SCHICKSALSJAHR 1938 - BPB

 
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Schicksalsjahr 1938

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SCHICKSALSJAHR 1938 - BPB
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                       2

Einleitung
Ausgrenzung und Verfolgung
2018 jähren sich die einschneidenden Ereignisse des Jahres 1938 zum 80. Mal. Wie kaum ein anderes
Jahr markiert dieses eine Zäsur in der deutsch-jüdischen Geschichte. Binnen weniger Monate ändert
sich die Situation deutschsprachiger Juden schlagartig und endgültig. Die Entrechtung, Diskriminierung
und Verfolgung verschärft sich massiv, die Gewalt eskaliert. Am 9. November 1938 gipfelte der
staatliche Antisemitismus in deutschlandweiten Pogromen gegen Juden. Synagogen brannten,
jüdische Geschäfte wurden geplündert und brutale Übergriffe fanden auf offener Straße statt. Das Jahr
1938 zeigt exemplarisch, welche verheerenden Folgen Diffamierung, Ausgrenzung und Entrechtung
von Minderheiten haben können. Angesichts zunehmend populistischer und extremistischer
Tendenzen auf nationaler und internationaler Ebene ist das Thema hochaktuell. Daher zeigt die bpb
in Kooperation mit dem Leo Baeck Institut New York I Berlin (https://www.lbi.org/) in diesem Dossier
einzelne Schicksale der deutsch-jüdischen Diaspora: Schilderungen der Ereignisse des Jahres 1938
in Form von Briefen, Tagebüchern, offiziellen Dokumenten und Fotos. Die Erinnerung jener, die das
Glück hatten zu entkommen und auszuwandern, kehren zurück.

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: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                         3

Inhaltsverzeichnis

 1.        Das Kinderheim Beit Ahawah                                                             4

 1.1             Ein Album für Heinrich Stahl - Der Diskriminierung und Entrechtung standhalten   6

 1.2             Glossar Jüdische Feiertage                                                       8

 2.        Georg und Lillian Friedmann                                                            9

 2.1             "Ab heute heißt du anders"                                                       10

 2.2             Die Irrfahrt auf der St. Louis                                                   12

 3.        Paul Steiner - Ein 25-Jähriger beobachtet den Anschluss Österreichs                    15

 3.1             Transkript Tagebuchauszug                                                        18

 4.        Harry Kranner Fiss - Zeuge der Novemberpogrome in Wien                                 20

 4.1             Transkript Tagebuchauszug                                                        22

 5.        Gerettet aber einsam - Elizabeth Melamid                                               24

 5.1             Transkript Postkarten                                                            29

 6.        1938 - Point of no return - Contemporary Testimonies of the German-Jewish Diaspora     31

 7.        Leo Baeck Institute New York I Berlin                                                  46

 8.        Redaktion                                                                              47

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Das Kinderheim Beit Ahawah
                                                                                                 24.4.2018

Fotoalbum des Kinderheims "Ahawah" (Buchdeckel) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck Institute New York | Berlin
- Heinrich Stahl Collection AR 7171 ALB 78 (http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=904774))

Das jüdische Kinderheim wird 1922 in der Auguststraße 14-16 in Berlin Mitte eröffnet. Zuvor hat sich
in dem Gebäude das Jüdische Krankenhaus befunden, das jüdischen und nichtjüdischen Kranken
gleichermaßen offen steht. Auf Grund seines guten Rufes hat die Zahl der Patienten seit 1861 stetig
zugenommen, so dass ein Umzug im Jahre 1914 unumgänglich ist. Danach werden die Räume als
Flüchtlingsheim für Jüdinnen und Juden aus Osteuropa genutzt und ab 1916 eine Kindervolksküche
eingerichtet. Gegründet wird das Kinderheim von Beate Berger[1] . Die 1886 geborene
Krankenschwester nimmt vornehmlich Kinder aus Osteuropa auf, die in Folge der Pogrome zu Waisen
geworden sind oder aus prekären sozialen Verhältnissen stammen.

Als Bezeichnung des Heims wird das hebräische Wort „Ahawah“ (Liebe) gewählt. Unmittelbar nach
der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten beschließt Beate Berger, ihre Schützlinge in
Sicherheit zu bringen. Zu diesem Zwecke strebt sie danach, ein weiteres Kinderheim mit gleichem
Namen bei Haifa einzurichten, was ihr 1934 in Kirjat Bialik gelingt. Von nun an reist sie regelmäßig
zwischen dem Mandatsgebiet Palästina und Deutschland, um Kinder aus Berlin nach Haifa zu bringen.
Da es sich zu dem Zeitpunkt noch um britisches Mandatsgebiet handelt, ist es nur möglich, Zertifikate
für Jugendliche zu erhalten, die mindestens das 15. Lebensjahr erreicht haben. Jüngeren Kindern aus
dem Kinderheim "Ahawah" in Berlin bleibt die Einreise somit verwehrt. Bis zu ihrer letzten Fahrt ins

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Mandatsgebiet im Jahre 1939 kann Beate Berger auf diesem Wege knapp 100 Kinder aus Deutschland
retten. Insgesamt sind es ca. 300 Kinder, die sie aus Europa ins Mandatsgebiet Palästina begleitet.
Beate Berger stirbt im Mai 1939 in Kirjat Bialik. Von ihren in Berlin verbliebenen Schützlingen aus der
Auguststraße 14-16 werden die meisten in Konzentrationslagern ermordet.

Fußnoten

1.    Ausführliche Biografie von Beate Berger unter http://www.juedische-pflegegeschichte.de/
      recherche/?dataId=143019089363324&attrId=143323168929838&opener=131724511929199&­
      id=131724555879435&sid=b04ccb3df35eb7f4303477099c626a7d#A143323168929838 (http://
      www.juedische-pflegegeschichte.de/recherche/?dataId=143019089363324&attrId=1433231689­
      29838&opener=131724511929199&id=131724555879435&sid=b04ccb3df35eb7f4303477099c6­
      26a7d#A143323168929838)

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Ein Album für Heinrich Stahl - Der Diskriminierung
und Entrechtung standhalten
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"Hast im Glanz von siebzig Jahren/Liebe aller Welt erfahren –/Und in ihrem Danke einen sich die Grossen wie die
Kleinen!/ Ost und westliches Gelände/Reichen segnend sich die Hände." Kinderheim Ahawah Berlin-Haifa, 13. April
1938. Widmung des Kinderheims an Heinrich Stahl anlässlich seines 70. Geburtstags am 13. April 1938. Lizenz: cc
by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck Institute New York | Berlin - Heinrich Stahl Collection AR 7171 ALB 78 (http://www.lbi.
org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=904774))

Anlässlich seines 70. Geburtstages erhält Heinrich Stahl, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde
Berlins, zahlreiche Würdigungen. Diese Widmung steht auf der ersten Seite eines Fotoalbums.
Dahinter erstrecken sich Aufnahmen aus dem Kinderheim Ahawah, die an jüdischen Feiertagen wie
Purim, Pessach und Chanukka gemacht wurden, aber ebenso auch Schnappschüsse der Schützlinge
während des Unterrichts oder beim ausgelassenen Spielen in den Ferien. Denn trotz der zunehmenden
staatlichen Repressalien versuchen deutschsprachige Jüdinnen und Juden in ihrem Alltag eine gewisse
„Normalität“ aufrechtzuerhalten. Innerhalb der Gemeinden werden weiterhin Veranstaltungen
organisiert und die Mitglieder und deren Sorgen aufmerksam betreut. Auch im Privaten bemühen sich
Familien, ihre Hoffnung und Würde zu bewahren, sei es bei den religiösen Feierlichkeiten, die zelebriert
werden, oder bei einstmals alltäglichen Dingen wie den gemeinsamen Treffen zu Kaffee und Kuchen.

