zertifizierungsstelle ar-
                                                    Senior*innen führt dazu, dass die Einrichtun-
beitet in Deutschland mit einer Firma zusam-
                                                    gen Fachkräfte anziehen.
men, die in Fürth ansässig ist.

Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt

Das Qualifizierungsprogramm richtet sich an
stationäre und ambulante Pflegeeinrichtun-
gen, Tagespflegestätten, Hospize und Kran-
kenhäuser.

Auf der Webseite können interessierte Ein-
richtungen einen Diversity Check Compact
durchführen.

Der Zertifizierungsprozess ist für interessier-
te Einrichtungen so lange kostenlos, wie die
Arbeit der Schwulenberatung in diesem Feld
öffentlich gefördert ist. Das Zertifikat gilt für
drei Jahre.

                                                                       Queere Vielfalt im Alter     21
AKTIVES ERINNERN

     §§ 175/151
     AUSWIRKUNGEN AUF DIE QUEERE COMMUNITY

     AUTORIN: ANDREA CHAGAS

     Die Informationsveranstaltung zum Thema §§       Gruppe „gay & grey“ für queere Senioren
     175/151 fand am 09.02.22 in der Lobby Werk-      und Gründungsmitglied des Queeren Zent-
     haus des Nationaltheaters Mannheim und on-       rums Mannheim, ergänzte den historischen
     line statt. Sören Landmann, Teil der LSBTI-Be-   Bericht mit seiner persönlichen Erfahrung. Im
     auftragung der Stadt Mannheim, begrüßte Jan      Gespräch berichtet er von seiner Verurteilung
     Bockemühl, der zu den ‚Schwulenparagrafen‘       unter § 175 und wie er seine Rehabilitierung
     einen fachlichen Input gab. Bockemühl ist        und Entschädigung mit der Unterstützung
     Referent und Leitung der Geschäftsstelle der
     Bundesinteressentenvertretung schwuler Se-
     nioren e.V. (BISS). BISS unterstützt Schwule*
     Senioren bei Fragen der Pflege, Gesundheit
     und des Wohnens, berät und unterstützt zu
     den Themen Partizipation und Teilhabe. Sie
     informiert Senioren auch durch Kampagnen
     und vor allem beraten und unterstützen sie
     die Opfer des § 175 (BDR) und § 151 (DDR) bei
     Fragen zur Antragstellung für Entschädigung
     und Rehabilitierung. Zu Beginn des Vortrags
     gab Jan Bockemühl einen Überblick über die
     historischen Entwicklungen der §§ 175/151
     in in den jeweiligen deutschen Staaten von
     Kaiserreich bis heute. Erst im Jahr 2002, im
     Rahmen der Erweiterung des NS-Aufhe-
     bungsgesetzes vom August 1998, wurden alle
     nach § 175 RStGB (Reichsstrafgesetzbuch) er-
     gangenen Urteile vor dem 8. Mai 1945 aufge-
     hoben. Im Jahr 2017 wurde dann das Gesetz
     zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach
     dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher
     homosexueller Handlungen verurteilten Per-
                                                      Klaus Schirdewahn Foto: Alexander Kästel
     sonen (StrRehaHomG) beschlossen. Seit dem
                                                      © Stadt Mannheim
     Inkrafttreten der Richtlinie am 13. März 2019
     haben alle unter diesen Paragrafen verurteil-    vom BISS erfolgreich beantragen konnte.
     ten Personen das Recht auf Rehabilitierung       Allen Teilnehmenden war es wichtig, auch
     und Entschädigung. Hierbei unterstützt BISS      über die emotionalen und psychischen Folgen
     alle Betroffenen, die von ihrem Recht Ge-        der Kriminalisierung und Verfolgung zu spre-
     brauch machen wollen.                            chen, die die Betroffenen bis heute begleiten.
                                                      Gerade auch Berichte aus dem Publikum be-
     Klaus Schirdewahn, Leiter der Mannheimer         stätigten, wie Angst und Verunsicherungen

