Rundbrief - Ostern 2020, Nr. 68 - Pädagogische Sektion am Goetheanum

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Rundbrief - Ostern 2020, Nr. 68 - Pädagogische Sektion am Goetheanum
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                Pädagogische Sektion
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                am Goetheanum
v e r s i o n
E n g l i s h

                                           Rundbrief

                  Zukunft Waldorfpädagogik – China – Mittelstufe – Morgensprüche

                                O s t e r n 2 0 2 0 , N r. 6 8
Impressum

Der Rundbrief der Pädagogischen Sektion
Herausgeber:      Pädagogische Sektion am Goetheanum
                  Postfach, CH 4143 Dornach 1
                  Telefon: 0041 61 706 43 15
                  Telefon: 0041 61 706 43 73
                  Telefax: 0041 61 706 44 74
                  E-Mail: paed.sektion@goetheanum.ch
                  Homepage: www.goetheanum-paedagogik.ch
Redaktion:        Florian Osswald, Dorothee Prange, Claus-Peter Röh
Lektorat:         Angela Wesser
Titelbild:        Waldorf 100 Festival 2019 in Berlin, Tempodrom,
                  Photo Charlotte Fischer

Spenden und Beiträge zu Gunsten des Rundbriefes
Richtsatz pro Jahr CHF 30 / EUR 30
Innerhalb         Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
der Schweiz       Goetheanum, CH-4143 Dornach
                  Raiffeisenbank Dornach
                  Konto-Nr.: 10060.71
                  Clearing Nr.: 80939
                  Postscheckkonto: 40-9606-4
                  Vermerk: 1060

Internationale    Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
Überweisungen     Postfach, CH-4143 Dornach
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                  Raiffeisenbank Dornach, CH–4143 Dornach
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                  Vermerk: 1060

Euro              Anthroposophische Gesellschaft Dornach
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                  IBAN: DE 53 4306 0967 0000 9881 00
                  BIC: GENODEM1GLS
                  Vermerk: 1060

Aus Deutschland   Freunde der Erziehungskunst e.V.
                  Postbank Stuttgart
                  IBAN: DE91 6001 0070 0039 8007 04
                  SWIFT / BIC: PBNKDEFFXXX
                  Vermerk: Pädagogische Sektion, Rundbrief

                                                     Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
3       Zu dieser Ausgabe                                        Dorothee Prange

4       Zukunft der Waldorfpädagogik
4           Zukunftsperspektiven der Waldorfschule               Gilad Goldshmidt,
                                                                 Israel

8           Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert       Christof Wiechert,
                                                                 Niederlande

18          Eine Schulentwicklung von freien Schulen für eine    Christian Boettger,
            Gesellschaft freier Menschen                         Deutschland

23      Pädagogische Musikalität in der Unmittelbarkeit des      Claus-Peter Röh,
        Unterrichts – Schritte eigener Verwandlung im            Schweiz
        Mittelstufenunterricht

27      Augenzeugenbericht aus China                             Verschiedene E-mail
                                                                 Autoren

29      Die Struktur der Morgensprüche für die Waldorfschulen    Dorothee von
                                                                 Winterfeldt,
                                                                 Griechenland

35      Forschungswoche in der Pädagogischen Sektion             Jon McAlice,
                                                                 Nordamerika

37      Gesichtspunkte zum internationalen Engagement und zur    Albrecht Hüttig,
        Zusammenarbeit des Bundes der Freien Waldorfschulen in   Deutschland
        Deutschland

39      Agenda                                                   2020/2021/2022

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                  1
Einleitung

Einleitung
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das neue Jahrzehnt hat begonnen. Wohin          Mit welchen Fragen gehen wir in Bezug auf
gehen wir mit der Waldorfschule? Die Frage      die Mittelstufe weiter? Claus-Peter Röh führt
vom letzten Rundbrief stellt sich weiterhin.    Gedanken dazu aus ergänzt durch Anregun-
Gehen wir mit Freude auf alles Neue zu!         gen aus der Arbeitsgruppe zur Mittelstufe.

Die aktuelle Situation in China bzw. Asien      Artikel von Christian Boettger, Gilad Gold-
und mittlerweile fast auf der ganzen Welt       shmidt und Christof Wiechert gehen der
durch den Coronavirus stellt die Menschen       Frage nach, wie wir mit der Waldorfpädago-
dort vor neue Herausforderungen. Die Lehrer     gik in den nächsten 100 Jahren weitergehen.
sind angehalten, ihre Schüler per Internet zu   Es werden viele Anregungen gegeben, sich
unterrichten. Es findet ja kein normaler        für die eigene Schule, den eigenen Umkreis
Schulunterricht in Klassen statt. Wie lange     auf die Suche zu machen nach Erneuerung
nicht? Bis Ende März? Bis April oder gar bis    bzw. neuer Impulsierung der Grundlagen und
Mai? Inzwischen stellen sich viele Länder       Durchdringung der Traditionen!
weltweit diese Fragen.
                                                Aus der Arbeit der Pädagogischen Sektion
Geschieht Unterricht per Bildschirm im Kin-     stellt Jon McAlice eine seit Jahrzehnten be-
dergartenalter? Wie unterrichtet man online     stehende Forschungsarbeit vor.
für die Unter- und Mittelstufe? Am leichtes-
ten kann man sich digitalen Unterricht noch     Abschliessend veröffentlichen wir einen wei-
für die Oberstufe vorstellen. Ein Augenzeu-     teren Institutionsbericht, in diesem Fall von
genbericht aus E-mails, die uns auch Chengdu    Albrecht Hüttig über das internationale En-
erreichten, zusammengestellt, lassen uns ein-   gagement des Bundes der Freien Waldorf-
drücklich die Situation erleben.                schulen in Deutschland.

Die Grundlage unserer Pädagogik bekommt         Wir hoffen Ihnen, unseren Lesern, wieder ei-
immer grössere Bedeutung. Worauf bauen          nige Anregungen und Informationen gege-
wir? Was sind unsere Grundlagen? Wie schaf-     ben zu haben.
fen wir es, uns die Anthroposophie als Grund-
lage unserer Pädagogik so zu erarbeiten, dass   Alles Gute für die Arbeit und unseren asiati-
sie uns Quell im 21. Jahrhundert wird?          schen Freunden viel Kraft für die bestehen-
                                                den Herausforderungen!
Wie erarbeiten wir uns den Morgenspruch
neu? Nach der Publikation des Büchleins ‚Die    Ihre
Morgensprüche in den Sprachen der Welt’         Pädagogische Sektion
hat Dorothee von Winterfeldt in einem Arti-
kel viele Gedanken zur Struktur und somit
zum Verständnis des Morgenspruches he-
rausgearbeitet. Sehr anregend!

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                      3
Die Waldorfschule: Zukunftperspektiven

Die Waldorfschule: Zukunftperspektiven
Gilad Goldshmidt, Harduf/Isarel
Übersetzt mit Hilfe von deepl

Einleitung                                        heute? Wir leben in sehr verschiedenen Wel-
Die Waldorfschule ist 100 Jahre alt! Wir kön-     ten: Die Luft, die wir atmen, das Wasser, das
nen mit Stolz auf die 100 Jahre Waldorfbe-        wir trinken, die Speisen, die wir essen sind
wegung schauen. Doch mit Sorge auf die            ganz anders als vor 100 Jahren. Sind es nicht
Jahre, die vor uns liegen. Stolz, weil wir eine   auch die Bedürfnisse der Kinder, die An-
richtige Weltbewegung geworden sind; mit          schauungen der Eltern und ebenso die Moti-
Blick auf die grossen Herausforderungen tritt     vation und innere Haltung der Lehrer?
Sorge auf.
                                                  Das Wissen ist eine zweischneidiges Schwert:
Unsere Stärke ist unsere Schwäche                 Es ist eine Kraft, es schafft Sicherheit und be-
Mehr und mehr Kinder auf allen Kontinenten        reitet eine Basis; doch es kann auch etwas ab-
werden an Waldorfschulen oder an Schulen          schliessen und etwas Neues hemmen. Um Stei-
mit Waldorfelementen unterrichtet. Dass ein       ners Erbe zu respektieren, weiter zu pflegen
Erziehungssystem 100 Jahre existiert und          und zeitgemäss zu arbeiten, d.h. gegebene For-
auch weiterhin gedeiht, ist nicht selbstver-      men zu durchdenken, auf den Strom der Zeit
ständlich. Der Hauptgrund ist, meiner Mei-        zu hören – müssen wir uns sehr anstrengen.
nung nach, die geistige Inspiration – der an-
throposophische Hintergrund – den die             Mein Versuch auf alle diese schweren Fragen
Waldorfpädagogik hat und der sehr klare           eine Antwort – oder besser gesagt: eine Ant-
und gestaltete, bis in pädagogische Einzel-       wort-Richtung zu suchen – führt mich zu
heiten gehende Erziehungsbau, den Steiner         folgenden drei Ebenen:
und seine Nachfolger in vielen Büchern, Vor-
trägen und Lehrerkonferenzen schufen.             Esoterische Arbeit
                                                  Ich bin der Meinung, wenn ein Mensch etwas
Wir, als Waldorflehrer und -erzieher haben        mit vollem Herz macht, dann weiss er was und
eine Tradition, wir haben praktische Metho-       wie er es tun soll. Auf alle Fälle ist es in dem
den, wir wissen wie „man es machen soll“, wir     Erziehungsberuf so. In der Sprache der anthro-
haben schon 100 Jahre Erfahrung, und wir          posophischen Menschheitsentwicklung kön-
wissen, dass es „funktioniert“. Das ist unsere    nen wir auch sagen: Was einst von Göttern zu
Stärke.                                           uns gesprochen wurde, soll heute aus der See-
                                                  lentiefe kommen. Also, in unserem begrenz-
Genau das ist auch unsere Schwäche. Unsere        ten, schwierigen und manchmal chaotischen
Formen, unsere Traditionen, unsere Metho-         Seelenleben liegt auch ein Quell des geistigen
den stammen von einer geistigen Inspirati-        Stromes, der Weisheit – Die Frage aber ist: wie
onsquelle, einer Quelle, die sich vor 100 Jah-    kommen wir dorthin?
ren offenbart hat. Weil unser Tun geistigen
Ursprungs ist, funktioniert es. Das war da-       Der Waldorfimpuls kam zuerst durch Steiner
mals sicher zeitgemäss, ist es das auch           selbst in die Welt. Dann waren dort seine