Auch der 1868 in Berlin geborene Heinrich Stahl gehört zu jenen, die so lange wie möglich der
Diskriminierung und Entrechtung standhalten. Er ist langjähriger Direktor der Viktoria
Versicherungsgesellschaft in Berlin und leitet in den 1930er Jahren das Wohlfahrtsamt der jüdischen

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Gemeinde. Seine Berufung zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins erfolgt erst nach
Machtantritt der Nationalsozialisten, was ihn dazu bewegt, die "Jüdische Winterhilfe" zu gründen. Diese
karitative Einrichtung soll vor allem jene Gemeindemitglieder unterstützen, die in Folge der
rassistischen Gesetzgebung benachteiligt werden und beispielsweise finanzielle Einbußen oder
Gehaltsausfälle im Berufsleben zu ertragen haben. Die durch Spenden finanzierte Hilfe umfasst sowohl
praktische Unterstützung in Form von Sachmitteln und Nahrung als auch ideelle Förderung durch
Einbindung in kulturelle Aktivitäten und seelischen Beistand innerhalb der Gemeinden. Im Juni 1942
wird Heinrich Stahl zusammen mit seiner Frau Jenny nach Theresienstadt deportiert. Dort stirbt er im
November 1942 mit 75 Jahren an einer Lungenentzündung.

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Glossar Jüdische Feiertage
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Chalutzim, Purim, Seder, Alijah? - Was steckt hinter diesen Begriffen?

Alijah

(Hebräisch: "Aufstieg"): Jüdische Einwanderung in das ehemalige Britische Mandatsgebiet Palästina
und, seit der Staatsgründung 1948, nach Israel.

Chalutzim

(Hebräisch: "Pioniere"): Mitglieder einer zionistischen Jugendbewegung

Purim

(Hebräisch: "Los"): Purim erinnert an die Rettung der in Persien lebenden Juden vor Haman. An Purim
wird aus dem Buch Esther gelesen, sogenannte Hamantaschen gegessen, sich verkleidet und
ausgelassen gefeiert.

Seder

(Hebräisch: "Ordnung"): zeremonielles Abendessen im Kreis der Familie am ersten Abend von
Pessach, bei dem an den Auszug aus Ägypten erinnert wird.

Weitere Begriffserläuterungen jüdischer Fest- und Feiertage finden Sie hier (http://www.bpb.de/
izpb/7706/juedische-fest-und-feiertage).

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Georg und Lillian Friedmann
                                                 24.4.2018

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"Ab heute heißt du anders"
Lillian und Georg Friedmann werden gezwungen, die Vornamen
"Israel" und "Sara" zu tragen
                                                                                         24.4.2018

Was Lillian und Georg Friedmann durch den Kopf ging, als sie von der "Zweiten Verordnung zur
Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen" vom 17. August
1938 erfuhren, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht nur, dass sich der bürokratische Vorgang
in die stetig länger werdende Liste an Demütigungen einreihte, die die Familie erdulden musste. Zum
Jahresende 1938 ließen Georg, Lillian, Bruno und Amelie Friedmann die bis Januar 1939 erforderliche
Namensänderung durchführen. Per Einschreiben wurden am 21. Dezember 1938 die Standesämter
in München und Berlin sowie die Ortspolizeibehörde in Schwandorf über die Eintragung der
zusätzlichen Vornamen, "Israel" und "Sara", informiert.

Einschreiben von Lillian und
Georg Friedmann an
Standesämter in München
und Berlin, um diese über
die erfolgte Eintragung der
Vormaen "Israel" und "Sara"
in Kenntnis zu setzen, 21.
Dezember 1938. Lizenz: cc
by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck
Institute New York | Berlin -
George And Lillian Friedman
Collection AR 7223 (http://
www.lbi.org/digibaeck/results/?
qtype=pid&term=475777))

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: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                         11

                                        Historischer Hintergrund
                                 Mit der "Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden" (RGBl I,
                                 S. 547) werden ab September 1941 alle Jüdinnen und Juden im Deutschen
                                 Reich gezwungen, einen sichtbaren Aufnäher, den "Judenstern" zu tragen.
                                 Doch die öffentliche Kennzeichnung von Personen, die laut den Nürnberger
                                 Rassegesetzen von 1935 als "Juden" gelten, findet mit der zwangsweisen
                                 Namensänderung bereits drei Jahre vor der Einführung des "Gelben
                                 Sterns" statt. Jüdinnen und Juden werden durch die "Zweite Verordnung
 Einschreiben von Lillian und zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen
 Georg Friedmann an              und Vornamen" vom 17. August 1938 (RGBl I, 1044) verpflichtet, einen
 Standesämter in München
 und Berlin, um diese über Vornamen zu führen, der sie als „jüdisch“ markiert. Sofern ihr bisheriger
 die erfolgte Eintragung der Vorname nicht den Richtlinien des Reichsministers des Innern entspricht,
 Vormaen "Israel" und "Sara"
 in Kenntnis zu setzen, 21. d. h. nicht deutlich jüdischen Klischees entspricht, werden sie gezwungen,
 Dezember 1938. Lizenz: cc "Sara" oder "Israel" als Zweitnamen zu tragen. Damit greift die
 by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck
 Institute New York | Berlin - antisemitische Gesetzgebung der Nationalsozialisten unmittelbar in das
 George And Lillian Friedman Privatleben der Betroffenen ein und nimmt ihnen selbst das Persönlichste:
 Collection AR 7223 (http://
 www.lbi.org/digibaeck/results/? ihren eigenen Namen. Die offizielle Umschreibung muss bis zum Januar
 qtype=pid&term=475777))         1939 erfolgen und sowohl dem zuständigen Standesamt und der Polizei
                                 gemeldet werden. Die neuen Vornamen sind fortan auch im Schriftverkehr
zu verwenden. Sowohl im Berufsleben als auch bei juristischen Angelegenheiten werden sie genötigt,
wenigstens einen stereotypen Vornamen zu benutzen, der sie deutlich als Jüdinnen und Juden
identifiziert. Eine Zuwiderhandlung zieht eine einmonatige Gefängnisstrafe nach sich. Sofern ihnen
Vorsatz unterstellt wird, wird eine Haftstrafe bis zu einem halben Jahr verhängt.

Traurige Berühmtheit erlangt die ehemalige Lehrerin und Feministin Hedwig Jastrow. Sie begeht mit
76 Jahren in Berlin Selbstmord, um der Umbenennung zu entgehen. 43 Jahre lang hat sie deutsche
Kinder unterrichtet und schließt ihren handschriftlichen Abschiedsbrief mit den Worten: „Ich will nicht
leben ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Wohnung, ohne Bürgerrecht, geächtet und beschimpft. Und
ich will begraben werden mit dem Namen, den meine Eltern mir gegeben und teils vererbt haben und
auf dem kein Makel haftet. Ich will nicht warten, bis ihm ein Schandmal angehängt wird.“ [1]

Die vielfach als Lektüre in Schulen verwendete Autobiographie der deutsch-israelischen Journalistin,
Autorin und Zeitzeugin Inge Deutschkron "Ich trug den gelben Stern" nimmt auch auf die erzwungene
Namensänderung Bezug. Am 9. Februar 1989 findet im Grips-Theater die Uraufführung des Stückes
Ab heute heißt du Sara statt, das auf Inge Deutschkrons Erinnerungen basiert und die repressiven
Umstände der damaligen Zeit eindrücklich zeigt.

Fußnoten

1.    Hedwig Jastrow, 28.11.1938, Dok. 181 in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden
      durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Deutsches Reich 1938 - August 1939,
      Band 2, bearbeitet von Susanne Heim, R. Oldenbourg Verlag: München 2009, S. 512.

