RSO Konzertzyklus 2015/2016 Do 10./Fr 11. Dezember 2015 Abo 4 Gesangssolisten Cantus Juvenum Karlsruhe SWR Vokalensemble Stuttgart ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
RSO Konzertzyklus 2015/2016 Do 10./Fr 11. Dezember 2015 Abo 4 Gesangssolisten Cantus Juvenum Karlsruhe SWR Vokalensemble Stuttgart Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Stéphane Denève 1
Programm Jubi läumssaison 70 Jahre RSO Stuttgart Detlev Glanert *1960 »Megaris« Seestück mit Klage der toten Sirene für Orchester und wortlosen Chor (2014/2015) Uraufführung Auftragskomposition des SWR zum 70jährigen Jubiläum des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR PAUSE Maurice Ravel 1875–1937 »L’Enfant et les sortilèges« – »Das Kind und der Zauberspuk« Lyrische Fantasie in zwei Teilen Libretto: Colette Konzertante Aufführung in französischer Sprache Kind Camille Poul, Sopran Mutter, Chinesische Tasse, Libelle Marie Karall, Mezzosopran Polstersessel, Katze, Eichhörnchen, Schäfer Julie Pasturaud, Mezzosopran Feuer, Prinzessin, Nachtigall Annick Massis, Sopran Fledermaus, Eule, Schäferin Maïlys de Villoutreys, Sopran Lehnstuhl, Baum Paul Gay, Bass Standuhr, Kater Marc Barrard, Bariton Teekanne, kleiner alter Mann, Laubfrosch François Piolino, Tenor Vier Tiere Maïlys de Villoutreys, Julie Pasturaud, Do 10.12. / Fr 11.12 2015 François Piolino, Paul Gay Liederhalle Stuttgart, Beethovensaal Cantus Juvenum Karlsruhe Konzertbeginn 19.30 Uhr Einstudierung: Anette Schneider Konzertpause ca. 20 Uhr SWR Vokalensemble Stuttgart Konzertende ca. 21.15 Uhr Einstudierung: Florian Helgath 18.30 Uhr Konzerteinführung: Dorothea Bossert mit Detlev Glanert Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Zeitversetzte Live-Übertragung am Freitag, 11.12.15 ab 20.03 Uhr in Leitung: Stéphane Denève 2 3
Odysseus kränkte die Sirenen © Bettina Stoess Detlev Glanert: »Megaris« UA »Musik ist bei mir nie abstrakt, sie ist immer mit Szenischem verbunden«, erklärt Detlev Glanert, doch ist es nicht so, dass er sich erst bei einem Kompositionsauftrag auf die Suche nach geeignetem dramatischen Stoff macht – die Themen beschäftigen ihn meistens schon sehr lange, bevor sie in einem Werk Form annehmen. Der Mythos um Odysseus und die Sirenen begleitet Glanert seit mehr als zehn Jahren. Dass er ihn nun zum Orchester jubiläum des RSO Stuttgart musikalisch umsetzte, lag auch am Wunsch des Chefdirigen- ten Stéphane Denève, den Chor auf eine spezifische Weise – nämlich wortlos – zum Einsatz zu bringen. Für Glanert stimmte diese Vorgabe zu der Vorstellung von einem Klagegesang Detlev Glanert der Sirenen (und in diesem Fall der Sirene Parthenope) überein, die sich – nachdem Odys- seus sie überlistet hat – ins Meer und damit in den Tod stürzen müssen. Seit fast dreitausend Jahren sind die Sirenen Teil unserer Kulturgeschichte. Im Homer zu- Kurzinfo für Einsteiger geschriebenen Epos der Odyssee, die aus dem 7. oder 8. Jahrhundert v. Chr. stammt, erlei- Detlev Glanert deutscher Komponist studierte bei Diether de la Motte, Hans Werner Henze und Oliver den sie, bis dahin unbesiegbar geglaubt, eine erschütternde Niederlage: Odysseus muss Knussen lebte insgesamt zehn Jahre in Italien, wo er fünf Jahre das »Istituto di Musica« und drei Jahre das auf seiner Irrfahrt die Insel der Sirenen passieren. Vor ihm hat das noch niemand geschafft, »Cantiere Internazionale d’Arte« in Montepulciano als künstlerischer Direktor leitete 1992/93 Stipendiat ohne, angelockt vom betörenden Gesang, an den Inselfelsen Schiffbruch zu erleiden und der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom 2003 Composer in Residence am Nationaltheater Mann- unterzugehen. Doch Odysseus kann den verlockenden Gesang genießen und zugleich heim sowie 2005 beim Pacific Music Festival in Sapporo leitete Kompositionsklassen u.a. in Aspen, Genua, sicher passieren, indem er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verstopft und sich selbst Montepulciano, Melbourne, Djakarta und Sapporo schuf bislang drei Sinfonien, Solokonzerte, zahlreiche Orchesterstücke sowie viele kammermusikalische Werke ist heute der meistgespielte lebende Opernkom- an den Mast binden lässt. Die Sirenen haben dadurch auf doppelte Weise verloren: Ein ponist in Deutschland seine 10 Musiktheaterstücke erlebten zahlreiche Produktionen weltweit und erhiel- ungeschriebenes Gesetz besagt, dass sie, wenn sie überlistet – und damit beleidigt – wer- ten renommierte Preise ist von 2011 bis 2021 Hauskomponist des Amsterdamer Concertgebouworkest den, den Freitod im Meer suchen müssen. Der leblose Körper der Sirene Parthenope wurde 4 5