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Die Waldorfschule: Zukunftperspektiven

treuen Schüler, die den Impuls weiter entwi-    verbinden, doch wählen andere geistige
ckelten und ausbauten. Wir leben in einer       Wege zur Selbstentwicklung. Wie ist das zu
Zeit, wo weder Steiner noch seine Schüler       verstehen?
noch hervorragende Individualitäten leben,
die uns lehren können. Wir sind ganz allein     Mein Verständnis der Sache liegt an dem
auf uns selbst gestellt. Das kann einen ent-    schweren, herausfordernden und einsamen
mutigen. Ich wähle lieber die Schlussfolge-     anthroposophischen Schulungsweg. Was in
rung: Dann müssen wir auf uns selber bauen.     allen anderen spirituellen Wegen, die ich
                                                kenne, als Selbstverständliches gilt, nämlich
Die grossen Fragen der Zeit werden nicht        individuelle Begleitung und unterstützende
durch Steiners Vorträge und Bücher gelöst       Gruppen, fehlt bei uns. Viele junge Menschen
werden. Die Bücher können und sollen uns        finden unseren Schulungsweg zu einsam, zu
eine gewisse Basis geben, eine innere Hal-      schwer und die persönliche Begleitung fehlt
tung gestalten, als Wegweiser dienen; die       ihnen. Sie arbeiten also in einer Waldorf-
Antworten werden wir nur durch uns selbst       schule und finden an anderer Stelle Antwort
finden.                                         auf ihre tiefen esoterischen Bedürfnisse.

Also eigentlich ist die Sache nicht kompli-     Diese Gedanken führten einige tätige und
ziert: Wir als Lehrer haben in uns und um uns   ehemalige Lehrer aus der Waldorfschule in
in unseren Zusammenhängen und menschli-         Harduf, Israel dazu, zu versuchen, genau die
chen Beziehungen die Antworten. Doch, wie       oben genannten Qualitäten gemeinsam in
werden wir in die Tiefe dringen?                dem anthroposophischen Schulungsweg zu
                                                entwickeln. Der Ansatz liegt in einer Grup-
                        *                       penarbeit, wo jeder Schüler und Lehrer zu-
                                                gleich ist. Die Gruppe hat eine Kraft, sie ist
Schon viele Jahre begleite ich Lehrer an Wal-   der eigentliche Lehrer. Wir nehmen uns vor,
dorfschulen und junge Menschen in Wal-          gemeinsam erste Schritte des Schulungswe-
dorfausbildungen. In den letzten Jahren habe    ges zu gehen (Die Grundlagen zuerst: „Wie
ich ein merkwürdiges Phänomen beobachtet.       erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel-
Viele junge Seminaristen und junge Lehrer,      ten“, die „Nebenübungen“ usw). Wir in Har-
auch die mit einer tiefen Verbindung zur An-    duf treffen uns mindestens einmal in der
throposophie, gehen ihren Schulungsweg in       Woche. Abwechselnd übernehmen einige
anderen spirituellen Wegen: Buddhismus,         Personen die Leitung der Arbeit, die variiert
Mindfullness, Yoga, Kabala, Judentum, Sufis-    im Rhythmus von kleinen Gruppen mit 3 – 4
mus, um nur einige zu nennen. Also eine         Menschen und grossen Gruppen. Das Haupt-
junge Waldorflehrerin hat die Ausbildung        sächliche ist für uns hier zusammen zu medi-
exzellent vollendet, ist eine gute und be-      tieren, persönliche Erlebnisse der letzten
liebte Lehrerin, aber praktiziert für sich      Woche auszutauschen und über neue
Buddhismus.                                     Schritte zu sprechen.

Dagegen spricht nichts, doch finde ich das      Nach einer gewissen Zeit, in der wir in Har-
Phänomen sonderbar. Warum kommen zu             duf selbst diese Arbeitsform übten, haben
uns die jungen Menschen, erfahren viel über     wir vor, mit Lehrerkollegien verschiedener is-
die anthroposophische Weltanschauung und        raelischer Waldorfschulen diese Arbeit weiter
können sich tief mit der Waldorfpädagogik       zu pflegen. Parallel dazu bringe ich diesen

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                         5
Die Waldorfschule: Zukunftperspektiven

Arbeitsstil auch in die Waldorfausbildungen      unsere Schwäche. Denn die Formen haben
in Israel.                                       die Tendenz zu bleiben, fest zu werden und
                                                 uns einzuzwängen. Um die neue Zeit und die
Meine Überzeugung ist: Finden unsere Stu-        Herausforderung unserer Umwelt wahrzu-
denten und Lehrer in der Anthroposophie          nehmen und den Fragen gegenüber zu ste-
ihren Schulungsweg, wenn sie Begleitung,         hen, müssen wir uns öffnen, einen leeren
Gespräch, Austausch im Miteinander und die       Raum schaffen und zumindest für eine Weile
tiefen Perspektiven des Schulungsweges,          die Formen vergessen.
werden wir an die geistige Quelle kommen
können.                                          Da kann uns die Frage helfen: Was hat dau-
                                                 ernden Wert und was temporären Wert in
Exoterische Arbeit                               unserem pädagogischen Tun? Also welche
Der Waldorfimpuls kam zu allen Menschen          Elemente sollen wir erhalten und welche sol-
und soll, meiner Meinung nach, so viel wie       len wir ändern, so dass sie den Nerv der Zeit
möglich allen Kindern zu Gute kommen. Das        treffen?
gelingt nicht, wenn wir einfach weiter han-
deln wie wir es gewohnt sind. In den meisten     Wir müssen den Mut haben, sehr viele Wal-
Ländern der Welt ist die Waldorfschule ein       dorfelemente wie Inhalte, Methodisches, Ge-
Privileg für Kinder von reichen und/oder ge-     wohnheiten in Frage zu stellen. Ich betone
bildeten, bewussten Eltern. Ja, wir sind als     noch einmal meinen Ansatzpunkt – dass
Weltbewegung sehr gross geworden und             jeder von uns doch die Antworten in sich hat
weltweit ausgebreitet, aber wir bleiben zu-      und dass eine richtige Gruppenarbeit den
meist in denselben Kreisen.                      Weg dahin leiten kann, an diesen Antworten
                                                 zu arbeiten. Der Weg zu diesem tiefen geisti-
Ich sehe hier eine Pendelschlagbewegung.         gen Ort, an dem die Hinweise zu den Ant-
Wir sollen uns nach innen bewegen – letzter      worten ruhen, soll unbedingt beschritten
Abschnitt – und dann nach aussen pendeln.        werden.
Die eine Bewegung stärkt und belebt die an-
dere. Also Bewegung zwischen den Polen, so       Damit meine ich eine Arbeit auf der Basis der
dass wir uns immer weiter in jede Richtung       Grundlagen. Eine Gesprächs-Gruppenarbeit,
vertiefen: Je mehr die esoterisch-meditative     die auf der Grundlage von Vertrauen und Zu-
Arbeit sich nach innen verstärkt, desto mehr     hören besteht. In der Lehrerkonferenz kön-
werden wir nach aussen Einfluss haben und        nen wir unser ganzes Tun in Frage stellen.
umgekehrt. Heute sind wir, der Tendenz           Wir können an unseren Kindern, mit den El-
nach, in der Mitte und stehen still. Also, wir   tern und jungen Lehrern die Zeiterscheinun-
brauchen Bewegung!                               gen, die Welt, in der die Kinder aufwachsen,
                                                 also die Schul- und Kindheitsverhältnisse be-
Forschung der Alltagspraxis                      obachten. Aus diesen Beobachtungen kön-
Die dritte Ebene liegt in der Forschung in der   nen wir die pädagogischen Traditionen (Was
täglichen Arbeit in der Waldorfschule selbst.    man an der Waldorfschule macht) erfor-
Wie schon zuvor gesagt wurde, hat die Wal-       schen: Was soll bleiben? Was wollen wir än-
dorfbewegung ihre Stärke in der Tradition,       dern? In welche Richtung gehen wir? Was
an den Formen, die Steiner und seine Nach-       genau brauchen unsere Kinder? Was macht
folger gestaltet haben. Da haben wir Sicher-     ihnen Wohl? Wann und wo haben wir das
heit. Wir wissen viel. Doch da haben wir auch    Gefühl, dass die Kinder sich mit Lebenskräf-

