RADIKALITÄT Eine andere Geschichte der Popkultur

 
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RADIKALITÄT Eine andere Geschichte der Popkultur
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Abb. 1 Unattributed engraving of Guy Fawkes and fellow conspirators, 1605 (Mary Evans Picture Library)

                                          Mirjam Schaub
                                 RADIKALITÄT
                    Eine andere Geschichte der Popkultur

                           Unveröffentlichtes Manuskript: 278 Seiten
                            ca. 144.724 Wörter am 4. August 2020
                           Es fehlen: ca. 23 Seiten (Ziel: 300 Seiten)

                                        Verlag: noch offen

                           Erscheinungsdatum (avisiert): Herbst 2021
RADIKALITÄT Eine andere Geschichte der Popkultur
INHALT
I. EINLEITUNG: Was verbindet Radikalität und Popkultur?............................................. 5
   Abgrenzung zum Extremismus und leitende Idee .............................................................. 8
   Popkultur – wenn die Gebrauchskategorie ubiquitär wird................................................. 9
   Radikalität – theorieversessen und lustfeindlich? (Zu Helmuth Plessner) .......................... 15
   Methodischer Zugang: ‘Crossmapping’ (Bronfen) und ‘traveling concepts’ (Said) ............ 23

II. RADIKALITÄT – als Angriff auf die Theorie-Praxis-Lücke ........................................ 26
   Die antiken theoroi .................................................................................................... 27
   Der Vorwurf an Sokrates ............................................................................................ 29
   Die Erfindung der Theorie-Praxis-Lücke durch Aristoteles ............................................. 31
   Theoriebildung als Praxis eigenen Rechts. Panoptische Theorien .................................... 35
   Die Erfindung des philosophischen Aktivismus durch die Kyniker .................................... 40
   Das moderne Erbe des Kynismus (nach Foucault): Karneval. Mönchtum. Kunst ............... 44

III. RELIGION – Radikale Techniken des Selbst. Überwindung und Bezwingung im Namen
höherer Gewalt ..................................................................................................................... 50
   Die apokalyptischen Anfänge des Christentums im Judentum .......................................... 53
   Radikalität im Frühen Christentum: Donatisten, Agnostiker, Herumtreiber (Circumcellionen,
   qui circum cellas vagantur) ......................................................................................... 70
   Augustinus und das Lukrezia-Problem: Die Leib-Seele-Spaltung als pastorale Maßnahme? 74
   Radikale Reformbewegungen vor der Reformation: Katharer, Waldenser sowie die
   Visionserzwingung durch Selbstkasteiung in den neuen Bettelorden ................................. 83
   Der ‘Fanatismus des Gewissens’ als prostestantische Leidenschaft (zum späten Plessner).. 87

IV. POLITIK – 1967ff. Spaß- vs. Stadtguerilla ................................................................... 98
   Radikale Gemengelagen, unreine Praktiken, beschädigte Theorien .................................. 98
   Emanzipation als Selbstopfer? ................................................................................... 115
   ‘Propaganda der Tat’: Die Gewaltfrage im Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans-
   Jürgen Krahl ........................................................................................................... 122
   Marighellas Konzept der Stadtguerilla im Kampf gegen die brasilianische Militärdiktatur 126
   Die RAF als ‘attraktive Lebensform’ (Reemtsma)? ....................................................... 129

V. GESELLSCHAFT – Die Republik Venedig erfindet lustvolle Teilzeit-Radikalität im
Schutz einer Maske, die anonymisiert................................................................................ 134
   Von Masken und Mäusen, oder: Wie man Korruption begegnet ..................................... 135
   Gesichts- als Gesinnungserforschung ......................................................................... 139
   Die venezianische Gesellschaftsmaske (bautà) als sozialer Ausgleich ............................. 143
   Die bautà als apotropäische Geste, die Gleichheit begrüßt und zurückweist.................... 147
   Zur Verbots- und Gebotsgeschichte der Maskierung..................................................... 153
   Das Paradox des Dogen: Warum Patrizierrepublik und Polizeistaat einander bedingen ... 159

                                                                                                                                     3
Kompetenzüberschneidung als gewünschte Kompetenzkonkurrenz ................................. 165
   Die Guy-Fawkes-Maske: Anonymisierung als Schlüssel für ‘liberale’ Radikalisierungen.. 167

VI. PHILOSOPHIE – Jeremy Benthams ‘Auto-Icon’ (1832) als humanoides Artefakt und
Anleitung zur Gebrauchserfindung ................................................................................... 182
   Der philosophische Rahmen ...................................................................................... 182
   Gebrauch und Nicht-Gebrauch bei Immanuel Kant (1784) – Selbstgebrauch und
   Selbstverbrauch bei Max Stirner (1845)...................................................................... 182
   “Jeremy Bentham – present, but not voting!” .............................................................. 195
   Benthams Testament als Beginn der modernen Populärkultur ....................................... 196
   Die Schließung der Theorie-Praxis-Lücke qua Gebrauchserfindungskunst ...................... 198
   Das ‘Auto-Icon-Fragment’ als Gründungstext der performative arts? ............................ 202
   Marionetten, Wachsfiguren, Voti – ein danse macabre der fallimagini ........................... 204
   Das ‘Auto-Icon’ als travelling concept und als Performance-Kunst................................ 206

VII. KUNST – Künstlerische Entschiedenheit vs. Offenheit des Kunstraums ................. 210
   Kunst & Wissenschaft im Barock: der Mythos vom ‘offenen Kunstwerk’ (Zu Umberto Eco)
   .............................................................................................................................. 210
   Die radikale Entschiedenheit der Kunstwerke.............................................................. 215
   Santiago Sierras »245 Kubikmeter« oder: Was zum Denken zwingt ............................... 222
   Thesen zum Abschluss: entschieden & offen, feinsinnig & radikal .................................. 225

VIII. Popkultur als radikaler Dinggebrauch ..................................................................... 227
   Das Fehlen eines Gebrauchsbegriffs innerhalb der ästhetischen Theorie..................... 228
   Radikaler Dinggebrauch als Alternative? ................................................................... 231
   Radikaler Selbstverbrauch: »Gelamon 22/2« von Doreen Uhlig ..................................... 233
   Behutsamer Selbstgebrauch: »Expedition« von Simon Starling...................................... 237
   Kurze Inventarliste möglicher Gebrauchs- und Verbrauchsweisen in der Kunst (frei nach
   Simon Starling)....................................................................................................... 242
   Kleine Philosophie des Gebrauchs ............................................................................. 243

IX. AUSBLICK UND SCHLUSS: Eine andere Geschichte der Popkultur ...................... 250
   Gebrauch ist der (neue) Besitz: Free Ware, free Share ................................................. 251
   Anonymous – Hacker auf Stereoiden? Anonymisierung als Bedingung spaßorientierter
   ‘Teilzeit-Radikalität’ ................................................................................................ 254
   Veganismus – radical chique oder radikal normal?..................................................... 264
   Das produktive Ethos der Theorie-Praxis-Lücke (mit Martha Nussbaum) ....................... 267

X. LITERATUR ................................................................................................................. 270

XI. QUELLEN / Wiederabdruck ....................................................................................... 277

                                                                                                                                   4
I. EINLEITUNG: Was verbindet Radikalität und Popkultur?

                                                                     “Radikal sein […] ist eine Sache an der Wurzel fassen.
                                                                  Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.”
                                                                                                             (Karl Marx) 1

Radikal ist traditionell das, was auf die Wurzeln zielt, was seine Existenz an eine Wahrheit
bindet, um alles – sogar das eigene Leben – dafür auf’s Spiel zu setzen.

