ROMEO & JULIA William Shakespeare - Premiere 17. Dezember 2010 Spielzeit 2010/2011
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ROMEO & JULIA William Shakespeare Hintergrundmaterial für den Unterricht Premiere > 17. Dezember 2010 Spielzeit 2010/2011
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, William Shakespeares Dramenklassiker „Romeo und Julia“ ist die wohl bekannteste Liebestragödie der Weltliteratur überhaupt. Aber Romeo und Julia ist nicht nur ein Drama über Liebe, sondern ein literarisches Werk, das eine ganze Reihe von Problemen diskutiert. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, aber auch ein Zeichen der Hoffnung, dass sich Romeo und Julia, die Kinder der verfeindeten Familien Montague und Capulet, ineinander verlieben. Als müsse der zermürbende Krieg der Eltern mit der aufkeimenden Liebe der Kinder endlich ein Ende finden, als könne der Riss zwischen den Familien doch gekittet werden. Aber je entschiedener sich die jungen Menschen in ihrer Liebe vergraben, damit unausweichlich Tatsachen schaffen und durch die Kraft ihrer Liebe auf die Befriedung aller Konflikte hoffen, umso mehr beharren die Eltern auf das vermeintliche Recht ihrer Lebensplanung für die Kinder. Vermittlung, das muss selbst der Vertraute der beiden Liebenden, Pater Lorenzo, begreifen, ist nicht möglich. Und schließlich gerät die Fehde zwischen den Vätern auch zum blutigen Gemetzel zwischen den Söhnen. Romeo, gerade heimlich verheiratet mit seiner Julia, muss als Mörder von Julias Cousin Tybalt Capulet die Stadt verlassen und in die Verbannung fliehen. Die ersehnte Hochzeitsnacht der beiden muss zugleich auch ein Abschied auf immer sein. Die junge Regisseurin Catja Baumann interessiert an Shakespeares Tragödie der sich auftuende Konflikt zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den festgefahrenen, unverrückbaren Lebensstandpunkten der Einen und der dagegen aufbegehrende Sinnsuche der Anderen, die mit ihrer Radikalität die Weltsicht der älteren Generation ins Wanken bringen. Wir wünschen eine spannende Auseinandersetzung mit diesem Material und ein anregendes Theatererlebnis! Daniela Urban Silke Klose Theaterpädagogik Schul- und Gruppenreferat SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART daniela.urban@staatstheater-stuttgart.de silke.klose@staatstheater-stuttgart.de FON > 0711.2032-234 FON > 0711.2032-526 FAX > 0711.2032-595 FAX > 0711.2032-595 2
INHALTSVERZEICHNIS ROMEO & JULIA > Zur Inszenierung 4 WILLIAM SHAKESPEARE > Der Autor 5 DAS ELISABETHANISCHE ZEITALTER 7 SHAKESPEARE UND DAS GLOBE THEATER 9 ROMEO & JULIA > Zur Aufführungsgeschichte 11 INTERVIEW MIT DER REGISSEURIN CATJA BAUMANN 12 LIEBESBEZIEHUNGEN > Verschwörung gegen den Rest der Welt 14 ROMANTISCHE LIEBE > Die Sehnsucht nach Utopie 15 3
ROMEO & JULIA > Zur Inszenierung Ein Schatten verdunkelt Romeos und Julias gerade erwachte Liebe: Seit Generationen liegen ihre Familien in unversöhnlichem Streit. Wo ein Montague ist, kann kein Capulet sein. Das ist ungeschriebenes Gesetz in Verona. Aber was wäre Liebe wert, könnte sie nicht alle Hindernisse überwinden, unmenschliche Gesetze außer Kraft setzen und das, was auf immer zerrissen scheint, neu zusammenfügen? Im Überschwang ihrer Gefühle trauen sich die Liebenden genau das zu. Doch schnell wird aus der Hoffnung, die Welt durch Liebe zu versöhnen, der hoffnungslose Kampf gegen sich unerbittlich auftürmende Familien- konflikte, in dem sich die beiden mit ihrem Wunsch, zueinander zu kommen, immer tiefer verstricken. ROMEO UND JULIA ist die schönste und traurigste Liebesgeschichte der Welt: Jugendliche Unbedingtheit mündet in todesmutige Radikalität, und der Selbstmord scheint erstrebenswerter als ein Leben ohne den Menschen, den man begehrt. Solche Entschiedenheit können Alltagsmenschen wie wir bestaunen, bewundern oder sogar fürs eigene Dasein herbeiwünschen, in jedem Falle aber vermag die Erzählung von der unsterblichen Liebe ein wenig an unsere Sehnsüchte zu rühren. Besetzung: Romeo Till Wonka Julia Lisa Bitter Amme Marietta Meguid Lorenzo Jonas Fürstenau Capulet Sebastian Kowski Lady Capulet Gabriele Hintermaier Benvolio Matthias Kelle Mercutio Sebastian Winkler Paris Sebastian Röhrle Montague Eberhard Boeck Tybalt Christian Schmidt Regie Catja Baumann Bühne Anja Koch-Kenk Kostüme Leah Lichtwitz Dramaturgie Beate Seidel Premiere 17. Dezember 2010 | NORD Regie > Catja Baumann Catja Baumann, 1980 in Tübingen geboren, studierte Theater- und Medienwissenschaft, Geschichte und Pädagogik in Erlangen und absolvierte ein Regiestudium am Mozarteum in Salzburg. Von 2005 bis 2007 war sie Regieassistentin am Theater Heidelberg, wo sie u.a. Regie führte bei der Soap FRIEDRICHSTRAßE. Von 2007 bis 2009 hat sie als Regieassistentin am SCHAUSPIEL STUTTGART gearbeitet. Nach einer ersten Regiearbeit im Erdgeschoss eröffnete sie mit LA LÍNEA die Spielzeit 2009/10 im Depot. 4