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Die Irrfahrt auf der St. Louis
                                                                                                    24.4.2018

Georg und Lillian Friedmann gehen am 13. Mai 1938 in Hamburg an Bord der St. Louis. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
(Leo Baeck Institute New York | Berlin - George And Lillian Friedman Collection AR 7223 (http://www.lbi.org/digibaeck/
results/?qtype=pid&term=475777))

1976 erscheint Reise der Verdammten mit Max von Sydow, Oskar Kreisler und Faye Dunaway. Der
Film basiert auf dem zwei Jahre zuvor veröffentlichten Buch Voyage of the Damned von Max Morgan-
Witts und Gordon Thomas und schildert die wahre Begebenheit der sogenannten Irrfahrt der St. Louis.
Das Schiff läuft am 13. Mai 1939 in Hamburg unter Kapitän Gustav Schröder aus und hat Kuba als
Ziel. An Bord befinden sich 937 zumeist jüdische Flüchtlinge. Jedoch wird ihnen bei der Ankunft in
Kuba die Einreise verwehrt.

Lediglich 29 Personen, darunter 22 jüdische Flüchtlinge, dürfen das Schiff verlassen. Alle anderen
müssen auf der St. Louis erneut in See stechen. Auch der verzweifelte Versuch in den USA
Unterstützung zu erlangen und anlegen zu dürfen, schlägt fehl. Sie müssen nach Europa zurückkehren.
Um die Gefahren wissend, weigert sich Gustav Schröder, die Betroffenen erneut nach Deutschland
auszuliefern. Nach einigen Anstrengungen gelingt es dem Kapitän, seine Passagiere in Belgien an
Land zu bringen, von wo aus sie auf Großbritannien, Frankreich, Holland und Belgien verteilt werden.
Die vermeintliche Rettung erweist sich als Trugschluss. Nach Einmarsch der deutschen Truppen
geraten die ehemaligen Passagiere der St. Louis erneut unter den Einflussbereich der
Nationalsozialisten. Forschern zufolge wird ein Viertel von ihnen im Holocaust ermordet. Die St. Louis
kehrt unter Gustav Schröder 1940 nach Hamburg zurück und der couragierte Kapitän wird an den
Schreibtisch versetzt. Zwei Jahre vor seinem Tod erhält er 1957 das Bundesverdienstkreuz am Band

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und wird posthum von Yad Vashem in Israel zu einem "Gerechten unter den Völkern" ernannt.

Zu den 22 jüdischen Flüchtlingen, die von Kuba aufgenommen wurden, gehört auch die sechsköpfige
Familie Friedmann, deren Rettung die Autoren Max Morgan-Witts und Gordon Thomas vor ein Rätsel
stellt. Erst Lillian Friedmann gelingt es in einem Brief vom 20. Juni 1975 an Max Morgan-Witts das
Mysterium zu lüften, warum damals ausgerechnet ihre sonst unbekannte Familie unter dramatischen
Umständen von Bord nach Kuba gebracht wird.

Brief von Lillian Friedman an Max Morgan Witts vom 20. Juni 1975. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck Institute
New York | Berlin - George And Lillian Friedman Collection AR 7223 (http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=
pid&term=475777))

Lillian Berta Friedmann wird 1906 als Tochter von Isidor und Helene Bach in München geboren. Bis
zu ihrer Heirat mit Georg Friedmann im Juli 1930 lebt sie in ihrer Geburtsstadt. Danach zieht sie zur
Familie ihres Mannes nach Schwandorf, wo sie wohl gemeinsam ein Bekleidungsgeschäft führen. Wie
zehntausend andere Jüdinnen und Juden wird auch die Familie Friedmann im Zuge der
Novemberpogrome verhaftet. Georg (geb. 1897) und sein Bruder Bruno (geb. 1894) werden im
Konzentrationslager Dachau inhaftiert und Lillian zusammen mit ihrer 67-jährigen Schwiegermutter
Amanda ins Gefängnis gebracht. Unmittelbar nach ihrer Entlassung bemüht sich die Familie um
Auswanderung, denn die Freilassung aus dem Konzentrationslager erfolgt unter der Auflage,
Deutschland baldmöglichst zu verlassen. Eine von Lillians Schwestern lebt in Kuba, so dass sie eine
Überfahrt auf der Orinoco organisieren und hoffen, über Havanna die Ausreise in die USA vorbereiten
zu können. Georg will nicht bis zu deren Abfahrt warten und bucht stattdessen Plätze auf der früher
ablegenden St. Louis. Am 13. Mai 1939 legt das Schiff ab, mit an Bord sind Georg und seine Frau
Lillian, sein Bruder Bruno, seine Mutter Amanda, seine Schwester Celia und sein Schwager James
Back. Als sich zeigt, dass die St. Louis nicht in Havanna anlegen darf, wenden sich die Friedmanns
in ihrer Verzweiflung auch an entfernte Verwandte in den USA, darunter an die ihnen ansonsten
unbekannte Sadie Cecilia Annenberg (geb. Friedmann). Amandas Ehemann Jakob ist bereits 1937
gestorben, doch zu Lebzeiten hat er ein bis zweimal im Jahr im Briefwechsel mit seinem Bruder in den
USA gestanden, der immer von seiner Tochter Sadie prahlt, "die nicht wüsste, wohin mit ihrem Geld".
Sadie zögert nicht lange sondern verspricht Unterstützung. Wie es ihr gelingt, die Friedmanns von
Bord bringen zu lassen, behält sie zeitlebens für sich. In Havanna müssen sie weiterhin auf ihre

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Quotennummer warten, um in die USA einzureisen. Auch in dieser Zeit unterstützt sie Sadie finanziell.
Nach neun Monaten dürfen Celia und Lillian ausreisen und gehen nach New York, wo sie als
Haushälterinnen arbeiten, um ihre Familienangehörigen in Kuba zu unterstützen und um fortan Sadie
nicht länger zur Last zu fallen. Die restlichen Mitglieder der Familie dürfen in den darauffolgenden
Monaten folgen. Georg und Lillian ziehen 1941 nach Louisville, Kentucky, wo Lillian erst als
Rechtsanwaltsgehilfin arbeitet, ehe sie in das Geschäft ihres Mannes einsteigt, das als Friedman's
Display Company Schaufenstergestaltung und Zubehör anbietet. Bis zu dessen Tod im Jahr 1950 ist
er als Dekorateur tätig. Ihre Ehe bleibt kinderlos. Lillian führt seinen Betrieb bis zu ihrem Ruhestand
1967 fort, lediglich die Dekoration überlässt sie ihren Angestellten. Sie selbst bleibt zeitlebens
ehrenamtlich in verschiedenen jüdischen Organisationen tätig. Lillian Friedmann stirbt 2008.

Linktipp

•     Hintergrundinformationen, Fotos, Zeitzeugenberichte, Originaldokumente und animierte Karten
      zur Irrfahrt der St. Louis in englischer Sprache (Quelle: United States Holocaust Memorial Museum,
      Washington, DC)
      https://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005267# (https://www.ushmm.org/wlc/
      en/article.php?ModuleId=10005267#)

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                                15

Paul Steiner - Ein 25-Jähriger
beobachtet den Anschluss Österreichs
"Nun, was heute geschehen ist, kommt einem Tode gleich."
                                                                                               24.4.2018

Legitimation der Universität Wien für Paul Steiner, ausgestellt am 14. November 1936 (gestempelt 16. November
1936). Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck Institute New York | Berlin - Marianne Steiner Collection AR 10443
(http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=476390))

Paul Steiners Tagebuch

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: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                        16

Paul Steiner
Paul Steiner wird 1913 in Wien geboren. Bereits mit 13 Jahren beginnt er Tagebuch zu schreiben und
strebt als junger Mann danach, Schriftsteller und Philosoph zu werden, worin ihn wohl auch die
Bekanntschaft mit dem berühmten österreichischen Philosophen und Journalisten Egon Friedell
bestärkt (1878-1938). Dennoch entscheidet er sich, nach Erlangen der Matura im Jahre 1936, einen
anderen Weg einzuschlagen und stattdessen Jura zu studieren. Im Januar 1938 schließt er sein
Studium ab, während er sein dichterisches Schreiben nebenher fortführt. Zudem hat er als Jurastudent
für das Verlagshaus Moderne Welt in Wien gearbeitet, um seine Mutter und sich finanziell zu
unterstützen.