Als Angriff auf symbolische Ordnungssysteme wirkt Radikalität in Philosophie, Politik,
Religion und Kunst jedoch höchst unterschiedlich – und nicht immer zerstörerisch. Während der
radikale Zweifel eine zentrale philosophische Gründungsfigur ist, werden politisch Radikale für
gewöhnlich als nicht diskursfähig zurückgewiesen. Zerstörerische und kreative Impulse stiften
gemeinsam eine Praxis, deren Gelingensbedingungen kaum erforscht sind.

Bleibt Radikalität auf die Reflexion – wie in der Philosophie – beschränkt, geschieht das, wie
im Fall des methodisch gewendeten Zweifels bei René Descartes und David Hume, in
fundierender Absicht, um eine sichere Basis für Erkenntnis zu gewinnen. Solange ein Denker
allein arbeitet, sieht er sich dem Verdacht aussetzt, wahlweise ein praxisferner
Elfenbeinturmbewohner oder ein gemeingefährlicher Schreibtischtäter zu sein. Demgegenüber
zielt politische Radikalität auf die grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse. Sie
ist tatbezogen und geschieht in Gruppen, die sich oft in dem Maße radikalisieren, in dem sich
keine substantiellen gesellschaftlichen Veränderungen einstellen. Mangelnder Respekt vor der
Freiheit des Andersdenkenden, sicheres Indiz für einen Eintritt in die Sphäre des Politischen,
kann man dem religiös motivierten Radikalen nur von Fall zu Fall anlasten: Während er den
Selbstmordattentäter noch traurig auszeichnet, beschränkt sich der Asket und Mystiker bereits
maßvoll auf den Gebrauch des eigenen Körpers, allerdings mit hoher Signalwirkung. Der wird
dann weniger zur Waffe, denn zum Medium umgeformt.

Der sich selbst zugefügte Schmerz ist dann ein strategischer: Er dient, salopp gesagt, der
‘Visionserzwingung’. In der Kunst zuletzt erfährt Radikalität eine ähnlich positive Bestimmung
wie in der Philosophie: Entschiedenheit und stilbildende Einseitigkeit sind hier nicht Ausdruck
von Borniertheit, sondern gewinnen in ihrer Konsequenz und Unausweichlichkeit
Modellcharakter. In der Kunst paart sich Radikalität gleichsam mit ihrem Gegenteil, der
Deutungsoffenheit des sie umschmeichelnden Diskurses, sowie mit der in der Moderne
traditionell uneingeschränkten Freiheit des Betrachters.

Radikalität wird in struktureller Hinsicht als offener Angriff auf symbolische Ordnungen
jedweder couleur aufgefasst, weil sie sich dem symbolischen Tausch, dem ausgeklügelten
Geben und Nehmen, prominent verweigert. Mit einem Radikalen kann man nicht verhandeln,
denn er verfolgt seine eigene Agenda – die der unbeirrten Unkorrumpierbarkeit; ein
unschätzbarer Gewinn an ‘Distinktion’ (frei nach Pierre Bourdieu).

Die Anmaßung des/der Radikalen besteht darin, so die These, die Kluft zwischen Imagination
und Wirklichkeit, Theorie und Praxis mit vollem Körpereinsatz zu schließen. Radikalität
erscheint damit als schlagende Verbindung aus Körpertechniken und Geisteshaltungen, die
unsere ‘ungeschriebenen’ Verhaltensnormen und stillschweigend akzeptierten, symbolischen
Tauschordnungen zu attackieren beginnt.

Im Zeichen des Radikalen treffen sich damit Willensfreiheit und Autarkie jenseits des
Gemeinverträglichen, gepaart mit Sendungsbewusstsein sowie einem oft schwer erträglichen, da
hochmoralischen Rigorismus. Selbstbehauptung, Eigensinn und Grenzverletzung verlangen
einen hohen Preis: unbedingten Körpereinsatz, hohe Leidensfähigkeit, soziale Isolation.

1
    Karl Marx, “Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung)”, in: ders./Engels, Werke (MEW), Bd. 1,
    Berlin (DDR), 1972, S. 385. – Auch Helmuth Plessner macht von diesem Zitat Gebrauch, in ders.: Grenzen der
    Gemeinschaft. Zur Kritik des sozialen Radikalismus (1924) Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, 25.

                                                                                                                      5
Kann man sich überhaupt entscheiden, ein Radikaler zu werden? Oder ist und bleibt Radikalität
mit Eliten und avantgardistischem Denken verbunden? Ist der offensive Charakter der
Radikalität nicht zugleich ungeheuer – entwaffnend?

Radikalität zeigt sich damit zunächst als denkbar ‘unwuchtiger’, ja undankbarer
Forschungsgegenstand: zu divers sind ihre Erscheinungsweisen, zu ungeklärt ihr Wert für
Individuum und Gesellschaft, zu fragwürdig ihre Mittel, zu heikel ihr Verhältnis zu Rationalität,
Zwecksetzung und Sinnstiftung.

Nach Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Zur Kritik des sozialen Radikalismus
(1924) akzeptiert ein Radikaler keine Einschränkungen, verbietet sich Takt, strategischen
Hintersinn und die Kunst des Kompromisses. Radikalismus zeigt sich als „Glauben an die
heilende Kraft der Extreme, die Methode, gegen alle traditionellen Werte und Kompromisse
Front zu machen“.2 Sein Mangel an Liebe zum Leben ist der Grund, warum er in Plessners
Augen im Laufe der Geschichte unbeliebt blieb.

Was aber, wenn der moderne Radikalismus sowohl Lust suchende als auch angewandte
Techniken – wie Maskeraden und karnevalistische Strategien – war, die Plessner ausdrücklich
als Distanzhalter und doch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen ansah? Daher nehme ich
insbesondere den menschlichen Körper und seinen radikalen Selbstgebrauch im Laufe der
Geschichte ins Visier und unterziehe die Rechtfertigungen und Diskurse, die diesen Gebrauch
schützen und stützen einer Prüfung, einem Kreuzverhör.

Was verbindet die Schmerzen christlicher Märtyrer mit der künstlerischen Praxis von Marina
Abramović, die ihren Körper freiwillig den Grenzen des Unerträglichen aussetzt? Bezieht sich
ihre 721 Stunden lange Sitzperformance (The Artist is Present, MoMA, New York 2010) im
Verborgenen auf Jeremy Benthams ehrgeizige Installation (Auto-Icon, University College of
London, 1832 - heute)? Hängen die endurance-Performance eher mit dem Sitzungsprotest der
Wall Street Occupation-Bewegung zusammen? Können Verbindungen zwischen der grinsenden
Guy-Fawkes-Maske in den Händen des Anonymus und der sogenannten venezianischen
‘Gesellschaftsmaske’, der bautà, hergestellt werden? Die unheimliche weiße Maske wurde ab
dem 14. Jahrhundert von Adligen getragen, die verkleidet waren, um sich vor einem
Sicherheitszustand ihrer eigenen Erfindung zu schützen und das gesellschaftliche Leben wieder
erträglich zu machen.

Alle diese Figuren erforschen den menschlichen Körper als einen mächtigen unpersönlichen
Agenten, der die ästhetische Signatur von „unplausiblen Beweisen“ (Stanley Cavell) aufweist,
die den latenten Radikalismus der Popkultur beweisen. Der eigene Körper, der gewöhnlich als
der verletzlichste und persönlichste Teil des eigenen Selbst bezeichnet wird, tritt als radikale
Figur des Selbstgebrauchs in den Vordergrund, die sich mit fortschreitender Popularisierung mit
dem Nimbus des Unpersönlichen, Unantastbaren, ja Heiligen umgibt.