WILLIAM SHAKESPEARE > Der Autor Obwohl Shakespeares Leben besser bezeugt ist als das vieler seiner Zeitgenossen, lässt sich seine Biographie nur in groben Umrissen rekonstruieren - besonders was die Zeit seiner späten Jugend betrifft. William Shakespeare wurde laut Kirchregister am 26. April 1564 in Stratford-upon-Avon, Warwickshire, getauft, sein Geburtstag wird heute der Einfachheit halber auf den 23. April datiert - ist Shakespeare doch am gleichen Tage des Jahres 1616 verstorben. Sein Vater, John Shakespeares, war ein angesehener Landwirt und Händler. Er wurde 1565 zum Stadtrat gewählt und war später Stadtverwalter. Aufzeichnungen berichten von einigen Fehlschlägen in den Geschäften, die zwischenzeitlich wohl zu einer Verarmung der Familie führten. William´s Mutter, Mary Arden of Wilmcote, entstand einem alten, aber unbedeutenden Adels-geschlecht und war Erbin eines kleinen Stück Landes. Entsprechend des damaligen sozialen Gefüges dürfte die Heirat Mary Ardens für John einen Aufstieg in der lokalen Hierarchie gleichgekommen sein. Shakespeares Geburtshaus in Stratford. Stratford-upon-Avon besaß eine Schule von gutem Rufe, die Teilnahme war frei, da der Unterhalt der Schule vom Bezirk getragen wurde. Diese Tatsache und die Amtsposition des Vaters lässt vermuten, das William eine gute Ausbildung erhielt. Diese konzentrierte sich zur damaligen Zeit auf das Studium der lateinischen Sprache, Dichtung und Geschichte. William besuchte keine Universität - ob dies finanzielle Gründe hatte, kann heute nicht mehr beantwortet werden. Im Jahre 1582 - im Alter von ganzen 18 Jahren - heiratete er die einige Jahre ältere Anne Hathaway. Wann genau und wo ist nicht detailliert bekannt, allerdings registrierte das bischöfliche Sekretariat von Worcester eine Schuldverschreibung (verbürgt von zwei Stratforder Bauern namens Sandells und Richardson) als Sicherheit für eine Heiratslizenz von William Shakespeare und "Anne Hathaway von Stratford". Am 26. Mai 1583 wurde in Stratford Williams Tochter Susanna, am 2. Februar 1585 seine Zwillinge Hamnet und Judith getauft. Hamnet, Shakespeares einziger Sohn, verstarb im Alter von Anne Hathaway 11 Jahren. Seine Todesursache ist nicht bekannt. Wann genau Shakespeare nach London übersiedelte, ist nicht bekannt. Es gibt einige Berichte - diese wurden jedoch erst lange nach seinem Tod schriftlich niedergelegt - die von Problemen mit dem lokalen Adel berichten, von Diebstählen oder einer Tätigkeit als Schulmeister an der örtlichen Schule und verschiedenen Hilfstätigkeiten in seiner ersten Zeit in London. Jedenfalls ist dem Autoren keine zuverlässige Dokumentation Shakespeares Wirken in den Jahren zwischen 1585 und 1592 bekannt. Jedenfalls hatte er es 1592 bereits geschafft, sich als Emporkömmling den Neid anderer Dramatiker zuzuziehen. Graham Greene, ein Dramatiker, verfasste auf seinem Sterbebett folgende Worte: ”There is an upstart crow, beautified with our feathers, that with his Tygers heart wrapt in a Players hide supposes he is as well able to bombast out a blank verse as the best of you; and, being an absolute Johannes Factotum, is in his own conceit the only Shake-scene in a country.” Grob übersetzt bezieht sich Greene auf eine "Krähe, die sich mit unseren Federn schmückt" und meint damit eindeutig Shakespeare. William Shakespeare 5
Diese Worte erschienen nach Greenes Tod, versehen mit einem Vorwort eines beiderseitigen Bekannten, in dem dieser Shakespeare entschuldigt und dessen Begabung betont. Dies zeigt auch, dass Shakespeare es durchaus verstand, sich wichtige Freundschaften zu sichern, wie auch die spätere Freundschaft mit Henry Wriothesley, dem 3. Earl von Southhampton, bewies. Ihm widmet William Shakespeare auch seine ersten veröffentlichten Gedichte, „Venus und Adonis“ und „The Rape of Lucrecia“. Ab 1594 gehörte er als Schauspieler den "Lord Chamberlain´s Men" (ab 1603 entsprechend einer Erlaubnis James I. "King´s Men") an. Diese Truppe besaß mit Richard Burbage den besten damaligen Schauspieler, später das beste Theater, nämlich das Globe, und den besten Dramatiker - William Shakespeare. Ein Beweis für den steigenden Wohlstand Williams war 1596 die Bewilligung eines Familienwappens. Das Wappen prangt auf dem Shakespeare-Denkmal (in der vor 1623 errichteten Kirche zu Stratford). Außerdem erwarb er ein großes Haus am Das berühmte „Globe –Theatre“. Rande Stratfords. Dorthin zog er sich 1611 zurück. Ab 1599 spielte die Truppe vor allem im eigenen, berühmten Globe-Theatre , bei dem Shakespeare auch finanzieller Teilhaber war. Shakespeare galt als gewandter Geschäftsmann. Aus seinem privaten Leben sind nur wenige Details bekannt, private Briefe sind nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Shakespeares letzter Wille, verfasst am 25. März 1616, liegt noch als Original vor. Im ausführlichen und sehr detaillierten Dokument hinterließ er den größten Teil seines beträchtlichen Vermögens dem Sohn seiner ältesten Tochter, die mit Thomas Quiney verheiratet war, dem Sohn des Shakespeare Freundes Richard Quiney. Aber auch die zweite Tochter, die mit John Halle, einem angesehenen Mediziner aus Stratford, verheiratet war und natürlich Anne Hathaway wurden entsprechend bedacht. William Shakespeare, umgeben von seiner Familie. Die Unterschrift unter dem Dokument war bereits mit zitternder Hand geschrieben - der Erblasser war bereits schwer krank. William Shakespeare starb am 23. April 1616. Er wurde im Chor der Gemeindekirche zu Stradford begraben. Seine Grabtafel schmückt kein Name - nur folgende Zeilen (womöglich von ihm selbst): “Good frend, for Jesus' sake forbeare To digg the dust encloased heare. Blest be the man that spares thes stones, And curst be he that moves my bones.” (http://www.william-shakespeare.de/biographie1.html) Shakespeares Grabstein in Stratford. 6
