Rista - JUSTIZ - DIGITAL - DRB NRW
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www.drb-nrw.de BUND DER RICHTER UND STAATSANWÄLTE IN NORDRHEIN-WESTFALEN rista RICHTER UND STAATSANWALT IN NRW 3/ rista 3/2021 1 /2015 21 JUSTIZ – DIGITAL 1
INHALT EDITORIAL 3 THEO ZIEGLER, STRAFRICHTER- TITELTHEMA 5 LEITFADEN „Legal Tech – neue Wege auch für die Justiz?“ 5 Rezension: „Algorithmen in der Justiz“ 8 BERUF AKTUELL 8 Interview mit Peter Finke, Vorsitzendem einer Kammer für Handelssachen, Landgericht Bielefeld 10 „MANCHE BÜCHER SIND WIE GUTE FREUNDE, SIE SIND SCHON AUF DEN Gerichtsbibliotheken – Totgesagte leben länger 12 ERSTEN BLICK ANSPRECHEND, MAN Jahresgespräch mit dem Justizminister 2021 14 KANN SICH AUF SIE VERLASSEN, Zwischenergebnis Attraktivitätsoffensive 16 SIE SIND IN DEN VERSCHIEDENSTEN „Verkehrssünder erschrecken“ leicht(er) gemacht – ein Zwischenstand 17 SITUATIONEN HILFREICH …“ (Harald Kloos, Rezensent) BERUF HUMORIG 18 Schokoweihnachtsmänner und Gendersternchen 18 BERUF AKTUELL 20 Ziegler, Strafrichter-Leitfaden 20 HERAUSGEBER: Der Vorstand des Bundes der Richter und Staatsanwälte in NRW, rückBLICK: 60 Jahre Eichmann-Prozess 20 Landesverband NRW des Deutschen Richterbundes Martin-Luther-Str. 11, 59065 Hamm, Tel. (02381) 29814, Fax (02381) 22568 E-Mail: info@drb-nrw.de, Internet: www.drb-nrw.de BLICK ÜBER DEN TELLERRAND 21 REDAKTION: E-Mail: rista@drb-nrw.de Es weht ein Wind in Österreich 21 Sylvia Münstermann (verantwortlich); Johannes Schüler (OStA a. D); Dr. Einhard Franke (DAG a. D.); Jürgen Hagmann (RAG a. D.); Harald Kloos (RAG); Lars Mückner (RAG); Inken Arps (RinAG); AUFNAHMEANTRAG 23 Dr. Simon J. Heetkamp (Ri) VERLAG, ANZEIGEN UND HERSTELLUNG: Wilke Mediengruppe GmbH Oberallener Weg 1 59069 Hamm Telefon: 0 23 85-4 62 90-0 Telefax: 0 23 85-4 62 90-90 E-Mail: info@einfach-wilke.de Internet: www.einfach-wilke.de BEZUGSBEDINGUNGEN: Der Verkaufspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten. Bezugspreis für Nichtmitglieder jährlich 20,– € plus Versandkosten. Konto des Landesverbandes NRW des Deutschen Richterbundes: Sparkasse Hamm (BIC: WELADED1HAM), IBAN DE58 4105 0095 0000 0702 27 – auch für Beitragszahlungen Gläubiger-ID: DE64ZZZ00000532220 Die Formulierungen „Richter“ und „Staatsanwalt“ bezeichnen in rista geschlechtsunabhängig den Beruf. Namentlich gekennzeichnete Berichte entsprechen nicht immer der Meinung der Redaktion. Fotos: Titelbild, S. 12 (eins), 22 und Fotomontage, S. 2: Karikatur: Kannengießer, S. 13: Inken Arps, S. 3, 10 und 11: Sylvia Münstermann, S. 5: Richterakademie Trier, S. 12 (sieben): OLG Düsseldorf, S. 14, DRB und Ministerium der Justiz, S. 16: DRB, S. 21: Wilke-Verlag, Cover: C. H. Beck-Verlag (S. 2) Duncker & Humblot (S. 9) 2 rista 3/2021
EDITORIAL WAS BEDEUTET "DIGITALER WERDEN"? Liebe Leserinnen, liebe Leser! Wir müssen digitaler werden! In Die Optimierung von Arbeitsabläufen durch IT und Algorith- manchen Ohren klingt das wie men birgt die Gefahr, dass alles diesen Prozessen unterge- eine freundliche Aufforderung ordnet wird. Wer jemals den Film von Ken Loach „I, Daniel zur Modernisierung, in anderen Blake“ über die rechnergestützte Optimierung der Arbeits- wie ein Befehl, den Anschluss vermittlung gesehen hat, bekommt einen Eindruck davon, nicht zu verpassen. Als ob mit wohin das führen kann. Und noch eines: Digitalisierung ent- der Digitalisierung alle anderen bindet nicht von der Pflicht der Nachwuchsgewinnung und Baustellen in der Justiz beseitigt einer entsprechenden Beförderung und Bezahlung. werden könnten. Digitalisierung Sylvia Münstermann als Heilsversprechen sozusagen. Der Verband hat bereits 2020 das Eckpunktepapier „Stellen- Sicher ist, mit Digitalisierung müssen sich Staatsanwälte hebungskonzept“ vorgelegt, das entsprechende Vorschläge und Richter befassen. Wie bedeutend das Thema ist, zeigte macht. Bislang war die Resonanz seitens des JM eher wol- auch der Deutsche Anwaltstag. Gleich mehrere Online- kig als heiter. Der Verband bleibt dran. „Wir werden das Seminare befassten sich zum 150. Jubiläum des Deutschen Stellenhebungskonzept jedoch nicht aufgeben und uns wei- Anwaltsvereins mit dem Thema. Herzlichen Glückwunsch ter für dessen Umsetzung einsetzen“, sagt der Landesvor- zum Jubiläum auch von der rista. sitzende Christian Friehoff. Im Heft finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, den entsprechenden Schnellbrief dazu. Der Digitalisierung ist der Schwerpunkt in diesem Heft. Denn die Vorsitzende sucht weiter das Gespräch mit dem Ministe- Digitalisierung hat den Berufsalltag vieler Juristen bereits rium. Wir werden das weiter beobachten. verändert und wird ihn weiter verändern. Deutlich macht das der Bericht zur „Legal Tech“-Tagung der Deutschen Rich- Diese Ausgabe befasst sich aber nicht nur mit gewichti- terakademie. Der Bericht zeigt, Legal Tech ist inzwischen gen Themen. Etwas Launiges kommt aus Österreich und Bestandteil unseres Rechtssystems; ob dabei auch künstli- wir blicken (nicht ganz ernst gemeint natürlich) voraus. Auf che Intelligenz eingesetzt werden kann, wird die Zukunft zei- die richtige Verteilung von Schokoweihnachtsmännern und gen. Passend zum Thema: die Rezension einer Dissertation Gendersternchen. „Algorithmen in der Justiz“. Verhandlungen per Videokonfe- renz sind ein weiteres großes Thema, ebenso wie die Frage: Die Redaktion wünscht Ihnen viel Freude beim Lesen und Werden durch die immer größeren technischen Angebote wir freuen uns über Anregungen, Lob und auch Kritik. Bibliotheken in den Gerichten überflüssig? Ihre Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser: Viele Juristen machen sich Gedanken über Veränderungen ihrer Arbeits- plätze und die damit verbundenen beruflichen Anforderun- gen. Eines ist sicher, die Digitalisierung verändert auch die Justiz. Aber Digitalisierung ist nicht nur das technisch Mach- Sylvia Münstermann bare, dem alles andere unterzuordnen ist. Digitalisierung muss mit Inhalt gefüllt werden. Da tauchen Fragen auf: Wie erhalten Rechtsuchende Zugang zum Recht, auch wenn sie nicht in das IT-System passen? Wie wird ein Richter, ein Staatsanwalt dem Einzelfall gerecht? rista 3/2021 3