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Die Waldorfschule: Zukunftperspektiven

ten stärken? Wann und wo haben wir das          letzten Jahren sehr schöne Erfahrungen mit
Gefühl, dass sie austrocknen, müde werden?      staatlichen Schulen und Kindergärten ge-
                                                macht, die die Waldorfinspirationen suchten.
In den letzten Jahren begleitete ich einige     Ich möchte meine Vorhaben noch deutlicher
Lehrerkollegien, die an dieser Fragestellung    hervorheben. Ich meine nicht, dass eine
arbeiten wollten. Das kann hier nicht weiter    staatliche Schule sich in eine Waldorfschule
ausgeführt werden, aber wenn wir diese Fra-     umwandelt. Mein Anliegen ist einfach: dass
gen beantworten, hier Mut für Neues auf der     so viel Kinder (und auch Lehrer) wie möglich
Basis der Menschenkunde zeigen, wird un-        Erziehungskunst erleben, Kunst betreiben, im
sere Pädagogik sich weiter entwickeln. Viele    Garten arbeiten, die Natur bewundern, Tiere
der Qualitäten wie z.B. das Künstlerische im    pflegen und vieles mehr und zuweilen auch
Unterricht, die Bedeutung der Natur und die     Waldorfmethoden benutzen.
Beziehungsfrage für alles Lernen gilt es neu
zu bestätigen.                                  Was ich vor mir sehe ist eine grosse öffentli-
                                                che pädagogische Bewegung, die ihre Inspi-
Nach meiner Erfahrung in Israel gibt es viele   ration aus dem Waldorfimpuls nimmt. Dane-
Menschen in allen pädagogischen Kreisen,        ben gibt es die Waldorfbewegung. Beide
die tiefe Sehnsucht genau nach diesen „Wal-     Bewegungen arbeiten in guter Beziehung
dorfqualitäten“ haben. Wir haben in den         zueinander.

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Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert
Eine Aufforderung zum Gedankenaustausch

Christof Wiechert

Vorwort                                          In diesem Beitrag soll die Frage gestellt wer-
Grosse bedeutende Feiern in aller Welt liegen    den, wie es weitergehen wird. Bleiben die Bil-
hinter uns. Sie sind farbig dokumentiert wor-    der dieselben wie wir sie jetzt gesehen
den. Auch in den Medien ist Bedeutendes          haben, wird die Zweihundertjahrfeier ge-
dazu zu finden.                                  nauso aussehen wie die Hundertjahrfeier?
                                                 Wird die Akzeptanz der Schulen und die Kri-
Es ist ein mächtiges Bild, das sich einem in     tik an dieser Erziehungskunst dieselbe sein
der Überschau offenbart von demjenigen,          wie heute?
was die Waldorf- und Steinerschulen welt-
weit geleistet haben, um diese Hundertjahr-      Es ist gut, sich die Frage zu stellen, wie werden
feiern zu gestalten. Viel Phantasie und Geist-   die Waldorf-Steinerschulen sich weiter entwi-
reiches ist aufgebracht worden.                  ckeln, wie sieht ihr zweites Jahrhundert aus?

Zieht man das Fazit aus diesen Festen, kann      Begrenzung
man voller Dankbarkeit feststellen, dass diese   Wenn ein solches Thema diskutiert werden
Darbietungen auf einem wahrhaft fruchtba-        soll, ist notwendig zu bedenken, wie lange
ren pädagogischen Boden entstanden sind.         die jeweilige Schule existiert. Schulen, die
Auch gab es einen inhaltsreichen Kongress in     gerade das Abenteuer der neuen Erziehung
Stuttgart, weitere grosse pädagogische Ta-       begonnen haben, wie z.B. in China und In-
gungen in Dornach, Bangkok und Buenos            dien, die seit etwa fünfzehn Jahren bestehen,
Aires. An vielen weiteren Orten besann man       haben ein anderes Selbstverständnis diesen
sich in verschiedenen Veranstaltungen auf die    Fragen gegenüber, als Schulen die schon
Grundlagen der Erziehungskunst. Schliesslich     dreissig, vierzig Jahre die Erziehungskunst
die kraftvolle Manifestation der Überschuss-     ausüben. Neben dieser zahlenmässig stärks-
kräfte im Tempodrom in Berlin; es wurde ge-      ten Gruppe, gibt es noch die über fünfzig
wirkt, nicht um des Brotes – sondern um der      Jahre alten Schulen. Diese letzten beiden
Sache Willen.                                    Gruppen spüren am stärksten den Drang
                                                 nach einer Zukunftsgestaltung, nach einer
Das in der Erinnerung eingeprägte Bild ist ein   zukunftsfähigen Perspektive.
farbiges, energetisches, wobei Musikalisches
und Bildhaftes im edlen Wettstreit miteinan-     Die Gruppe der ganz jungen Initiativen ist im
der waren.                                       Prozess der Selbstfindung und -gestaltung
                                                 begriffen, für diese werden die hier zur Spra-
Man darf im Blick auf alle Darbietungen zu-      che kommenden Gedanken weniger produk-
sammen sagen, es wurde sichtbar, was die         tiv sein.
Waldorfschulen nach hundert Jahren in der
Lage waren zu leisten.                           Trotzdem soll die Frage aufgeworfen werden,
                                                 wo geht die Erziehungskunst hin; Quo Vadis?

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Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

Der Widerstand                                        Eltern, kein Sitzenbleiben, keine Standard-
Auch soll ins Auge gefasst werden, dass die,          strafen, keine diskriminierenden Benotungen
allgemein gesprochen, Kritik und Gegner-              in der Unterstufe. Hinzu kommt das Ideal der
schaft nach hundert Jahren noch stets mit             Selbstverwaltung der Lehrer in einer Art Leh-
denselben Vorwürfen die Schule und ihren              rerrepublik. Als fünfter Pfeiler gilt die Über-
Umkreis belegt. Was ist daran berechtigt, was         zeugung, der Staat solle seinen Einfluss be-
kann sinngemäss widerlegt werden? Auch                grenzen auf die Ermöglichung eines freien
hier stellt sich die Frage, wie werden wir in         Unterrichts und diesen inhaltlich keineswegs
Zukunft damit umgehen?                                bestimmen wollen.

