Ärzteschwemme versus Ärztemangel in Österreich - Eine Analyse der medialen Öffentlichkeit der vergangenen 20 Jahre
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ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE NEUE WEGE Ärzteschwemme versus Ärztemangel in Österreich © apops - Fotolia.com Eine Analyse der medialen Öffentlichkeit der vergangenen 20 Jahre Im Auftrag des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger wurde von APA-DeFacto eine objektive quantitative Präsenzanalyse erarbeitet, welche die medial geführten Diskurse der Themen Ärzteschwemme und Ärzte- mangel in Österreich zwischen 1. Jänner 1995 und 14. Dezember 2014 abbildet. Als zugrundeliegendes Mediensample wurden alle österreichischen Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Magazine aus dem Bestand der Datenbanken von APA- DeFacto herangezogen. Die Präsenzanalyse basiert auf einer Recherche des Begriffspaares Ärzteschwemme und Ärztemangel (inkl. Wortkombinationen, Synonyme und signifikanter Verknüpfungen). Die damit einhergehenden Akteure wurden anhand automatischer Suchläufe herausgearbeitet und fünf vorweg definierten Akteursgruppen zugeordnet: Hauptverband inkl. aller Träger- organisationen, Ärztekammern in Österreich, politische Akteure, Medizin- Universitäten sowie Patientenvertretungen. Über diese definierte Präsenzerhebung hinaus wurden Co-Occurrence-Personenakteure bzw. Geodaten der medialen Berichterstattung erhoben. Abgerundet wird die quantitative Präsenzanalyse durch eine Einbettung der Diskurse in medial transportierte Politikfelder und Sachthemen. „Die Damen und Herren Studenten [sollten] unbe- öffentliche Medizin-Universität in Linz schaffen. Es dingt vor einem Medizin-Studium gewarnt [wer- „besteht dringender Handlungsbedarf“. den]“, meint ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Ra- Im Auftrag des Hauptverbandes der österreichi- singer am 16.9.1998 in der Kronen Zeitung. Er se- schen Sozialversicherungsträger wurde von APA- Mag. Edith Maria he darin eine „gute Idee“, die bereits „vor zehn Jah- DeFacto eine objektive quantitative Präsenz- Rehberger ren passend gewesen wäre“. Knapp 15 Jahre später analyse erarbeitet. Ziel der Untersuchung ist es, die ist Politikwissenschaftlerin attestiert Peter Niedermoser, Präsident der Ärzte- printmedial geführten Diskurse der Themen und Medienanalystin der kammer für Oberösterreich, im Neuen Volksblatt Ärzteschwemme bzw. Ärztemangel im Zeitraum APA-DeFacto Datenbank & Contentmanagement vom 4.4.2012: „Fachärzte fehlen, Turnusstellen von 1995 bis 2014 im Vergleich aufzurollen. Der GmbH. sind nicht besetzt.“ Abhilfe könnte nur eine vierte Fachbeitrag soll anhand von Themenkarrieren, 5/2015 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 215
NEUE WEGE ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE Präsenzspitzen, regionalen Verteilungen der Be- richterstattung sowie ausgewählten Zitaten eine 1.1 Jahrtausendwende: Einordnung der Diskurse in Politikfelder ermögli- Am Beginn des Untersuchungszeitraums baut sich Bildungspolitik im Fokus chen. Anhand einer chronologischen Aufarbeitung die Debatte zum Thema Ärzteschwemme langsam, der beiden Themen ist weiters eine Identifizierung aber kontinuierlich auf. Ab 1997 zeigen sich in der der Bruchlinien und Kontinuitäten der Diskurse österreichischen Medienlandschaft erste markante möglich. Durch die Analyse der zentralen Bericht- Ausschläge in der Berichterstattung: Ärztekam- erstatter wird zudem die geografische Verteilung mern und medizinische Universitäten warnen vor der medialen Berichterstattung erkennbar. Schließ- einem bevorstehenden Ärzteüberschuss und for- lich bilden die Ergebnisse die involvierten Akteure dern, mittels Quotenregelung die Anzahl der Stu- und deren Positionierung ab, geben Hinweise dierenden einzudämmen. Wolfgang Schütz, Dekan auf den potenziellen Emotionalisierungsgrad der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, der einzelnen Themenstränge und zeigen die Ver- spricht z. B. von einer möglichen Studieneingangs- änderungen der medialen Diskurse am Zeitstrahl phase. Die Österreichische Ärztekammer geht in auf. diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter und fordert eine „Anpassung der Ausbildungsplät- ze an den prognostizierten Ärztebedarf“ (Die Pres- se, 27.5.1997). 