Dieses Buch verbindet deshalb das plakative Thema der Radikalität mit einem weit
unscheinbareren: dem ubiquitären Gebrauch des Körpers wie des eigenen Lebens, der hinter
philosophischen Handlungstheorien und der Kritik an Zweckrationalität und Nutzenkalkül
bislang verborgen blieb. Es mangelt, so die hier erkenntnisleitende Diagnose, an einer
belastbaren Philosophie des Gebrauchs3, was angesichts der Massierung und Popularität von
‘usern’ in der digitalen Welt erklärungsbedürftig bleibt. Gebrauch wird als ein
Schlüsselphänomen angesehen, um nicht erst den Umgang mit der smarten Dingwelt, sondern
um uns selbst besser zu verstehen.

2
    Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], Frankfurt a.M., 2002,
    14.
3
    Auf den erwartbaren Einwand, es gäbe doch Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, so ist mit der
    Fixierung auf den Sprachgebrauch als Bedeutungslieferant noch keine Philosophie des Gebrauchs geschrieben. Vgl.
    hierzu eine der wenigen Monographien zum Thema: Mathias Schlicht von Rabenau: Der philosophische Begriff des
    Gebrauchs: Platon, Kant, Wittgenstein, Ort: mentis, 2014.

                                                                                                                 6
Der Gebrauch des Menschen als Ding selbst ist nicht neu, im Gegenteil – beschämend alt: Von
der Spätantike über das Mittelalter bis zur Aufklärung, war Gebrauch die zentrale Kategorie, um
das Verhältnis zwischen den Gläubigen und ihrem Gott zu regulieren. (Gerade im Fall des
Christentums und des Islams, die keine Tieropferreligionen mehr waren und doch von der Figur
des (Selbst-)Opfers nicht lassen konnten, wurde der Wunsch, Gott könne Gebrauch von einem
vorzüglich ‘gläubigen’ und daher ‘würdigen’ Individuum machen, vordringlich.)

Die Wahlsprüche einiger Adelshäuser führten den Begriff ‘consumor’ im Namen, eingraviert
auf Licht- und Wahrheitstalern, damit das Ungeheuerliche nicht vergessen werde.4 Von der
modalen Form bereits angesiedelt im unauslotbaren Zwischenraum aus aktiven und passiven
Momenten, stellt ‘consumor’ ein Passivum dar, das aktivisch übersetzt wird. Es bedeutet so viel
wie: „ich verzehre mich“. Aber für was? Für wen? Wenn man dem Wahlspruch Glauben
schenkt, geht es um etwas für heutige Ohren Kühnes: nämlich um den Dienst am Vaterland oder
am nächst Anderen. Dabei schwingt das Verzehrt-Werden von der übergroßen Aufgabe und
dem übergroßen Anspruch immer schon mit.

Was der ein oder andere Adelige meinte, seinem König und Vaterland besser freiwillig als zu
schulden, sieht aus Sicht der weniger Privilegierten weit weniger aktivisch aus.

Zugespitzt lässt sich sagen, dass der Gebrauch vieler Menschen durch einige wenige andere
Menschen gerade deshalb in vergangenen Epochen nicht in den Blick geriet, weil er
selbstverständlich war. Dieser Umstand verdankt seine unrühmliche Existenz weder dem
Kolonialismus noch der Sklaverei, denn weder beginnt, noch endet er mit diesen.

Das einfache Individuum – so es nicht in einer der ab den ersten Kreuzzügen florierenden freien
Reichstädten oder in einer der wenigen Republiken Zuflucht fand – befand sich von der
Spätantike bis zur Reformation in der westlichen Welt, vereinfacht gesagt zwischen Staat und
Kirche als zu gebrauchendes Ding eingezäunt: der Körper und das irdische Leben gehörte dem
Lehnsherren, dem man nicht zur Fron- sondern auch Kriegsdienste schuldig war; die Seele und
das ewige Leben hingegen dem Priester, bei dem man die Beichte abzulegen hatte. Erst der
englische habeas-corpus-Act (1679) brachte Bewegung in die Sache.5 In den Nachwehen der
Reformation – andersorten bereits mit Pico della Mirandola (1463–1494) – schwand die Macht
dieser komplementären, gleichermaßen entmündigenden Autoritäten langsam und ging als
Missbrauchserzählung in die aufklärerische Geschichtsschreibung ein.

Ist es vermessen zu vermuten, dass dieses Leben in relativer Verantwortungslosigkeit seine
angenehmen Seiten hatte und dass sich diese Bequemlichkeit tief in das kollektive Gedächtnis
eingegraben haben? Ist es verwunderlich, wenn die moderne Popkultur neuerlich keine andere
als eben die Gebrauchskategorie zu ihrem zentralen Credo erhebt und genau deshalb so beliebt
ist? Ist es Zufall, dass insbesondere der körperliche ‘Selbstgebrauch’ zur alles bestimmenden
Sorge wird in einer narzisstisch auf sich selbst bezogenen Gesellschaft, wie Richard Sennett sie
bereits 1974 diagnostizierte?6

Das vorliegende Buch versucht, Radikalität, Gebrauch und Popkultur kulturphilosophisch
erhellend miteinander ins Benehmen zu setzen. Die Popkultur und ihre Tendenz, den
Unterschied zwischen Gebrauch, Selbstgebrauch, Selbstverbrauch und Missbrauch zu
verwischen, werden dabei als Schlüssel angesehen, um verschiedene aktuelle Formen jüngster
Radikalisierungen in der westlichen Kultur besser zu verstehen.7

4
  „Alliis inserviendo consumor“, also: “Im Dienste für Andere verzehre ich mich“, lautet z.B. der Wahlspruch des
   Herzogs Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel und ein anderes Familienmitglied präzisiert es durch ein „pro patria
   consumor“ (Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel).
5
   Das ‘Gesetz’, immerhin gegen den übergriffigen König Charles I erlassen, meint jedoch gerade keine Verfügung
   über den eigenen Körper, vielmehr seine Vorführung vor Gericht, um das willkürliche Festhalten einer Person ohne
   richterlichen Haftbefehl auf drei Tage zu begrenzen.
6
  Richard Sennett: The Fall of Public Man. The Tyranny of Intimacy. GENAUE ANGABE mit ZITAT.
7
  Ich beschränke mich hier auf die westlich-europäische Kultur aus dem einzigen, zufälligen Grund, dass ich mich in
   der Kultur, in der ich selbst aufgewachsen bin und gelebt habe, halbwegs auszukennen meine.

                                                                                                                  7
Abgrenzung zum Extremismus und leitende Idee

Diese Studie interessiert sich dafür, warum Radikalität in jüngerer Zeit ein so attraktives
Vorbild für Aktivist_innen8 des digitalen Zeitalters geworden ist, Occupy und Anonymous seien
hier nur stellvertretend genannt. Die meisten ihrer Sympathisant_innen sind unter säkularen
Vorzeichen des Westens aufgewachsen; ihre Radikalisierung bleibt jedoch durch die
Anonymität des Internets eigentümlich geschützt. Es ist die Anonymisierung mit digitalen
Mitteln, welche entlastend wirkt und völlig neue Formen der ‘Teilzeitradikalität’ hervorbringt.