ANZEIGE Gutachten für die Justiz Betriebswirtschaftliche Sachverständigengutachten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten und Strafverfahren tŝƌƵŶƚĞƌƐƚƺƚnjĞŶ^ŝĞĂůƐƵŶĂďŚćŶŐŝŐĞƌdžƉĞƌƚĞĚƵƌĐŚďĞƚƌŝĞďƐǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚĞ^ĂĐŚǀĞƌƐƚćŶĚŝŐĞŶͲ ŐƵƚĂĐŚƚĞŶŝŵZĂŚŵĞŶǀŽŶŝǀŝůͲ͕^ƚƌĂĨͲƵŶĚ/ŶƐŽůǀĞŶnjǀĞƌĨĂŚƌĞŶ͘ ĂďĞŝŬŽŶnjĞŶƚƌŝĞƌĞŶǁŝƌƵŶƐĂƵƐƐĐŚůŝĞƘůŝĐŚĂƵĨ/ŶƐŽůǀĞŶnjͲƵŶĚĞǁĞƌƚƵŶŐƐŐƵƚĂĐŚƚĞŶ͕ĂƵĨ^ĐŚĂĚĞŶƐͲ ĞƌŵŝƚƚůƵŶŐĞŶƐŽǁŝĞtŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚŬĞŝƚƐĂŶĂůLJƐĞŶ͘/ŶĚŝĞƐĞŵƵƐĂŵŵĞŶŚĂŶŐĞƌƐƚĞůůĞŶǁŝƌ'ƵƚĂĐŚƚĞŶ ŵŝƚĨŽůŐĞŶĚĞŶ^ĐŚǁĞƌƉƵŶŬƚĞŶ͗ ͺ Insolvenzgutachten ŝŶƐďĞƐŽŶĚĞƌĞ&ĞƐƚƐƚĞůůƵŶŐĞŝŶĞƌĞŝŶŐĞƚƌĞƚĞŶĞŶďnjǁ͘ĚƌŽŚĞŶĚĞŶĂŚůƵŶŐƐƵŶĨćŚŝŐŬĞŝƚ ƵŶĚmďĞƌƐĐŚƵůĚƵŶŐ ͺ Bewertungen ǀŽŶhŶƚĞƌŶĞŚŵĞŶ͕dĞŝůďĞƚƌŝĞďĞŶ͕&ƌĞŝďĞƌƵĨůĞƌͲWƌĂdžĞŶƵŶĚsĞƌŵƂŐĞŶƐǁĞƌƚĞŶ ͺ Schadensermittlung ďĞŝǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚůŝĐŚĞŶ^ĐŚćĚĞŶ͕ĞŶƚŐĂŶŐĞŶĞŶ'ĞǁŝŶŶĞŶ͕sĞƌĚŝĞŶƐƚĂƵƐĨĂůů͕'ĞƐĐŚćĨƚƐͲ ƵŶƚĞƌďƌĞĐŚƵŶŐĞŶ ͺ Wirtschaftlichkeitsanalysen ŝŵƵƐĂŵŵĞŶŚĂŶŐŵŝƚĚĞƌĞƵƌƚĞŝůƵŶŐǀŽŶsĞƌƚƌĂŐƐǀĞƌůĞƚnjƵŶŐĞŶ͕ƵƐŝŶĞƐƐƉůćŶĞŶ͕ ďĞŝsĞƌnjƵŐƐŽǁŝĞĨŽƌĞŶƐŝƐĐŚĞŶhŶƚĞƌƐƵĐŚƵŶŐĞŶ Individuelle Fragestellungen transparent und kompakt aufgearbeitet ŝĞƌŐĞďŶŝƐƐĞƵŶƐĞƌĞƌƌďĞŝƚnjĞŝĐŚŶĞŶƐŝĐŚĚƵƌĐŚĚŝĞŝŶĚŝǀŝĚƵĞůůĞŶĂůLJƐĞĚĞƐnjƵŐƌƵŶĚĞůŝĞŐĞŶĚĞŶ ^ĂĐŚǀĞƌŚĂůƚƐƵŶĚĚŝĞƌĂƌďĞŝƚƵŶŐďĞůĂƐƚďĂƌĞƌƌŬĞŶŶƚŶŝƐƐĞƵŶĚ^ĐŚůƵƐƐĨŽůŐĞƌƵŶŐĞŶĂƵƐ͘tŝƌĨĂƐƐĞŶ ƵŶƐĞƌĞƵƐƐĂŐĞŶŝŶŬůĂƌĞŶƵŶĚŬŽŵƉĂŬƚĞŶ'ƵƚĂĐŚƚĞŶnjƵƐĂŵŵĞŶ͕ĚŝĞĞŝŶĞƵŶŵŝƚƚĞůďĂƌĞ'ƌƵŶĚůĂŐĞĨƺƌ ĚŝĞƌŝĐŚƚĞƌůŝĐŚĞŶƚƐĐŚĞŝĚƵŶŐďŝůĚĞŶďnjǁ͘ƐƚĂĂƚƐĂŶǁĂůƚůŝĐŚĞƌŵŝƚƚůƵŶŐĞŶǀŽůůƵŵĨćŶŐůŝĐŚŽĚĞƌĨůĂŶŬŝĞͲ ƌĞŶĚƵŶƚĞƌƐƚƺƚnjĞŶ͘ Profil Guido Althaus Düsseldorf 'ƵŝĚŽůƚŚĂƵƐŝƐƚŐĞƐĐŚćĨƚƐĨƺŚƌĞŶĚĞƌ'ĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚĞƌĚĞƌĐĐƵƌĂĐLJ'ŵď, ĞƌůŝŶĞƌůůĞĞϱϵ;ϰ͘ƚĂŐĞͿ tŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐƉƌƺĨƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚ͘ĂǀŽƌǁĂƌĞƌϱ:ĂŚƌĞďĞŝĞŝŶĞƌŝŶƚĞƌͲ ϰϬϮϭϮƺƐƐĞůĚŽƌĨ ŶĂƚŝŽŶĂůĞŶĞƌĂƚƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚŝŵĞƌĞŝĐŚŝƐƉƵƚĞƐΘ/ŶǀĞƐƚŝŐĂƚŝŽŶƐ dĞů͗ϬϮϭϭϴϲϴϭϮϮϲϲ ƵŶĚϭϳ:ĂŚƌĞ͕njƵůĞƚnjƚĂůƐWĂƌƚŶĞƌ͕ŝŶŐƌŽƘĞŶtŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐƉƌƺĨƵŶŐƐͲƵŶĚ ĞƌĂƚƵŶŐƐŐĞƐĞůůƐĐŚĂĨƚĞŶ͘,ĞƌƌůƚŚĂƵƐƐĐŚůŽƐƐƐĞŝŶ^ƚƵĚŝƵŵĚĞƌĞƚƌŝĞďƐͲ Frankfurt am Main ǁŝƌƚƐĐŚĂĨƚƐůĞŚƌĞĂŶĚĞƌ'ŽĞƚŚĞͲhŶŝǀĞƌƐŝƚćƚŝŶ&ƌĂŶŬĨƵƌƚĂŵDĂŝŶĂůƐ EĞƵĞDĂŝŶnjĞƌ^ƚƌĂƘĞϰϲͲϱϬ ŝƉůŽŵͲ
TITELTHEMA ZWEITÄGIGE ONLINE-TAGUNG DER RICHTERAKADEMIE „LEGAL TECH – NEUE WEGE AUCH FÜR DIE JUSTIZ?“ Das Buzzword „Legal Tech“ ist in aller Munde. Die Digitalisierung hat die Rechtsberatung in den vergangenen Jahren in Teilbereichen erheb- lich verändert – zu denken ist nur an Anbieter wie Flightright oder geblitzt.de. So bietet etwa Flightright auf seiner Website eine summarische Prüfung des Anspruchs auf eine Ausgleichs- zahlung nach der Fluggastrechteverordnung bei Annullierung oder großer Verspätung eines Flu- ges und setzt etwaige Ansprüche (gerichtlich) durch. Geblitzt.de prüft Bußgeldbescheide bei Geschwindigkeits- oder Handyverstoß, legt Ein- spruch für den Betroffenen ein und berät zum weiteren Vorgehen. Nach einer Begrüßung durch Philip Scholz vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher- Die Richterakademie Trier tagte online. schutz (BMJV) starteten die über 100 Teilnehmer in die Veranstaltung mit einem von Richterin am wie möglichst gut (orientiert an den Bedürfnissen Landgericht Sina Dörr geleiteten Parforceritt durch des rechtsuchenden Bürgers) gearbeitet werden die Entwicklung der Menschheit – vom Steinzeit- könne. Auch Themen wie Change-Management menschen bis zum Menschen 4.0. und agiles Arbeiten müssten in der Justiz Beach- tung finden. Vor- und Nachteile der digitalen Revolution Digitaler Rechtsmarkt – Dörr, gerade abgeordnet an das BMJV, führte bequemer Zugang zum Recht in ihrem Vortrag „Digitaler Wandel und Justiz – Sodann folgte der Vortrag „Legal Tech – Digita- Mensch 4.0“ den Teilnehmern vor Augen, wel- lisierung des Rechtsmarkts und Modernisierung che Auswirkungen die digitale Revolution für die der Justiz“ von der Legal-Tech-Koryphäe Markus Menschheit im Ganzen und jeden Einzelnen hat. Hartung, seines Zeichens Rechtsanwalt, Mediator Während die Vorteile digitaler Neuerungen schnell und Senior Fellow am Bucerius Center on the Legal benannt seien (etwa gesteigerter Komfort und Profession, Hamburg. Lebensqualität, gesellschaftliche Teilhabe und erhöhte Verfügbarkeit von Information), würden die Ausgehend vom Rechtsmarkt – unter anderem Nachteile bzw. Herausforderungen allzu schnell unter Bezugnahme auf das schon genannte Unter- vergessen: lebenslanger Lern- und Anpassungs- nehmen Flightright – arbeitete Hartung heraus, bedarf, (gesellschaftlicher) Stress und (gefühlter) dass die Justiz für die Durchsetzung von Streu- Kontrollverlust. Der Mensch 4.0 sei betroffen von und Bagatellschäden – aus Sicht des einfachen den immer schneller werdenden Veränderungen, Bürgers – nicht geeignet sei. Das beim Bürger vor- damit einhergehenden Unsicherheiten und der herrschende rationale Desinteresse an der Durch- immer höheren Komplexität des Alltags. setzung von kleineren Geldbeträgen sei angesichts von für den juristischen Laien oft abschreckend Gesellschaft im Schleudergang wirkenden Justizverfahren und relativ hohen Kos- Dass sich die Gesellschaft durch die Verände- ten(-risiken) nachvollziehbar. Dabei gehe es – so rungen der Digitalisierung im „Schleudergang“ Hartung – nicht um die häufig fälschlicherweise befinde, wirke sich natürlich auch auf die Arbeit so bezeichnete Frage des „Zugangs zum Recht“, in der Justiz aus. Die Veränderungen durch die sondern allein um den Zugang zum bequemen Einführung der eAkte seien vielfältig besprochen, Recht. So werbe die RightNow Group mit dem Slo- doch müsse man sich grundlegend fragen, wie gan: „Rechtsdurchsetzung – so einfach wie Pizza und mit welchem Ziel man die Justiz weiter digita- bestellen!“ lisiere. Entscheidend sei nicht die Frage, wie mög- lichst digital gearbeitet werden könne, sondern rista 3/2021 5
TITELTHEMA Flaschenhals Justiz in Society, TU München) begann mit einer Befra- Die in den letzten Jahren erheblich gestiegene gung der Teilnehmer. So wollte Paschke wissen, Rechtsdurchsetzung durch Legal-Tech-Anbieter wie sich die Anwesenheit der Öffentlichkeit auf den (Fluggastrechte, Diesel-Klagen, anstehend: Wire- Richter auswirkt. Der weit überwiegenden Mehr- card-/E&Y-Klagen) treffe in der Justiz auf einen heit der Teilnehmer war dies egal; manche sagten doppelten Flaschenhals: Zum einen eine – bis- gar: Erst die Öffentlichkeit macht die Verhandlung lang noch weitgehend – analoge Ausstattung und vollständig. Daran schloss sich die Frage an, Arbeitsweise, zum anderen eine (gebotene) Ein- wie sich denn der Richter fühlen würde, wenn im zelfallorientierung. Beides stehe in diametralem Gerichtssaal eine Kamera aufgebaut wäre, über Gegensatz zur Arbeitsweise von Legal-Tech-Anbie- die Zuschauer dem Prozess digital folgen könnten. tern. Hier gab nur eine Minderheit an, davon nicht beein- druckt zu sein, während die meisten angaben, sich Möglichkeiten und Grenzen davon verunsichert zu fühlen. der Digitalisierung Die – auch aus den jeweiligen „Rollen“ zu erklä- Mit diesen Fragen war das Themenfeld abgesteckt. rende – unterschiedliche Sicht auf die Möglichkei- Ausgehend von dem seit Corona-Beginn viel dis- ten, Notwendigkeiten und Grenzen der Digitalisie- kutierten § 128 a ZPO (Verhandlung im Wege rung der Rechtspflege wurden in der anschließen- der Bild- und Tonübertragung) arbeitete