vor der damaligen antiken Insel Megaris, vor der heutigen Stadt Neapel, die ursprünglich »Magischer Kinderalbtraum« Parthenope hieß, angeschwemmt. Maurice Ravels Oper »L’enfant et les sortilèges« Für Detlev Glanert stecken in diesem uralten Mythos vielerlei für uns heute aktuelle Bezü- ge, wie sie sich auch in Interpretationen durch die Kulturwissenschaft wiederfinden. Theodor W. Adorno verglich in seiner »Dialektik der Aufklärung« die gekränkten Sirenen mit der »beleidigten« Natur, für ihn war Odysseus der erste Vertreter eines bürgerlichen Bewusstseins, und damit ein Vorläufer und Vertreter des modernen Kommerz. Zugleich steht er für die rationale Aufklärung, welche sein Gegenstück, den Mythos, verkörpert durch die Sirenen, entzaubert und zerstört. Glanert fühlt sich durch die Vorstellung von ertrinkenden Sirenen aber auch an die toten Körper im Mittelmeer unserer Zeit erinnert, also an das Schicksal der Flüchtlinge, die im Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrinken. Mit »Megaris« besetzt er die Leerstelle zwischen Tod und Ankunft des Körpers der Par- thenope, gefüllt mit den imaginären Gedanken ihrer Seele, ein Lamento der Gekränkten und Toten. Der Chor wird dabei, in seiner Textlosigkeit, gleichsam instrumental eingesetzt und in der Klangsprache dem Orchester so ähnlich gestaltet, dass sich beide größtenteils vollkommen vermischen. Gegliedert ist das Werk in fünf Gedankenbögen und drei Abschnitte, wobei jeder neue Abschnitt mit einem Sologesang beginnt. Das Werk eröffnet ganz leise ein Sopran, der eine motivische Urzelle vorstellt, die im weiteren Verlauf des Werkes immer stärker musi- Ein Kind, allein in seinem Zimmer, denkt daran, was es nur alles tun könnte, wäre es kalisch entwickelt und variiert wird und bald unter anderem in einer in Halbtonschritten nicht gezwungen zu den verhassten Hausaufgaben. Der Mensch aber, von dem es sich verlaufenden Wellenbewegung aufscheint. Ein gegensätzliches, aggressiveres Urmotiv ist Hilfe, Liebe und Befreiung aus der misslichen Lage erhofft, die Mutter, erscheint als rie- Odysseus zugeordnet, beziehungsweise der feindlichen, mörderischen Welt, die er verkör- sige, gesichtslose Unperson, die Zwang und Fremdbestimmung noch verstärkt. Dass sich pert; beide Motive vermischen, kommentieren und zerstören sich gegenseitig. da seine ganze Wut hemmungslos an den Tieren, Pflanzen und Gegenständen seiner Gegen Ende des Werkes entstehen immer mehr Konsonanten im Vokalgesang des Chores. Umgebung entlädt, ist nur einleuchtend. Wie in einer allmählichen Enwicklung von Sprache bilden sich durch Silbenverschiebung Was sich liest wie eine psychologische Fallstudie, ist die Ausgangssituation von Maurice langsam Fantasieworte, bis schließlich am Schluss des Werkes fast der Name der toten Ravels Oper »L’enfant et les Sortilèges«, die am 21. März 1925 nach fast zehnjähriger Ent- Sirene (»Pa – Te – No – Pe«) zu vernehmen ist. »Megaris« verklingt nach und nach, in einem stehungszeit unter Victor de Sabata in Monte Carlo uraufgeführt wurde. Ravel war von immer leiser werdenden und wiederum im Sopransolo endenden Abschied. der Aufführung begeistert: er bedankte sich für das Dirigat als eine der vollkommensten Die Komposition ist dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zu seinem 70jährigen Freuden in seinem ganzen Musikerleben. Der andere Künstler, der der Premiere zu ihrem Bestehen gewidmet. glanzvollen Erfolg verhalf, war der 21jährige Choreograph George Balanchine. Dessen Chef, Serge Diaghilew, hatte sich mit Ravel wegen »La Valse« überworfen und wollte mit der Zauber-Oper nichts zu tun haben: Für Balanchine wurde die »Fantaisie lyrique« – so Autorin der Untertitel der Oper – zum Aufsehen erregenden Auftakt seiner Karriere. Die Verfasserin der Oper, die französische Schriftstellerin Colette, hatte das Libretto Julika Jahnke lebt in Augsburg. Dort produziert sie Beiträge und Texte über das aktuelle Musikleben für BR 1916 ursprünglich als Vorlage für ein Märchenballett geschrieben. Ravel sah aber das Klassik, SWR2 und MDR Figaro. Außerdem betreut sie PR-Projekte für den Veranstalter »Parktheater Göggin- gen«. Sie studierte Musikwissenschaft und Nord Amerikanistik in ihrer Heimatstadt Berlin und arbeitet seit Potential einer Oper darin, Colette stimmte zu und schrieb es nach detaillierten Vor- 1997 als Autorin und Moderatorin für Kulturwellen der ARD. schlägen des Komponisten um. 6 7
Ravel war von dem Sujet des Kindes, das in eine Parallelwelt seiner Imaginationen gerät, fasziniert. Schon in »Ma mère l'oye«, einem musikalischen Märchenkaleidoskop aus dem Jahr 1910, hatte er aufs Eindrucksvollste bewiesen, wie er mit seiner Musik die Dornen- hecke durchbrechen kann, die den verzauberten Garten der Kindheit umschließt. Nur dort, im Reich dieser ergreifenden Mixtur aus bewusster Lakonie und durch und durch artifizieller Expressivität, erlaubt uns Ravel einen unverstellten Blick in seine eigene Kindheitsseele. Stets war er bemüht, eine Aura von Distanziertheit und Künstlichkeit um sich zu schaffen. Man kann das heute noch sehen in seinem Häuschen in Montfort l'Amaury mit dem volltönenden Namen »La Belvédère«. Es ist selbst klein (wie es sein Besitzer war), verwinkelt und schmal; vollgestellt mit künstlichen Nutzlosigkeiten: me- chanischem Spielzeug, japanischen Miniaturgärten, unechten Bildern an den Wänden, Gegenständen aus falschem chinesischem Porzellan. Ravel lebte inmitten einer gefälsch- ten Kulisse, versteckte sich hinter Plagiaten, um ja nichts von sich selbst preiszugeben. Selbst seine engsten Freunde bezeugten, dass ihnen ein Blick in Ravels inneres Fühlen und Denken verschlossen blieb. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Oper nach dem zerstörerischen Wut- ausbruch des Kindes eine phantastische Zauberwelt auftut, magisch belebt und voller poetischem Klangzauber. Da beginnt plötzlich ein Lehnstuhl lebendig zu werden und mit dem graziösen Barock- Sessel eine Sarabande zu tanzen. In einer Mischung von Ragtime und Arie in pentato- nisch-chinesischem Kolorit klagen Teekanne und Teetasse über das ungebärdige Verhal- ten des Kindes. Als das Feuer rachsüchtig in flammenden Koloraturen aus dem Kamin züngelt, bekommt es das Kind mit der Angst zu tun. Doch das albtraumhafte Geschehen ist noch nicht vorbei: Die Figuren auf der zerfetzten Tapete werden lebendig. Es sind Hirtenfiguren, die in einer Pastorale im Stile von Rameau darüber klagen, dass sie auseinandergerissen wurden. Die schöne Prinzessin aus dem Märchenbuch erscheint Maurice Ravel und klagt das Kind an, sie der glücklichen Verbindung mit dem Prinzen beraubt zu haben. Schließlich bedrängen die Ziffern des Mathematikbuches in einem aggressiven Rondeau das Kind, an ihrer Spitze eine alte, koboldhafte Lehrerfigur. Das Kind flieht in den Garten, doch auch die Tiere und Bäume draußen sind ihm feindselig gesinnt – zu oft Kurzinfo für Einsteiger mussten sie unter seinen Grausamkeiten leiden. Ein Reigen aus verschiedensten Tänzen und musikalischen Formen umspinnt das Kind, bis es ganz allein und isoliert der Welt Maurice Ravel französischer Komponist wurde 1875 als Sohn eines französisch-schweizerischen Ingeni- gegenüber steht. Verängstigt ruft es nach der Mutter. Das entfesselt ein rasendes Tribu- eurs und einer spanischen Baskin in Ciboure geboren starb 1937 in Paris bekam ab seinem sechsten Lebensjahr Unterricht in Klavier- und Musiktheorie studierte am Pariser Konservatorium erhielt viele nal der Tiere, eine danse macabre in grimmigem Fugato. Im Durcheinander werden das Inspirationen aus dem französischen Barock, der spanischen und baskischen Volksmusik, dem Jazz und der Kind und ein kleines Eichhörnchen verletzt. Das Kind verbindet die Pfote des Eichhörn- orientalischen Musik war privat ein sehr zurückhaltender Mensch lebte in einer künstlichen Welt und chens. Da sind die Tiere gerührt über das spontane Mitgefühl des Kindes. Gemeinsam sammelte mechanisches Blechspielzeug und Nippes vielfach wurde ihm eine »kindliche Spontaneität« rufen sie nach der Mama. Mit den fremdartigen Quinten und Quarten der Oboen, den nachgesagt in der riesigen Spielzeugschachtel seines Hauses Belvédère liegt vielleicht der Schlüssel zu fernen Klängen des »Es war einmal«-Beginns des Stücks, schließt es in der poetischen Ravels Wesen verborgen das hat auch seinen Niederschlag in mehreren Werken, so auch in seiner Oper Atmosphäre der Versöhnung von Mensch und Natur. »L’Enfant et les sortilèges« gefunden 8 9
Was auf den ersten Blick wie eine Revue unterschiedlichster musikalischer Nummern anmutet, ist eine dramaturgisch durchgestaltete Komposition. Ravel verwebt die einzel- nen ›spotlights‹ der belebten Dinge und vermenschlichten Tiere mit der Wandlung des ›bösen‹ Kindes und zieht uns als Hörer immer mehr in den Bann seiner betörenden und gleichzeitig rätselhaften Musik. »Es gibt eigentlich nur zwei Arten von Musik, die eine gefällt und die andere langweilt«, meinte der in Bezug auf seine Kompositionskunst so wortkarge Ravel. »L’enfant et les sortilèges« langweilt keinen einzigen Moment. Autorin Irmelin Schwalb studierte Germanistik, Musik- und Theaterwissenschaft in München. Ihre Dissertation absolvierte sie über »Das erzählerische Werk« von Eduard Graf Keyserling. Sie war Mitarbeiterin in der Drama- turgie der Bayerischen Staatsoper und von 1985-1989 Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1990 arbeitet sie freiberuflich als Autorin, vor allem für Rundfunksendungen über musikalisch-literarische Themen. 10 11
© Christine Ledroit Perrin © Xavier della Chiesa Camilla Poul Marie Karall Julie Pasturaud Annick Massis Sopran Mezzosopran Mezzosopran Sopran Camille Poul studierte am Pariser Konservato- Die junge französische Mezzosopranistin, die Die französische Mezzosopranistin studierte Die französische Sopranistin arbeitete als rium und wurde danach an die Akademie des auch ein Studium der Rechts- und Geisteswis- an der Guildhall School in London. Ihr Debüt Lehrerin, bevor sie am Konservatorium in Pa- Festivals Aix-en-provence aufgenommen. Aus- senschaften abgeschlossen hat, absolvierte hatte sie an der Glyndebourne Festival Oper ris studierte. Ihre Bühnenkarriere begann in gehend von der Barockzeit hat sie ihr Reper- ihre Ausbildung an den Konservatorien von in der Rolle der Dame (Macbeth) den frühen 1990ger Jahren mit Partien in toire mittlerweile auf alle Musikepochen aus- Strassburg und Paris und am Opernstudio unter der Leitung von Vladimir Jurowski. Ihre Opern von Mozart und mit der Rolle der Leila geweitet. Ihr Repertoire umfasst sowohl Rollen (Santa Cecilia) in Rom, wo sie bei Renata Scotto Karriere führte sie an bedeutende Opern in Bizets Perlenfischer. 