DAS ELISABETHANISCHE ZEITALTER Um Shakespeare und sein Publikum zu verstehen bedarf es eines kurzen Einblicks in das Denken und Leben der Engländer jener Zeit. Die Menschen sahen die Welt als eine gottgewollte Stufenleiter, die sich im Großen und im Kleinen überall widerspiegelte („ordo“). Betrachtet man die Stücke Shakespeares genauer, stellen wir fest, daß sich dieser Gedanke durch fast alle seine Stücke zieht: Es geht um Störung und Wiederherstellung der Ordnung. Als gutes Beispiel lässt sich „Ulysses“ Rede an die Griechen in „Troilus und Cressida“ anführen. Shakespeare lässt Ulysses das Chaos ausmalen das eintritt, sollte die bestehende Ordnung nicht respektiert werden. „Wenn nicht der Feldherr gleicht dem Bienenstock, Dem alle Schwärme ihre Beute zollen, Wie hofft ihr Honig? Wenn sich Abstufung verlarvt, Scheint auch der Schlechtste in der Maske edel. Die Himmel selbst, Planeten und dies Zentrum, Reihn sich nach Abstand, Rang und Würdigkeit, Beziehung, Jahrszeit, Form, Verhältnis, Raum, Amt und Gewohnheit in der Ordnung Folge; Und deshalb thront der majestät'sche Sol, Als Hauptplanet, in höchster Herrlichkeit Vor allen andern; sein heilkräftig Auge Verbessert den Aspekt bösart'ger Sterne, Und trifft, wie Königs Machtwort, allbeherrschend Auf Gut' und Böses. Doch wenn die Planeten In schlimmer Mischung irren ohne Regel,...“ Das Weltbild des elisabethanischen Zeitalters. (Troilus und Cressida, I, 3 – Üb. Baudissin) Kopernikus’ „De Revolutionibus Orbium Coelestium“, erschienen 1543, rückte erstmals die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos und brach sich als „heliozentrisches“ System Bahn. Shakespeare und seine Landsleute waren jedoch weiterhin der „geozentrischen“ Sichtweise verhaftet, in der sich buchstäblich alles um die im Mittelpunkt des Alls ruhende Erde drehte. Dies war nach Ansicht der Elisabethaner das gottgewollte System. Um die Erde spannten sich elf kristalline Sphären mit dem regelmäßig erscheinenden Mond und den wandernden Planeten. Oberhalb der Sphären befand das Firmament, der Fixstern-Himmel und darüber das „Primum Mobile“, das die Bewegungen des himmlischen Systems überwachte. Den „Gipfel“ dieses Systems bildete das „Empyreum“, der Feuerhimmel, die Heimstatt Gottes und der reinen Seelen. Alles war von Gott geplant und bindend. Der Bereich unterhalb des Mondes gehörte den Menschen und den Elementen: Erde, Wasser, Feuer und Luft. Diese „sublunare“ Region war geprägt durch Verfall und Vergänglichkeit. Shakespeare übernahm in seinem Denken und Werken auch die mittelalterliche Stufenlehre, nach dem die gesamte Schöpfung in eine Hierarchie eingebettet ist („chain of being“). Die Stufenlehre wird häufig als Leiter, Treppe oder Pyramide dargestellt. Die mittelalterliche Stufenlehre. 7
Auf der ersten, untersten Stufe befinden sich die Mineralien; unbelebte Existenz. Die zweite Stufe ist bevölkert von den Pflanzen: Sie sind belebte Existenz. Das Tierreich der dritten Stufe weist zusätzlich zu den Eigenschaften der Stufe I und II Gefühl und Bewegung auf. Die vierte und höchste irdische Stufe gebührt dem Mensch: er hat alle Attribute der vorangegangenen Stufen inne und besitzt zudem Verstand und Seele. Nach dem Menschen folgen „nur noch“ die Engel und Gott als höchste Instanz. Doch damit nicht genug. Innerhalb der einzelnen Stufen gibt es zusätzliche Abstufungen: so ist z. B. auf Ebene der Mineralien Gold edler, also höher- wertiger als Blei, die Rose als Pflanze höher gestellt als schnödes Gras, der Löwe ranghöher als alle anderen Tiere. Unter den Menschen ist der König der Höchste von allen, der Edelmann höher gestellt als der Bürger, der Bürger steht über dem Bauer, usw. Eine weiteres Bild zu Verdeutlichung der hierarchischen Struktur der Elisabethaner war der „body politic“: Es stellte das Gesellschafts- system als Körper dar: jedes Organ, jede Extremität hatte eine bestimmte Der elisabethanische Mensch hatte einen festen Platz Funktion; der Kopf war selbst- innerhalb der Hierarchie der Schöpfung. verständlich der Herrscher. Der elisabethanische Mensch selbst sah sich als Ebenbild Gottes, als das höchste Körperwesen und als unterstes Geistwesen, er war „Spiegel und Modell der gesamten Schöpfung“. Sein Körper setzte sich aus dem sublunaren Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft zusammen. Dazu kamen noch die sogenannten Qualitäten: kalt, feucht, trocken und heiß. Seine „Lebenssäfte“ „Schwarze Galle“, „Schleim“, „Rotes Blut“ und „Gelbe Galle“ bestimmten seine Konstitution und sein Temperament, sprich Gemütszustand (humours). Waren diese Säfte in einem ausgewogenen Verhältnis war der Mensch ausgeglichen, gab es jedoch Missverhältnisse (und die gab es aufgrund der Erbsünde immer) bildeten sich unterschiedliche Charaktertypen (Temperamente) heraus: Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker oder Melancholiker. Element Körpersaft Temperament Qualität Erde Schwarze Galle Melancholiker Kalt und trocken Wasser Schleim Phlegmatiker Kalt und feucht Feuer Rotes Blut Sanguiniker Heiß und feucht Luft Gelbe Galle Choleriker Heiß und trocken Nach elisabethanischem Weltbild lebte der Mensch als einziger in einer Art Gemeinwesen. Anhand der Stufenlehre wurde er innerhalb der vierten Stufe mit ihren innewohnenden weiteren Abstufungen eingegliedert und musste dort nach seinem sozialen Stand, Berufsstand, Familienstand, Vermögensstand usw. verharren. Wurde diese Ordnung gestört drohte die „Welt aus den Fugen zu geraten“ (Hamlet, I, 5). http://www.dictadocta.de/html/shakespeare/weltbild.html 8
SHAKESPEARE UND DAS GLOBE THEATER Die „Lord Chamberlain Men“ war die Theater-Company, mit der Shakespeare aufs engste im Laufe seiner Karriere als Dramatiker und Schauspieler verbunden war. Die Chamberlain Men“ sind wohl als die wichtigste Theatertruppe des elisabethanischen und jakobinischen Englands anzusehen. Die Entstehungsgeschichte der Truppe ist etwas kompliziert. Eine Theatertruppe namens „Hundson Men“, deren Gönner Henry Carey, 1. Lord Hundson war, ist für die Jahre 1564 - 67 nachzuweisen. 1585 trat besagter 1. Lord Hundson das Amt des Lord Chamberlain an in Folge dessen er sich als Patron einer weiteren Theatertruppe ab 1590 verantwortlich zeichnete, den „Chamberlain Men“. Zwei Jahre später, also 1592, mussten alle Theater wegen der umgreifenden Pest geschlossen werden. Bedingt durch den enormen, täglichen Publikumsverkehr war die Gefahr einer Ansteckung bzw. weiteren Verbreitung der Pest, zu groß. Gerade die Zeiten der Pest waren für die Theatergegner eine Zeit des Frohlockens. Puritanische Prediger und bürgerliche Stadtautoritäten die die Theater ohnehin als „Brutstätten der Sünde“, „des Laster“ und „der Verschwendung“ verdammten, scheuten sich nicht, den Ausbruch der Pest als „Strafe Gottes“ zu erklären, da ihrer Forderung, sämtliche Theater für immer zu schließen, nicht Folge geleistet worden war. Hielt der Besuch einer Vorführung denn nicht von der Arbeit ab? Zogen sie nicht den „sozialen Abschaum“ an? Waren die Theater nicht Orte, in denen „sündiges Treiben“ öffentlich vorgeführt wurde? Nach Ansicht dieser Herren war das Theater eine Die „Chamberlain Men“. Konzentration der Todsünden schlechthin. Das Jahr 1594, als die Theater wieder geöffnet werden durften, war das Jahr der großen Umstrukturierung und Zusammenlegung verschiedenster Theatergruppen. Eine er- und verstärkte „Chamberlain‘s Men“ Truppe entstand, durch eine Fusion der „Hundson Men“ und „Chamberlain Men“. Nach dem Tod ihres Gönners im Jahre 1596, übernahm dessen Sohn George Carey, 2. Lord Hundson die Patronage, was wiederum zu einer Umbenennung in „Hundson Men“ führte. Dessen nicht genug, fand im Jahre 1597 eine - was wunder - weitere Namensänderung in „Chamberlain Men“ statt, als besagter George Carey, das Amt des Lord Chamberlain übernahm. Dankenswerterweise behielt die Truppe diesen Namen bis März 1603, dem Zeitpunkt der Thronbesteigung James I. Eine Patenschaftsurkunde dieser Zeit belegt, daß sich die Truppe königlicher Patronage erfreuen durften, was sich in dem abschließenden Namen „King‘s Men“ Ausdruck verschafft. Eine Aufführungsstatistik macht deutlich, welch dominante Rolle diese Truppe gegenüber rivalisierenden Theatergruppen einnahm. Die einzige, namhafte Konkurrenz waren die „Admiral‘s Men“, die ihre Blütezeit während der Regierung Elisabeth I. hatten. Beginnend im Sommer 1594 scheinen die „Chamberlain’s Men“ fast ausschließlich in London gespielt zu haben. Nur im Jahre 1597 gingen sie auf Tournee durch die Provinz. Desweiteren gaben sie 1603 Gastspiele über Land, da in London wiedereinmal Die Bevölkerungsexpansion um 1600 machte die Existenz so die Pest ausbrach. vieler Theater erst möglich – ebenso wie den Ausbruch der Pest. 9