Hiervon zu unterscheiden sind jene, die sich mit Haut und Haaren plötzlich einer politischen,
gesellschaftlichen oder auch religiösen Sachfrage verschreiben und sich bereit erklären,
Ungeheuerliches dafür zu tun, sogar zu töten, um an ein nicht allzu fernes Beispiel vom
Londoner DJ zu erinnern, die sich binnen kurzer Zeit radikalisierten und sich dem dem
sogenannten Einige wollen sogar töten und sind bereit, um eines sogenannten ‘Islamischen
Staates’ anempfahlen, bereit sogar zu töten und selbst getötet zu werden.

Dennoch handelt diese Arbeit nicht von Mördern. Sie betont hingegen den Unterschied
zwischen Radikalität und Extremismus. Dieser besteht schlicht darin, ob jemand, à la limite
bereit ist, füreine Idee selbst zu sterben; oder aber ob er willig ist, für eine Idee andere zu töten.
Dieses Buch handelt deshalb nicht von sog. ‘Selbstmordattentätern’ und adelt ihre Taten
ausdrücklich nicht durch den Begriff der Radikalität.

Zugegeben, diese Unterscheidung macht es mir als Philosophin leicht, vielleicht zu leicht. In der
Regel erweist sich die Wirklichkeit als komplexer. Doch ich möchte hier keine moralische
Debatte führen, sondern eine ethische. Es geht mir um die Haltung der Radikalität, nicht um die
Praxis des Fanatismus oder die des Extremismus.

Ich werde in diesem Buch Radikalität als kulturelles Phänomen in seinen Transformationen und
in seinen unterschiedlichen Erscheinungsräumen, in Philosophie & Kunst, Religion, Politik &
Gesellschaft vergleichend untersuchen. Hiervor verspreche ich mir, so besser ihre Binnenlogik,
d.h. ihre Gelingens- wie Misslingensbedingungen zu verstehen. All diese Lebens-, Denk- und
Daseinsformen begreifen und ja, gebrauchen und brauchen Radikalität anders – mit erheblichen
Folgen für ihre soziale Akzeptanz. Was für Philosophie und Kunst als nötiger
‘Distinktionsgewinn’ (Bourdieu) durchgeht, ist für Religion, Politik und Gesellschaft als
Handlungskategorie noch lange nicht akzeptabel.

Ganz offenbar wirkt hier der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, Agitation und freiem
Spiel der Gemütskräfte, zwischen Voluntarismus und Konsequentialismus entlastend.
Umgekehrt scheint Radikalität selbst als eine besondere Vermittlungsform zwischen diesen
Größen. Der schon erwähnte Helmuth Plessner fasst Radikalität als eine Art krude gelebte
Theorie, d.h. als ein Verwechselungsgeschehen auf. Diesem Verdacht, der eine Philosophin
elektrisieren muss, wird mein Buch nachgehen.

Fünf verschiedenen Phänomenbereiche oder Sphären von Radikalität ist je ein eigenes Kapitel
gewidmet, um eine Vergleichsgrundlage zu haben. Dazu tauchen die Leser_innen in
unterschiedliche Jahrhunderte und Örtlichkeiten ein: in das 4. Jahrhundert n.Chr. und das frühe
Christentum in Nordafrika; in das 14. Jahrhundert sowie die Gesellschaft Venedigs zu Zeiten
der Pest oder in das 18. und 19. Jahrhundert der englischen und deutschen Philosophie, um nur
die drei prominentesten Beispiele zu nennen.

8
    Ich verwende in diesem Buch die männliche als generische Form, ohne damit weibliche Mitglieder auszuschließen
    oder geringzuschätzen, wenn überwiegend Männer betroffen sind, etwa, wenn ich über die venezianischen Adeligen
    schreibe, welche die Stadtgeschichte im 14. Jahrhundert lenkten. Wenn mutmaßlich überwiegend von Frauen die
    Rede ist, wähle ich entsprechend die weibliche Form, ohne damit Männer zu diskreditieren. In Fällen, in denen beide
    Geschlechter in ähnlicher Weise betroffen sind, verwende ich den Unterstrich des gender gap, etwa, wenn ich die
    Leser_innen dieses Buches direkt adressiere, damit niemand einschläft!

                                                                                                                     8
In einem parallelen Schritt wird, quer zu diesem konkreten Aktionsräumen, das übergreifende,
kulturelle Selbstverständnis von Radikalität hinterfragt. Besonders geeignet scheint hierfür der
historische Augenblick, als ein radikales Moment in die scheinbar so permissive, scheinbar so
harmlose Popkultur selbst eintritt. Radikalität transformiert nicht nur die moderne Popkultur,
sie wandelt sich auch selbst unter dem Kontakt: Ihren traditionellen Snobismus und ihre
dogmatische Borniertheit lässt sie hinter sich, wenn sie populär – und das heißt: ein
Massenphänomen – wird.

Meine Analyse untergräbt damit die kommode Festschreibung einer klassischen Radikalität, die
als uralt, elitär, kompromisslos und gefährlich gilt, im Unterschied zu einer Popkultur, die als
neu, inklusiv, permissiv und harmlos angesehen wird. Nach dieser gängigen Lesart haben
Radikalität und Popkultur keine gemeinsame Geschichte und auch konzeptuell keinen
gemeinsamen Nenner, sondern sind einander diametral entgegengesetzt. Dass diese Opposition
zu kurz greift, obwohl sie wirk- und d.h. diskursmächtig ist, zeigt sich u.a. darin, dass Popkultur
bis heute als ‘niedere’ Kunst durchgeht, weil sie für ‘höhere’ zu schnell, zu einfach und vor
allem zu viele Claqueure findet. Diese Einschätzung gründet auf der innigen Verbindung
zwischen Popkultur und Kapitalismus, sowie Kapitalismus und Faschismus.

In seinem berühmten Aufsatz über die Kulturindustrie prägte Theodor W. Adorno in
Anspielung an Ernst Jüngers kriegsverherrlichende Schrift den Satz: „Fun ist ein
Stahlgewitter“9, womit er das Verkaufen anspruchslosen Massengeschmacks nicht länger als
lässliche Sünde oder Harmlosigkeit durchgehen lassen wollte. Seine drastische Formulierung
versuchte ins mutmaßliche ‘Herz’ der Popkultur zu treffen: die Ausbeutung der menschlichen
Seele durch ‘Selbstausverkauf’. Doch was, wenn es hierbei nicht primär oder jedenfalls nicht
nur um freiwillige Selbstausbeutung, sondern um eine Form der Aneignung und
Selbstermächtigung ginge? Was, wenn die Popkultur gar kein schlagendes Herzzentrum besäße,
nicht einmal im metaphorischen Sinne, sondern eher wie ein Rhizomverband funktionierte und
weiterlebte, against all odds, wie ein Holobiont?

Die These, die im Folgenden verteidigt werden soll, lautet, dass es einen ‘gemeinsamen Nenner’
zwischen Radikalität und Popkultur geben könnte, der bislang übersehen wurde. Das
Ubiquitärwerden der Gebrauchskategorie stiftet die gesuchte Verbindung. Der
Gebrauchsbegriff wird, so die dazugehörige These, radikal, d.h. bedingungslos und grenzenlos,
indem er nicht nur die Ökonomie, nicht nur die klassischen Eigentums- oder
Urheberrechtsverhältnisse durchdringt und transformiert; sondern beginnt, alle Lebensbereiche,
inclusive das Selbstverhältnis der Menschen zu ihrem Körper und ihrem Leben neu zu
formatieren.

Radikalität im Zeichen der Popkultur meint im Folgenden also den bewussten und d.h. bewusst
unumschränkten, unbedingten Gebrauch des eigenen Körpers resp. des eigenen Lebens. Wann
und wo aber beginnt sie, diese Popkultur? In den römischen Arenen? Oder erst mit der Pop Art
der 1950 und 1960er Jahre?