Paschke den Paneldiskussion mit Isabelle Biallaß (Richterin Möglichkeiten einer digitalen Verhandlung de lege am AG, derzeit abgeordnet an das Ministerium der lata und de lege ferenda heraus. Dabei war sich Justiz NRW), Dr. Benedikt Quarch (Mitgründer und die Referentin sicher: Die Digitalisierung sei ein Geschäftsführer der RightNow Group) und Sven Verstärker der verfassungsrechtlich garantierten Lastinger (Rechtsanwalt und Director EU Com- Öffentlichkeitsgewähr. Eine digitale Gerichtsöffent- mercial Legal bei PayPal) vertieft. Biallaß sprang lichkeit könne die verschiedenen Dimensionen der für die bis zu diesem Zeitpunkt der Tagung häufig Öffentlichkeit in einem bisher nicht gekannten Maße mehr schlecht als recht weggekommene Justiz in ausfüllen. Dabei gebe es schon jetzt die erforder- die Bresche und betonte die großen Schritte, die in lichen öffentlichkeitsermöglichenden und -begren- der Justiz im elektronischen Rechtsverkehr und der zenden technischen Lösungen (etwa Uploadfilter elektronischen Akte in den letzten Jahren schon und digitales Fingerprinting). Aus dem die Vorträge erfolgt seien und in den nächsten Jahren abge- begleitenden Teilnehmer-Chat wurde eine gewisse schlossen wären. Quarch stellte die Arbeitsweise Zurückhaltung der lauschenden Richter deutlich. seines Legal-Tech-Start-ups vor, das Ansprüche nach automatisierter Vorprüfung abkaufe. Teil die- Künstliche Intelligenz in der Justiz (?) ser Vorprüfung sei auch, an welchem Gericht die Den ersten Tagungstag beschloss Tianyu Yuan Ansprüche durchzusetzen seien – denn es lägen (Rechtsanwalt, Mitgründer und Geschäftsführer der intern natürlich Daten vor, wie und mit welcher Ver- Codefy GmbH) mit dem Vortrag „Über den (un-) fahrensdauer ein Gericht bisher entschieden habe. praktischen Einsatz von KI im Recht“. Dabei ging es Yuan, der auch Robotik studiert hat, zunächst Lastinger erläuterte den PayPal-Käuferschutz, der einmal darum, die „Nur-Juristen“ mit einem Grund- bisweilen das Prädikat einer „Parallel-Justiz“ ver- verständnis für künstliche Intelligenz (KI) auszu- liehen bekommen habe. Erhalte etwa der Käufer statten und Anwendungsszenarien darzustellen. einer über PayPal abgewickelten Online-Trans- Die schon bestehenden Möglichkeiten von KI aktion seine Ware nicht, könne er dies online im verdeutlichte Yuan an einem Artikel aus The Guar- Käuferschutz-Portal anklicken. Sollte der Verkäu- dian, der im September 2020 vollständig von einer fer sodann keinen Versand- oder Zustellnachweis KI geschrieben worden war („A robot wrote this hochladen, buche PayPal den Kaufpreis auf das entire article. Are you scared yet, human?“). Um Konto des Käufers zurück. Das alles erfolge auto- die KI zu diesem Glanzstück zu befähigen, musste matisch. Erst wenn der Verkäufer einen Nachweis sie allerdings mit 499.000.000.000 „Tokens“ (= hochlade und der Käufer daraufhin weiter an seiner einzigartigen Wörtern) trainiert werden – das sind Forderung festhalte, komme es auf zweiter Stufe 570 GB purer Text. Und natürlich kosten die Ent- zu einer menschlichen Beteiligung in der Streitbei- wicklung und das Training dieser KI ein paar legung. Millionen Euro. Beides – die notwendige Daten- menge und das erforderliche Geld – sei im Rechts- Digitale Gerichtsöffentlichkeit markt wohl nicht verfügbar. Das – je nach Sicht- Der nachfolgende Vortrag „Digitalisierung und weise – Schreckgespenst oder der Heilsbringer Gerichtsöffentlichkeit“ von Dr. Anne Paschke (Bun- KI sei damit auf Sicht nicht zu erwarten. Möglich deskanzleramt und Munich Center for Technology seien allerdings juristische Datenstrategien in der 6 rista 3/2021
TITELTHEMA Aktendurchdringung oder Vertragsprüfung, die die noch Verbesserungsbedarf. So sei hinsichtlich Arbeit deutlich erleichterten. des beschleunigten Online-Verfahrens der sach- liche und persönliche Anwendungsbereich ange- Digitalisierung des Zivilprozesses sichts der recht niedrigen Streitwertgrenze und Auch der zweite Tag der Tagung hielt Spannendes der Beschränkung auf Verbraucherklagen deutlich bereit. Eröffnet wurde er durch einen Impulsvortrag zu eng ausgefallen. Auch sei der beabsichtigte von Frau Prof. Giesela Rühl (Lehrstuhl für Bürger- niedrigschwellige Zugang wahrscheinlich – ins- liches Recht, Zivilverfahrensrecht, Europäisches besondere im Vergleich zur herkömmlichen Klage- und Internationales Privat- und Verfahrensrecht und erhebung – zu hoch. Denn ein potenzieller Kläger Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität müsse sich vor Einleitung eines Online-Verfahrens zu Berlin) mit dem Titel „Digitalisierung des Zivilpro- eindeutig identifizieren (etwa per Personalausweis zesses: Evolution oder Revolution?“ zu dem auch mit freigeschalteter Online-Ausweisfunktion oder aus ihrer Sicht erforderlichen Digitalisierungsschub qualifizierter elektronischer Signatur), während bei für die Justiz. Die Covid-19-Pandemie habe wie ein der herkömmlichen Klage eine bloße Unterschrift Brennglas in vielen gesellschaftlichen Bereichen genüge. gezeigt, dass Deutschland nicht auf der Höhe der Zeit sei – dies gelte auch für die Justiz und hier ins- Trend: Online-Streitbeilegung besondere für den Zivilprozess. Rühl wagte einen Rühl gab sodann das digitale Mikrofon an Frau Dr. Blick ins europäische Ausland, wo etwa in England Wiebke Voß, Habilitandin an der Ruprecht-Karls-Uni- und Irland Online Court Services zumindest in Teil- versität Heidelberg, weiter, die dem internationalen bereichen der Ziviljustiz schon gestartet sind und Trend zu Online-Streitbeilegungs- und -Gerichts- in Dänemark ein vollständig digitales Zivilgerichts- verfahren nachging. Voß betonte, wichtig sei, nicht verfahren möglich ist. nur das bisherige Verfahren auf die digitale Welt zu übertragen, sondern eine digitale Verfahrenserwei- „Modernisierung des Zivilprozesses“ terung zu betreiben. Als Musterbeispiel einer sol- Sodann besprach Rühl das 120 Seiten starke chen gerichtsverbundenen Online-Streitbeilegung Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Moderni- besprach sie sodann das Civil Resolution Tribunal sierung des Zivilprozesses“, in dem im vergan- (CRT) der kanadischen Provinz British Columbia. genen Jahr im Auftrag der Präsidentinnen und Entscheide sich ein Bürger für die Rechtsdurch- Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kam- setzung durch das CRT, durchlaufe er zunächst mergerichts, des Bayerischen Obersten Landes- den Solution Explorer, der auf eine Selbsthilfe zur gerichts und des Bundesgerichthofs eine Vielzahl Streitbeilegung und Streitprävention durch Rechts- an Reformvorschlägen für einen modernen Zivilpro- information setze. Diese Rechtsinformationen seien zess zusammengetragen wurde. Die wesentlichen in für Laien verständlicher Weise aufbereitet. Durch