Unser Selbstbild                                      Die moderne Auffassung des Schulwesens ist,
Im Kern beruht das Selbstbild der Waldorf-            dass sie von der Zivilgesellschaft verantwor-
Steiner Schulen auf fünf Pfeilern. Erstens            tet wird, also von den Eltern, die diesen Un-
liegt der Pädagogik eine ausgefeilte Entwick-         terricht wollen und von den Menschen, die
lungspsychologie, beruhend auf geisteswis-            diesen Unterricht geben wollen.
senschaftlichen Forschungen Rudolf Stei-
ners, zugrunde. Dazu existieren bedeutende            Das hier skizzierte Bild ist die Schule in ihrer
– in unserer Auffassung – methodische Hin-            Essenz. Wer sich mit Erziehung beschäftigt
weise. Zweitens gibt es einen Lehrplan vom            und sie versteht, kann dem ernsthaft nichts
Vorschulalter bis zur Hochschulreife, der den         entgegensetzen.
Entwicklungsschritten des sich entwickeln-
den Menschen in diesen Jahren abgelesen ist.          Das muss Steiner vor der Seele gestanden
Gerade dadurch ist ein weckendes, sich ver-           haben als er den Lehrern in der Schweiz sagte:
stärkendes Lernerlebnis zu erreichen. Zu vie-         „Eine zweite Bedingung ist, dass die anthro-
len Lerngegenständen sind bedeutende ori-             posophische Pädagogik hinausgelaufen ist
ginelle methodische Hinweise gegeben, was             auf eine Methodisierung des Unterrichtes. Es
den Lehrplan und seine Umsetzung vor allem            handelt sich um eine Methoden-Schule, es
breit und nicht schmal auffassend macht.              handelt sich nicht um irgend eine politische
Menschwerdung ist eine grosse Angelegen-              Richtung, sondern um eine sachliche Metho-
heit, nicht geeignet für Schmalspur.                  den-Schule. Es handelt sich auch nicht um ein
                                                      religiöses Bekenntnis, nicht um Anthroposo-
Drittens ist eine starke Integration der              phie etwa als Religionsbekenntnis, sondern es
Künste in den Unterrichtsvorgang nicht als            handelt sich um eine Methoden-Schule.
Zweck, sondern als Mittel gegeben. Alles was
künstlerisch ist, wirkt integrativ zwischen           Ich habe schon damals, als die Diskussion
den intelektuellen und praktischen Fähigkei-          angeknüpft wurde an meinen Vortragszy-
ten des Menschen, es macht den werdenden              klus,1 die Fragen, die aufgeworfen wurden
Menschen 'ganz'.                                      nach dieser Richtung, dahin gehend beant-
                                                      wortet, dass ich sagte: Die Pädagogische
Viertens hat die Waldorf-Steinerschule eine           Methodik, die hier vertreten wird, kann über-
eigene Sozialität; es gibt keine Selektion            all wo man den guten Willen dazu hat, ein-
nach Talent, Selektion nach Tragfähigkeit der         geführt werden. (…)

1   Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkt geisteswissenschaftlier Menschenerkenntnis,
    Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen, GA 306

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                                 9
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

Ich glaube es wäre gut, wenn sie diese zwei              in diesem Sinne weiter arbeiten? Keiner
Gesichtspunkte2 immer in den Vordergrund                 wollte. Es war zu spät; die Waldorfschulen
stellen. Sie entsprechen ja durchaus der                 hatten schon ihre eigenen 'Gärten' bestellt.4
Wahrheit, und es hat uns viel geschadet, dass
immer wieder und wieder betont wurde: Wal-               In diesem Zusammenhang ist erwähnens-
dorfschulpädagogik kann nur in abgesonder-               wert, dass Rudolf Steiner sich eine viel
ten Schulen erreicht werden –, während ich               schnellere Ausbreitung der Waldorfschulen
immer wieder gesagt habe, das Methodische                vorgestellt hatte.
kann in jede Schule hineingebracht werden.“3
                                                         Die Gegnerschaft, die die Dreigliederung her-
Die Geschichte lehrt uns mehrheitlich: fast              vorrief, und die Angriffe aus Wirtschaft, Poli-
vollkommen ist auf die 'abgesonderten'                   tik und Kirchen waren so massiv, dass eine
Schulen gesetzt worden. Dadurch sind blü-                schnelle Ausbreitung undenkbar war, schon
hende, in sich selber wunderbare Gärten der              gar nicht in das öffentliche Schulwesen hi-
Waldorfkulturen möglich geworden. Sie kön-               nein.5
nen immer noch schöner werden, haben
dabei aber mit der sie umgebenden Sozial-                Ein erweitertes Bild
landschaft wenig Berührung.                              Neben die traditionell gewordenen 'abgeson-
                                                         derten' Schulen kann ein zweites Bild gestellt
In den neunziger Jahren des vorigen Jahr-                werden. Es geht um die Methoden-Schule, die
hunderts hat Prof. Dr. Heinz Buddemeyer in               eigentlich überall angewendet werden kann,
Bremen ein interessantes Experiment ge-                  wo der 'gute Wille' dazu vorhanden ist. Das
wagt, das es verdient nicht vergessen zu wer-            Bild einer solchen Schule wird wahrscheinlich
den. Der zuständige Senator für Bildung bat              anders aussehen als eine traditionell entstan-
Buddemeyer zusammen mit Peter Schneider                  dene Schule. Mehr schulisch, sachlich,
zu untersuchen, ob Waldorfschule an einer                schlicht. Es soll hier aber festgehalten wer-
'normalen' Staatsschule gelingen könne.                  den, dass diese Form der Erziehungskunst von
                                                         Rudolf Steiner als möglich gesehen wurde.
Einige Waldorfpädagogen arbeiteten dann in
einer staatlichen Grundschule, was dieser                Schaut man z. B. auf die Interkulturelle Wal-
Schule sehr zu Gute kam; Leistungen der                  dorfschule Mannheim (eine Form, die inzwi-
Schüler, Arbeitshaltung und soziales Mitei-              schen auch an anderen Orten versucht wird),
nander, die Atmosphäre der Schule, die Zu-               dann erlebt man etwas von diesem erweiter-
friedenheit der Eltern, kurz das ganze Ethos             ten Schulbild, einer zweiten Gestalt der Wal-
der Schule hob sich nachdrücklich. Nach vier             dorfschule, weniger 'Garten', dafür aber mit
Jahren wurde gefragt, welcher Lehrer möchte              starker Sozialwirkung in das Umfeld.6

2    Der erste Gesichtspunkt war die Errichtung von sogenannten Modellschulen.
3    Ausführung Steiners bei der Sitzung des Schweizer Schulvereins, 28. Dezember, 1923, während der Weih-
     nachtstagung, GA 260
4    Heinz Buddemeyer und Peter Schneider, Waldorfschule und staatliche Schule, ein Erfolgsmodell nicht erst
     seit Pisa, 2002 Meyer
5    Tomáš Zdražil, Die freie Waldorfschule in Stuttgart, 1919-1925, Edition Waldorf, 2019, siehe das Kapitel
     Kritische Stimmen und Gegnerschaften S. 266
6    Michael Brater, Albert Schmelzer, Christiane Hemmer-Schanze, Interkulturelle Waldorfschule. Evaluation
     zur schulischen Intergration von Migrantenkinder, 2009 VS Verlag.

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Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

In Oakland, Kalifornien hat sich auch in                School stufenlos offen der Waldorfschule
einem sozialen Brennpunkt eine Waldorf-                 und der sie umgebenden Sozialität gegen-
schule etabliert, die tatsächlich fast ohne             über. Aber ihre Schulen sind tatsächlich ein-
Garten auskommt, aber Kinder aus vielen                 facher, schulischer als die herkömmlichen
Nationen und ebensovielen Ethnien beher-                Waldorfschulen. Auch dem Schulbau sieht
bergt. Sie lernen durch die Erziehungskunst             man den Waldorfkern nicht mehr an. Diese
und lernen gleichzeitig, in Frieden miteinan-           Art der Schulen können nur exisitieren, wenn
der zu leben. Es ist die Waldorf Community              sie den Kern der Erziehungskunst in irgendei-
School, die im Gegensatz zur Mannheimer                 ner Form realisieren.
Schule vom kalifornischen Staat getragen
wird ohne jegliche pädagogische Einmi-                  Ein Beispiel dieser Schulen ist die Waldorf-
schung.7                                                oberstufe – ohne Unterstufe – in der Innen-
                                                        stadt von Oslo. Sie vertritt ein Konzept, das
Was an dieser Schule auffällt, ist die stufen-          ganz auf die Zukunftsgestaltung ihrer Schü-
lose Offenheit zwischen Schulleben und dem              ler abgestimmt ist.8
Leben der Schülerfamilien in der Stadt.
Stadtleben und Schule durchdringen sich in              Der Vorläufer dieser Schulform war die
dem Sinne, dass was von der Schule ausgeht,             Schule in Wanne-Eickel, die schon in der
aufgenommen wird und wirken kann. Es gibt               Oberstufe Angebote machte zum Ergreifen
keine prinzipiellen Diskussionen bezüglich              eines Berufes neben der klassischen schuli-
der Grundlagen der Schule, ausser derjeni-              schen Bildung. Auf diese Weise konnten die
gen, die den Schülern und deren Familien zu             Schüler das Leben in der industriealisierten
Gute kommen.                                            Umwelt erleben, es wurde Teil des Schulle-
                                                        bens. Wir sehen das in den sogenannten
Es gibt mittlerweile auch sehr grosse städti-           Oberstufen, die als Berufskolleg arbeiten.9
sche Oberstufenschulen mit bis zu 1000
Schülern, die ohne Unterstufenbereich arbei-            Gemeinsam ist allen diesen Initiativen der
ten. Ich habe dort ein Lehrerkollegium von              Versuch, die Formen der Erziehungskunst in
fast hundert Personen erlebt, die alle ein sehr         die Allgemeinheit zu stellen und Steiners
loses Verhältnis haben zur 'Ausbildung zum              Forderung, die Waldorfmethode bei gutem
Waldorflehrer' (weil es diese Ausbildung                Willen überall anzuwenden, umzusetzen.
meist nicht gibt für Oberstufen), die aber ein
tiefes Ahnen haben davon, was eine Wal-                 Schauen wir zurück auf die traditionelle
dorfschule ist. Meist waren es junge Kollegen           Waldorfschule in ihrer 'abgesonderten' Form.
mit einem natürlichen Verhältnis zu den Me-             Die abgesonderte Form hat dazu geführt,
thoden und Vorgehensweisen der Erzie-                   dass nach innen neue Entwicklungen statt-
hungskunst. Sie stehen wie die Community                finden konnten. Damit sind z.B. die 'Erfin-