Popkultur – wenn die Gebrauchskategorie ubiquitär wird

Popkultur im hier verstandenen Sinn beginnt weder mit der Popart der 1950 und 1960er Jahre,
noch in den römischen Arenen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Doch sie lässt sich
jedoch, wie Kap. VI. genauer erklärt, mit einigem Grund auf das Jahr 1832 zurückdatieren. In
diesem Jahr setzte Jeremy Bentham in London erfolgreich die ‘Auto-Ikonisierung’ seines toten
Körpers durch. Er wählte tatsächlich diesen Begriff: ‘Auto-Icon’, das Sich-selbst-zum-Bild-
Machen über den eigenen Tod hinaus, als ultimativen Akt der Selbstermächtigung. Ein
posthumes ‘Auto-Icon’ ist – wie man schnell einsieht – eine Anmaßung, mit Verve eine
ungeschützte Behauptung deckend, denn selbstredend waren es andere, die bei der
‘Ikonisierung’ der sterblichen Überreste des Philosophen Bentham behilflich waren.

9
    Adorno, Kulturindustrie … S. ?

                                                                                                   9
In diesem Buch also beginnt westliche Popkultur mit einem englischen Philosophen, den man in
Deutschland als Utilitaristen, in der englischsprachigen Welt jedoch als ‘radical philosopher’
kennt. Sie beginnt mit einem Exzentriker, der bis heute im University College of London in
einem öffentlich zugänglichen Raum, in einer Durchgangshalle in einem Glasschrank mit
Rollen sitzt. Aufgrund eines Unfalls – von dem noch genauer die Rede sein wird – fehlt ihm der
Kopf. Weil ein Wachskopf mit Glasaugen und Echthaar ihn ersetzt, wird Bentham nicht gleich
als Mumie identifiziert. Dabei handelt es sich um einen ästhetisch vorteilhaften Umstand, der
Benthams posthumes Überleben erheblich verlängert hat, auch wenn sich mittlerweile die
Protestbriefe der Studierenden mehren sollen, die seine Entfernung verlangen, da die
Anwesenheit eines Toten ihr seelisches Wohlbefinden und damit ihren Studienerfolg
beeinträchtige.

Bentham selbst sicherte seine Mumifizierung 1832 nicht nur mit einer testamentarischen
Verfügung ab, sondern stellte ihr einen dreiundzwanzig Seiten langen Text unter derselben
Überschrift zur Handhabung, d.h. zum Gebrauch des ‘Auto-Icons’ (und nicht nur seines!)
daneben. Der Untertitel heißt bezeichnender Weise: Farther Uses of the Dead to the Living. Der
nur durch Zufälle durch die Jahrhunderte gerettete Text sieht wenigstens elf verschiedene
Verwendungsweisen des ‘Auto-Icon’ vor. Bentham spielt sie alle höchst amüsiert durch.

Gutgelaunt lässt er durchblicken, dass es unendlich mehr Gebrauchsweisen gebe; das sei
lediglich eine Frage der menschlichen Erfindungskraft. Wie zum Beweis beendete Bentham den
Text, an dem er wenigstens die letzten acht bis zehn Jahren seines Lebens schrieb, nicht. Von
Fragment zu sprechen, wie es die Bentham-Forschung gewöhnlich tut, verkennt m.E. die
performative Absicht und bleibt hinter dem hintergründigen Witz des Verfassers seltsam
zurück.

Der eigene Körper wird für Bentham zum Meisterexempel für ein Denken, das sich noch das
nutzloseste Ding – und sei es der eigene, tote Körper – untertan macht, indem es ihm eine neue
Form gibt. Eine Form, die den Körper für mannigfaltigen Gebrauch offenhält, statt ihn
Verwesung oder Zerstörung preiszugeben. Es ist jedoch weniger der bekannten Technik der
Mumifizierung geschuldet, als dem demonstrativen Nutzen der mitgelieferten
Gebrauchsanweisung, von dem sich Bentham mehr als nur ein – und mehr als nur sein eigenes –
posthumes Weiterleben verspricht.

Der Gebrauch – und zwar kein einseitiger, vernünftiger, nutzenoptimierter, sondern ein
multipler, überraschender, kontradiktorischer, wilder, erfindungsreicher – wird zu Benthams
Königsformel für eine ‘never ending invention’.10 Denn allein sie verlängert den menschlichen
Geist, Willen und Erfindungskraft über das Vehikel einer – dann nur noch scheinbar tumben
Dingwelt – in die Zukunft hinein und bezieht daraus vorauseilend Rechtfertigung, Spaß und
Erfüllung.

Das ‘Auto-Icon’ ist dann nicht nur ein antiklerikales, schaurig-makabres Demonstrationsobjekt.
Es ist auch ein Theorie-Vehikel für Benthams radical philosophy und also solches ein höchst
persuasives Propaganda-Mittel für den unumschränkten Gebrauch des eigenen Körpers. Wenn
Bentham das, gegen einige Widerstände, öffentlich mit seinem toten Körper im 19. Jahrhundert
anstellte, was für Möglichkeiten eröffnen sich dann erst für die Lebenden im 21. Jahrhundert?

Popkultur feiert damit längst nicht nur das eigene Ikonisch-Werden oder Warhols „fiveteen
minutes of fame“.11 Ihr eignet vielmehr ein versteckter, klandestin radikaler Charakterzug, eine
einzige, organisierende Idee, die sie im Sinne Helmut Plessners ‘verunendlicht’.12 (Dazu gleich
ausführlicher mehr.)

10
   Quelle Bentham … The invention must go on! Aus dem Auto-Icon-Fragment
11
   https://en.wikipedia.org/wiki/15_minutes_of_fame (Letzter Aufruf: 30. Juli 2019)
12
   Plessner-Zitat

                                                                                              10
Diese Idee, die zugleich eminent praktisch ist, kann so beschrieben werden, dass sie die
Kategorie des Gebrauchs ubiquitär und maßlos werden lässt. Gebrauch, egal welcher –
Missbrauch, Nießbrauch, Selbstgebrauch, Verbrauch, exzentrischer Gebrauch sind in ihn
eingeschlossen – wird zu einem Imperativ, allgegenwärtig und grenzenlos. (Selbst die für die
Ausbildung des Rechtssystems so wichtige Kategorie des ‘Besitzes’ ist vor ihr nicht sicher, wir
werden sehen, warum. Vgl. Schlusskapitel)

Warum geriet so ein unscheinbarer Begriff wie der Gebrauch bislang nicht in den Blick? Wieso
gibt es nur kaum belastbare philosophische Literatur zu ihm?

Vermutlich geriet der Begriff nicht in den Blick, weil andere ihn verstellten oder überlagerten;
Begriffe, deren explikativer Wert höher eingeschätzt oder die als kritikwürdiger erachtet
wurden. Das ist kein untypisches Muster philosophischer Debattenverläufe. In Betracht für
Verstellung und Überlagerung kommen wenigstens drei philosophische Begriffe: zum einen ein
starker Handlungsbegriff, der Annahmen über Willensbildung, Reflexion, Entschlusskraft, Mut
oder Durchsetzung, d.h. Verantwortlichkeit mit sich führt, als Gegenstand der Wertschätzung;13
zum anderen die beiden verwandten Begriffe der Zweckrationalität oder des Nutzenkalküls, wie
sie im englischen Utilitarismus in unterschiedliche Spielarten (u.a. James Stuart Mill) verbreitet
sind. Die Kritik daran findet sich – bereits avant-la-lettre – bei Immanuel Kant, später sehr
prominent in der sog. ‘Kritischen Theorie’, besonders bei Theodor W. Adorno.14

Wer fruchtbar über Gebrauch nachdenken will, scheint gut beraten, weder in den freiheitlichen
Kategorien von Handlungen, noch in den instrumentellen Kategorien von Nutzenkalkül oder
Zweckrationalität gefangen zu bleiben. Was wie eine Handlung aussieht, ist im Fall des
Gebrauch gerade keine Handlung; und was wie ein instrumentelles Vorhaben aussieht, verfolgt
im Fall des Gebrauchs gerade keinem festzulegenden Zweck, schon gar keinem rationalen.