Vorschläge, die die Arbeitsgruppe formuliert hat, Multiple-Choice-Fragenkataloge werde der Nutzer um Gerichtsverfahren bürgerfreundlicher, effizien- zu den für ihn relevanten Informationen und Ver- ter und ressourcenschonender zu gestalten, sind: fahrensalternativen geleitet. Anschließend erfolge ein erleichterter elektronischer Zugang der Bürger sodann eine freiwillige Phase der direkten Verhand- zur Ziviljustiz (etwa durch eine „virtuelle Rechtsan- lungen zwischen den Beteiligten mit dem Ziel einer tragsstelle“), eine Optimierung des elektronischen gütlichen Einigung. Rechtsverkehrs (unter Abschaffung des Fax als zulässigen Übermittlungsweges), Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens (für Streitwerte bis 5.000 EUR), Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens (durch ein von den Parteien gemeinsam zu nutzendes „Basisdokument“ anstatt von Schriftsätzen), Videoverhandlungen und Pro- tokollierungen (etwa zwingendes Wortprotokoll für Beweisaufnahmen), effizientere Verfahren durch Einsatz technischer Möglichkeiten (neues Beweis- mittel der „elektronischen Datei“) und die Stär- kung des Vertrauens in die Justiz durch stärkere Transparenz (Veröffentlichung von grundsätzlicher Bedeutung mit automatisierter Anonymisierung). Während Rühl die Vorschläge der Arbeitsgruppe einerseits deutlich lobte, sah sie andererseits rista 3/2021 7
TITELTHEMA Komme diese nicht zustande oder willigten die Windau begab sich in die (teils ungeahnten) Untie- Parteien nicht in direkte Verhandlungen ein, folge fen des § 128 a ZPO. Zudem bot sich Raum für eine obligatorische Schlichtungsphase. Habe auch einen Erfahrungsaustausch zu Vor- und Nachteilen diese keinen Erfolg, werde als letzte Stufe ein strei- von Videoverhandlungen. tiges Online-Verfahren durchgeführt. Nach der Tagung – die Wirklichkeit Erfahrungen mit Videoverhandlungen Nach dieser „Druckbetankung“ mit neuesten Legal- Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag zu Tech-Ideen und einem regen Austausch zur digita- „Videoverhandlungen im Zivilprozess: Erfahrun- len Arbeit von morgen machte sich der Verfasser gen, Chancen, Herausforderungen“ von Benedikt hoch motiviert an die Dezernatsarbeit, war aber Windau (Richter am Landgericht Oldenburg), der – angesichts eines sich endlos lange drehenden als Gründer und Herausgeber des zpoblog.de Wartesymbols bei TSJ – schnell wieder im Hier und bekannt ist. Wie eine Umfrage unter den Teilneh- Jetzt des Justizalltags angekommen ... mern zeigte, hatte ein Großteil der Anwesenden – im mittlerweile zweiten Jahr der Pandemie – schon Dr. Simon J. Heetkamp eine oder mehrere mündliche Verhandlungen im Landgericht Köln Wege der Bild- und Tonübertragung durchgeführt. REZENSION ALGORITHMEN IN DER JUSTIZ Das Wichtigste vorab: Jeder Richter sollte diese worden war. Die Studienteilnehmer erkannten, dass Dissertation gelesen haben. Oder sich jedenfalls diese Information für die zu beurteilende Fahr- mit den Einsatzmöglichkeiten von Algorithmen in lässigkeitshaftung des Beklagten juristisch voll- der Justiz und deren Auswirkungen auf die Rechts- kommen irrelevant war. Dennoch entschieden die findung beschäftigt haben. Näher am Puls der Zeit Studienteilnehmer, die von der strafrechtlichen als Nink, der als Rechtsanwalt in Frankfurt arbeitet, Verurteilung wussten, auf einen um zwölf Prozent kann man mit einer Dissertation kaum sein (siehe niedrigeren Schadensersatz. Dies zeigt: Selbst das auch die Dissertation von Rollberg, Algorithmen positive Wissen, dass eine Information juristisch in der Justiz, Nomos 2020, rezensiert von Saam, irrelevant ist, führt nicht dazu, dass diese Informa- DRiZ 2020, 409; Dörr, Algorithmen in der Justiz, tion in der Entscheidungsfindung tatsächlich keine Rethinking Law 2.2021, 43; Neubert, Der Einsatz Rolle spielt. Dies erklärt auch, warum viele Rechts- von Künstlicher Intelligenz in der deutschen Justiz, anwälte gerne „colorandi causa“ Negatives über DRiZ 2021, 108). den Gegner ausführen. Der erste Teil der Dissertation zum Status quo Ein zweites Beispiel beschäftigt sich mit dem der richterlichen Entscheidungsfindung dürfte Ankereffekt im Rahmen der Strafzumessung. Als auch gestandene Richterpersönlichkeiten in ihren Ankereffekt beschreibt man in der Kognitionspsy- Grundfesten erschüttern. Dass die richterliche chologie die (systematische) Verzerrung (numeri- Rechtsfindung fehleranfällig ist – etwa durch Emo- scher) Urteile in Richtung eines (willkürlich als Aus- tionen, Müdigkeit, Denkfehler oder Stress –, ist gangspunkt) vorgegebenen Zahlenwertes – des ein Allgemeinplatz. Wie leicht allerdings sich die Ankers. Eine Studie untersuchte die Auswirkungen menschliche (und damit auch richterliche) Psy- eines zuvor gesetzten Zahlenankers auf die Höhe che in die Irre führen lässt, wird aus den von Nink einer vom Probanden (Richter und Staatsanwälte zusammengetragenen Studien deutlich: einerseits, Referendare andererseits) auf eine zu verhängende Freiheitsstrafe. Bei einer von einem Als erstes Beispiel sei ein fiktiver Produkthaftungs- Journalisten geforderten Strafhöhe entschieden prozess genannt. Dort erhielten die Richter die Teilnehmer, die zuvor mit einem höheren Anker Information, dass das vermeintliche Opfer (Kläger) konfrontiert wurden, auf signifikant höhere Stra- zu einem früheren Zeitpunkt strafrechtlich verurteilt fen (Durchschnitt: 33 Monate Freiheitsstrafe) als 8 rista 3/2021
TITELTHEMA diejenigen, die mit niedrigerem Anker konfrontiert Hürden, die einer automatisierten Rechtsfindung im wurden (Durchschnitt: 25 Monate). Wege stehen. Erläuternd nimmt Nink den Leser mit auf eine Reise möglicher (computerseitiger) Ver- Dabei zeigte sich zudem, dass keine „Anker-Rele- ständnisprobleme menschlicher (Fach-)Sprache. vanz“ bestand: Es war egal, ob der Anker (ver- Wie soll ein Computer etwa den Sachverhalt richtig meintlich) von einem Journalisten, einem Staats- erfassen, Gesetze auslegen, zutreffend subsumie- anwalt oder – wie den Teilnehmern bekannt war ren und seine Entscheidung (nachvollziehbar) juris- – durch Würfeln gesetzt wurde. Die Teilnehmer tisch argumentativ begründen? wurden auch dazu befragt, ob sie bei ihrer Ent- scheidung sich von dem (bei dem Würfeln erkenn- Sodann tritt Nink einen Schritt zurück und fragt bar willkürlichen) Anker hätten beeinflussen lassen. sich, welche verfassungsrechtlichen Parameter bei Das erschreckende Ergebnis: Die von den Teil- dem Einsatz neuer Informations- und Kommunika- nehmern geschätzte Sicherheit bzw. Überzeugung tionstechnologien in der Justiz zu beachten sind. von der Richtigkeit und Unabhängigkeit ihrer Ent- Das Ergebnis ist klar (und wenig überraschend): scheidung stand nicht in Relation mit der (objek- Eine vollständige Automatisierung der