7   Siehe im Internet: Communitiy School for Creative Education, Oakland (CA). Gegründet 2010 von Dr. Ida
    Oberman. Siehe auch die Jubiläumsausgabe der Freunde der Erziehungskunst, 100 Jahre Erziehung zur
    Freiheit, Berlin 2019.
8   Siehe OECD – Innovative Learning Environments (ILE) at the Rudolf Steiner Upper Secondary School of
    Oslo. Zu finden bei www.oslo-bysteinerskole.no
9   Eine brauchbare Übersicht zu dieser Entwicklung bietet Band 9 der ‘Kulturwissenschaftliche Beiträge der
    Alanus Hochschule’. Peter Schneider, Inge Enderle (Hrsg.) Das Waldorf Berufskolleg. Peter Lang, Wiesbaden
    2012

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                                    11
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

dung' der Abschlussarbeit des zwölften                     cher mit neuen Rechen-, Lese- und Ge-
Schuljahres, die 'Erfindung' des Korbflech-                schichtsmethoden bestellt wurden, die alle
tens im Werkunterricht, die Schmiedewerk-                  nichts mit der Erziehungskunst zu tun haben,
stätten, das bewegliche Klassenzimmer, der                 aber doch für den Unterricht genutzt wer-
sich entwickelnde Umgang mit den Medien,                   den. Aber nach aussen profiliert die Schule
die Tradition der Klassenspiele und Theater-               sich nachdrücklich als Waldorfschule.
aufführungen, die Eurythmie-Abschlüsse, die
Marionettenspiele, ja unendlich viele Ausar-               Es besteht so die Gefahr, dass Form und In-
beitungen und Anwendungen des Lehrplans                    halt auseinanderfallen. Dadurch ergibt sich
gemeint. Fast nichts davon geht auf Anga-                  übrigens auch ein überdurchschnittlicher
ben Steiners zurück. Es ist nicht umsonst,                 Verschleiss im Lehrerkollegium, denn der
dass der sogenannte Richterlehrplan in sei-                Druck zu allem, was gemacht werden muss
ner letzten Fassung gute 800 Seiten umfasst.               und an Waldorfextras erwartet, ob ausge-
Es begann einmal begann mit vierzig Seiten                 sprochen oder nicht, gar eingefordert wird,
durch Caroline von Heydebrand.10                           ist enorm. Und ein bekanntes Übel vieler
                                                           Schulen ist dieser hohe Erwartungsdruck.
Viele von diesen Errungenschaften bergen aber              Nicht der Druck, der Pädagogik zu dienen,
die Gefahr in sich, dass durch sie das Kernge-             sondern der Druck den Erwartungen aller
schäft, nämlich das Wie des Lernens in den                 denkbaren Extras, die ja die Schule 'ausma-
Hintergrund gerät. Es kann gar so weit gehen,              chen', zu genügen.
die Identität der Waldorfschule in den zahllo-
sen Extras zu erleben und nicht in der mageren             Das macht die Schule nach innen wie nach
harschen Umschreibung der Essenz dieser Un-                aussen sozial anfällig und Vorurteile haben
terrichtsform. Ohne Zweifel ist eine Nebenwir-             freie Bahn.
kung hiervon, dass die Allgemeinheit eher
mehr als weniger Unverständnis den Waldorf-                Wie gehen wir damit in der Zukunft um?
schulen gegenüber zeigt. Es werden eben
durch dieses Übermass an Formen und Mög-                   Ein Zukunftsbild der Waldorfschule
lichkeiten die eigentlichen pädagogischen                  Vielleicht wird eine neue Waldorfschule be-
Ziele aus dem Auge verloren, was wiederum                  scheidener daherkommen, schlanker.
gefundene Angriffsflächen für Kritiker bietet.
Und manchmal haben die dann auch recht.11                  Eine neue Waldorfschule würde ein geringe-
                                                           res Angebot haben an ausserschulischen
Man kann vor Beginn eines neuen Schuljah-                  'Events', aber sich unterscheiden durch neue
res in einer Waldorfschule erleben, dass Bü-               Unterrichtsangebote und das Wie des Unter-

10 Caroline von Heydebrand, Vom Lehrplan der freien Waldorfschule, 1996 wieder herausgegeben: Verlag
   Freies Geistesleben, Stuttgart, 40 Seiten. Heute: Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele, vom Lehrplan
   der freien Waldorfschulen, herausgegeben von Tobias Richter, 4. erweiterte Auflage 2016, Verlag Freies
   Geistesleben, Stuttgart.
11 Ein eklatantes Beispiel findet sich in dem Beitrag von Till-Sebastian Idel, Max- Matrose auf dem Klassenschiff.
      Eine hermeneutisch-rekonstruktive Interpretation eines Waldorfzeugnisses. In Inge Hansen-Schaberg
   und Bruno Schonig (Hrsg) in Waldorf-Pädagogik. Zitiert nach Volker Frielingsdorf, Waldorfpädagogik in
   der Erziehungswissenschaft, ein Überblick, Weinheim 2012. Ein Zeugnis für einen Jungen wird geschrieben
   auf Grund seines Verhaltens im sogenannten rhythmischen Teil und man erlebt, es ist weit weg von auch
   nur irgendeiner pädagogischen Relevanz.

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Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

richtens! Darin sollte das Aussergewöhnliche             Schülern entstehen.13 Statt Tests gäbe es
liegen.                                                  Kinder- und Schülerberatungen.14

Fragt man heute, woran man sich erinnert,                Schulische Sozialität am Beispiel des
wenn man an die eigene Schulzeit denkt,                  Fremdsprachenunterrichts
dann werden zuerst Klassenfahrten und Klas-              Als die Waldorfschule 1919 begann, war
senspiele genannt. Eine zukünftige Waldorf-              von Anfang an ein ausserordentlich starkes
schule sollte eher erinnert werden durch die             Fremdsprachenprogramm vorgesehen, der-
besondere Art des Unterrichtes.12 Eine neue              gestalt, dass Steiner nach jedem Hauptunter-
Schlichtheit sollte in die Schulen einziehen             richt Fremdsprachenunterricht haben wollte,
und das Verhältnis der Schülerinnen und                  jede Sprache (in diesem Fall Englisch und
Schüler zu den Lehrerinnen und Lehrern                   Französisch), jeden Tag eine Stunde.15
würde sich ändern. Weniger gegenüber, son-
dern mehr miteinander.                                   Das war nur dadurch zu ermöglichen, dass
                                                         die (meisten) Klassenlehrer zugleich auch
Diese neue Schlichtheit würde es der Öffent-             moderner Sprachen mächtig waren, wie von
lichkeit ermöglichen, sich mehr für diese                Zdražil zurecht bemerkt16. Somit gab es keine
Schulen zu interessieren, denn diese Schulen             Differenz zwischen diesen zwei Lehrertypen,
kämen 'barrierefrei' daher. Vielleicht würden            es waren alles dieselben Lehrer. Mit dem star-
diese Schulen auch Orte für Erwachsenenbil-              ken Wachstum der Schule wurden mehr
dung oder sonstige Kurse werden, (wie man                Fachlehrer und Fremdsprachenlehrer nötig
heute schon an Musikschulen sehen kann,                  und es entstand eine Art Zweiteilung: Klas-
die Gebäude der Schule für ihren Musikun-                senlehrer und Fremdsprachen- wie Fachleh-
terricht nutzen.)                                        rer.