Halten wir uns deshalb zur ersten Orientierung an die historischen Anfänge eines sich –
wenigstens – rudimentär entfaltenden Gebrauchsbegriffs in der Philosophie: Interessanterweise
spielt der Begriff des Gebrauchs bei Immanuel Kant in seiner populären Antwort auf die Frage:
„Was ist Aufklärung?“ 1784 eine gewichtige explikative Rolle. Es finden sich mehr als zehn
Nennungen auf wenigen Seiten. Der gewünschte ‘öffentliche Gebrauch’ der eigenen Vernunft
„in all ihren Stücken“ durch jedermann wird dabei dem bloßen ‘Privatgebrauch’
gegenübergestellt, letztere ist interessanterweise auch deshalb nur ein partieller Gebrauch, da er
gleichsam deformiert von Amts wegen erscheint. Auch die berühmte, doppelt unterstrichene
Eingangsformel, „sich seiner [des eigenen Verstandes] ohne die Leitung des anderen zu
bedienen“, mündend in der Aufforderung „Habe Mut, deines eigenen Verstandes zu bedienen!“,
ließe sich ohne Schwierigkeit als Gebrauchsformel reformulieren: Sich bedienen – also etwas
gebrauchen, als gehörte es einem bereits!

Damit markiert der Wahlspruch der Aufklärung eine Zäsur zu dem eingangs erwähnten adeligen
Wahlspruch des ‘consumor’, sei der nun pflichtschuldig oder leidenschaftlich zu verstehen. Aus
dem ‘Ich verzehre mich’ – d.h. ich lasse mich verbrauchen, ich verausgabe mich, ich gehorche
höheren Mächten – wird im Zuge der politischen Emanzipation ein selbstbewusstes ‘ich bediene
mich’, d.h. ich gebauche etwas nach eigenem Gutdünken! Damit scheint zugleich ein wirksames
Mittel gefunden zu sein, um das bekannte Luther-Wort vom ‘freien Herrn’ und ‘dienstbarem
Knecht’ aus der Freiheit eines Christenmenschen (1520) abzulöschen und abzulösen. Die darin
fortgeschriebene, augustinische Trennung zwischen einem freien Geist und einem unfreien,
dienstbaren Körper, die uns im Religionskapitel noch ausführlicher beschäftigen wird, verliert
dann ihre Gültigkeit.15 Der Selbstgebrauch der Vernunft verheißt Einheit statt Zweiheit.

13
   Fußnote zum Handlungsbegriff, vielleicht bei Schnädelbach?
14
   Fußnote zum Kritik an Zweckrationalität und Nutzenkalkül (z.B. Adorno)
15
   „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“, gefolgt vom zweiten Satz: „Ein
   Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ – Luther argumentiert hier mit
   Rekurs auf Paulus, 1 Kor 9 und Röm 13. Diese „beiden widersprüchlichen Redeweisen“, löst Luther durch den von
   Augustinus kommenden Unterschied zwischen der geistigen (neuen, inneren) und der leiblichen (alten, äußerlichen)
   Natur des Menschen auf. – Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (De libertate christiana), 1520.

                                                                                                                11
Auch bei Kant wird allerdings der Gebrauch oder eben – weit häufiger – der Nicht-Gebrauch
der eigenen Vernunft abhängig gemacht und reguliert vom jederzeit möglichen, willentlichen
Entschluss, sich nicht länger durch Autoritäten bevormunden zu lassen. Es ist also der
menschliche Wille, eng verbunden mit der kantischen Handlungsethik, der hier den Gebrauch
oder Nicht-Gebrauch der Vernunft bestimmt. Der Gebrauch selbst gewinnt so philosophisch
noch keine eigenständige Kontur, solange er dem kantischen Heteronomie-Verdikt unterliegt.

Dass der Nicht-Gebrauch der Vernunft komplexere Gründe als Willensschwäche (zugegeben,
ein ziemlich schwaches und unausgegorenes philosophische Sujet) haben könnte, gibt der
kantische Text an einer Stelle immerhin zu verstehen. Kant geht ausdrücklich auf notorische,
psychologische Einschüchterungsversuche ein, auf die gezielte Angstmacherei durch
Autoritäten, an die das gros seiner Landsleute 1784 meinte, den Gebrauch der Vernunft
delegieren zu können. Von einer solchermaßen durch Einschüchterung forcierten Unmündigkeit
sieht Kant das „ganze[n] schöne[n] Geschlecht“ betroffen, das er als bekanntes Lesepublikum
der Berlinischen Monatszeitschrift gleichzeitig zu hofieren weiß.

Neben der Einschüchterung sind es für Kant außerdem noch „Feigheit und Faulheit“16, also
aktive psychologische wie habituelle Faktoren, welche den Gebrauch der eigenen Vernunft in
praxi verhindern. Den Grund für ihr notorisches Auftreten nennt Kant ohne Umschweife schon
im zweiten Absatz in der gebotenen Knappheit: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“17

Solchermaßen vorbereitet, wird der Nicht-Gebrauch der eigenen Vernunft von Kant schließlich
ohne Umschweife als „Mißbrauch“ der menschlichen Naturgaben charakterisiert.

   „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur
   gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist
   vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn
   niemals
   den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge
   eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die
   Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.“18

Dieser eigentümliche Kurzschluss aus Nicht-Gebrauch und Mißbrauchs-Vorwurf wird uns
genauer beschäftigen. 19 An dieser Stelle sei festgehalten, dass bei Kant der Gebrauch (von
etwas) als Verbform durch das aktivische ‘sich bedienen’ (von etwas oder jemandem)
ausgedrückt und durch psychologische Begriffe wie ‘Mut’ oder Konzepte aus der
Entscheidungstheorie, wie ‘Entschluss’, moderiert wird. Damit gerät der Gebrauch unter den
Einfluss psychologischer Begriffe; er wird stillgestellt wie ein Schattenriß, gekennzeichnet von
seiner Negativität und festgehalten, ja, petrifiziert durch die Bindung an liebgewonnene
Gewohnheiten.

Das Konzept des Gebrauchs unterhält ethologische – d.h. verhaltenslogische – Affinitäten zum
Begriff der Gewohnheit, denn es ist ja gerade der wiederholte Umgang mit etwas, der den Weg
zum Habituellen ebnet. Allerdings verdeckt genau dieser Sachverhalt die hier wesentlichen
anderen Eigenschaften. Genau diese aber werden uns – wenn wir Benthams Stoßrichtung seines
originellen Gebrauchsbegriffs wie Begriffsgebrauchs ernstnehmen – in diesem Buch
beschäftigen.