Auf Grund der zunehmenden Gefahr für Juden in Österreich, ist Paul Steiner bestrebt auszuwandern.
Im November 1938 gelingt es ihm, ein Visum für die USA zu erhalten. Vor seiner Ausreise besucht er
im Januar 1939 seine Mutter in Brüssel und nach einem kurzen Aufenthalt in London immigriert er im
März 1939 über New York City nach Akron, Ohio. Kaum angekommen, bemüht er sich um Visa für
seine Mutter in Belgien und seinen Bruder Franz, der in Frankreich bereits im Lager interniert worden
ist. Im Dezember 1941 erhält er ein amerikanisches Visum für seinen Bruder Franz. Jedoch kann er
seine Mutter nicht retten. Vor ihrer Deportation in ein Konzentrationslager begeht sie Selbstmord.

Online-Kalender "1938Projekt"

Das Leo Baeck Institut New York | Berlin (https://www.lbi.org/) zeigt in einem Online-Kalender (https://
www.lbi.org/1938projekt/de) anhand authentischer Dokumente das breite Spektrum an Reaktionen
und Emotionen, das deutschsprachige jüdische Einzelpersonen und Familien durchlebten. Zusätzlich
werden bedeutsame Weltereignisse beschrieben und betten die individuellen Geschichten in ihren
historischen Kontext ein. So lässt sich 80 Jahre nach den Ereignissen von 1938 das Wechselbad der
Gefühle aus Schrecken und Überrumpelung begreifen, das die Betroffenen unter dem NS-Regime
erlebten.

Im Juli 1941 zieht Paul Steiner nach New York, wo er ein Zimmer bei Marianne Esbergs Familie mietet.
Marianne Esberg teilt sein Interesse an Kunst, Kultur und Musik. Am 14. Februar 1942 heiraten beide
und im Mai des darauffolgenden Jahres wird ihr Sohn Thomas geboren. 1945 erhält Paul Steiner die
amerikanische Staatsbürgerschaft. Später wird er Leiter der Chanticleer Press, der amerikanischen
Niederlassung des britischen Verlagshauses Adprint. Als Adprint 1952 diese Niederlassung veräußern
will, kauft er sie und verwandelt Chanticleer Press in ein international erfolgreiches Unternehmen, das
sich auf Sachbücher spezialisiert. Paul Steiners Betrieb wird für seine modernen Vierfarbdrucke
bekannt, die er oftmals für andere Verlage und Museen weltweit produziert. Neben einer breiten Vielfalt
an Lehrbüchern erweitert Paul Steiner das Portfolio, um reich illustrierte hochwertige Bildbände. Paul
Steiner stirbt 1996 in New York. In seinem Nachruf würdigt die New York Times sein Lebenswerk mit
den Worten, dass er geholfen habe, das amerikanische Verlagswesen umzugestalten und den Bildband
zu einer festen Größe im Printgewerbe gemacht hat.

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                     17

Der "Anschluss" Österreichs
Die von den Nationalsozialisten gewünschte Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich hat
sich lange abgezeichnet. Im Berchtesgadener Abkommen am 12. Februar 1938 hat Adolf Hitler vom
österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg bereits eine Beteiligung der österreichischen
Nationalsozialisten an der Regierung und die Ernennung Arthur Seyß-Inquarts zum Innen- und
Sicherheitsminister gefordert, wodurch dieser die Polizeigewalt in Österreich erhalten würde. Kurt
Schuschnigg kann zwar eine "Gnadenfrist" aushandeln, doch nach drei Tagen gibt er dem Druck nach
und unterschreibt. Trotzdem spricht sich Kurt Schuschnigg in seiner mit dem Ausspruch "Rot-Weiß-
Rot bis in den Tod" bekanntgewordenen Rede am 24. Februar 1938 vehement für die Unabhängigkeit
Österreichs aus. Als er am 9. März 1938 eine Volksabstimmung für den darauffolgenden Sonntag
anberaumt, bieten die zahlreichen im Vorfeld benannten Einschränkungen und Verfahrensfehler bei
der Wahlvorbereitung seinen Gegnern den lang erwarteten Anlass einzuschreiten. Arthur Seyß-Inquart
erklärt die geplante Abstimmung für verfassungswidrig. Von deutscher Seite wird unverzüglich die
Absage der Volksabstimmung und der Rücktritt von Kurt Schuschnigg zugunsten von Arthur Seyß-
Inquart verlangt, während Adolf Hitler die Mobilisierung der Truppen befiehlt. Am 11. März 1938 tritt
Kurt Schuschnigg mit einer Ansprache im Radio öffentlich zurück. Zu dem Zeitpunkt werden bereits
die ersten Hakenkreuzflaggen von österreichischen Nationalsozialisten an öffentlichen Gebäuden
gehisst. In der Nacht zum 12. März 1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Wie von
Kurt Schuschnigg bei seinem Rücktritt gewünscht, erfolgt von Seiten des österreichischen Heeres
keine Gegenwehr. Auch seitens der Bevölkerung trifft die deutsche Wehrmacht nicht auf Widerstand.
Vielmehr berichten Zeitzeugen davon, dass die Soldaten größtenteils freudig und mit Jubel begrüßt
werden. Am darauffolgenden Tag kommt Adolf Hitler nach Österreich, wo er zusammen mit nun zum
Bundeskanzler ernannten Arthur Seyß-Inquart in Linz das "Gesetz über die Wiedervereinigung
Österreichs mit dem Deutschen Reich" (RGBl. I 1938, S. 237) vereinbart, das noch am gleichen Tag
beschlossen wird. Der Bundespräsident Wilhelm Miklas weigert sich das Gesetz zu beurkunden und
tritt zurück, dadurch gehen seine Funktionen stattdessen auf Arthur Seyß-Inquart über. Mit seiner
Unterschrift wird das Gesetz rechtskräftig und der "Anschluss" Österreichs vollzogen. Die letzte
Reichstagwahl am 10. April 1938 wird auch zu einer Volksabstimmung hinsichtlich der Unabhängigkeit
Österreichs. In dieser Abstimmung votieren 99,73 Prozent der Österreicher und 99,01 Prozent der
Deutschen für eine Nazi-Einheitsliste und den "Anschluss".

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                       18

Transkript Tagebuchauszug
Tagebuch Paul Steiner – AR 25208 Diary 7, S. 22-24
                                                                                       24.4.2018

11. März 1938
Schicksalstag der Österreichischen Juden! Nun haben wir einen neuen Trauertag in den Annalen
unserer Geschichte! Wie viele werden noch folgen? Schuschnigg hat also seine Demission gegeben,
in den Straßen marschieren die nationalsozialistischen Formationen, deutsches Militär ist über die
Grenzen eingerückt und eben sehe ich, wie schon die Wache mit deutschen Gruss antwortet. Wo hin
entschwand nun alles, was als Ziel aufgesteckt war? Wo sind alle Pläne und Ziele? In einer unheilvollen
Stunde beschwor ich das Schicksal, da ich sagte, ich hatte bis heute schon ein wundervolles Leben
geführt, und stürbe ich hätte [sic!], ich hätte mein bisheriges Dasein nicht zu bereuen. Nun, was heute
geschehen ist, kommt einem Tode gleich. Denn weiß Gott, ob ich ein neues Leben in fremden Landen
mir werde aufbauen können! Wie und wo stehen aber die vielen hunderttausend Juden, die nun aus
der Bahn geworfen werden und die ihr Leben und ihr Dasein vernichte sehen?! Wir sind ein
geschlagenes Volk, wahrhaft? Wie wäre zu helfen, was wäre zu beginnen? Und dabei verliert sich
doch – ich kann’s nicht leugnen – der sorgende und teilnehmende Gedanke für die Brüder, wenn das
eigene Los vernichtet scheint und wenn unmittelbarste Sorgen an den Menschen herantreten. Diese
Furcht vor dem Untergang, dieses Bangen vor dem Ungewissen, dem man machtlos gegenübersteht,
das sind Gefühle, die auch am Lebensmut zehren und ihn mindern u. Gewiss habe ich meinen guten
Glauben und sogar [m]eine gute Hoffnung noch nicht verloren, wie lange aber noch soll mir die
Empfindung Halt und Stütze sein, da die Ereignisse stärker und stärker werden und man sich ihrer
nicht mehr erwehren kann.