1999 war sie in der in Opern von Purcell, Monteverdi, Lully und studierte. Marie Karall gewann bei Gesangs- häuser unter Dirigenten wie Sir Charles Ma- Hauptpartie in Lucia di Lammermoor in Telemann, als auch Partien von Mozart, Gretry, wettbewerben mehrere Auszeichnungen und ckerras, Sir Mark Elder, Jakub Hrůša, Esa Pekka Toulouse und im darauffolgenden Jahr in Rossini, Donizetti oder Johann Strauß. erste Preise und hat eine Karriere begonnen, Salonen oder Charles Dutois mit Rollen wie Barcelona besetzt. Bel Canto – Rollen nehmen Camilla Poul gastierte an den Opernhäusern die sie vor allem auf die großen französischen Speranza (Orfeo), Lucretia (The Rape of Lucre- in ihrem Repertoire einen großen Platz ein. von Dijon, Rennes, Lilles, Versailles und Paris, Bühnen und in die Schweiz führte. tia) oder Alisa (Lucia di Lammermor). Julie Pas- 2004 spielte sie die Violetta (La Traviata) in sowie bei Festivals in Aix-en-provence, Berke- Sie interpretiert Rollen wie Carmen (Carmen), turaud war an der Weltpremiere von »La Mé- Pittsburgh. 2009 sang Annick Massis alle vier ley, Granada, Leipzig, Nantes und Lissabon. Flora (La Traviata), Azucena (Il Trovatore), Fene- tarmophose«, einer neuen Oper von Michaël Hauptsopranpartien in einer Produktion von Sie ist ebenfalls in den großen Konzertsälen na (Nabucco), Maddalena (Rigoletto), oder die Levinas beteiligt, die im März 2011 an der Hoffmanns Erzählungen an der Opéra de Europas wie dem Wiener Konzerthaus, dem Federica (Luisa Miller). Opéra de Lille ihre erste Aufführung hatte. In Nice. Ihr Repertoire umfasst mehr als 70 Concertgebouw Amsterdam oder in der neuen Im Konzertbereich trat sie gemeinsam mit Ravels »L’Enfant et les sortileges« sang sie, Partien von Rameau bis Poulenc und Berlioz, Cité de la Musique in Paris aufgetreten. An ih- dem Ensemble Matheus unter der Mitwirkung wie in diesem Konzert, die Partien: Polster- beinhaltet die großen Heldinnen der Mozart- rer Seite waren Dirigenten wie Hervè von Jean-Christophe Spinosi auf oder im Duett sessel, Katze, Eichhörnchen und Schäfer, in Opern wie die großen Bel Canto-Koloraturari- Niquet, Jean-Claude Malgoire, Diego Fasolis, mit José Cura am Aspendos Old Theater in der einer Aufführung mit dem Orchestre Natio- en von Donizetti, Bellini, Rossini oder Meyer- William Christie oder Jean-Christophe Spinosi. Türkei. Marie Karall nimmt ebenfalls an zahl- nal de Lyon in der Salle Pleyel Paris unter der beer. Annick Massis tritt ebenfalls regelmäßig Auf Tonträger ist Camilla Poul besonders mit reichen Sendungen im Radio und Fernsehen Leitung von Leonard Slatkin und in Stockholm in Liederabenden und im Konzert auf. Alter Musik vertreten, aber auch mit Arien des teil, dort in vielen Fällen in Live-Übertra unter Esa Pekka Salonen. französischer Komponisten Michel de la Barre. gungen. 12 13
© Marianne Rosenstiehl © Marco Borggreve Maïlys de Villoutreys Paul Gay Marc Barrard François Piolino Sopran Bass Bariton Tenor Nach einer Ausbildung an der Universität in Der aus Frankreich stammende Bassbariton Marc Barrard studierte am Konservatorium François Piolino wurde in Basel in der Schweiz Italien und als Schülerin von Martine Surais Paul Gay studierte am Konservatorium in von Nîmes und vervollkommnete seine Aus- geboren und absolvierte sein Gesangsstu am Konservatorium in Rennes, beendete die Paris bei Robert Dumé und ergänzte seine bildung bei Gabriel Bacquer. Er gewann zahl- dium am Konservatorium in Lausanne und französische Sopranistin 2011 erfolgreich ihr Ausbildung bei Kurt Moll an der Kölner reiche Preise und Wettbewerbe und ist seit an der Londoner Guildhall School. Seine Kar Masterstudium am Pariser Konservatorium, Musikhochschule. Er hat sich in den letzten 1984 beim Chorégies d'Orange Festival, ei- riere startete der Tenor im Bereich der Ba- wo sie bei Isabele Guillaud und Alain Buet Jahren als ein wichtiger Sänger seines Fachs nem Sommer-Opernfestival in der Nähe von rockmusik mit William Christie und seinem studierte. Schon in jungen Jahren entdeckte etabliert und ist weltweit gefragt auf großen Avignon zu Gast. Mittlerweile ist er auf den Ensemble »Les Arts Florissant«. Dies ermög- Maïlys de Villoutreys die Bühne für sich und Bühnen und Konzertpodien mit namhaften internationalen Bühnen in Italien, Buenos lichte ihm eine stabile Grundlage, auf wel- trat in Kinderrollen auf. Neben ihrer Arbeit im Orchestern, darunter die Berliner Philharmo- Aires, Tel Aviv, Helsinki, Washington, Los An- cher er seinen musikalischen Werdegang Opernbereich ist Maïlys de Villoutreys eine niker, das Orchestre National de France oder geles oder Monte Carlo zu Hause, ebenso wie aufbauen konnte, der ihn zur Oper führte. passionierte Kammermusikerin und tritt mit Rotterdam Philharmonic. Er sang unter der im Concertgebouw Amsterdam unter Diri- Mit dem Hauptaugenmerk auf Charakter dem Pianisten Ivan Coieffé auf und bildet mit Leitung von bedeutenden Dirigenten wie genten wie John Eliot Gardiner, Kent Nagano, rollen, trat Piolino auf den größten