Rechtspre- tiven) Anfälligkeit für den Ankereffekt. Experten chung wäre verfassungsrechtlich nicht zulässig, (hier: die Richter und Staatsanwälte) schätzten sich etwa da der Richterbegriff des Art. 92 Hs. 1 GG ein fälschlicherweise als weniger anfällig für Rationali- personales Element enthält, also Entscheidungen tätsschwächen ein als (relative) Laien (hier: die durch eine natürliche Person zu treffen sind. Dage- Referendare). gen ist die Unterstützung richterlicher Entschei- dungen durch technische Systeme grundsätzlich Dies alles wirft die Frage auf, ob und wie Ratio- im Einklang mit der Verfassung möglich, soweit nalitätsschwächen der menschlichen Entscheider die richterliche Unabhängigkeit gewahrt bleibt und durch den Einsatz neuer Technologien ausge- die unterstützenden Systeme verfassungskonform schlossen oder zumindest vermindert werden kön- gestaltet sind (Stichwort: Transparenz). nen. Im zweiten Teil der Arbeit geht es nun also genau darum: Welche neuen Technologien könnten Im dritten Teil der Dissertation stellt Nink Möglich- die richterliche Entscheidungsfindung unterstützen keiten für eine algorithmenbasierte Entscheidungs- und welche Grenzen eines solchen „Smart Jud- unterstützung in der Strafrechtspflege dar und ging“ wären zu beachten? Denn auch Algorith- wagt einen Ausblick. men haben Schwächen. Etwa wenn Korrelationen auf nur scheinbare Kausalitäten hindeuten. Auch Ein auch medial bekannter Anwendungsfall ist können einmal trainierte (statische) Algorithmen ein US-amerikanischer Algorithmus zur Berech- sich nicht von selbst weiterentwickeln – etwa ver- nung der Wahrscheinlichkeit erneuter Straffällig- änderte Ansichten in der Bevölkerung zu einem keit. Weniger spektakulär wären (Entscheidungs-) rechtsrelevanten Thema berücksichtigen. Zudem Unterstützungswerkzeuge beim Termins- und Fris- gilt es zu bedenken, dass die Programmierer eines tenmanagement oder Ex-post-Kontrollsysteme gerichtlichen Entscheidungsalgorithmus einen gro- richterlicher Entscheidungen. ßen – und rechtsstaatlich bedenklichen – tatsäch- lichen Einfluss auf die Resultate der Rechtsanwen- Abschließend wirbt Nink für eine offene Diskussion dung und -findung hätten (den sie – als juristische von algorithmenbasierten Unterstützungsmöglich- Laien – vielleicht gar nicht erkennen). Unter dem keiten richterlicher Tätigkeit – (auch) um den Stichwort „Machine Bias“ werden unbeabsichtigte Schwächen menschlicher Entscheidungen ent- diskriminierende Effekte von Algorithmen vielerorts gegenzuwirken. Letztlich könnte jede Automation diskutiert (etwa ein Fall, in dem ein von Amazon auch eine Verfahrens- eingesetzter Algorithmus Männer in der Bewer- humanisierung brin- bungsphase bevorzugte, da in der Vergangenheit gen, indem der Richter mehr Männer eingestellt worden waren; siehe auch: seine durch Automa- Steege, Algorithmenbasierte Diskriminierung durch tion gesparte Zeit dort Einsatz von Künstlicher Intelligenz, MMR 2019, einsetzt, wo es notwen- 715). dig und sinnvoll ist. Dr. Simon J. Heetkamp David Nink, Justiz und Algo- Systeme maschinellen Lernens könnten die vorge- rithmen. Über die Schwächen Landgericht Köln nannten Schwächen gegebenenfalls teilweise aus- menschlicher Entscheidungs- findung und die Möglichkeiten gleichen, eine auf Einzelfallgerechtigkeit abzielende neuer Technologien in der gerichtliche Entscheidung damit aber (noch) nicht Rechtsprechung, 1. Auflage 2021, 533 Seiten, Duncker & ermöglichen. Auch bestehen (noch) technische Humblot Verlag, 119,90 EUR rista 3/2021 9
BERUF AKTUELL INTERVIEW PETER FINKE, VORSITZENDER EINER KAMMER FÜR HANDELSSACHEN, LANDGERICHT BIELEFELD der Videokonferenz-Anlage. Diese Anfrage wird dann weitergeleitet an das Oberlandesgericht. Sie wird dort bearbeitet durch einen Rechtspfle- ger, der dann einen virtuellen Videokonferenz- raum zuweist oder, falls nicht vorhanden, eben auch nicht zuweist. Und dann bekomme ich – in der Regel erst einige Tage später – die Rück- meldung, ob und wann ich eine Videokonferenz abhalten kann. Peter Finke hält es für anachronistisch, wenn man bedenkt, wie schnell Videokonferenzen in der freien Wirtschaft anberaumt und gestartet werden können. Er beteiligt sich deshalb an einem vom Justizminis- Als an diesem Morgen Peter Finke in den Saal 32 terium angebotenen Modell der Online-Zusammen- des Bielefelder Landgerichts kommt, ist die mobile arbeit, um sich den Verwaltungsweg zu ersparen. Videokonferenz-Anlage bereits aufgebaut. Es dau- ert nur wenige Augenblicke, dann sind die Anwälte Peter Finke: aus Dortmund und Köln in dem Verfahren über Jitsi heißt die Videoplattform, mit der man direkt einen Dienstleistungsvertrag zugeschaltet. An die- eine Videokonferenz aufsetzen und den Parteien sem Morgen ist die Verbindung nach Köln etwas den Link mitteilen kann, wie auf jeder anderen wackelig. Der Vorführeffekt, sagt Peter Finke. Nor- gängigen Videokonferenz-Plattform. malerweise seien die Verbindungen in den Video- Das hat allerdings den Nachteil, dass ich dafür konferenzen stabil. derzeit nur mein eigenes Dienstnotebook nutzen kann, also nicht die Kameratechnik verwenden Bevor die Sitzung beginnt, verkündet er einen kann, die bei uns im Sitzungssaal vorhanden Beschluss nach § 128 a Abs. 1 ZPO. Dann geht es ist. Die ist wichtig, um die Öffentlichkeit herzu- los, für Peter Finke inzwischen Routine: stellen. Ein Zuschauer im Saal kann ja nicht auf mein Notebook schauen, um dort die Parteien Peter Finke: zu sehen. Ich habe jetzt seit Dezember 2020 nahezu in allen Sachen Videokonferenzen angeboten. D. h., die Dazu hat Peter Finke eine Kennung bekommen Parteien bekommen per E-Mail die Zugangs- und kann so per Video Besprechungen über sein daten für die Videokonferenz. Und ich teile mit, Dienstnotebook durchführen. dass es jedem freisteht, auch persönlich hier im Gerichtssaal zu erscheinen. Peter Finke: Ich benutze es im Wesentlichen dann, wenn Normale Videokonferenzen erfordern viel an orga- außerhalb der Verhandlung eine Besprechung nisatorischer Vorleistung. Doch die hat er in Kauf stattfindet, was durchaus auch mal der Fall ist, genommen, denn so konnte er während des harten dass man Vergleichsgespräche führt außerhalb Lockdowns fast sein gesamtes Verhandlungspro- der mündlichen Verhandlung. Das ist dann eine gramm aufrechterhalten. praktikable Möglichkeit, kurz einen Link rumzu- schicken, und man kann sich innerhalb weniger Peter Finke: Minuten mit den Prozessbevollmächtigten und Es ist bei unserer normalen Videoplattform so, den Parteien unterhalten. dass relativ umständlich die Videokonferenzen beantragt werden müssen. D. h., ich muss an Verhandelt wird per Videokonferenz aber im Sit- eine Mitarbeiterin der Verwaltung eine E-Mail zungssaal, dort, wo die großen Monitore ange- schreiben, in der ich ihr mitteile: Datum, Uhrzeit, bracht sind. Eine fest installierte und zwei mobile Aktenzeichen und Zeitrahmen für den Aufbau Anlagen gibt es im Bielefelder Landgericht. 10 rista 3/2021