Vom heutigen Tag wäre noch zu sagen: Es hat uns allemal ein solches Gefühl innerer Freude ergriffen,
da wir mit solcher Gewissheit einen herrlichen Sieg Schuschniggs voraussahen; mit den Arbeitern war
ein guter Frieden gefunden worden, man gab ihnen die Gelder zurück man gewährte ihnen wieder die
alten Rechte: Es war dieses Volk tatsächlich eine Einheit, wobei nur die Nazis abseits standen, die
gewiss ausschl[ießlich] ein Drittel des Volkes ausmachen, aber sie erheben Anspruch auf die
Herrschaft, weil das deutsche Volk hinter ihnen steht. So musste Schuschnigg einzig der zehnfachen
Übermacht weichen, gegen die er sich vier Jahre lang wirklich heroisch gewehrt hatte. Das macht ihm
eines dauernden Andenken gewiss.

Die Verzweiflung unter den Juden ist gross. Friedl prophezeite einen Pogrom. Ich schaudere davor.
Den Eindruck, den ich heute hatte hat sich mir allzu tief eingeprägt, da ich sehen musste, wie sich
über einen Juden herfielen und ihn schlugen, eine Horde von Menschen schlug zu! Mob war es, der
demonstrierte! Kaum dass man einen Bessergekleideten sah!

So vollzieht sich hörbar der Übergang zu einem deutschen Staat: Erst ernste Musik mit Unvollendeter,
Nachtmusik und Dritter Bruckner; doch dann deutsche Militärmärsche und deutsche Volkslieder. Und
wir sitzen hier stundenlang und können nicht weiter als versuchen, unsere Traurigkeit zu verbergen.

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                         19

12. März 1938 Nachts

Was ich gestern noch für einen kaum fassbaren Gedanken hielt, ja ihn von mir stiess, damit er mir ja
nicht zu Bewusstsein käme, ist mir heute keine Frage des Bangens und der Trauer mehr: die
Auswanderung. Ich habe jede Verbindung mit diesen Österreichern verlassen und die Verbindung
auch mit dem Land. Hörte ich noch gestern mit aller Gespanntheit auf die Berichte im Radio, so ist
es mir heute sämtlich gleichgültig geworden, was hier noch vorgeht. Wenn es so weit gekommen sein
wird, dass ich meine Stelle aufgeben muss, so werd ich, sofern es möglich ist, den Weg in irgendein
anderes Land suchen; in ein Land, wo man ohne Furcht auf der Strasse gehen kann und wo man nicht
bangen muss, niedergeschlagen zu werden, und wo einem nicht Menschen begegnen, die einem
selbstverständlicherweise Feind sind. Gewiss wird es schwer werden, alles hier zu lösen; und gewiss
wird es noch viele Schwierigkeiten zu überwinden geben: aber die innere Not wird bei all dem fehlen;
und nur auf sich selbst gestellt, die Heimat im Herzen tragend, muss der Aufbruch unternommen
werden. Ich bin also entschlossen, mein ferneres Leben an Dorrit zu binden, um sie als Kameradin
an meiner Seite zu haben, da ich der Ansicht bin, dass [sie] voll Klugheit und voll Treue ist und mit mir
wird den harten Weg, der nun beginnt, gehen wollen und können.

So muss ich auch meine Götter von mir stossen, die nicht mehr zu mir gehören und die ich nur solange
als Götter dulden konnte, solange es lustige Theorie war: Könnte ich noch eine Zeile Nietzsche
vertragen? Vermöchte ich heute einen Takt Wagner zu hören? Und wo ist Spengler hin? Ich finde
langsam und verschämt heim zum einstigen und ersten Gott, dem Gott der Juden, der jetzt in wahrster
bitterster Not seine Stärke leiht und den Halt schenkt, der so dringend vonnöten. Und dennoch muss
ich es einbekennen, dass ich mich persönlich – mag sein durch ein massloses Gefühl an
Überheblichkeit – nicht so sehr von den Geschehnissen betroffen fühle und eher mein Mitleiden für
Schuschnigg und all die armen Juden empfinde, als für mich selber.

Seltsames Geschehen der Welt: Schuschnigg, dessen antisemitische Gesinnung gewiss nicht in
Zweifel zu ziehen ist, ward von uns Juden mit einer Scheu und Liebe verehrt, als wollten wir ihn den
Erlöser nennen. Ohne dass wir es eigentlich wollten, fügte es sich, dass er den Juden heute näher
steht als manchem alten Österreicher. Die Adeligen des Geistes und der Gesinnung finden zusammen
und kitten ihr Schicksal aneinander, auch wenn sie aus gänzlich anderen Lager kommen.

15. März 1938
Nun ist der vierte Festtag angebrochen und noch immer wird gefeiert und gejubelt, so dass ich langsam
glaube, es sei ehrlich und auch das österreichische Volk sei von den Psychosen ergriffen worden. Die
Juden aber sind ratlos, wohin sie sich wenden sollen und ich weiss es nicht besser als all die anderen
die voll Verzweiflung sind.

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                             20

Harry Kranner Fiss - Zeuge der
Novemberpogrome in Wien
Tagebuchaufzeichnungen über Gewalt, Willkür und Verfolgung
                                                                                         24.4.2018

Harry Kranner Fiss wird am 15. April 1926 als Harry Kranner in Wien geboren.
Er beginnt sein Tagebuch am 4. November 1938. Ursprünglich hat er vor, in
dem Buch seine geplante Auswanderung zu dokumentieren, doch rasch
werden seine Aufzeichnungen zu einem Zeugnis der Novemberpogrome.
Seine Berichte zeigen wie die darauffolgenden Ereignisse seinen Alltag
beeinflussen. Das Tagebuch schildert die privaten Anstrengungen und
Probleme, die seine Familie erdulden muss, bis es ihnen endlich gelingt,
Österreich zu verlassen.

In der "Kristallnacht" wird seine Wohnung von Truppen durchsucht, sein
Stiefvater Emil Fichmann (der sich nach seiner Immigration in die USA in
Fiss umbenennt) muss den Bürgersteig vor seinem Wohnhaus schrubben,
                                                                               Der erste Heimaturlaub
während sein Onkel Artur Singer festgenommen und mehrere Monate im             als amerikanischer Soldat
Konzentrationslager Dachau inhaftiert wird.                                    - Harry Kranner Fiss
                                                                               (mittig) mit seiner Mutter
                                                                               (rechts) und seinem Stiefvater
Die Familie von Harry Fiss erreicht im August 1939 die USA und lässt sich      (links) am 15. März 1945.
                                                                               Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/
in New York City nieder. Im August 1944 meldet sich Harry Fiss freiwillig zum  de/ (Leo Baeck Institute
Dienst in der US Army. Nachdem er das grundlegende Training als                New York | Berlin - Harry
                                                                               Kranner Fiss Collection
Flugzeugmechaniker durchlaufen hat, wird er auf Grund seiner                   AR 25595 (http://www.lbi.
Sprachkenntnisse in Deutsch und Französisch zur Nachrichtenabteilung           org/digibaeck/results/?qtype=
                                                                               pid&term=2526589))
transferiert. Sein Schiff erreicht Europa unmittelbar nach dem 8. Mai 1945,
dem Tag der Befreiung, und Harry Fiss wird ein Mitglied der alliierten
Besatzungsmächte in Deutschland. Dort wird er als Übersetzer für die Nürnberger Prozesse zugeteilt
und zum Leiter der Dokumentation des amerikanischen Anklägers ernannt.