Bühnen der Harfenistin Delphine Benhamou ein Duo. Ivan Fischer, Seiji Ozawa, Semyon Bychkov, Christoph Eschenbach, Alain Lombard oder Europas auf, arbeitete mit vielen bedeuten- Weiterhin arbeitet sie mit verschiedenen Yannick Nezet-Seguin oder Michael Schøn- Michel Plasson. Unter seinen Partien sind den Regisseuren zusammen und arbeitete Ensembles zusammen, darunter Pygmalion, wandt und arbeitete mit Regisseuren wie u.a.: Goulaud (Pellèas et Mélisande), Don unter der Leitung von Dirigenten wie Michel Le Banquet Céleste, Amar illis, Les Surprises Willy Decker, Peter Stein, Nicolas Joel oder Alsfonso (Cosi fan tutte) oder Sharpless (Ma- Plasson, Yvan Fischer, Pinchas Steinberg oder oder das Ensemble Le Poème Harmonique. Zu Achim Freyer zusammen. Paul Gay gehört zu dame Butterfly). Marc Barrard Können ist auf Kazushi Ono. Dank seiner perfekten Beherr- ihren jüngsten CD-Veröffentlichungen gehö- den wenigen Bassbaritonen, die die Rolle des mehreren CD-Einspielungen und vor allem schung der deutschen Sprache fühlt sich ren Aufnahmen mit dem Trio Dauphine Saint François d'Assise in Messiaens gleich auf DVD dokumentiert. François Piolino in Rollen von Richard Strauss- (Laborde’s songs) und mit dem Ensemble namiger Oper gesungen haben, u. a. an der Opern oder als Monostatos (Zauberflöte) Amarilles (La Double Cocquette). Bayerischen Staatsoper München unter der wohl, letztere war eine seiner Lieblingsrollen, Leitung von Kent Nagano. die er über achtzig Mal in der ganzen Welt aufführte. 14 15
© SWR/Christian Mader Cantus Juvenum Karlsruhe SWR Vokalensemble Stuttgart Der Cantus Juvenum Karlsruhe ist die Singschule im Herzen Karlsruhes. In diesem Das SWR Vokalensemble Stuttgart zählt zu den international führenden Ensembles für Gemeinschaftsprojekt haben die Stadtkirche und die Christuskirche die Chorarbeit mit die Vokalmusik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Kindern und Jugendlichen zusammengeführt. Zahlreiche Auftritte und Preise zeugen Bereits 1947 erfolgte der erste Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen. 1951 kam vom Erfolg der Singschule, in der heute etwa 150 Kinder und Jugendliche in einem der mit Hermann Joseph Dahmen ein Chefdirigent, der die Spezialisierung des Chores auf sieben Chöre vom Kindergartenalter bis zu den jungen Erwachsenen mitwirken. Kinder zeitgenössische Vokalmusik entschieden vorantrieb. Zu internationaler Reputation als ab dem Grundschulalter erhalten zusätzlich wöchentlichen Gesangsunterricht. In Ensemble für Neue Musik gelangte das SWR Vokalensemble dann mit den Chefdirigen- Konzerten, musikalischen Gottesdiensten und selbst produzierten Musiktheater- ten Marinus Voorberg (1975–1981), Klaus-Martin Ziegler (1981–1987) und mit Rupert Aufführungen kann der Cantus Juvenum regelmäßig seine Zuhörer begeistern. Cantus Huber (1990–2000). Juvenum Karlsruhe stellt den Kinderchor am Badischen Staatstheater und bildet dafür Seit 2003 ist Marcus Creed Chefdirigent. Unter seiner Leitung gründete das Vokalen auch Knabensolisten z.B. für die Partie der drei Knaben in der Zauberflöte aus. Seit 2015 semble seine erste eigene Konzertreihe in Stuttgart. Die CD-Produktionen, die unter der gibt es auch eine rege Zusammenarbeit mit dem Festspielhaus Baden-Baden. Zu den Leitung Marcus Creeds bisher entstanden sind, wurden mit renommierten Auszeich- musikalischen Partnern gehören Orchester wie die Berliner Philharmoniker, das Radio- nungen bedacht, darunter Aufnahmen mit nahezu unbekannten Werken von Charles Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, die Münchner Philharmoniker und die Badische Ives, Elliott Carter und Heitor Villa-Lobos. Für seine Produktion von Bruckners e-Moll- Staatskapelle. Die Kinder und Jugendlichen des Cantus Juvenum singen dabei unter Messe und einer Motettenauswahl wurde das SWR Vokalensemble Stuttgart 2009 als Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Stefan Soltesz, Stéphane Deneve und Justin Brown. »Ensemble des Jahres« sowie 2011 und 2012 für die »Chorproduktion des Jahres« mit dem Echo Klassik prämiert (2011: Heitor Villa-Lobos, Chorwerke; 2012: György Ligeti, Re- quiem). Außerdem wurde es 2011 für seinen wegweisenden Einsatz für zeitgenössische Vokalmusik mit dem »Europäischen Chorpreis« der Kulturstiftung Pro Europa ausge- zeichnet und erhielt Ende 2014 für die Einspielung der Wölffli-Cantata von Georges Aperghis den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. 16 17