22    Queere Vielfalt im Alter
nachwirken und Vertrauen in Institutionen        2.   Entschädigung nach Richtlinie sind bei
und Menschen zerstört haben.                          folgenden Erfahrungen möglich: Wenn
                                                      eine Strafverfolgungsmaßnahme auf-
Für die Antragstellung müssen folgende                grund von §§ 175 oder 151 erlitten wurde.
Punkte berücksichtigt werden:                         Und/oder ein Freiheitsentzug ohne Ver-
                                                      urteilung stattfand. Und/oder berufliche
1.   Entschädigung nach StrRehaHomG: Eine             oder gesundheitliche Schädigung mit
     Entschädigung ist nur möglich, wenn der          oder ohne Verurteilung nachweisbar sind.
     Partner zum Zeitpunkt der Verurteilung           Trifft eines dieser Szenarien zu, ist die be-
     über 16 Jahre alt war. Für die Antrag-           troffene Person antragsfähig.
     stellung werden das oder die Urteile
     gebraucht. Sollten die Urteile nicht mehr   Wichtiger Hinweis: Betroffene Personen kön-
     vorhanden sein, hilft BISS die Rehabili-    nen nur noch bis zum 21. Juli 2022 Anträge
     tierungsbescheinigung bei der damals        auf Entschädigung stellen. Falls Sie Betroffe-
     zuständigen Staatsanwaltschaft zu bean-     ne kennen, geben Sie die Information bitte
     tragen. Nach dem Erhalt der Rehabilitie-    weiter.
     rungsbescheinigung kann der Antrag beim
     Bundesamt für Justiz eingereicht werden.    Wichtige Informationen finden Sie unter
                                                 ht tps://schwuleundalter.de/ent schaedi-
                                                 gung-und-rehabilitierung

AKTIVES ERINNERN

LIEBE, SEX & HIV
FILMGESPRÄCH ZU „THÉO & HUGO“

AUTORIN: ANDREA CHAGAS

Der Film „Théo & Hugo“ von Olivier Ducastel      die aktuellen Schutzmöglichkeiten zu HIV.
und Jacques Martineau aus dem Jahr 2016          Präventive Schutzmöglichkeiten für HIV-ne-
wurde am 18.03.2022 im Queeren Zentrum           gative Menschen sind Kondome und die
Mannheim gezeigt. Der Film porträtiert das       Prä-Expositions-Prophylaxe (kurz PrEP), die
Kennenlernen der beiden Protagonisten in         vor einer Risikosituation eingenommen, die
einem Sexclub und den emotionalen und me-        Vermehrung von HI-Viren verhindert. Eine
dizinischen Weg nach kondomlosen Sex in der      Notfall-Schutzmöglichkeit nach einem Risiko-
anschließenden Nacht. Die Darstellung von        kontakt ist die Post-Expositions-Prophylaxe
Ansteckungsrisiko, Behandlungsmöglichkei-        (kurz: PEP), die in Form von Medikamenten
ten und Leben mit HIV boten die Grundlage        innerhalb von 72 Stunden verabreicht werden
für viele Fragen, gerade auch zu den Entwick-    muss. In Mannheim wäre die Notaufnahme
lungen im Umgang mit HIV und Aids.               des Uniklinikums hierfür die Anlaufstelle. Das
                                                 Kondom ist also längst nicht mehr das einzige
Das Gespräch nach der Filmvorführung wur-        Mittel bei der Prävention von HIV.
de moderiert von Tobias Quell, der seit vielen
Jahren ehrenamtlich in der Präventionsarbeit      Im Laufe des Filmes fiel oft der Ausdruck
von KOSI.MA engagiert ist. Er erläuterte         „Unter der Nachweisgrenze“. Auf Nachfrage

                                                                       Queere Vielfalt im Alter       23
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