Nach seiner ehrenhaften Entlassung aus dem aktiven Dienst im Juli 1946, studiert Harry Fiss an der
New York University mit dem Hauptfach Englisch, das er 1949 abschließt. Obwohl er als
Nachrichtenjournalist in Hollywood, Kalifornien, Arbeit findet, wird sein berufliches Vorankommen durch
seinen Akzent behindert. Nochmals kehrt Harry Fiss an die New York University zurück und besucht
nun Graduiertenkurse in Psychologie. Drei Jahre später wird er im Doktorandenprogramm der
Psychologen angenommen. Im Jahre 1963 beginnt Harry Fiss mit George Klein im Bereich der
Traumforschung zusammenzuarbeiten. Sie erhalten staatliche Förderung zur Einrichtung eines der
ersten experimentellen Schlaflabore. Ihre Forschungen führen zu der Entdeckung, dass das Träumen
nicht nur während der REM-Schlafphase (Abkürzung für "Rapid Eye Movement") stattfindet. In den
1960er Jahren wird Harry Fiss Leiter des "Clinical Psychology Training Program" am Albert Einstein
College of Medicine und nimmt eine Professur an der Long Island University an. In den 1970er Jahren
entschließen sich Harry Fiss und seine Familie dazu, New York zu verlassen. Er findet eine Anstellung
bei der University of Connecticut's School of Medicine, wo er Leiter der Psychologie-Abteilung und
leitender Psychologe in der Abteilung für Psychiatrie wird. Nach seiner Pensionierung im Alter von 66

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: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                               21

Jahren arbeitet er in seiner Privatpraxis weiter und unterrichtet Psychologie-Studenten im
Aufbaustudium an der University of Hartford. 1990 reist er nach Wien um eine Vortragsreihe zum
Thema Schlaf und Träumen durchzuführen und auch Vorträge über seine Erlebnisse in den 1930er
Jahren zu halten. Nach längerer Krankheit stirbt Harry Fiss‘ erste Frau Gerda im Jahre 2001. Er heiratet
Sari Max-Siss im November 2002. 2003 ist er in Wien der Hauptredner anläßlich des 50. Jahrestags
der Entdeckung des REM-Schlafs. Harry Fiss stirbt am 2. Mai 2009.

Historischer Hintergrund: Novemberpogrome
Bilder brennender Synagogen, zersplitterter Schaufensterscheiben, verwüsteter Privathaushalte und
ihrer misshandelten Bewohner sind bis heute zum Sinnbild der Zerstörung des einstmals blühenden
deutsch-jüdischen Lebens geworden. In der Nacht vom 9. zum 10. November erreicht die orchestrierte
Gewalt gegen Juden in Deutschland und Österreich bis dahin ungekannte Ausmaße. Mit ungehemmter
Brutalität zerschlagen Mitglieder der Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS)
Schaufensterscheiben von Geschäften, dringen gewaltsam in Privatwohnungen von Juden ein und
traktieren auf offener Straße jene, die sie als "jüdisch" identifizieren. Die von staatlicher Seite initiierten
Ausschreitungen werden als "spontaner Volkszorn" inszeniert, weshalb die Angehörigen der SA und
SS auch aufgefordert werden, ihre Taten in zivil zu begehen. Im Gegensatz zu den Boykottaktionen
von 1933 erfolgt keine bildliche Dokumentation zu Propagandazwecken. Vielmehr sollen die Taten als
vermeintlich unmittelbare "Vergeltungsmaßnahme" für das Attentat auf den an der deutschen Botschaft
in Paris tätigen Legationssekretär Ernst vom Rath erfolgen.

Am 7. November hat Herschel Grynszpan auf den Botschaftsangehörigen geschossen. Der in Paris
lebende 17-jährige Herschel Grynszpan hat wenige Tage zuvor erfahren, dass auch seine Eltern von
der "Polenaktion" betroffen sind, in der 17.000 im Deutschen Reich lebende Juden mit polnischer
Staatsangehörigkeit nach Polen abgeschoben werden. Sein ursprüngliches Ziel ist wohl der deutsche
Botschafter in Paris. Stattdessen trifft er Ernst vom Rath, der am 9. November 1938 stirbt. Die
Meldungen über das Attentat erreichen die deutsche Öffentlichkeit zwar erst am 8. November 1938,
doch bereits am Vortag finden die ersten Ausschreitungen unter der Regie der SA und SS statt. Ein
schon lang herbeigewünschter Anlass für die Inszenierung des Volkszorns.

Ihren Höhepunkt erreichen die Pogrome in Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938.
Juden und Jüdinnen in Österreich bekommen die Auswirkungen erst später, aber dafür in voller
Vehemenz zu spüren. Dort setzen die organisierten Schikanen und Gewaltexzesse erst am 10.
November 1938 ein.

Bildergalerie: Ausschreitungen 1938 gegen Juden in Deutschland und
Österreich
Die Bilanz ist verheerend: Zwischen dem 7. und 13. November fallen die Hälfte aller Synagogen
Verwüstungen und Brandanschlägen zum Opfer, knapp 7.500 Geschäfte werden binnen weniger
Stunden demoliert und knapp 30.000 Juden und Jüdinnen werden in den nachfolgenden Tagen
festgenommen und in Gefängnisse oder Konzentrationslager gebracht. Davon sind vor allem junge
und wohlhabende Männer betroffen, die in "Schutzhaft" genommen werden, um sie zur raschen
Emigration und Überlassung ihrer Besitztümer zu zwingen. Alleine bis zum Morgen des 10. Novembers
1938 sind 91 Tote zu beklagen. Doch die Zahl der Opfer der euphemistisch als "Kristallnacht"
bezeichneten Gewaltexzesse liegt weitaus höher, mehr als 1.300 Personen sterben infolge der
Novemberpogrome durch Gewalt, unmenschliche Haftbedingungen oder Suizid.

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Transkript Tagebuchauszug
Tagebuch Harry Kranner Fiss AR 25595 BOX 1 FOLDER 12 S. 10-16
                                                                                       24.4.2018

Mittwoch, den 9. XI. 38
Heute hatte ich ausnahmsweise keine Französischstunde. Es ist nämlich heute Feiertag, und das
heißt für uns, daß man nicht auf die Straße gehen soll. Stattdessen habe ich diesen Samstag Stunde.