Gebrauch wird hier als eine nicht-alternativlose, sondern im Gegenteil unorthodoxe, dabei sich
selbst undurchsichtige, oft noch ungerichtete Form des Umgangs mit etwas oder jemandem

   Zit    hier   nach:      https://www.luther2017.de/martin-luther/texte-quellen/lutherschrift-von-der-freiheit-eines-
   christenmenschen/index.html
16
    Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft
   1784, S. 481–494, hier 481.
17
   (Kant 1784, 481.) Ebd.
18
   Kant 1784, 482f.
19
   [in Kap. ?]

                                                                                                                   12
aufgefasst, ohne einen damit bereits feststehenden Zweck zu verfolgen. Gebrauch ist in diesem
Sinne keine regelgeleitete Tätigkeit, sondern eher ein blindes Tun mit hohen Anteilen an
Unbewußtheit, Unbestimmtheit, empfindlich für Zufälle und Launen – nicht nur der Natur.

Die Herkunft des Begriffs, zumindest in romanischen Sprachen, leitet sich vom lateinischen
Ausdruck für eine – eher beiläufig, dabei durchaus selbstbewusst und lustvoll – vom Baum
abgebrochenen Frucht her.20 Wenn das stimmt, geht es beim Gebrauch buchstäblich um eine
Form des Mundraubs, bei der sich Bedürftigkeit und Begehrlichkeit, Lust und Notwendigkeit
die Waage halten. Im 18. Jahrhundert, nicht nur in den Schriften Kants, sind die Wendungen
etwas zu gebrauchen und sich bedienen, noch Synonyme für das Spektrum des Erlaubten,
gedeckt durch ein Konzept der Natürlichkeit und Angemessenheit der eigenen Bedürfnisse, für
deren Erfüllung jedermann selbst Sorge tragen dürfe, könne und müsse.

Das deutsche Strafgesetzbuch kannte vor 1975 dies als eigenen Tatbestand an, der – etwas
umständlich – auch als ‘Notdiebstahl’ oder ‘Notentwendung’ bezeichnet und mit nur
geringerem Strafmaß belegt wurde. Im Alten Testament findet sich im Deuteronomium (Dtn 23,
25f.) eine genaue Grenzziehung des dabei Erlaubten und des Verbotenen: Interessanterweise ist
– im Fall des Streifzugs durch einen Weinberg – erlaubt, „so viel Trauben [zu] essen, wie du
magst, bis du satt bist“, nur dürfen keine Vorräte angelegt und mitgenommen werden („nur
darfst du nichts in ein Gefäß tun.“). Dasselbe gilt für den Gang durch ein reifes Kornfeld, das
einem nicht gehört: Die Hand darf zum Ährenabreißen gebraucht werden, die Sichel nicht.

Der Gebrauch ist hier also erstens an eine Form des Eigen- oder Selbstgebrauchs gekoppelt;
zweitens jedoch weder an einem abstrakten Nutzen orientiert, noch an ein zukünftiges Kalkül
gerichtet. Er dient einzig und allein der Deckung eines momentanen, real existierenden
Eigenbedarfs. Ihn maßvoll zu stillen, erscheint zumindest den Autoren des Alten Testaments
legitim.

Wenn das stimmt, bestünde die Aufgabe einer zu schreibenden Philosophie des Gebrauchs
mindestens darin, den unmittelbaren Nutzen mit der unmittelbaren Lust – am Mundraub als
sprichwörtlich instantanen Bedürfnisbefriedigung – zusammenzudenken, die Übertretung mit
dem bezwingenden Gefühl des Gut-so-Seins, der Angemessenheit des ‘Sich-Bedienens’ zu
verbinden.

Vielleicht liegt genau in dieser Forderung zugleich die beunruhigende Nähe, das Kippmoment
vom Gebrauch zum Missbrauch begründet: Das Sich-Bedienen – verstanden zunächst als das
Stillen von Notwendigkeiten – überschreitet das Maßvolle, weil es aufgrund der in es
eingeschriebenen Lusterfahrung durch Wiederholung die Reizschwelle systematisch nach oben
treibt. Weil die ihm zugrunde liegenden Bedürftigkeiten dynamisch, veränderlich, gierig sind,
rasch nach Mehr verlangend, verschiebt sich der Maßstab und die Reizschwelle für die
Befriedigung unmerklich und stetig nach oben. Bedürftigkeiten sind weder einfach gegeben,
noch leicht zu befriedigen. Warum nicht? Weil sie luxurierend und als luxurierende affizierbar
und kultivierbar sind. Sie weiten sich aus, organisieren ihre eigenen Mehrheiten, erfinden
Gründe, übertreiben, weiten sich zu regelrechten ‘Bedürfnissen’, die sich (von anderen) sehr
leicht ausschlachten, ausbeuten, ausnutzen lassen. Weil sie Menschen auf unangenehme Weise
an ihre eigene Korrumpierbarkeit erinnern, werden aus kleinen, lässlichen Übertretungen so
leicht sich verselbständigende, schlechte Gewohnheiten. Die systematische Verwechslung von
Bedürfnis und Bedürftigkeit verstärkt das Problem.

Der Grad des Angemessenen, des weder übermäßigen und noch übergriffigen Gebrauchs wird
dann kaum regulierbar. Warum? Weil die Lust am Gebrauch durch den eigenen Körper geht,
weil sie ihn – wenn nicht gar verführt – so doch verleitet, mehr zu wollen, als man braucht.
Brauchen und Gebrauchen reimen sich dann nicht mehr. Die Maximierung eines bestimmten
Gebrauchs siegt über die angestrebte Optimierung und entfacht eine Dynamik der
Verselbstständigung.

20
     Vgl. dazu ausführlicher Kap. VIII. 6.

                                                                                               13
Das Problem der Korrumpierbarkeit, die in die Bedürfnisstruktur des Menschen selbst
eingeschrieben zu sein scheint, führt uns zurück zum titelgebenden Begriff der Radikalität, der
auf den letzten Seiten deshalb auch nur scheinbar aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geglitten
ist. Es geht bei der Unkorrumpierbarkeit um eine effektive Form des Distinktionsgewinns, ließe
sich mit Pierre Bourdieu sagen.21

Radikalität scheint – egal in welcher Sphäre sie auftaucht – vom Versprechen motiviert und
getragen, unkorrumpierbar zu sein. Daher ihre Nähe zur Rigidität. Selbst die oft gelobte und
begrüßte philosophische Radikalität bezieht ihren Wahrheitsanspruch nicht unwesentlich aus
der Glaubhaftmachung von Unbedingtheit, die sich auf die Gesetze der Logik, die sog.
Imperative der Vernunft oder auch die Paradoxien substraktiver Meditationen stützen. Religiöse
Radikale geben ein ‘Ich-stehe-hier-und-kann-nicht-anders’ zu Protokol. Die sich scheinbar
opfernde ‘Ich’-Perspektive wird behütet durch Rekurs auf eine Berufung, eine Offenbarung, ein
Erweckungserlebnis, initiiert durch eine höherstehende Macht, der man Gehorsam schuldet. Die
Beispiele ließen sich analog für die Äußerungsformen politische Radikalität durchdeklinieren,
kulminierend in dem Ausruf: ‘Wer, wenn nicht wir?’

Das Versprechen der Unkorrumpierbarkeit, der leidenschaftlichen Unbedingtheit und der
Absolutheit zielt auf eine Form des Distinktionsgewinns, auf eine Abgrenzung von den eigenen,
auch körperlichen Bedürfnissen, auf ein Abschneiden der eigenen Bedürftigkeiten zugunsten
einer übergeordneten Autorität, die gar nicht personell verstanden, sondern auch strukturell
gedacht werden kann. Rigidität in ihrem unbedingten, stupenden Durchhaltewillen zeugt von
der Gefahr, dass der Unkorrumpierbarkeit wahlweise etwas Unmenschliches oder
Übermenschliches eigen sein könnte.