Die Truppe ihre Dramen in einem Theater in Newington Butts, einem Dorf südlich von London auf und danach am wahrschein-lichsten in der Stadt selbst, im Cross Keys Inn, vermutlich ein Gasthof. Später benutzten sie das Theater in Shoreditch, welches dem Vater eines der Schauspieler (Richard Burbage) gehörte. Im Herbst 1599 bezogen sie wohl ihr berühmtestes Heim: das Globe Theatre, welches, erbaut von Richard und Cuthbert Burbage an der Southbank der Themse, westlich der London Bridge bei Southwark stand. Der Besitzer des Landes, auf dem das Theater in Shoreditch stand, drohte nach Auslaufen des Pachtvertrages, dass Theater abzureißen. Daraufhin demontierten Burbage und seine Kollegen das Theater und errichten mit dem alten Material das „Globe“, östlich des „Schwan“ Das Globe-Theater in Southwark , südlich von London. und „Rose“ Theater. Man vermutet, dass das „Globe“ zylindrisch in der Form, mit einem mit Reet gedeckten Galeriedach, gewesen ist. 1613, während einer Aufführung von Henry VIII, fing das Reet gedeckte Dach beim Abfeuern einer Kanone, die den Auftritt des Königs theatralisch verstärken sollte, Feuer. Das ganze Theater wurde innerhalb einer Stunde zerstört. Bis Juni 1614 wurde es wieder aufgebaut, diesmal mit einem Ziegeldach. Desweiteren ging man zu einer kreisförmigen, anstatt wie vordem zylindrischen Form über. 1644 wurde es von den Puritanern geschleift, um an seine Stelle Mietskasernen zu errichten. Die eingespielten Gewinne wurden zwischen den Mitgliedern der Schauspieltruppe und den Besitzern des Globe (den sogenannten „Housekeepern“) aufgeteilt. 1608 bezogen die „King‘s Men“ ein weiteres Theater als Winterquartier, dass ehemalige Kloster der „Blackfriars“. Auch dieses Theater wurde von den Burbage‘s geleitet. Richard Burbage starb im Jahre 1619, drei Jahre nach Shakespeare, John Heminge 1630. Das endgültige Aus für die Theatergesellschaft kam nach Ausbruch der Englischen Bürgerkriege 1642, als alle Theater geschlossen wurden. Das ursprüngliche „Globe“ war eine architektonische Mixtur verschiedenster traditioneller Theaterbauten. Die kreisförmige Form assoziierte einen städtischen Marktplatz. Die äußere, zwanzig-eckige Form, war das maximalste zeitgenössischer Zimmermannskunst, um möglichst dicht an eine Kreisform zu gelangen. Im Inneren fand sich ein Gerüst, bestehend aus Galerien in drei Ebenen, die einen runden Innenhof umfassten, eine Kopie der beliebten Bärenhatz- Arenen. Das „Globe“ war beinahe 10 Meter hoch und vermochte an die 3000 Besucher zu fassen. Das Publikum konnte es mittels zweier Passagen unter den Galerien betreten, die in den Hof (oder die Arena) mündeten. Die zwei äußeren Treppentürme führten direkt zu den Galerien. Das Globe war fast ein Architekturwunder. Die Bühne, auf ein ca. 1,50 m hohes Podest gesetzt, war ca. 14,50 m breit und 9 m tief und ragte bis in die Mitte des Hofes hinein. Der vordere Teil war zu den Seiten und nach oben offen, der hintere überdacht, den Abschluss bildete die Wand des Garderobenhauses, in dem die Schauspieler ihre Kostüme, „playbooks“ und andere Utensilien verwahrten. Diese Wand hatte zwei zweiflügelige Tore, durch die die Spieler auf die Bühne gelangen konnten. Die Besucher des Theaters konnten sich im Hof stehend aufhalten oder über eine der Treppen zu den Galerien hinaufgehen, wo sich aufsteigende Sitzreihen befanden. 10
Die Bühne war demnach von drei Seiten, einzusehen. Requisiten fanden nur spärliche Anwendung, Kulissen oder Aufbauten fehlten gänzlich. Gespielt wurde in der Regel auf dem vorderen, offenen Teil der Bühne. Die Aufführungen fanden bei Tageslicht statt und dauerten zwischen zwei und drei Stunden. Trompetenstöße und Trommeln kündeten vom Beginn einer Vorstellung, sowie eine gehisste Fahne, während der Aufführung. Jeden Montag bis Samstag wurde ein anderes Theater- stück aufgeführt, und ca. alle drei Wochen kam ein neues Stück hinzu. Ein Stehplatz im Hof kostete 1 englischen Pfennig, ein Kein Platz war weiter als 20 Meter von der Bühne Platz auf der Galerie 2 Pfennige und mit entfernt – Schauspiel zum Greifen nah. Sitzkissen 3 Pfennige. http://www.dictadocta.de/html/shakespeare/theater.html ROMEO & JULIA > Zur Aufführungsgeschichte Romeo und Julia war von Anfang an ein sehr beliebtes Stück, worauf die vielen Zitate in anderen Werken hinweisen. Der Erfolg setzte sich auch jenseits Englands fort: Romeo und Julia wurde von wandernden englischen Schauspieltruppen in deutscher Fassung in ganz Europa aufgeführt (für das ganze 17. Jahrhundert sind solche Aufführungen dokumentiert.) Als die Theater in der Restaurationszeit wieder öffneten, veranlasste William Davenant 1662 eine erste Aufführung von Shakespeares Drama. Kurze Zeit später machte James Howard aus dieser Aufführung eine Tragikomödie mit glücklichem Ausgang; diese Fassung ist allerdings verschollen. 1679 hatte Thomas Otways Adaptation The History and Fall of Caius Marius ihre Erstaufführung. Das Stück spielt nicht mehr im Renaissance-Verona, sondern im antiken Rom, Romeo heißt Marius, Julia Lavinia, der Streit findet zwischen Patriziern und Plebejern statt. Otways Fassung war ein großer Erfolg und wurde über 70 Jahre lang aufgeführt. Theophilus Cibber (1744) und David Garrick (1748) griffen bei ihren Bearbeitungen auf Otways Ideen zurück. Die berühmte Balkonszene. Zum ersten Mal seit 1679 kehrte Shakespeares Originaltext (wenn auch stark gekürzt) 1845 auf die Bühne zurück. Die Aufführung am Londoner Haymarket Theatre ging auf die Initiative der amerikanischen Schauspielerin Charlotte Cushman zurück, die Romeo spielte (ihre jüngere Schwester Susan übernahm die Rolle der Julia). Seit dieser Aufführung benutzte keine bedeutende Aufführung mehr eine Bearbeitung. Henry Irvings Produktion von 1882 am Londoner Lyceum Theatre verdeutlicht sehr klar den damals bevorzugten Ausstattungsstil (wertvolle Kostüme, lange Musik- und Tanzeinlagen, eindrucksvolle Kulissen). Romeo und Julia blieb auch im 20. Jahrhundert eines der am häufigsten aufgeführten Werke Shakespeares. http://wapedia.mobi/de/Romeo_und_Julia?t=2. 11