Donnerstag, den 10.
Heute begann der Tag ja fein! In aller Früh wurde ich um ½ 8h durch großes Sturmgeläut geweckt. 3
große Männer traten ein. Sie bestanden darauf, meinen Vater zu sprechen, der ja schließlich bald
kam. Dann kramten sie in unserem Kasten herum, unter dem Einwand, daß sie nach Waffen suchten:
Also kurz mit einem Worte, eine Hausdurchsuchung. Da wir immer eine friedliche Partei waren, regten
wir uns, speziell Mutti, darüber sehr auf. Wir hätten uns aber in ruhigeren Zeiten noch mehr aufgeregt.
Jetzt sind wir schon leidlich daran gewöhnt. Natürlich konnten sie nichts finden, da wir nichts hatten,
und gingen bald. Aber ich muß sagen, daß sie sich sehr korrekt benommen haben, nunmal in diesen
Tagen der deutsche Gesandte in Paris von einem Juden ermordet wurde. Aber wenn man glaubt, daß
damit Schluß ist, so ist man am Holzweg, Eine Stunde oder 2 wurde Onkel Arthur verhaftet! Wie das
enden wird, weiß ich nicht. Nur eines weiß ich, daß wir ungeheures Glück gehabt haben. Aber schließlich
weiß ich nicht, ob mit der Hausdurchsuchung Schluß ist. Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken!
Mutti hat geweint und ich bin gerade schon lebensüberdrüßig. Bitte, das ist kein Witz. Der Leser wird
es auch nie mehr glauben können. Gehe heute den ganzen Tag, wahrscheinlich auch morgen und
übermorgen, nicht auf die Straße. Es ist einfach furchtbar. Gestern schmissen Burschen, als ich mit
Großmutter einkaufen ging, uns Steine nach, so etwas erlebe ich ja täglich fünfmal. Das soll ich auch
schreiben. Ich bin furchtbar traurig, weiß nicht, was morgen sein wird, und habe die Hoffnung, jemals
auswandern zu können, schon aufgegeben. Aber das ganze war nur der Anfang. Alle J. [uden] Wiens
wurden in Wohnungen eingesperrt, weil die Gefängnisse voll waren. Großmutti und Großpapa wurden
in ihre Wohnung und noch 1 Partei eingesperrt. Erste ist ganz fertig. Onkel Egon, überhaupt die ganze
junge Römerfamilie und die ganzen Parteien des Hauses – 14 Personen, wurden in ihre Zimmer
eingesperrt und die Schlüssel abgezogen. Am ärgsten machte Familie Singer mit. Herta kam ganz
verweint zu uns ins Bureau. Sie erzählte, daß ihr Vater eingesperrt wurde. Sie wurden aus ihrer
Wohnung einfach hinausgeschmissen und konnten nur mit Müh und Not ein wenig Geld mitnehmen.
Es ist mir unmöglich alles zu berichten. Papa entging durch einen Zufall noch ein 2. Mal der
Gefangenschaft. Er kam nämlich nur 3 Min später, als die Gestapo kam, um alle Kursmitglieder, die
sich im Bureau befanden auch den Hans gefangenzunehmen. Da F.[rau] Singer obdachlos ist, schläft
sie heute bei uns, auch vielleicht Onkel Arthur, da Tante Hella inzwischen sich erkundigt hat, und man
ihr gesagt hatte, er werde in 3h frei sein. Aber man weiß ja heute überhaupt nichts mehr. Das Telephon
rasselt ununterbrochen. Ich fiel heute für kurzen in Ohnmacht, und als man die Wohnung von F.[rau]
Singer versiegelt hatte, bekam Herta einen Schreikrampf! Während ich nun dieses Schauermärchen
schreib‘ kommt plötzlich im Radio die Verlautbarung, daß alle Gefangenen losgelassen werden und
die Wohnungen zurückgeben werden. Wir werden ja morgen sehen, was sein wird. Ich bin ganz fertig,
aber noch mehr Tante Hella. Deswegen überlasse ich ihr für diese Nacht mein Bett und schlafe mit
Herta auf der Erde – Juchu! Man sieht, daß ich noch nicht den Humor verloren habe. Weil ich gerade
beim Humor bin, so möchte ich sagen, daß heute mitten in dem Wirrwarr die lang ersehnten Bücher

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aus Paris kamen. Jetzt werde ich endlich, bis sich alles wieder gelegt haben wird, nach einem Lehrplan
lernen und ich hoffe, daß auch einmal mein Visum kommen wird. Es ist schon Abend – Gott sei dank! –
Nun in diesen Tagen erlebte ich mehr, als in 5 Jahren. Lege mich jetzt nieder, und hoffe, daß Onkel
Arthur heute noch zurückkommen wird. So endeten die Vergeltungsmaßnahen. Oder war es vielleicht
nur der Anfang?

Freitag, den 11. XI /38
Gestern Abend kam Hans noch zurück. Er wurde sehr freudig empfangen und zeigte besonders gegen
mich eine besondere Freundlichkeit. Ja! Das Schicksal macht die Menschen weich! Von Onkel Arthur
ist leider noch nichts zu hören. Tante Hella rennt sich den ganzen Tag die Füße aus. Nicht einmal die
Wohnungsschlüssel hat sie noch bekommen. Wir sind in einer verzweifelten Lage.

Samstag, den 12./38
Von Onkel Arthur ist noch nichts zu hören. Wir haben furchtbare Angst um ihn. Zumal am Abend noch
die Nachricht kam, daß alle Gefangenen zur Westbahn fuhren. Das heißt in der jetzigen Zeit, daß sie
ins Konzentrationslager nach Dachau, oder nach Mauthausen, wo man ziemlich leicht zu Grunde
gehen kann, kommen. Man kann sich die Aufregung Tante Hellas vorstellen. Sie fuhr rasch mit Papa
mit einem Taxi zum Westbahnhof. Dort war es Gott sei dank ruhig. Dann fuhren sie rasch zum Franz-
Joseph-Bahnhof, wo es auch ruhig war. Da sie sich bei der Pramagasse gerade befanden, wo die
Gefängnisse waren, beschlossen sie, dorthin zu schauen. Da bemerkten sie nun allerdings grüne
Heinriche, welche zum Westbahnhof fuhren. Da der Chauffeur sehr nett war, ging er auf die Forderung
Papas, die Autos zu verfolgen, ein. Nach der Erzählung Papas, kann man sich denken, wie aufregend
das war. Vor ihnen fuhr auch ein Auto, welches die Gefangenenautos zu verfolgen schien. Zuletzt
stellte sich heraus, dass der Insasse Tante Irma, eine Schwägerin Tante Hellas, war. Aber die
Gefangenen steigen nicht auf der Westbahn aus sondern in der Kenyongasse, in der Nähe von uns,
wo sie in der Klosterschule einquartiert wurden. Wenn ein alter Mann nicht geschwind genug ausstieg,
schrie man ihm zu und schimpfte über ihn. Es war einfach furchtbar, zuzuschauen. Währen nun Papa
und Tante Hella dort hinschauten, hätte es letzteren fast erwischt. Wir hatten furchtbare Sorge um ihn.
Am Abend gingen wir zur Großmutti, wo eine große Debatte über das Geschäft statt fand, da man es
ihnen zusperrte und ihnen die Schlüssel dafür nahm. Man einigte sich endlich daß man 1
Umschulungskurs veranstalten werde, von der Gestapo bewilligt. Deswegen sollte Papa am nächsten
Tage zur Kultusgemeinde fahren. Nachher hörten wir im Radio die ersten Bußestrafen der Juden.
Vorläufig wurden nur 2 Verordnungen verlautbart: die 1. daß bis Januar alle jüdischen Betriebe aufgelöst
sein müssen. Die 2. war, daß den Juden ein Betrag von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt wird. Brrr!

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                                 24

Gerettet aber einsam - Elizabeth
Melamid
                                                                                                24.4.2018

Identitätsnachweis von Elisabeth Jonas, ausgestellt am 12. Oktober 1945 vom Home Office in Großbritannien. Sieben
Jahre zuvor konnte sie als 17-Jährige mit einem Kindertransport Hamburg verlassen. Ihre Eltern begehen 1939
Selbstmord. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (Leo Baeck Institute New York | Berlin - Elizabeth Melamid Collection AR
25691 (http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=3883838))

Elizabeth Melamids Vater, Julius Jonas wird 1874 in Itzehoe geboren und lebt seit 1898 in Hamburg-
Altona. Er hat ein Jurastudium abgeschlossen und erhält 1902 seine Zulassung beim Amts- und
Landgericht in Altona. Zudem arbeitet er als Notar, gründet eine eigene Kanzlei und ist ehrenamtlicher
Vorstand der deutschen Anwaltskammer. Als er 1920 die 1895 in Hamburg geborene Julie
Oppenheimer heiratet, hat er bereits drei Kinder aus erster Ehe: Annemarie (geb. 1909), Walter (geb.
1910) und Jens Peter (geb. 1914). Zu diesen gesellen sich kurz darauf zwei weitere Töchter: Elisabeth
(geb. 1921) und Margarethe (geb. 1922).