BERUF AKTUELL Peter Finke: „Wir können uns das so vorstellen“, ein Nicken, Die Videokonferenzen finden im Sitzungssaal ein Kopfschütteln, so etwas. Das geht bei Video- statt, weil auf dem großen Monitor die potenziel- konferenzen nicht. len Zuschauer die Beteiligten sehen und hören Und das nächste Problem, wenn beantragt wird, können, die sich zugeschaltet haben, und durch einen Zeugen zu vereidigen, kann ich mir schwer die Videokamera, die schwenkbar ist, können vorstellen, das anzuordnen, während der Zeuge auch die per Videokonferenz Zugeschalteten zum Beispiel bei sich zu Hause im Wohnzimmer verschiedene Winkel des Saals sehen. sitzt. Das halte ich doch für sehr schwierig. Es müssen sich auch nicht alle Verfahrensbeteilig- Darin sieht Peter Finke auch die Grenzen von Ver- ten an der Videokonferenz beteiligen. handlungen per Videokonferenz. Er wünscht sich auch einen Kapazitätsausbau. Denn wollten alle Peter Finke: Zivilrichter per Videokonferenz verhandeln, wäre Es gibt jede erdenkliche Mischform von Video- die Grenze schnell erreicht. Er wünscht sich, dass konferenzen. Entweder alle Beteiligten loggen jeder Sitzungssaal über eine Videokonferenzanlage sich per Videokonferenz ein oder eine Partei verfügt und eine Konferenz schnell und unbüro- erscheint mit Anwalt im Sitzungssaal und die kratisch und ohne großes Genehmigungsverfahren andere loggt sich ein. Teilweise befinden sich per Mausklick gestartet werden kann. Aber auf Ver- Partei und Anwalt am selben Ort, teilweise schal- handlungen in Präsenz, so sein Fazit, werde man ten sie sich auch von verschiedenen Orten aus nicht verzichten können. Er bezweifelt auch, dass zu. Sämtliche Mischformen von sogenannten Videokonferenzen in sämtlichen Verfahren ange- hybriden Videokonferenzen sind denkbar. wendet werden (können). Es gibt auch viele Vorbe- halte. Schon bei Kammersachen, sagt Peter Finke, Als Vorsitzender einer Kammer für Handelssachen wenn drei Richter vorne sitzen müssen und dann hat er die Erfahrung gemacht, dass die meisten Parteien per Videokonferenz zugeschaltet werden, Anwälte und Parteien die Möglichkeit begrüßen, per seien die Meinungen geteilt. Aber für Gütetermine Videokonferenz zu verhandeln. und einfach gelagerte Sachen seien die erzielten Ergebnisse mit einer Verhandlung in Präsenz ver- Peter Finke: gleichbar. Verfahren vor einer Kammer für Handelssachen sind nahezu prädestiniert für Videokonferenzen, Peter Finke: weil erstens die Anwälte und Parteien über die Auch wenn kein Vergleich geschlossen wird erforderliche technische Ausstattung verfügen und auch kein Urteil gesprochen werden kann, und auch mit dem Umgang geübt sind. Und man kommt in aller Regel mit dem Verfahren zweitens werden die Sachen selten emotional weiter, indem man verschiedene Punkte mit den geführt. Es geht meistens um Geld und der emo- Parteien klären kann und das Verfahren für den tionale Konflikt steht da eher im Hintergrund. nächsten Schritt, z. B. die Beweisaufnahme, vor- bereitet. Das bedeutet allerdings nicht, dass jede Klage sich für eine Videokonferenz eignet. Grenzen sieht Peter Wie an diesem Mor- Finke immer dann: gen. Der Vergleichs- vorschlag vom Vor- Peter Finke: sitzenden in dem ... wenn Beweisaufnahmen anstehen. Da würde Rechtsstreit wird, ich mich wirklich schwertun, Zeugenbeweisauf- nachdem sich die nahmen per Videokonferenz durchzuführen. Und Anwälte mit ausge- auch, wenn Verhandlungen sehr komplex sind, schaltetem Mikro- da kommt man, glaube ich an seine Grenzen. fon und per Telefon Ein wesentlicher Nachteil ist, dass diese kleinen mit ihren Mandanten Gesten und die Mimik verloren gehen und, ganz besprochen haben, wichtig, auch das Geschehen vor dem Sitzungs- akzeptiert. Nach nicht saal. einmal einer halben Wenn man einen Vergleichsvorschlag unterbrei- Stunde ist der Ver- tet hat und die Parteien rausgehen, dann redet ja gleich protokolliert, nicht nur der Anwalt mit seiner Partei, sondern das Diktat vorgespielt man beobachtet sich ja auch untereinander. Die und genehmigt wor- eine Seite gibt der anderen Seite einen Wink: den. rista 3/2021 11
BERUF AKTUELL GERICHTSBIBLIOTHEKEN TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER Gerichtsbibliothek? Was ist das denn, werden viele am Amtsgericht, geschweige denn am Landgericht jüngere Kolleginnen und Kollegen fragen. Doch, es musste manche Rechtsfrage doch präziser beant- gibt sie noch in fast jedem Gericht, aber ihre große wortet werden. Welcher Proberichter wollte sich vor Bedeutung ist dahin. dem Kammervorsitzenden die Blöße geben, einer zentralen Problematik nicht vertieft nachgespürt zu Früher war in jedem Gericht eine mehr oder weni- haben? ger umfangreiche Bibliothek ein Muss. Sie war der Ort vertiefter Recherche und Wissensaneig- Was der Handapparat an Büchern im Dienst- nung. Gut, bei den meisten amtsgerichtlichen zimmer nicht hergab, suchte und fand man fast Entscheidungen im Zivil- oder Strafdezernat kam immer in der Bibliothek. Vorausgesetzt, die Verwal- man mit Thomas/Putzo und Palandt bzw. Dreher/ tung hatte für das erforderliche Personal gesorgt. Tröndle und Schönke-Schröder klar. Aber selbst Engagierte „Bibliothekarinnen“ und „Bibliothekare“ 12 rista 3/2021
BERUF AKTUELL waren Gold wert bei der Suche nach Monogra- fien oder Zeitschriften, deren Standort sich nicht auf den ersten Blick erschloss. Sie hielten auch die vielen Loseblattsammlungen akkurat auf dem Laufenden. Man war versucht, sie zu bitten, doch auch die im Schreibtisch gestapelten Ergänzungs- lieferungen in den Dienst-Schönfelder einzuordnen. Bis in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts erledigten das tatsächlich Hilfskräfte für die Richter, dann wurde der sogenannte Büro- und Kanzlei- dienst radikal ausgedünnt. Auf einmal gehörte das Aussondern und Einordnen zu den richterlichen Tätigkeiten. Auch Juristen sind Menschen ... Sind die Bibliotheken durch die juristischen Daten- Die Bibliothek war zugleich eine Art Sozialraum, banken überflüssig geworden? Können die nicht ein Ort der Begegnung ohne den kantinenüblichen unerheblichen Mittel für die Anschaffung immer Trubel. Hier trafen sich zufällig Kollegen, die sich neuer Auflagen sündhaft teurer Kommentare und ohne besonderen Grund nie im Dienstzimmer auf- Periodika nicht besser verwendet werden? gesucht hätten. Es tauchten junge, interessante Gesichter auf, man wechselte freundliche Blicke. Das mag man so sehen. Allerdings verfolgen die Gelegentlich tauschten sich Kollegen leise aus, Betreiber der Datenbanken natürlich wirtschaftliche zumeist über juristische Fragen, aber nicht nur Interessen und