Stéphane Denève © SWR/Uwe Ditz Stéphane Denève ist seit September 2011 Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Im Bereich der Oper hat Denève Produktionen am Royal Opera House Covent Garden, Stuttgart des SWR, seit Beginn der Spielzeit 2014/15 ist er Principal Guest Conductor beim Glyndebourne Festival, an der Mailänder Scala, beim Saito Kinen Festival, im Gran des Philadelphia Orchestra, und seit September 2015 ist er Chefdirigent der Brüsseler Teatro de Liceu, bei der Netherlands Opera, im Théâtre La Monnaie und an der Opéra Philharmonie und Direktor des dortigen Centre for Future Orchestral Repertoire (CffOR). National de Paris geleitet. Von 2005 bis 2012 war Denève Music Director des Royal Scottish National Orchestra Als Absolvent des Pariser Konservatoriums begann seine Karriere als Assistent von Sir (RSNO) in Glasgow. Georg Solti, Georges Prêtre und Seiji Ozawa. Ihm ist es ein großes Anliegen, die nächste International wird Denève als Dirigent von höchstem Rang anerkannt und von Pub- Generation der Musiker und Zuhörer zu inspirieren und für klassische Musik zu begeis- likum und Kritik einhellig für seine Auftritte und seine Programme gefeiert. Er tritt tern. regelmäßig in international bedeutenden Konzertsälen mit weltweit führenden Orches- Seine CD-Einspielungen mit Werken von Debussy, Roussel, Franck, Poulenc und Connes tern auf, darunter das London Symphony Orchestra, das Royal Concertgebouw Orkest son sind von der Presse in höchsten Tönen gelobt und ausgezeichnet worden. Mit dem Amsterdam oder die Orchester in Chicago, Los Angeles und Boston. Stépane Denève RSO Stuttgart spielt Stéphane Denève zurzeit alle Orchesterwerke von Maurice Ravel auf pflegt enge Beziehungen zu vielen der weltbesten Solisten wie Jean-Yves Thibaudet, Leif CD ein. Ove Andsnes, Frank Peter Zimmermann, Gil Shaham, Hilary Hahn oder Joshua Bell. Seine besondere Vorliebe gilt der Musik seiner französischen Heimat, zudem ist er ein leiden- schaftlicher Fürsprecher für die Musik der Gegenwart. 18 19
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR © SWR/Uwe Ditz Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – gegründet 1945 – ist einer der be Hans Müller-Kray und Carl Schuricht prägten als erste Dirigenten das RSO. Sergiu Celibi- deutendsten musikalischen Botschafter des Landes. Pro Saison spielt das RSO rund dache war von 1972 bis 1982 künstlerischer Leiter und entwickelte durch seine ebenso 80 Konzerte im Sendegebiet des SWR, es gastiert in nationalen und internationalen intensive wie suggestive Probenarbeit ein neues Klangideal, das die Spielkultur wegwei- Musikzentren und bei Festspielen. send für viele Jahre prägte und das RSO in die internationalen Spitzenorchester einreih- Die Ausrichtung des RSO Stuttgart fokussiert sich zum einen auf das große klassisch- te. Sir Neville Marriner und Gianluigi Gelmetti waren die RSO-Chefdirigenten in den romantische Repertoire, das in exemplarischen Interpretationen gepflegt wird, zum 1980er und 90er Jahren, Georges Prêtre übernahm 1996 die künstlerische Leitung. anderen auf die zeitgenössische Musik und selten gespielte Werke und Komponisten. Große Solisten- und Dirigentenpersönlichkeiten waren bzw. sind beim RSO zu Gast, Die Förderung junger Künstler gehört ebenso zum Selbstverständnis des RSO wie die u. a. Carlos Kleiber, Wilhelm Furtwängler, Maria Callas, Ferenc Fricsay, Yehudi Menuhin, Erschließung anspruchsvoller Musik für ein junges Publikum. Karl Böhm, Sir Georg Solti, Alfred Brendel, Kurt Sanderling, Mstislaw Rostropowitsch, Seit September 2011 ist der Franzose Stéphane Denève Chefdirigent beim Radio-Sinfo- Giuseppe Sinopoli, Anne-Sophie Mutter, Herbert Blomstedt, Hélène Grimaud, Elina nieorchester Stuttgart des SWR. Denève, der sich ein großes Repertoire klassischer und Garanča, Rolando Villazon, Hilary Hahn, Gustavo Dudamel, Sol Gabetta und Lang Lang. zeitgenössischer Werke angeeignet hat, pflegt eine besondere Beziehung zur Musik seiner französischen Heimat. Denève ist Nachfolger von Sir Roger Norrington, der von 1998 bis 2011 in gleicher Position das RSO Stuttgart leitete und nun Ehrendirigent des RSO ist. Norrington ist es gelungen, dem RSO ein ganz unverwechselbares Profil durch die Verbindung von historisch informierter Aufführungspraxis mit den Mitteln eines modernen Sinfonieorchesters zu verleihen. 20 21
Jubi läumssaison 70 Jahre RSO Stuttgart Ein Orchesterleben – Teil 4 Der »Stuttgart Sound« – Sir Roger Norrington und die Jahrhundertwende Sir Roger Norrington 1998 – unmittelbar nach der kurzen Zusammenarbeit mit Georges Prêtre gibt es mit Sir Ein Pionier der Historischen Aufführungspraxis, Nikolaus Harnoncourt, hat seine »Lehr- Roger Norrington einen neuen Chefdirigenten beim RSO Stuttgart, und der Schritt vom jahre« als Cellist übrigens bei den Wiener Symphonikern verbracht und dort auch viel Einen zum Anderen könnte kaum größer sein: Er bedeutet schlicht eine Revolution für unter Karajan gespielt. Zur gleichen Zeit arbeiten Gleichgesinnte wie Gustav Leonhard, das Gefüge dieses Orchesters. Er öffnet nämlich das Tor zu einer anderen Spiel- und John Eliot Gardiner oder – Roger Norrington auf ähnliche Weise. Allen gemeinsam ist die Klangkultur, er bewirkt die Zusammenführung von zwei Auffassungen, die bis dato enge Verbindung von Musikpraxis und Musikforschung, also die Beseitigung der vorur- eigentlich für unvereinbar gehalten worden sind: Zum einen die der großen klassisch- teilsbelasteten Abgrenzung von Musikmachen und Musikwissenschaft. Die Grunder- romantischen Orchestertradition, zum anderen die der so genannten Historischen Auf- kenntnis dieses Musizierens ist eigentlich eine negative: So wie die aufgeführte ältere