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                            25

Die ersten antisemitischen Gesetze werden bereits kurz nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten erlassen. Dazu gehört auch das
"Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933.
Neben dem Ausschluss politischer Gegner aus dem Staatsdienst richtet es
sich vor allem gegen "Beamte nicht-arischer Abstammung". Auf Grundlage
des Gesetzes können sie entlassen oder zumindest vorzeitig in den
Ruhestand versetzt werden. Lediglich Beamte, die schon vor 1914 ihre
Zulassung erhalten haben, und jene, die im Ersten Weltkrieg ihre Väter oder
Söhne verloren oder selbst gedient haben, sind davon ausgenommen. Im
Zuge dieser Regelungen verliert Julius Jonas seine Position als Notar, ist
aber weiterhin als Rechtsanwalt tätig. Mit Inkrafttreten der "Fünften
Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 27. September 1938 wird ihm
                                                                                 Erste Seite des Reichsg­
auch diese Möglichkeit genommen: Als Jude wird Julius Jonas ab dem 30.           esetzblatts vom 7. April
November 1938 aus der Anwaltschaft ausgeschlossen.                               1933. Zwei Monate nach
                                                                                 der nationalsozialistischen
                                                                                 Machtübernahme dient
Zwischenzeitlich sind bereits seine beiden Söhne emigriert: Walter lebt seit     es als Handhabe zur
                                                                                 Gleichschaltung des
1933 in Großbritannien und Jens Peter hat sich 1934 entschlossen, in ein         öffentlichen Diensts und
Kibbuz nach Palästina zu gehen. Doch die Töchter befinden sich noch in           der Entlassung von Gegnern
                                                                                 des NS-Regimes. Lizenz:
Deutschland, was Julius und Julie Jonas mit wachsender Sorge erfüllt.            cc publicdomain/zero/1.0/
Annemarie hat geheiratet und ist nach Berlin gezogen. Die beiden Jüngsten        deed.de
haben zwar ihre Ausbildung am Bertha-Lyzeum in Othmarschen begonnen,
aber wegen der zunehmenden Anfeindungen die Schule verlassen müssen. Elisabeth besucht
daraufhin eine private Oberrealschule am Mittelweg in Hamburg und eine höhere Handelsschule in
der Schweiz. Die voranschreitende Entrechtung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus
verhindert jedoch Elisabeths ursprüngliches Ziel, an der Hamburger Universität Medizin zu studieren,
so dass sie stattdessen am Schwedischen Institut für Heilgymnastik in Hamburg eine Ausbildung
beginnt. Im November 1938 erhält sie die Ausreisegenehmigung, um Deutschland mit dem vom
Jüdischen Hilfsverein organisierten "Kindertransport" nach London zu verlassen. Am 1. Dezember
1938 folgt ihre Schwester Margarethe. Auch Annemarie gelingt es, mit ihrem Mann und ihrem Kind
nach Peru auszuwandern.

Postkarten von Julie und Julius Jonas an ihre Töchter Elisabeth und Margarethe in England

Das Ehepaar Jonas bemüht sich ebenfalls um die Auswanderung und leitet alle notwendigen Schritte
ein. Sie haben bereits die "Judenabgabe" und "Reichsfluchtsteuer" gezahlt, die
"Unbedenklichkeitsbescheinigung" erhalten und ihre Besitztümer aufgelöst. Als letztes steht der
Verkauf des Hauses in der Walderseestraße 48 an, das Julius Jonas 1912 hatte errichten lassen und
seither mit seiner Familie bewohnt hatte. Am Tag vor der Beurkundung des Hausverkaufs begeht das
Ehepaar gemeinsam Selbstmord. Julius Jonas stirbt bereits am Abend nach der Einnahme des
Schlafmittels am 4. März 1939, Julie Jonas am 6. März 1939. Laut Zeugenaussagen hatten sie sich
die Tabletten "aufgespart" und im Nachtschrank aufbewahrt. Ihren Abschiedsbrief an Elisabeth und
Margarethe beginnen sie erneut mit den Worten: "Meine geliebten geliebten Kinder".[1]

Bis es ihnen verboten wurde, nichtjüdische Angestellte zu beschäftigen, hatte Elli Junge (geb. Sewalski)
dem Ehepaar Jonas als Kindermädchen, Haushälterin und Stütze zur Seite gestanden. Sie ist es nun,
die ihren ehemaligen Schützlingen in England die Nachricht vom Tod ihrer Eltern überbringt. Elisabeth
wandert später in die USA aus, wo sie George Melamid heiratet und zwei Töchter bekommt. Sie stirbt
im August 2015.

bpb.de
: Schicksalsjahr 1938 (Erstellt am 17.07.2018)                                                             26

Historischer Hintergrund: Der Kindertransport
Nach Bekanntwerden der Novemberpogrome beschließt die britische Regierung, die
Einreisebestimmungen für Juden zu lockern. Sie erklärt sich bereit, Kinder und Jugendliche bis 17
Jahren aufzunehmen und bietet somit die Voraussetzung für eine der größten und zugleich auch
tragischsten humanitären Unternehmungen der Geschichte: den "Kindertransport". Im Rahmen der
Aktion werden seit Ende November 1938 jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich, dessen
annektierten Gebieten und den von feindlicher Übernahme bedrohten Ländern nach Großbritannien
gebracht. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs finden die Kindertransporte ihr jähes Ende. Bis dahin hat
Großbritannien jedoch schon knapp 10.000 Kinder aufgenommen.

Die von staatlicher Seite vorgegebene Altersbegrenzung verhindert, dass Eltern oder andere
Erwachsene die Kinder auf ihrem Weg begleiteten, so dass sich ältere Geschwister und mitreisende
Jugendliche um die Kleinsten kümmern. Zudem verlangen die Behörden eine Bürgschaft in Höhe von
50 Pfund Sterling pro Kind. Sie wird von Privatpersonen, verschiedenen Hilfsorganisationen und den
jüdischen Gemeinden bereitgestellt. Die Summe soll die Versorgung, Unterbringung und spätere
Rückreise der Kinder sicher stellen, deren Aufnahme unter der Annahme erfolgt, dass sie nach
Beruhigung der Lage wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt und dort in die Obhut ihrer Eltern
übergeben werden können. Bis dahin werden die angekommenen Kinder bei Pflegeeltern, in Heimen
und Sammelunterkünften untergebracht. Angesichts der großen Anzahl eintreffender Kinder ist es
nicht immer möglich, die aufnehmenden Familien vor der Vermittlung eingehend zu prüfen. Einige
finden liebevolle Pflegefamilien, die sich geduldig um die mitunter traumatisierten Kinder bemühen.
Andere haben weniger Glück und werden als billige Arbeitskräfte im Haushalt ausgenutzt. Allen ist
gemeinsam, dass sie sich nur mühsam an die unbekannte Umgebung und fremde Sprache gewöhnen
können.

Dieser kurze Ausschnitt aus einem Universal Newsreel vom Dezember 1938 zeigt deutsch-jüdische Jugendliche bei
ihrer Ankunft im britischen Harwich. (27 Sekunden, ohne Ton) (© Accessed at United States Holocaust Memorial
Museum, courtesy of National Archives & Records Administration) (http://www.bpb.de/mediathek/264837/1938-
deutsch-juedische-jugendliche-bei-ihrer-ankunft-im-britischen-harwich)

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