stellen keineswegs alles online zur darüber. Verfügung, was man als Richter zwar nicht oft, aber ab und zu eben doch braucht. In der staubigen Stille der Bibliotheken herrschte eine ganz besondere Aura. Was von schüchter- Der Kommentar zum Nachbarrechtsgesetz NRW nen Seelen gesagt werden wollte, aber nicht über zum Beispiel ist, obwohl von C. H. Beck ver- die Lippen kam, fand hier einen stummen Weg legt, „leider nicht vom (beck-online)-Abonnement zum Glück. Beim gemeinsamen Griff nach dem umfasst“. Pech gehabt. Wenn die Amtsgerichts- Reichsgerichtsräte-Kommentar trafen sich biswei- bibliothek den Kommentar nicht vorhält, muss man len Hände, die sonst schwerlich zueinandergefun- zum Landgericht tigern ... den hätten. Auch viele gar nicht exotische Zeitschriften bleiben Es gibt keine Statistik, aber bei so manchem Juris- im Justiz-Abonnement außen vor. Die Zeitschrift für tenbund fürs Leben war die Gerichtsbibliothek Transportrecht beispielsweise wird bei juris lediglich gewissermaßen der Geburtshelfer. in unergiebigen Kurzreferaten wiedergegeben, bei beck-online werden nur ausgewählte Entscheidun- Tempi passati? gen präsentiert. Wer hier etwas Bestimmtes sucht, In Zeiten von juris und beck-online hat sich die etwa eine Quellenangabe überprüfen will, dem Bedeutung der Bibliothek vollkommen gewandelt. bleibt auch in diesem Fall die Suche nach einer Zu jedem Paragrafen, zu fast jedem Stichwort fin- entsprechend bestückten Bibliothek nicht erspart. det man in den Rechtsprechungsaufsatz- und kom- mentarbanken eine Fülle von Antworten. Wir von rista wollen uns kein abschließendes Urteil anmaßen, aber es scheint, als ob auch Einfacher geworden ist die juristische Goldgräberei in digitalisierten Zeiten und „smartem“ Richterof- dadurch schon, vor allem kann mit entsprechen- fice Bibliotheken ihre Daseinsberechtigung haben. dem Zugang viel im Homeoffice erledigt werden, Sie dürfte umso größer sein, je feiner juristisch was zuvor den Gang in die Bibliothek unabdingbar gedrechselt werden muss. Kein Oberlandesge- machte. Die im Vergleich zu „früher“ überbordende richt, geschweige denn ein Bundesgericht käme Fülle an bereitgestellten Informationen birgt aller- auf die Idee, seine Bibliothek aufzulösen. Weiter dings eine oft unterschätzte Gefahr. Die Gefahr, im unten, vor allem in den Niederungen der Amtsge- juristischen Unterholz aus dem Blick zu verlieren, richtsebene, sieht es allerdings nicht selten finster welche juristische Nuss man eigentlich knacken aus. Dort soll trotz aller gegenteiligen Beteuerun- wollte. In der Einsamkeit des Homeoffice kann auch gen ja auch und vor allem „in Masse gemacht“ niemand um Rat gefragt werden, es sei denn, man werden, da müssen die zur Verfügung gestellten lebt in einer Juristenehe ... Zugänge zu den Datenbanken eben ausreichen. rista 3/2021 13
BERUF AKTUELL EINE ONLINE-VERANSTALTUNG JAHRESGESPRÄCH MIT DEM JUSTIZMINISTER 2021 Ging es bei dem Jahresge- aber vielfach an der fehlenden Technik scheitere. spräch 2020 noch darum, Der Vorsitzende Christian Friehoff stellte heraus, die Abstände zwischen den dass es nicht förderlich für die Akzeptanz von Gesprächsteilnehmern ein- Videoverhandlungen sei, wenn sich Amtsgerichte zuhalten, fand das Gespräch teilweise die Systeme teilen müssten. Der Vorstand mit dem Ministerium am 5. führte als weiteres Hindernis aus, dass § 128 a ZPO Mai rein virtuell statt. letztlich nur für die Anwaltschaft eine Erleichterung sei, die sich eine eventuell weite Anreise sparen Erster Tagesordnungspunkt könne. Das „Nadelöhr“ der in einem Sitzungssaal war die Personal- und Belas- erforderlichen Verhandlung bestehe fort. tungslage. Ohne im Einzel- nen auf die Zahlen einzu- Seitens des Ministeriums wurde auf das Erreichte gehen, ergab sich im Jahr hingewiesen und: Die Ausstattung benötige Zeit, 2020 nach den Erhebungen und trotz Bereitstellung von Finanzmitteln sei die des Ministeriums eine Ver- Beschaffung von Notebooks und Videotechnik minderung der Belastung. schwierig, weil der Markt knapp und die Justiz Vor allem in der ordentlichen durch Rahmenverträge gebunden sei. Gerichtsbarkeit, aber auch in den Fachgerichtsbarkei- Beim Thema Bewerber ergab sich für das Jahr ten. Das senke auch den 2020 eine leicht verbesserte Situation, allerdings Personalbedarf. auf niedrigem Niveau. Trotz sinkender Absolven- tenzahlen stellte Justizminister Peter Biesenbach Im Gegensatz zu den Generalstaatsanwaltschaften fest, dass auch im Jahr 2020 alle besetzbaren sei die Belastung im vergangenen Jahr bei den Stellen besetzt werden konnten. Gerade in diesen Staatsanwaltschaften jedoch angestiegen. schwierigen Zeiten steige die Nachfrage bei der Justiz. Ob diese Entwicklung pandemiebedingt sei, mochte das Ministerium noch nicht abschließend Auf die Frage von Christian Friehoff, warum es bewerten. seit 2016 einen deutlichen Abwärtsknick in der Bewerberlage gebe, hieß es seitens des Ministe- Der Vorsitzende Christian Friehoff bilanzierte, dass riums: Das sei derzeit nicht aufzuklären. Auch die es bei den Fachgerichtsbarkeiten zurzeit keinen Bemerkung, dass es bei den Staatsanwaltschaften Handlungsbedarf gebe, auch wenn für die Arbeits- im Bezirk Hamm relativ wenige Bewerber gebe im gerichte aufgrund zu erwartender Insolvenzanträge Vergleich zu den Bezirken Düsseldorf und Köln, steigende Zahlen wahrscheinlich seien. konterte das Ministerium mit dem Hinweis: Es gebe keine Signale aus Hamm, dass es Schwierigkeiten Im Übrigen rechnete der Vorsitzende hinsicht- mit Stellenbesetzungen gebe. lich der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach dem Ende der Pandemie wieder mit anderen Zahlen, Gesprächsbedürftig war auch die Pandemiebe- und er betonte, dass es sowohl hier als auch bei kämpfung. Es ging um Sammeltermine für ein- den Staatsanwaltschaften trotz erheblicher Ver- zelne Behörden in den Impfzentren. Probleme der besserungen immer noch deutliche Personallücken Vergangenheit wurden weitgehend ausgespart. gebe. Erörtert wurde allerdings die Frage, ob es Mög- lichkeiten gebe, die Vorzuführenden zu testen. Im Zwar konnte Justizminister Peter Biesenbach zur Einzelfall sei das durchaus auf freiwilliger Basis Haushaltsplanung 2022 noch nichts sagen. Er ver- möglich, systematisch gehe das allerdings schon sprach aber, sich weiterhin für Personalzuwächse rechtlich nicht. einzusetzen. Darüber hinaus warb er dafür, Video- technik für Verhandlungen einzusetzen. Besprochen wurden auch Probleme bei der Perfor- mance und dem Support der IT. Störungen führte Der Vorstand merkte hierzu an, dass das Interesse das Ministerium auf den Ausbau der IT zurück. Sie bei den Kollegen deutlich zugenommen habe, es blieben meistens auch auf Einzelfälle beschränkt. 14 rista 3/2021