Ein neues Qualitätsverständnis würde nicht               Es entstand im Laufe der Jahre tatsächlich
durch Prüfung, Vergleich und Aussonderung,               eine Zweiteilung, wobei die Klassenlehrer die
sondern durch neue Konzepte der Lehrerver-               'Hauptlehrer' darstellten und die Fremdspra-
antwortlichkeit gegenüber den Kindern und                chenlehrer, vor allem in den Unterstufen,

12 Absolventen von Waldorfschulen – eine empirische Studie zur Bildung und Lebensgestaltung ehemaliger
   Waldorfschüler. Prof. Dr. Heiner Barz und Prof. Dr. Dirk Randoll, VS Verlag 2007. In dieser Publikation sind
   Erinnerungsberichte zu finden die hauptsächlich auf Ausflüge, Klassenspiele und Fahrten als erinnerbar
   dargestellt werden, nicht auf den Unterricht selber. Einmal charakterisierte Steiner die Waldorfschule so,
   dass er meinte, das wie des Unterrichtens würde in der Zukunft das Erinnerungsbild der ehemaligen Schü-
   ler prägen. GA 192, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. 4. Vortrag,
   11.05.1919 Stuttgart.
13 Bei den sieben Lehrertugenden die Steiner am Ende der Erziehungskunst nennt, ist die zweite das ge-
   schärfte Bewusstsein für 'seelische Verantwortlichkeit'. Damit ist gemeint eine Verantwortlichkeit der Ent-
   wicklung der Schüler gegenüber, nicht nur deren Leistungen. GA 293 Allgemeine Menschenkunde, 14. Vo-
   trag, 05.09.1919 Stuttgart.
14 Siehe Steiners prophetische Beschreibung der Kinderbetrachtung in: Rudolf Steiner: Der pädgogische Wert
   der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik, GA 310, Vortrag vom 21. Juli, 1924, Arnheim.
15 Siehe dazu die Erste Konferenz in GA 300a, 8. September 1919, Seite 24, in der Ausgabe von 2019 oder die
   Konferenzen 40, 41 und 42, wo ein neuer Stundenplan und die Neu-Einrichtung des Fremdsprachenunter-
   richtes versucht wurde.
16 Tomáš Zdražil, Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919 – 1925, Edition Waldorf, 2019, S. 188

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                                     13
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

drohten eine 'niedrigere' Kategorie Lehrer              In der neuen Schule sollte der grosse Stellen-
einzunehmen. Das kam dem sozialen Zusam-                wert, den der Fremdsprachenunterricht von
menleben der Lehrer nicht zu Gute, es tat vor           Anfang an hatte, (durch Steiner als Teil der
allem dem Fremdsprachenunterricht nicht                 Identität der Schule angesehen), wieder her-
gut. Über weite Strecken blieb der Fremd-               gestellt werden.
sprachenunterricht weit hinter den Zielset-
zungen zurück, auch wieder vor allem an den             Das bedeutet auch, andere und vor allem
Unterstufenklassen wahrzunehmen. In einer               bessere Ergebnisse in allen Altersstufen zu
'neuen' Waldorfschule muss diese Kluft ge-              erreichen.
schlossen werden. Dazu gibt es Möglichkei-
ten, die zu untersuchen sind. In einer zweizü-          Schlichtheit in der Form,
gigen Schule können die Lehrer der parallell            Kraft in der Pädagogik
laufenden Klassen den Fremdsprachenunter-               Was ist das Kerngeschäft der Schule? Unter-
richt unter sich teilen. Soweit als möglich             richten. Wie sieht guter Unterricht aus?
könnten die Klassenlehrer die Aufgabe über-
nehmen oder die Sprachlehrer zusammen                   Die vor sieben Jahren verstorbene Kollegin Els
mit den Klassenlehrern. Eine andere Mög-                Göttgens18 hatte als Mentorin viele Schulen,
lichkeit wäre, eine stärkere Zusammenarbeit             hauptsächlich an der amerikanischen West-
der Fremdsprachenkollegen mit den Klassen-              küste, 'unter ihren Flügeln'. Über viele Jahre
lehrern von ein oder zwei Klassen einzuge-              war sie dort eine vielgeliebte, hoch angese-
hen und für diese Klassen eine gemeinsame               hene Kollegin. Dabei war sie ausgeprochen
Verantwortung zu übernehmen und zu tra-                 'pedantisch' und streng. So sass sie gerne mit
gen. Daneben aber, ist er oder sie vor allem            der Stoppuhr im Unterricht und zeigte nach
verantwortlich für eine bestimmte Sprache.              120 Minuten Unterricht, wieviele Minuten
Die letzte Form ist auch anwendbar in einer             mit wirklichem Lernen verbracht worden
einzügigen Schule.                                      waren (meistens zu wenig). Wieviel Zeit war
                                                        zum wirklichen Üben gebraucht worden?
Dazu kommt in einer neuen schlichten                    (Meist zu kurze Zeit). Auch schaute sie genau
Schule die Frage nach dem Anteil der Teil-              darauf, ob der Unterricht einer Komposition,
zeitlehrer. Das Lehrerkollegium muss sich               einer Gestalt entsprach oder ob er nur einem
diese Frage stellen und die Bedingungen der             eher flachen Schema folgte. Sie beobachtete
Teilzeitkräfte klären, z.B. die verpflichtende          ob alle Kinder in jeder Stunde angesprochen
Teilnahme an der Konferenz. In der Zukunft              worden waren, ob es ein gutes Gleichgewicht
muss die Verantwortung aller Kollegen gleich            gegeben habe zwischen künstlerischer Aktivi-
sein, keine Trennung in Haupt- und Neben-               tät und dem Lernen und ob das Lernen künst-
verantwortungen.                                        lerisch geschah, originell und kreativ. Neben
                                                        diesem eher 'technischen' Vorgehen war sie
Merkwürdigerweise war diese Drohung schon               eine gründliche Kennerin der Erziehungs-
zu Zeiten Steiners vorhanden.17                         kunst und der Geisteswissenschaft.

17 Bei Steiners Versuch eine Form der Selbstverwaltung einzuführen, die nicht nur von einem Kollegen getra-
   gen wurde (in diesem Fall Stockmeyer), wurde von Kollegen artikuliert, es wäre als gäbe es Kollegen erster
   und Kollegen zweiter Güte. GA 300b, 44. Konferenz, Dienstag 23. Januar 1923, S. 349
18 Holländische Waldorflehrerin, Begründerin der Waldorfschule Brabant, (19.05.1921 – 30.06.2013). Sie ver-
   fasste ein in Amerika vielgelesenes Büchlein 'Waldorf Education in Practice.'

14                                                                   Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

Ihr Adagio; auch ist die Schule noch so schön,             zum Jubiäumsjahr legte Wenzel M. Götte
eine Waldorfschule wird sie erst durch den Un-             einen Band vor zum Problem des Künstleri-
terricht selber und der muss den Massstäben                schen in der Erziehungskunst. Vor allem des-
der Erziehungskunst entsprechen. Immer wie-                sen Einleitung hilft, um das Bewusstsein zu
der und wieder beklagte sie, dass die Tempera-             schärfen wie das Künstlerische in der Erzie-
mente wohl gekannt, aber kaum Anwendung                    hung keinen Selbstzweck darstellt sondern
in der Methodik des Unterrichts fanden. Sie                immer im Kontext der Erziehung wirkt.21
meinte, wenn die Kinder und Schüler wirklich
üben würden, würde die Zeit des Haupunter-                 Gerade bei dem Künstlerischen ist die Frage
richtes kaum genügen, aber viele Kollegen                  nach einer neuen Schlichtheit von Wert.
seien nicht in der Lage, die Zeit des Hauptun-             Alles Künstlerische wirkt integrativ. Es lässt
terrichtes wirklich zu füllen, zu gestalten. Viel          den 'oberen' in dem 'unteren' Menschen wir-
kostbare Zeit ginge verloren. Es ging ihr um               ken und umgekehrt. Das heisst, in eine
den Kern der Erziehungskunst. Wird dieser vom              künstlerische Aktivität ist (fast) der ganze
Lehrer ergriffen, erwächst ihm nicht nur Freude            Mensch einbezogen.
an dem Unterrichtsvorgang, sondern vor allem
aber Energie und Kraft. Das in den Kollegen he-            Grund genug um immer das Künstlerische zu
ranzubilden, war ihr Streben. Wir waren da-                berücksichtigen. Daneben wirkt die Art und
mals des öfteren in der Lage, die Wirkung von              Weise wie unterrichtet wird auch wie eine
Frau Göttgens in den Schulen wahrzunehmen:                 Kunst, wenn gewisse Grundsätze angewandt
sie wirkte in der Weise, dass Kollegen durch sie           werden. Diese sind ein atmender Unterricht,
wie 'verstanden' was Erziehungskunst sei. Sie              ein Konzentrieren und Entspannen, die Ge-
ist konkret, genau, konsequent und nicht etwas             staltung der Zeitabläufe im Unterricht und
Schwammiges, Ungefähres, nur Persönliches.                 der Umgang mit dem Gegensatz von Bild und
Els Göttgens lebte Steiners Wort: Von einer                Wort. Sind diese Faktoren alle in einem rech-
wahren geisteswissenschaftlichen Menschen-                 ten Gleichgewicht, sprechen wir von Erzie-
Erkenntnis soll die pädagogische und didakti-              hungskunst. Diese beruht auf einem Können,
sche Erziehungs- und Unterrichtspraxis der                 das erworben werden kann und dann (fast)
Waldorfschule befruchtet sein.19                           unbewusst im Unterricht den Lehrer oder die
                                                           Lehrerin das Richtige im richtigen Moment
Der Kunstbegriff                                           tun lässt.22
Es sei voran gestellt, dass Roland Halfen
hierzu ein sehr schönes Essay geschrieben                  (Es sei nebenbei angemerkt, dass die Lebens-
hat, das es Wert ist zu lesen.20 Auch noch                 stile des 20. und 21. Jahrhunderts das Bild