INTERVIEW MIT DER REGISSEURIN CATJA BAUMANN > „Die Suppe auslöffeln, die wir uns einbrocken.“ Du inszenierst ROMEO UND JULIA. Wie schaust du auf die Geschichte dieser beiden jungen Leute? Distanziert erwachsen oder mit identifikatorischer Nähe? So eindeutig ist das nicht zu beantworten. Zu Beginn der Vorbereitungen habe ich mich dabei ertappt, als Erwachsener auf diese große Liebe zu sehen. Ich gebe zu, dass ich die Naivität und die Bedingungslosigkeit, mit der sich die Beiden gegen alle Widerstände und in einer unglaublichen Ausschließlichkeit in dieses Gefühl werfen, anfangs belächelt und es als romantisches Ideal, als verklärte Teenieliebe abgetan habe. Inzwischen glaube ich, dass mir, wie den meisten anderen wahrscheinlich auch, im Laufe des "Erwachsenwerdens", die Fähigkeit abhanden gekommen ist, mich einer Liebe in eben dieser Naivität und Bedingungslosigkeit zu stellen, ohne Erfahrungen, das meint ohne die Angst vor Verletzungen, ohne den Vorgeschmack der Wut, der Trauer, der Enttäuschung oder der Ohnmacht, die das Zerbrechen einer großer Liebe immer begleitet, ohne Rücksicht auf alle Konsequenzen. Deshalb habe ich in der Inszenierungsarbeit große Lust, mich als "Erwachsene" aufzumachen und mit diesen Beiden die Unschuld des ersten ganz großen echten Liebesgefühls, wenn schon nicht noch einmal erleben, dann doch zusammen mit den beiden Figuren erforschen zu können. Der Konflikt, auf dem diese wohl weltberühmteste Liebestragödie beruht, erwächst aus dem unerbittlichen Streit der Elternhäuser Capulet und Montague. Welcher Blickwinkel auf diese Familienfehde interessiert dich heute – im Jahr 2010? Mich interessiert an diesem Stück die Frage nach der Verantwortung der Generationen füreinander. Wir haben es in Romeo und Julia mit einer gesellschaftlichen Situation zu tun, die, geschaffen von der Eltern- oder sogar der Großelterngeneration, komplett verfahren und erstarrt ist. Am Ende sind die Jungen tot und die Alten bleiben zurück, bereuen und beginnen über Veränderungen nachzudenken - zu spät. Das ist für mich angesichts der politischen, sozialen und ökologischen Weichenstellungen, denen wir uns als Gesellschaft derzeit gegenübersehen, eine zentrale Frage: Was für Bedingungen schaffen wir für zukünftige Generationen? In was für eine Welt werfen wir unsere Kinder? Gestalten wir sie so, dass Handlungsspielräume für zukünftige Generationen bleiben, oder werden die Jugendlichen von heute und morgen in verschiedenster Weise nur die Suppe auszulöffeln haben, die wir ihnen eingebrockt haben? 12
Zählst du dich schon, du bist gerade erst 30 geworden, zu denen, die anderen eine unbekömmliche Suppe einbrocken werden? Die Verantwortung dafür, wie die Zukunft einer Gesellschaft aussieht, mit Verweis auf das eigene Alter auf später zu vertagen, finde ich generell feige. Angesichts der Tatsache, dass sich mein Freundeskreis gerade mehr und mehr in "mit mir befreundete junge Elternpaare" verwandelt, fürchte ich jedoch, ich muss mich mit dem Gedanken anfreunden, dass ich altersmäßig inzwischen mehr in Richtung der Einbrocker, als der Auslöffler wandere. Obwohl ich glaube, dass meine Altersgruppe gerade erst dabei ist, die Suppe zu kosten, die für uns gekocht wurde. Die Brocken liegen noch vor uns. - Es ist klar, dass jede Generation ihren persönlichen Scherbenhaufen für die kommenden hinterlässt. Die Aufgabe besteht darin, ihn möglichst klein zu halten. Wer hat für wen Verantwortung in diesem Stück? Ausschließlich die Eltern für ihre Kinder? Oder gibt es auch eine Verantwortlichkeit, die die Jungen in diesem Konfliktfeld wahrnehmen müssen? Natürlich tragen die Eltern die Hauptverantwortung für die Bedingungen in dieser Gesellschaft, in der sich Romeo, Julia und ihre Altersgenossen zurechtfinden müssen. Schließlich wurden diese Bedingungen geschaffen, bevor die junge Generation dazu in der Lage war, zu widersprechen, oder sie mitzugestalten. Allerdings kann man dagegenhalten, dass es in der Verantwortung der jungen Generation liegt, erstarrte Systeme aufzubrechen, neue Wege zu gehen und so neue Bedingungen für eine andere Zukunft zu schaffen. In gewissem Sinne versuchen Romeo und Julia das ja. Nicht bewusst politisch - aber in ihrer Entscheidung für die "konfliktübergreifende" Liebe gegen die Anforderungen der eigenen Familien liegt etwas Revolutionäres. Wenn du dir für „Romeo und Julia“ ein Happyend ausdenken müsstest, wie sähe es aus? Romantisch-verklärt: Romeo und Julia schaffen es, auf eine einsame Insel zu fliehen. Romeo wird Philosoph, Julia bildende Künstlerin, sie bekommen mindestens drei Kinder und bauen sich ein neues Leben ohne Streit und Nachbarschaftskrieg auf. Politisch-Aktiv: Romeo kommt aus Mantua zurück, rechtzeitig wacht Julia auf, die beiden entscheiden selbstverständlich gelingt und dazu führt, dass Romeo in die Politik geht, Bundeskanzler wird, mal so richtig aufräumt, verantwortlich und sozial- politische Entscheidungen fällt - mit Julia als Außenministerin an seiner Seite. Im Ernst: Romeo und Julia mit Happyend? Liegt nicht im Glauben an die Liebe, in der Bereitschaft für diese bis in den Tod zu gehen, das eigentliche Versprechen dieses Paares an unsere schnelle Zeit der virtuellen Wegwerfbeziehungen? 13