führungspraxis, die inzwischen gern auch als »historisch informierte« bezeichnet wird. Musik in jenen Jahren erklingt, hat sie mit Sicherheit zu ihrer Entstehungszeit niemals Und auch das Wörtchen »authentisch« fällt häufig in diesem Kontext. geklungen. Also macht man sich daran, anhand der Quellen die historische Spielweise zu Was aber ist das eigentlich – Historische Aufführungspraxis? Um das zu verstehen, be- rekonstruieren. Und wie bei allen Revolutionen üblich, geschieht das zunächst apodik- darf es eines kurzen Rückblicks. Das große »philharmonische« Orchesterrepertoire der tisch und radikal. Für die Musikwelt jener Zeit ist das Ergebnis ein schockierender Bruch Jahre vor und nach dem 2. Weltkrieg umfasste Musik vom Barockzeitalter bis zur gemä- mit allem Gewohnten. ßigten Moderne, also dem frühen 20. Jahrhundert. Aufgeführt wurde es in zumeist gro- Heute, nach einem halben Jahrhundert »Historischer Aufführungspraxis«, hat sich die ßer Streicherbesetzung, mit modernen oder auch »auf modern« umgerüsteten Instru- musikalische Welt grundlegend verändert. Der Dienstantritt von Sir Roger in Stuttgart menten; so spielte man sowohl Bachs Brandenburgische Konzerte wie auch Mozart- und erscheint in diesem Zusammenhang geradezu wie eine Versöhnung zwischen zwei bis- Bruckner-Sinfonien. Äußerliches Symbol dafür war das permanente, weit ausholende lang unversöhnlichen Herangehensweisen an Musik: Ein Pionier der »Alte-Musik-Szene« Vibrato der Streicher. Perfektioniert und personifiziert wurde dieser Stil des betörend verbindet sich mit einem klassisch-romantischen Sinfonieorchester, und das Experi- rauschenden Orchesterklangs durch Dirigenten wie Herbert von Karajan oder Leonard ment, als das dieser Pakt zunächst erscheint, wird zu einem Erfolgsmodell. Die Erkennt- Bernstein, aber auch durch einen der großen Vorgänger Norringtons in Stuttgart: Sergiu nisse der Historischen Aufführungspraxis haben sich nun auf breiter Basis durchgesetzt; Celibidache. sie beschränken sich nicht mehr auf Barockmusik, sondern reichen bis zu Brahms, Bruck- 22 23
ner und Mahler. Und vor allem: sie wirken in den philharmonischen Alltag hinein, sind chester, also mit neuen Instrumenten (mit Stahl- und Kunststoffsaiten und mit Klappen also nicht mehr beschränkt auf Spezialensembles mit alten oder nachgebauten Instru- an Oboen und Klarinetten) und mit Musikern, die in moderner Spielweise geschult sind. menten mit Darmsaiten und ohne Klappen. Es liegt nahe, dass diese Musiker dabei zunächst nicht alle glücklich sind, sondern dieser Man kann diesen Fortschritt gut an einem Symptom festmachen: am Dauervibrato der Arbeitsweise mehr oder weniger skeptisch gegenüberstehen. Doch recht bald setzt im Streicher. Noch heute vermag die Information Verwunderung auszulösen, dass bis zu Orchester ein Prozess des Umdenkens ein, angefeuert nicht zuletzt durch die rasch zu- Mahlers Zeit in Wien die dortigen Philharmoniker eben nicht permanent vibriert haben. nehmende internationale Anerkennung. Gemeinsame Tourneen beflügeln den Erfolg Dieses Dauervibrato erzeugt bekanntlich einen rauschenden, vollen »Sound«, hinter zusätzlich, darunter im Jahr 2001 zum ersten Mal ein Auftritt in der Royal Albert Hall bei dem sich freilich manche Ungenauigkeit, vor allem bei der Intonation, verstecken lässt. den BBC-Proms (dorthin wird man im Juli 2016 bereits zum sechsten Mal reisen!). Man hat zu differenzieren gelernt: »Alte Musik« heißt gerade nicht »ohne Vibrato«, son- Die vielleicht wichtigste Erkenntnis nach mehr als einem halben Jahrhundert »Histori- dern meint seinen bewusst dosierten Einsatz, um bestimmte Effekte an bestimmten scher Aufführungspraxis« aber ist, dass wir die historischen Musiker, die seinerzeit Bach Stellen zu erzielen. Es ist bezeichnend, dass Norrington sich in Interviews energisch da- und Mozart gespielt haben, nicht rekonstruieren können. Wir machen heute »nach bes- gegen gewehrt hat, auf das fehlende Vibrato reduziert zu werden. tem Wissen und Gewissen« Musik, ohne zu behaupten, dass wir genau wissen, wie das Der Ansatz von Sir Roger ist also ein umfassenderer, komplexerer, als er im Klischee von einmal geklungen hat. Wir sind heute toleranter als um die Mitte des letzten Jahrhun- der Historischen Aufführungspraxis transportiert wird. Und selbst das handliche derts. Und es ist unbezweifelbar, dass das RSO auf diese Weise seine stilistische Kompe- Schlagwort vom »Stuttgart Sound« scheint sein Musizieren eher zu verengen. Was sind tenz und Flexibilität und auch seine Intonationssicherheit perfektioniert hat. Auch aus- seine Ziele, seine Leitlinien? Man könnte es so zusammenfassen: Musik, die wir heute gewählte Werke englischer Komponisten des 20. Jahrhunderts, wie von Ralph Vaughan spielen, sollte nach dem Erkenntnisstand erklingen, über den wir für ihre jeweilige Ent- Williams, Edward Elgar, Benjamin Britten oder Gustav Holst, hat Norrington in diesem stehungszeit verfügen. Dazu gehört auch der Einsatz des Vibratos, jedoch nur als ein Klangbild dirigiert. Baustein unter vielen anderen. So ist etwa die Frage der Sitzordnung