19 Rudolf Steiner: Die pädagogische Grundlage und Zielsetzung der Waldorfschule, drei Aufsätze, Einzelaus-
   gabe 1969, Zbinden, Basel (Dritter Aufsatz; aus GA 24 'Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Orga-
   nismus', Kapitel 'Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule in Stuttgart', Dornach 1920. S. 31
20 Roland Halfen, Erziehungskunst: Annäherung an einen Fundamentalbegriff, in Anthroposophie und Päda-
   gogik, Beträge zur Allgemeinen Menschenkunde (Tomáš Zdražil (Hg.), Edition Waldorf, 2017
21 Wenzel M. Götte (Hrsg.), Das Künstlerische in der Erziehung, Waldorf Edition 2019. In der Einleitung wird
   dargestellt wie Raum und Zeit die gestaltenden Elemente der Pädagogik sind zusammen mit einer gestei-
   gerten Menschenerkenntnis. Mit besonderem Hinweis auf Schiller.
22 Dieser Vorgang ist von Steiner sehr genau dargestellt, auch wie man zu dieser Fähigkeit kommen kann, die
   dann einmal errungen, sich zeigt in einer starken 'Erfindungskraft'. R. Steiner, Meditativ Erarbeitete Menschen-
   kunde, in GA 302a, dritter Vortrag, 21. September 1920, Stuttgart. – Auch als Einzelausgabe vorhanden. –

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                                         15
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

weit über das gesprochene Wort favorisieren,           oder gibt es andere Wege, dasselbe zu errei-
wodurch in allen Lebensfeldern, vor allem              chen?
aber auch in der Erziehung eine starke Ein-
seitigkeit auf das Bild, auf das Sichtbare ge-         Wie geht es mit dem Zeichnen, mit dem For-
legt wird und das Hörbare, das Gesprochene             menzeichnen? Wie mit den Aufgaben in der
einen Rückzieher macht. Eine Tatsache, die in          Handarbeit? Die Waldorfmützen, sollen sie
der Erziehungskunst korrigiert wird. Das ist           einen Unsterblichkeitsstatus haben oder
Teil ihrer Mission.)23                                 nicht?

Hier wird die Frage sichtbar, wie weit die             Es wäre gut, wenn die Waldorfschulen sich
Kunst und das Künstlerische der Pädagogik              gegenseitig Erneuerungen zeigen würden,
dienend sind, wo werden sie Selbstzweck? Es            immer unter dem Gesichtspunkt, dient das
gibt Situationen im Schulleben, wo man die             Neue dem werdenden Menschen, ist die Er-
Frage stellt, ist diese (künstlerische) Aktivität      neuerung im Einklang mit der pädagogi-
der Pädagogik dienlich oder ist es eine Akti-          schen Aufgabe, mit der Erziehungskunst?
vität für sich geworden? Oder ist es, weil
Kunst sowieso richtig und angebracht ist               Da ist vieles vorhanden, was es aber schwer
einfach da?                                            hat, in die Gewohnheitsbildung einzugehen.
                                                       In den neunziger Jahren organisierte die Pä-
Broschüren, die Schulen von sich selbst er-            dagogische Sektion Weltlehrertagungen, die
stellen, lassen da manchmal tief blicken und           im Programm Beiträge von Schülern aufge-
fragen: sind wir noch auf dem Felde der Pä-            nommen hatten, deren Bedingung war, keine
dagogik?                                               Rezitationen, kein Blockflötenspiel, keine Eu-
                                                       rythmie auf die Bühne zu bringen. Und wir
Das gilt ebenso für andere Aktivitäten. Sind           waren erstaunt, wieviel Originelles auf der
die Zwölftklassarbeiten eine pädagogische              grossen Bühne im Goetheanum erschien! Die
Sternstunde oder sind sie ein Selbstläufer             Teilnehmer aus aller Welt sahen da zum ers-
ohne pädagogischen Bezug im Leben der                  tenmal Eurythmie auf Einrädern! Und 2019
Schule geworden? Ist die Imitation dieser              im Tempodrom war Eurythmie auf Holzschu-
Abschlussarbeiten in der achten Klasse pä-             hen zu sehen und hören!
dagogisch sinnvoll ? Macht ein aus dem Un-
terrichtsstrom losgelöster rhythmischer Teil           Fragen an die Schulen für die nächste Zu-
Sinn?                                                  kunft:

Wie handhaben wir das Nass-in-Nass-                    1. Kann der Fremdsprachen Unterricht in
Malen? Wir verstehen, es führt die Kinder ein             den Unterstufen neu gegriffen werden
in das Umgehen und Erleben der Farben                     wie im oben dargestellten Sinne?
ohne gegenständliches Darstellen, es geht
nur um das Farberleben und die Wirkung                 2. Der Abstand zwischen rein menschlichem
derselben. Diese Übungen sind jetzt hundert               Sein und Algorithmen und Robotern wird
Jahre alt, werden sie, wegen ihrer Wirkung,               kürzer werden. An den Schulen müssen
die nächsten hundert Jahre auch so aussehen               Inhalte des Unterrichts entwickelt wer-

23 Diese Situation eindrücklich dargestellt in: Rudolf Steiner, Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen
   und des Menschen zur Sternenwelt, GA 219, 6. Vortrag, Dornach 17.12.1922

16                                                                  Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68
Die Waldorfschule in ihrem zweiten Jahrhundert

    den, die zeigen, dass der Mensch eine          schichte. Weniger Aufsätze, mehr Vor-
    geistige Individualität ist, die sich mit      stellungsübungen und Gespräch.
    dem Maschinenwesen auseinandersetzen
    kann und muss. Und zwar so, dass der        6. Eine allgemeine Neubetrachtung des
    Schüler und die Schülerin wie von selbst       Schullebens: was ist daran wesentlich,
    erleben, dass sie die Aktoren im Verhält-      was gehört zum Kerngeschäft, was kann
    nis zum Computer sind. Was ist Mensch,         mal hinterfragt werden ob seiner Sinn-
    was ist er nicht? Eine Zusatzaufgabe für       haftigkeit.
    die Religionslehrer?
                                                7. Kann die Schule eine Trennung vollziehen
3. Durch den Gebrauch von Tablets und              zwischen dem menschenkundlich Wesent-
   Smartphones braucht das Kind, brauchen          lichen in Steiners Angaben zur Pädagogik
   die Schüler einen verstärkten Geschick-         und Methodik und den ferner liegenden
   lichkeits-Unterricht für Hände und Füsse.       anthroposophischen Spezialgegenständen?
   Fertigkeiten wie Basteln sollen nicht nur       Die Anthroposophie ist so reich und so
   an Weihnachten stattfinden, sondern             weitreichend, dass auch Gegenstände, die
   einen Platz im Lehrplan bekommen. Eine          der Pädagogik nicht dienlich sind, Verwir-
   Zusatzaufgabe für die Handarbeitslehrer.        rung stiften können. Jedes Fachgebiet hat
                                                   seine eigene anthroposophische Disziplin.
4. Wenn die Technologisierung fortschreitet        Dürfen wir fragen was zum Schulleben ge-
   wie sie es tut, sollte überlegt werden ob       hört an geisteswissenschaftlichen Tatsa-
   nicht ein Tag der Woche Unterricht draus-       chen und was nicht? Müssen wir auch auf
   sen zu denken ist, nicht nur für das erste      diesem Gebiet schlanker, agiler werden?
   Schuljahr. Eine selbstverständliche Schu-
   lung der Sinne kann damit einhergehen.       Es ist eine schöne Aufgabe über den werden-
                                                den Menschen nachzudenken. Es ist auch
5. Da immer mehr Unterrichtsgegenstände         eine schöne Aufgabe über eine werdende
   – auch an Waldorfschulen – visualisiert      Schule nachzudenken.
   werden, wird es nötig sein, den Kindern
   und Schülern zu helfen, innere Vorstel-      Das ist nicht nur schön sondern auch wich-
   lungen zu bilden z.B. aus dem Erzählstoff    tig, denn sonst denken andere für uns und
   oder aus anderen Unterrichtsgegenstän-       dann kann es zu spät sein, im Sinne von wer
   den wie zum Beispiel Geometrie und Ge-       nicht bewegt, wird bewegt.