LIEBESBEZIEHUNGEN > Verschwörung gegen den Rest der Welt Liebe ermöglicht die Ausgrenzung von Dritten aus der Liebesbeziehung. Eine Liebesbeziehung kann sich nun einmal nicht im Kollektiv entwickeln. Dort, wo das Kollektiv beginnt, endet das Liebespaar. Die Liebe ermöglicht Exklusivverhältnisse. Sie erleichtert beispielsweise die Aus und Abgrenzung von Familie. Sowohl gegenüber den Herkunftsfamilien der Liebenden wie gegenüber eigenen Kindern. Kinder können das exklusive Liebesverhältnis eines Paares gefährden. Sie mischen sich ein und attackieren damit die Liebesbeziehung. Liebesbeziehungen grenzen sich über Geheimnisse von anderen und von anderem ab. Liebende teilen Geheimnisse und gehorchen einem Verratsverbot. Der Verrat gegenüber Dritten ist der Verrat an der exklusiven Liebesbeziehung, weil er die Liebesbeziehung für andere öffnet. Das Geheimnis verbindet, der Verrat trennt das Liebespaar. Das Geheimnis schließt Dritte aus, der Verrat schließt Dritte ein. Das exklusive Geheimnis des Liebespaares kann außenstehenden Dritten wie eine Art von Verschwörung vorkommen. Eine Verschwörung, die sich auch von herrschender Moral, politischer Korrektheit, ja von Gesetz und Gebot abgrenzt. Die Liebesbeziehung, eine kriminelle Vereinigung, organisiertes Verbrechen. Man muss nicht bis Adam und Eva zurückgehen, die ihre Liebesbeziehung ja auf Ungehorsam und Verbots Verletzung aufbauen. »Bonnie und Clyde« machen es ebenso. Die Liebe kann aber nicht nur eine Abgrenzung gegenüber Personen, Normen, Gesetzen und der Welt ermöglichen, sie kann auch eine neue und andere Art der Bezugnahme zur Welt sein. Die Liebe kann Gegengewicht zu einer Weltsicht werden, die alles nur unter Nützlichkeitsgesichtspunkten sieht und wertet. Die Liebe entbehrt der Nützlichkeit. Nützlichkeit bindet an diese Welt; die unökonomische Liebe ist dagegen dazu da, verschwendet, aufgeopfert, verspielt und verausgabt zu werden. Der Liebe wird Selbst und Weltverzauberung zugetraut - oder zugemutet. Der Geliebte soll zum Universum werden, indem man sich selbst als Liebendem und Geliebtem und damit der Welt Sinn zuschreibt. Dem Geliebten glaubt man zu verdanken, dass man durch ihn und durch die Liebe zu ihm das eigene Ich entfalten kann, Identität gewinnt und damit auch die Welt wiederherstellen kann. Die Liebe wird zu einer Methode, um sich selbst und die verlorene Welt hervorzubringen. Man möchte angesprochen und gesehen werden, um zu sein. Liebesbeziehungen stellen also Beziehungsformen dar, die sich mit bestimmten Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen verbinden. Sie unterliegen dabei bestimmten Regeln, die sich beschreiben lassen: Die Regeln der Liebe Diese Regeln sind nicht zu verstehen als Vorschriften, nach denen gehandelt werden muss. Es sind Vorschriften, die in einem langen kulturellen Entwicklungsprozess entstanden sind und die sich in unserer Vorstellungswelt fest etabliert haben. Sie sind zu beachten, will man in einer Liebesbeziehung mitspielen. Quelle: Arnold Retzer, Lob der Vernunftehe, Frankfurt a.M 2009 14
ROMANTISCHE LIEBE > Die Sehnsucht nach Utopie Die Vorstellung, romantische Liebe bilde einen Eckpfeiler der Kultur des Kapitalismus, ist nicht neu. Die Liebe bleibt eine der wichtigsten Mythologien unserer Zeit. Ich möchte deshalb an den Anfang dieser Untersuchung folgende Frage stellen: Warum haben die romantische Liebe und die damit verbundenen Mythologien unsere kollektive Vorstellungskraft so sehr im Griff? In der ersten Hälfte dieses Buches behaupte ich, dass diese lange währende Macht der Liebe sich wenn auch nur teilweise aus der Tatsache erklären lässt, dass die Liebe ein bevorzugter Ort utopischer Erfahrung ist. In den kapitalistischen Gesellschaften enthält die Liebe eine utopische Dimension, die sich nicht einfach auf »falsches Bewusstsein« oder auf den angeblichen Einfluss der »Ideologie« auf die menschlichen Sehnsüchte reduzieren lässt. Im Gegenteil, die Sehnsucht nach einer Utopie, die den Kern romantischer Liebe bildet, weist tief reichende Affinitäten zur Erfahrung des Heiligen auf. Diese Erfahrung ist nicht aus den säkularen Gesellschaften verschwunden, sondern hat sich aus der Sphäre der Religion auf andere kulturelle Bereiche verlagert. Einer dieser Bereiche ist die romantische Liebe. Paradoxerweise kam es gerade zu der Zeit zur »Sakralisierung« einer säkularisierten Liebe, als die Liebesbeziehung diejenigen Bedeutungen verlor, die sie lange aus der institutionellen Religion entliehen hatte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die romantische Liebe kein »Altar« mehr