eines Orchesters Die so erfolgreichen Jahre mit Sir Roger Norrington sind zum Glück vielfältig und ein- jetzt viel stärker ins Bewusstsein gerückt: Man weiß zum Beispiel, wie das Orchester in drucksvoll dokumentiert. So liegt etwa eine Gesamteinspielung aller Sinfonien von Wien bei einer Aufführung einer Mahler-Sinfonie unter Leitung des Komponisten geses- Beethoven vor, die durch eine Grammy-Nominierung geehrt worden ist. Zwölf ausge- sen hat. Man weiß, wie viele Instrumente Bach für seine Brandenburgischen Konzerte wählte Haydn-Sinfonien haben den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhalten. zur Verfügung hatte (nämlich sehr wenige!). Und man hat endlich zur Kenntnis genom- Hinzu kommen ausgewählte Sinfonien von Mozart und Bruckner und die Sinfonien von men, wie sehr sich Mozart über große Streicherbesetzungen in Mannheim und in Paris Mendelssohn und Schumann. Auch ein individueller Programmschwerpunkt mit Wer- gefreut hat (was man seinen Briefen schon seit langem hätte entnehmen können!). ken von Hector Berlioz gehört dazu (mit Aufnahmen der Oper »Benvenuto Cellini«, des Pioniere wie Norrington haben also keineswegs »das Rad neu erfunden«, sondern sie Requiems sowie der »Symphonie fantastique«). Insgesamt hat Sir Roger ein gewaltiges haben historische Erkenntnisse neu angewandt. Sie haben die Binsenweisheit wiederent- klingendes Erbe von über 50 CDs und DVDs mit seinem RSO Stuttgart hinterlassen! deckt oder zumindest wiederbelebt, dass Musizieren nicht ausschließlich mit Gefühl, son- dern sehr viel mit Denken und Hinterfragen zu tun hat. Wenn das RSO Stuttgart unter Norrington nacheinander Bach, Haydn, Brahms und Mahler gespielt hat, dann hat jedes der Werke individuell anders und charakteristisch geklungen. »Stuttgart Sound« meint Autor also vor allem Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Werkbezogenheit. Und der Begriff bedeutet auch, dass man zur Aufführung älterer Musik kein Spezialensemble benötigt, Arnold Werner-Jensen hat Schulmusik, Kapellmeister, Germanistik sowie Musikwissenschaft (Dr. phil.) wie noch in der Anfangszeit dieser Bewegung, sondern dass man authentisch und über- studiert. Er lehrte als Professor an den Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Weingarten und zeugend – »historisch orientiert« – auch auf modernen Instrumenten musizieren kann. ver¬fasste zahlreiche Sachbücher zur Musik: mehrere Konzertführer, auch für Jugendliche, das »Reclam- Buch der Musik«, zwei Monographien über Joseph Haydn und über Bachs »Goldberg-Variationen. Im Ok- Nachdem Norrington seine Arbeitsweise zunächst mit den »London Classical Players« tober 2015 ist sein neues Buch »Die großen deutschen Orchester« erschienen. Arnold Werner-Jensen gründlich erprobt hat, überträgt er nun seine Erkenntnisse auf ein modernes Sinfonieor- konzertiert als Pianist und Cembalist. 24 25
Vorschau SILVESTERKONZERT PODIUM RSO RSO KONZERTZYKLUS 5 in Verbindung mit StuttgartKonzert So 10. Januar 2016, 16 Uhr Do 14. Januar 2016, 19:30 Uhr A Do 31.Dezember 2015, 17 Uhr Stuttgart, Neues Schloss, Weißer Saal Fr 15. Januar 2016, 19:30 Uhr B Stuttgart, Liederhalle, Beethoven-Saal Stuttgart, Liederhalle, Beethoven-Saal Maurice Ravel Antonin Dvořak Introduction et Allegro 18:30 Uhr Konzerteinführung mit Aus: Acht Slawische Tänze für Harfe, Flöte, Klarinette und Reinhard Ermen für Orchester op. 46 Streichquartett Maurice Ravel Nr. 8 g-Moll und Nr. 3 As-Dur Bohuslav Martinů »Le Tombeau de Couperin«, Pablo de Sarasate Musique de chambre Nr. 1 Suite für Orchester »Zigeunerweisen« für Violine für Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Wolfgang Amadeus Mozart und Orchester op. 20 Harfe und Klavier Klavierkonzert Nr. 24 c-Moll KV 491 Aram Chatschaturjan Felix Mendelssohn Bartholdy Detlev Glanert Maskerade – Suite für Orchester Oktett »Fluss ohne Ufer« George Gershwin für 4 Violinen, 2 Violen und für großes Orchester (2008) Kubanische Ouvertüre für Orchester 2 Violoncelli in Es-Dur op. 20 Albert Roussel Emmanuel Séjourné Sinfonie Nr. 3 g-Moll op. 42 Mitglieder des Radio-Sinfonieorchester aus: Doppelkonzert für Marimba Stuttgart des SWR Piotr Anderszewski, Klavier und Orchester Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR 2. Satz: Rythmique, énergique Leitung: Stéphane Denève Karl-Heinz Köper (Freitag, 15. Januar 2016 zeitversetzte Live-Übertragung Samba classique für 2 Marimbaphone, ab 20.03 Uhr in SWR2 ) Streichorchester und Perkussion Leonard Bernstein Sinfonische Tänze aus dem Musical »West Side Story« Mila Georgieva, Violine Franz Bach, Alexej Gerassimez, Schlagzeug Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Leitung: Ilyich Rivas (Live-Übertragung in SWR2) 26 27
Herausgeber SÜDWESTRUNDFUNK Marketing SWR2/SWR Orchester & Ensembles Orchestermanagement/ Konzeption der Veranstaltungen Felix Fischer Redaktion Kerstin Gebel Chariklia Michel (Mitarbeit) Quellen Sämtliche Texte sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Gestaltung SWR Design Stuttgart Umschlagsfoto SWR/Uwe Ditz SWR.de/RSO facebook.com/RSO.SWR 28
Sie können auch lesen