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                        17
Beitrag zu einer Schulentwicklung von freien Schulen für eine Gesellschaft von freien Menschen

Beitrag zu einer Schulentwicklung von freien Schulen für eine
Gesellschaft von freien Menschen
Christian Boettger

Angeregt zu diesem Beitrag zu einer Verän-             man sich vorstellen, dass solche Kollegen sich
derung unserer „Waldorfschullandschaft“                zunächst intensiv weiterbilden in Richtung
wurde ich durch zwei Bücher, die ich im                Mentorierung und Einarbeitung neuer Lehr-
Sommer 2019 lesen konnte. Harald Welzer:               kräfte, dass dann aber auch Schritte in der
„Alles könnte anders sein“ und Andreas                 Kurstätigkeit der Ausbildung neuer Lehr-
Schleicher: „Weltklasse“. Dieser Beitrag um-           kräfte erfolgen und auch die Zusammenar-
fasst drei Teile: im ersten werde ich meine            beit mit den Ausbildungseinrichtungen im
Gedanken zu einer möglichen Schulentwick-              berufsbegleitenden und Vollzeitbereich ver-
lung darstellen und dann folgen zwei Hin-              stärkt wird. Für die Schule selbst könnten sie
führungen zu den Gedanken von Welzer und               immer wieder interessante Fortbildungen
Schleicher, die zu meinen Überlegungen ge-             anregen oder auch selber geben. Aus- und
führt haben.                                           Weiterbildung wird so ein Aufgabenfeld der
                                                       Schulen und führt zu einer weitläufigen Ver-
1. Eine Schule mit Aussicht auf                        netzung der Schulen.
    biographische Entwicklung
Ich stelle mir eine Schule vor, in der schon in        Der dritte Bereich wäre die Arbeit in der
der Ausbildung die Studierenden, aber dann             Selbstverwaltung der Schule. Hier würde es
insbesondere mit dem Eintritt in die Schule            darum gehen, die in den anderen Bereichen
gefragt werden, für welchen von vier mögli-            tätigen Lehrkräfte von diesen Tätigkeiten zu
chen Aufgabenbereichen sich eine Lehrkraft             entlasten, die Schulführung zu übernehmen
entscheiden möchte.                                    und mögliche gemeinsame Entscheidungen
                                                       aller an der Schule Tätigen so gut vorzube-
Der erste Bereich wäre der Bereich der For-            reiten, dass sie wenig zeitintensiv gefällt
schung und Entwicklung der Waldorfpäda-                werden können. Diese Aufgabe ist deutlich
gogik. Hier gilt es über Forschungsarbeiten            eine Aufgabe nach innen in den Schulorga-
die Waldorfpädagogik ständig weiter zu ent-            nismus. Sie sichert die Autonomie der Schule
wickeln. Diese Aufgabenstellung kann z. B.             und der Schulgemeinschaft, sie verbindet die
mit den Forschungsbereichen der Hochschu-              Arbeit aller Lehrkräfte mit den Eltern. Ein
len oder Lehrerseminare zusammen bearbei-              Aufgabenfeld wäre allerdings auch die Ver-
tet werden. Bei entsprechender Vorausbil-              tretung der Schule in den Verbandsaufgaben.
dung kann eine solche Arbeit auch zu einer
Promotion ggf. über Stipendien führen.                 Und der vierte Bereich wäre die soziale Ar-
Wichtig ist natürlich, dass diese Forschungs-          beit in ganz freien Bereichen außerhalb der
arbeiten auch immer den schulischen Alltag             Schule. Im Prinzip ein Ehrenamt für die
wieder befruchten.                                     ganze Schule. Diese Arbeit dürfte nach den
                                                       Gedanken von Harald Welzer ganz frei ge-
Der zweite Bereich wäre der Bereich der Aus-           wählt werden. Sie würde die Schule mit ihrer
bildung, Fort- und Weiterbildung. Hier kann            Umgebung oder ihrer Gemeinde, vernetzen

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Beitrag zu einer Schulentwicklung von freien Schulen für eine Gesellschaft von freien Menschen

und würde wahrscheinlich wichtige Themen                 finden die Deputatsstunden insgesamt zu re-
auch wieder zurück in die Schule tragen.                 duzieren und damit auch über den reinen
                                                         Unterricht hinausgehende Tätigkeiten zu er-
Selbstverständlich könnte man im Laufe der               möglichen, die wiederum auf den Schulorga-
schulischen Tätigkeit auch die Bereiche                  nismus gesundend zurückwirken werden. Ich
wechseln , damit aber die gewonnenen Kom-                denke, wieder den Anregungen von Harald
petenzen wirklich die Schule in ihrer Selbst-            Welzer folgend, dass schon kleine Änderun-
organisation und Vernetzung voran bringen,               gen schließlich sehr viel bewirken können,
sollte der Zeitraum mindestens 5 Jahre sein              aber man muss eben einmal damit beginnen.
in dem man sich für eine der vier Aufgaben               Eventuell kann ja auch eine Schule für ein
entscheidet. Ich bin davon überzeugt, dass               solches Projekt einmal Unterstützung durch
diese vier Bereiche nicht nur die einzelne               eine Stiftung bekommen um erste Erfahrun-
Waldorfschule, sondern auch den gesamten                 gen zu sammeln.
Verbund der Waldorfschulen deutlich weiter-
bringen würden. Denn sie helfen die Autono-              2. Ein kurzer Blick in die Arbeit von Harald
mie kompetent zu verstärken und die Solida-                  Welzer: „Alles könnte anders sein“.
rität unter den Lehrkräften und den Schulen              Harald Welzer, ein Soziologe und, wie Kolle-
und Ausbildungsstätten untereinander zu                  gen ihn nennen, ein Zukunftsarchitekt, der als
fördern. Wichtig ist dabei selbstverständlich,           Autor von Büchern wie „Selbst denken“ und
dass die in den vier Bereichen tätigen Kolle-            „Die smarte Diktatur“ bekannt geworden ist,
gen und Kolleginnen Zeit für den Austausch               regt in seinem Buch: „Alles könnte anders
haben, so dass die Erfahrungen in das ge-                sein“ an, Gesellschaft einfach neu zu denken
samte Kollegium zurückfließen können. Si-                und macht Mut mit kleinen Schritten in die
cherlich muss auch nicht alles so fest in diese          Richtung der eigenen Zukunftsvorstellung zu
vier Bereich gezurrt werden, die Wahl der                beginnen. Die vielbeschworene „Alternativlo-
Aufgabenfelder sollte in intensiven und för-             sigkeit“ sei in Wirklichkeit eine „Phantasielo-
derlichen Einzelberatungen erfolgen.                     sigkeit“. Nun ist hier nicht der Platz eine aus-
                                                         führliche Buchbesprechung zu verfassen, aber
Allerdings höre ich schon zwei Fragen, bzw.              um zu dem für die Schulentwicklung hilfrei-
Einwände: erstens den nach der Finanzierung              chen Gedanken zu kommen, der mich unter
eines solchen Unternehmens und zweitens                  anderem zu der Idee dieses Beitrags führte,
wie man so etwas vorschlagen könne, wo                   muss ich Grundlinien seiner Gesellschaftsana-
man doch wisse, dass Lehrkräfte und insbe-               lyse und Gesellschaftsutopie nachzeichnen.
sondere an Waldorfschulen tätige Lehrkräfte
immer überlastet seien. Ich glaube man kann              Welzers Buch ist von Anfang an ein Mutma-
die vielen Aufgaben in der Schule nur durch              cher, der zunächst von der Analyse ausgeht,
eine richtig gute Verteilung wirklich befrie-            dass in unserer heutigen Gesellschaft nicht
digend lösen. Wenn allen deutlich ist, dass              alles schlecht ist. Es sei eine Gesellschaft die
unsere Schülerinnen und Schüler von ihren                „ihren einzelnen Mitgliedern die größtmögli-
Lehrern nicht nur die Fachkompetenz, son-                che Freiheit“1 eröffne, über die Menschen je
dern auch ihr Interesse für die Schule als               verfügen durften. Eine Gesellschaft die Fehler
Ganzes und die ihr zugrunde liegende Päda-               verzeihe. – Der Fehler sei lediglich, dass in die-
gogik wünschen, dann werden sich Wege                    ser Gesellschaft Wissen gelehrt und Unwissen

1   Welzer, Harald: Alles könnte anders sein S. 23; Fischer Verlag Frankfurt 3. Auflage 2019

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 68                                                                  19
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