BERUF AKTUELL Die Situation sei im Moment sicherlich nicht opti- nicht zu besetzen sein. Hier würden die Verwal- mal. Die auftretenden Probleme seien schon wegen tungsgerichte entscheiden. Auch in der Sozialge- der Zahl der Beteiligten (IT.NRW, ITD, Telekom) und richtsbarkeit werde es nach einer Entscheidung Problemebenen leider sehr komplex. Der Vorsit- wahrscheinlich ein Klageverfahren geben. zende Christian Friehoff mahnte hier mit Nachdruck deutliche Verbesserungen an. Hinsichtlich der Überbeurteilungen der Spitzenäm- ter durch das JM kündigte Peter Biesenbach eine Thematisiert wurde auch noch die bauliche Situ- Änderung des ursprünglich geplanten Erlasses an. ation in den Gerichtsgebäuden, namentlich Köln Angedacht sei, eine Überbeurteilung durch das und Duisburg. Während in Duisburg handwerkliche Justizministerium nur noch für die Leiter der Mittel- Fehler beim Trockenbau dazu führten, dass eine behörden vorzusehen. abgehängte Decke herunterstürzte, werde das Dauerproblem Köln wahrscheinlich nicht vor 2028 Das Gespräch endete mit dem Hinweis, alsbald die gelöst werden können. Gespräche zwischen Ministerium und dem DRB in Gestalt der Arbeitsgruppe Aufgabenkritik fortzu- Zu den unbesetzten Stellen der Oberlandesge- setzen. richte Köln und Hamm sagte Minister Biesenbach: Beide würden wahrscheinlich auf längere Sicht WIR GRATULIEREN ZUM GEBURTSTAG IM JULI/AUGUST 2021 Zum 60. Geburtstag Zum 65. Geburtstag Zum 75. Geburtstag 02.07. Volker Bittner 03.07. Barbara Mayen 01.07. Reinhard Hörschgen 05.07. Peter Klaus Schulz 06.07. Dr. Birgit Einhoff 13.07. Günther Hallermeier 07.07. Sylvia Behrend 09.07. Joachim Schaefer 10.07. Ullrieke Mühleisen 10.07. Regina Helmke Zum 80. Geburtstag 10.07. Thomas Holz 27.07. Andrea Schubert 01.07. Reiner Capito 12.07. Ulrich Oehrle 27.07. Claudia Kersebaum 07.07. Dr. Bruno Terhorst 13.07. Stefan Hanck 28.07. Norbert Koster 16.07. Alfred Klimmer 21.07. Christoph Tambour 04.08. Michael Hammeke 27.07. Dr. Herbert Schäfer 22.07. Christoph Gast 06.08. Ulrike Grave-Herkenrath 16.08. Barbara Helfert 01.08. Dr. Jens Degner 06.08. Boris Meyer 01.08. Petra Klostermann 08.08. Dr. Ralph Oscar Achterrath Zum 85. Geburtstag 02.08. Dirk Salzenberg 09.08. Helmut Bracun 14.07. Ibo Minssen 04.08. Frank Walter 15.08. Klaus Peter Hückert 30.07. Otto Nohlen 07.08. Ralf Möllmann 17.08. Dr. Christa Geuenich-Cremer 31.07. Erika van Laak 13.08. Ute Ebert 20.08. Barbara Müller 20.08. Klaus Urselmann 19.08. Sibylle Plate 21.08. Christian Schmitz-Justen 21.08. Ruth-Maria Eulering 25.08. Dr. Wolfgang Jäger und ganz besonders 21.08. Ursula Kreifels 29.08. Heinrich-Jo-Jos Meissner 07.07. Bruno Peters (99 J.) 25.08. Dr. Matthias Quarch 08.07. Dr. Friedo Ribbert (89 J.) 26.08. Petra Heinrichs Zum 70. Geburtstag 14.07. Rolf Bachmann (86 J.) 26.08. Andreas Dittert 01.07. Burkhart Asbeck 03.08. Dr. Klaus Tilkorn (87 J.) 26.08. Ina Humberg 05.07. Dr. Wolfgang Pruskowski 10.08. Ingeborg Loos (87 J.) 26.08. Monika Freitag 11.07. Rita-Elisabeth Crynen 11.08. Heinrich Zilkens (88 J.) 28.08. Ulrich Metzler 20.07. Peter Kamp 12.08. Peter Zeidler (88 J.) 30.08. Heike Kinner 01.08. Horst Warda 13.08. Dr. Dieter Superczynski (89 J.) 15.08. Kurt Stollenwerk (92 J.) 20.08. Barbara Pegenau (89 J.) 23.08. Hermann Weissing (86 J.) rista 3/2021 15
BERUF AKTUELL SCHNELLBRIEF VOM 20.05.2021 ZWISCHENERGEBNIS ATTRAKTIVITÄTSOFFENSIVE Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den letzten Besoldungs- Aber spezifisch für den richterlichen und staatsan- gesprächen, die bekanntlich waltschaftlichen Dienst sind zwei Punkte zu nennen: zu einer zügigen Eins-zu-eins- Umsetzung des Tarifabschlusses Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sollen künftig für die Jahre 2019, 2020 und nicht nur nach allgemeiner Überzeugung, sondern 2021 geführt haben, haben wir auch de jure dieselben freien Dienstzeiten wie Rich- (DBB NRW, DGB NRW und DRB terinnen und Richter haben! Die Regelungen der NRW) mit der Landesregierung AZVO, die eine regelmäßige wöchentliche Arbeits- vereinbart, noch in der laufen- zeit von durchschnittlich 41 Wochenstunden und den Legislaturperiode Gesprä- den Ort der Dienstleitung vorschreiben, sollen für che über eine Attraktivitätsoffen- Staatsanwältinnen und Staatsanwälte nicht mehr gel- sive für den öffentlichen Dienst ten. Damit würde für das, was allgemein anerkannt (Beamte und ausdrücklich auch ist, dass nämlich Staatsanwältinnen und Staatsan- Richter) zu führen. Wir haben wälte genauso wie Richterinnen und Richter freie hierüber berichtet. Diese Gespräche sind nun im Dienstzeiten haben, Rechtssicherheit geschaffen. Rahmen einer Videokonferenz am 18.05.2021 mit Es ist eine wirklich gute Nachricht, dass diese For- dem Ministerpräsidenten und dem Finanzminister derung, für die wir uns sehr lange eingesetzt haben, fortgesetzt worden. endlich umgesetzt wird. Wir sind der Bund der Rich- ter UND Staatsanwälte! Das Ergebnis, das für Richter und Staatsanwälte erreicht werden konnte, ist ernüchternd. Vor allem Erfreulich ist auch die vorgesehene Streichung von mit dem von uns erarbeiteten Stellenhebungskon- § 7 Abs. 3 LRiStAG. Wer Teilzeitbeschäftigung oder zept, dessen Umsetzung für uns an erster Stelle Beurlaubung aus familiären Gründen beantragt, stand, konnten wir nicht durchdringen. Die Landes- muss sich nach dieser Norm bislang damit einver- regierung gab diesbezüglich klar zu erkennen, dass standen erklären, ggf. (vor allem bei Rückkehr) auch in Anbetracht der Besoldungsentscheidung für die in einem anderen Gericht desselben Gerichtszwei- Jahre 2019 bis 2021 und der in den letzten Jahren ges verwendet zu werden. Zwar ist ein Fall einer geschaffenen neuen Stellen für Richter und Staats- anderweitigen Verwendung bislang nicht bekannt anwälte sowie wegen der – auch coronabedingt – geworden. Aber die theoretische Möglichkeit ver- bestehenden angespannten Haushaltslage aus ihrer ursacht immer wieder Sorgen und ist geeignet, Sicht hierfür (und auch bei der kommenden Besol- Kolleginnen und Kollegen von derartigen Anträgen dungsrunde!) kein Spielraum bestehe. abzuhalten. Dass die Rechtslage nun der gelebten Wirklichkeit angepasst werden soll, schafft auch hier Dies ist enttäuschend, zumal der mit dem Stellen- Rechtssicherheit. hebungskonzept einhergehende Kostenaufwand gegenüber dem gesamten Justizhaushalt keine Mit kollegialen Grüßen erheblichen Mehrkosten verursachen dürfte. Wir Christian Friehoff Vorsitzender werden das Stellenhebungskonzept jedoch nicht aufgeben und uns weiter für dessen Umsetzung ein- setzen. Wir hoffen, dass das noch nicht das letzte Wort war. Bei aller Enttäuschung sind aber auch einige allge- meine Verbesserungen, u. a. im Bereich der Beihilfe und im Landesreisekostenrecht, vorgesehen. 16 rista 3/2021
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