an dem die Liebenden eine kultische »Weihehandlung« vollzogen, die man in Begriffe christlicher Frömmigkeit fasste. Indem sie säkularisiert wurde, nahm die Liebesbeziehung die Eigenschaften des Rituals an: Sie schöpfte zunehmend aus Themen und Bildern, die einen temporären Zugang zu einer machtvollen kollektiven Utopie von Überfluss, Individualität und schöpferischer Selbsterfüllung boten, und diese utopischen Bedeutungen erfuhr man mittels des zyklischen Vollzugs von Konsumritualen. Diese Themen, die die romantische Utopie bestimmen, gingen dem Aufstieg des Kapitalismus voraus. Viele Autoren haben gezeigt, dass romantische Liebe in den meisten Gesellschaften (und auch im vormodernen Europa) als subversive Macht galt, welche die rechtliche und moralische Ordnung bedrohte. Doch nirgends spielt diese Beobachtung eine größere Rolle als in der westlichen Kultur, wo die romantische Liebe von einer Aura der Transgression umgeben war und zugleich in den Rang eines höchsten Wertes erhoben wurde. Die Vorstellungen, die unsere romantische Imagination bestimmen, beharren auf dem unteilbaren Recht auf Leidenschaft, sie widersetzen sich den üblichen Anordnungen und Teilungen nach Geschlecht, Klasse oder nationaler Zugehörigkeit. Ein Grund dafür, dass romantische Liebe als dermaßen destabilisierend gilt, liegt darin, dass sie einen für jede soziale Gruppe grundlegenden Regulationsmechanismus in Frage stellt, nämlich die Blutsverwandtschaft. In dem Maße, in dem romantische Liebe auf der individuellen Partnerwahl beharrt, erkundet sie die Grenzen der Regeln, welche die Gruppe zusammenhalten. Die romantische Liebe hat zumindest auf der Ebene der symbolischen Repräsentation die Sehnsucht nach und das utopische Modell einer Souveränität des Individuums jenseits und oftmals gegen die Forderungen der Gruppe zum Ausdruck gebracht. Lange vor dem besitzgierigen Individualismus des kommerziellen und industriellen Kapitalismus feierte die romantische Liebe den moralischen Individualismus, einen Wert, der im Weltbild des industriellen Kapitalismus eine überragende Rolle spielt. Darüber hinaus beschränkten die Heiratsvorschriften im vormodernen Europa nicht nur die Autonomie des Individuums, sondern regelten auch den Austausch von Reichtum. Angehörige des Landadels heirateten Menschen von ähnlichem oder höherem Stand und Vermögen, um ihr Patrimonium und ihren sozialen Status zu erhalten. Der Historiker Theodor Zeldin behauptet, dass die Hochzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen gesellschaftlichen Ebenen (mit Ausnahme der untersten, die sich diese Zeremonie nicht leisten konnte) als eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Finanzoperation des gesamten Lebens galt. 15
Weit entfernt von der modernen Vorstellung von Liebe, war die ideale Ehe dieses Zeitalters diejenige, in der »die Vermögen beider Partner völlig gleichwertig waren: die ideale Ehe war ein Geschäft unter Gleichen«. Zeldin weist darauf hin, dass in einem solchen Klima »die Liebe der große Feind für die elterliche Autorität war, ein Rebell, der all ihre Vorhaben mit ziemlicher Sicherheit in die Katastrophe führen würde«. Die romantische Liebe galt als etwas, das den Strategien sozialer Reproduktion, die üblicherweise durch die Institution der Ehe gesichert wurden, zuwiderlief. Sie stand für Werte wie Interesselosigkeit, Irrationalität und Indifferenz gegenüber Reichtümern. In der populären Literatur jedoch galt die Liebe ironischerweise als etwas, das auf magische Weise, ohne kaltherzige Berechnung ökonomische Sicherheit und Überfluss verschafft. Die romantische Liebe geht also dem Kapitalismus als solchem voraus, bringt aber zugleich zwei Leitmotive zum Ausdruck, die später in den zentralen Ideologemen des Kapitalismus ihren Widerhall finden. Das eine betrifft die Souveränität des Individuums gegenüber der Gruppe; diese Souveränität zeigt sich in der unerlaubten Wahl des Sexualpartners und in der Weigerung des Liebenden, sich gegenüber den von der Gruppe gesetzten Heiratsregeln konform zu verhalten. Das andere Leitmotiv betrifft die für die bürgerliche Ideologie zentrale Unterscheidung zwischen Interesse und Gefühlen, Selbstsucht und Selbstlosigkeit, die in der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre verkörpert ist. In dieser Unterscheidung beharrt die romantische Liebe auf dem Vorrang der Gefühle vor sozialen und ökonomischen Interessen, der Zuneigung vor dem Profit, des Überflusses vor den durch die Akkumulation verursachten Verlusten. Indem sie den Supremat der menschlichen Beziehungen, die geleitet sind von der interesselosen Hingabe der eigenen Person, verkündet, feiert die Liebe nicht nur die Verschmelzung individueller Seelen und Körper, sondern eröffnet auch die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Ordnung. Die Liebe vermittelt damit eine Aura der Transgression, sie verspricht und fordert eine bessere Welt. Quelle:Eva Illouz, Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M. 2003 16
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