Um diese Gefahr zu verstehen, lohnt es sich, eine Figur wie Max Stirner (1806–56) zu befragen,
in dessen intellektueller Vita sich Radikalität und ein sich ostentativ verselbständigender
Gebrauchsbegriff treffen. Wenn ‘performing radicality’ beansprucht, eine andere Geschichte
der Popkultur schreiben zu können, dann taucht der Zeitgenosse von Karl Marx und Friedrich
Engels als wichtiger historischer Kronzeuge auf. In seinem einzigen Buch: Der Einzige und sein
Eigentum (1845) wird nicht nur der radikale Duktus der Einseitigkeit spürbar, sondern auch die
in den Registern der Aufklärung geführte Rede von Gebrauch und der Brauchbarkeit als einzig
zählendem Maßstab thematisch:

      „Ich bin Mensch und Du bist Mensch, aber ‘Mensch’ ist nur ein Gedanke, eine
      Allgemeinheit; weder Ich noch Du sind sagbar, Wir sind unaussprechlich, weil nur
      Gedanken sagbar sind und im Sagen bestehen. Trachten Wir darum nicht nach der
      Gemeinschaft, sondern nach der Einseitigkeit. Suchen Wir nicht die umfassendste
      Gemeinde, die ‘menschliche Gesellschaft’, sondern suchen Wir in den Andern nur Mittel
      und Organe, die Wir als unser Eigentum gebrauchen! […] Es ist Keiner für Mich eine
      Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein
      Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht, ein interessanter oder
      uninteressanter Gegenstand, ein brauchbares oder unbrauchbares Subjekt. Und wenn
      Ich ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm […].“ [Herv.
      M.S.]22

So brachial und scheinbar ultra-utilitaristisch die Diktion, so entwirft Stirner doch vor dem
Hintergrund äußerster Armut und Entbehrung ein radikales Selbstermächtigungs-Szenario für
Menschen in Lumpen: Gerade wenn und weil sie nicht anderes als ihr nacktes Leben haben, so
Stirner, dürfen, müssen und können alle Menschen eines (und sei es noch so gering) für sich
beanspruchen: ‘Eigner’ dieses dürftigen Lebens zu sein. Ähnlich wie bei Bentham, ist auch bei
Stirner der ‘Selbstgebrauch’ des eigenen Lebens und des eigenen Körpers deshalb au fond eine
emanzipatorische Leistung, die eng verklammert ist mit einem aufklärerischen Impetus.

21
     Fußnote zum Pierre Bourdieus Konzept des Distinktionsgewinns.
22
     Stirner 1845, 415f.; Stirner 1893ff., 349. [Kommt das Zitat später noch mal??]

                                                                                              14
Der Gebrauchsbegriff rückt damit in das Zentrum kultureller Aushandlungsprozesse. Denn nicht
nur die Arbeitskraft des Lumpenproletarier wird vom Kapitalisten gebraucht und verbraucht,
sondern der Lumpenproletarier fängt an, sich selbst, andere und anderes zu gebrauchen. Mit
solch einer Figur ist – das ahnten Karl Marx und Friedrich Engels rasch – weder ein Staat zu
machen, noch der Kommunismus zu versuchen. Stirner durchkreuzte damit schon 1845 die
kühnen Träume beider – und zog sich Marx’ und Engels Polemik in Die deutsche Ideologie
(verfasst 1845-1846) zu, in der Ludwig Feuerbach als Junghegelianer, Bruno Bauer und Stirner
in denkbar schlechtem Licht erscheinen.

Stirners Anarchie der Verzweiflung, seine Radikalität und Unbedingtheit soll uns aus einer
systematischen Perspektive nun näher beschäftigen.23

Radikalität – theorieversessen und lustfeindlich? (Zu Helmuth Plessner)

Radikal ist, was wörtlich an die Wurzeln geht. Nicht auf irgendwelche Wurzeln, sondern die der
eigenen Existenz. Radikal ist, was die menschliche Natur angreift, weil es deren scheinbar
selbstverständlichen, ja, ‘natürlichen’ Gewissheiten verneint: “Unter Radikalismus verstehen
wir allgemein die Überzeugung, daß wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewußtem Rückgang
auf die Wurzeln der Existenz entsteht”.24

Gleich im ersten Satz seiner Studie zu den Grenzen der Gemeinschaft nimmt sich Helmuth
Plessner deshalb den „Glauben an die Heilkraft der Extreme“25 vor, den er beim Radikalen
attestiert. (1924 selbstredend noch männlich gedacht.) Radikalität vereint einen zerstörerischen
Impuls mit dem Versprechen einer Neugründung, darin liegt ihre bleibende Attraktivität.

Es geht dabei um die Aufkündigung von Kompromiss und Ausgleich.26 An ihre Stelle tritt ein
Bekenntnis zu „Rückhaltlosigkeit“, „Unendlichkeit“, „Enthusiasmus“, „Glut“.27 Der durchaus
schmerzhafte, gewaltsame Bruch mit den eigenen Bedingtheiten und Begehrlichkeiten verbindet
sich mit dem Wunsch, dem Grund der eigenen Korrumpierbarkeit buchstäblich den nährenden
Boden zu entziehen, um so neue Freiheit und Selbstbestimmtheit zu erlangen. Fragt sich nur,
auf welchem Grund?

Was, wenn sich das Angestrebte nur kurzfristig als Erleichterung, nicht jedoch aus dem
radikalen Bruch heraus verstetigen lässt, sondern im Gegenteil in neuen Zwängen mündet? –
Die Nährboden-Metaphorik, welche den Wurzel-Diskurs der Radikalität umgekehrt auf ideale
Weise bedient, ist mit Vorsicht zu genießen, weil sie Einfachheit, Klarheit und Entschiedenheit
da suggeriert, wo im Gegenteil eine ausgesprochene Gemengelage vorliegt.

Für eine Idee bereit sein zu sterben, soll hier als radikal bezeichnet werden; bereit sein, für sie
zu töten, jedoch als extrem. Selbstmordattentäter und Kamikazeflieger gehören nach meiner
oben gegebenen Definition angesichts des eigenen wie des fremden Massenmords nicht dazu,
wohl aber der religiöse Märtyrer, der seine Vierteilung hinnimmt oder eben jene Männer und
Frauen, die sich aus politischem Protest öffentlich selbst verbrennen.28

23
   Siehe Kap. VI.2.
24
   Plessner 2002, 14.
25
   Ebd.
26
    ... dazu zählen laut Plessner auch „Verhaltenheit, Verschwiegenheit, Unbewußtheit“; Radikalismus erscheint als
   „Verächter des Bedingten, Begrenzten, der kleinen Dinge und Schritte“. – Plessner 2002, 14.
27
   Ebd.
28
   Die Geschichte der öffentlichen Selbstverbrennungen ist so lang wie ihr Verfahren schmerzhaft und quälend. Ihre
   Wurzeln scheinen im 17. Jahrhundert zu liegen und sind als Praktik französischer Jesuiten als eine Form der ‘imitatio
   Christi’ verbürgt. Unvergessen ist Jan Palach Selbstverbrennung aus Protest gegen die blutige Niederschlagung des
   „Prager Frühlings“ am 16. Januar 1969, die Jüngeren an den jungen Tunesier Mohammed Bouazizi, der mit seinem
   qualvollen Tod am 17. Dezember 2010 den ‘Arabischen Frühling’ wesentlich mit auslöste.

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