1 Chronologie des Diskurses Ausgehend von Deutschland findet seit den 1980er Im selben Jahr lässt eine Studie des Österreichi- zum Thema Ärzteschwemme Jahren das Phänomen Ärzteschwemme Eingang in schen Bundesinstituts für Gesundheitswesen die mediale Öffentlichkeit. Während das Thema im (ÖBIG), welche vor 20.000 arbeitslosen Ärzten bis Nachbarland bereits intensiv diskutiert wird und 2010 warnt, den seit 15 Jahren regelmäßig wieder- u. a. die Beschränkung von Studienplätzen an Me- holten Wunsch der Stadt Salzburg nach einer eige- dizin-Universitäten einen vieldiskutierten Lösungs- nen medizinischen Fakultät „platzen“. SPÖ-Ge- ansatz darstellt, bleibt die Debatte in dieser Intensi- sundheitssprecher Walter Guggenbichler warnt da- Die Debatte beginnt. tät in Österreich aus. Erst rund ein Jahrzehnt später bei vor der Errichtung einer zusätzlichen Medizin- findet das Schlagwort Ärzteschwemme auch in der Fakultät und den damit einhergehenden Anreizen österreichischen Medienlandschaft seinen Nieder- für weitere Studierende (vgl. Kurier, 15.12.1997). schlag. Der Zeithorizont ist dabei deutlich auszu- Ab 1998 steigt die mediale Präsenz von ÖVP-Ge- machen: Von Mitte der 1990er Jahre bis zum Höhe- sundheitssprecher Erwin Rasinger, einem der wich- punkt der Debatte im Jahr 2001 verdreifacht sich tigsten Kommunikatoren zum Thema Ärzte- der mediale Output zu diesem Thema. Nach 2001 schwemme, erkennbar an. Gemeinsam mit Vertre- flaut die Diskussion medial merkbar ab und erlebt tern der Ärztekammern wird er zu einem der zen- erst Mitte der 2000er Jahre in Zusammenhang mit tralen Player in den späten 1990er und 2000er Jah- einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Zu- ren hinsichtlich der Regulierung des Medizinstudi- gangsregelungen an österreichischen Universitäten ums. nochmals kleinere Präsenzausschläge. Zu Beginn Im Vorfeld des Superwahljahres 1999 zeichnen sich der 2010er Jahre zeigen sich noch einzelne Rand- im österreichischen Politikbetrieb Umbrüche und erwähnungen zu diesem Thema, die aber im Veränderungen ab, die bis dahin etablierte Politik- Rahmen der bis dahin entbrannten Ärztemangel- landschaft beginnt sich zu transformieren. 1999 Debatte zu verorten sind. wird nicht nur der österreichische Nationalrat neu Gesamt gesehen stellen die Ärztekammern mit gewählt, sondern auch die Vertretung der Ärzte- einem Anteil von rund 34 % den wichtigsten Ak- schaft. So warnt der Präsident der Wiener Ärzte- teur in der Berichterstattung zum Thema Ärzte- kammer, Walter Dorner, im September 1999 – kurz schwemme dar. Politische Akteure besetzen das vor der Nationalratswahl – vor dem Beginn eines Thema zu 31 % und dominieren damit gemeinsam Medizinstudiums: „Wir wollen niemanden vom mit den Kammern zu knapp zwei Drittel den Dis- Studium abhalten, müssen aber auf die geringen Be- kurs. rufsaussichten aufmerksam machen. […] wir war- Der Hauptverband mit allen Trägerorganisationen nen seit zehn Jahren vor einer Medizinerschwem- folgt auf Rang drei und nimmt einen Anteil von me“ (Die Presse, 16.9.1999). Manuel Kerzner, BA 22 % ein. Während die Medizin-Universitäten Im Rahmen dessen stellt Dorner erstmals eine Kam- ist Politikwissenschaftler noch 12 % an der Gesamtberichterstattung zum pagne vor, in der potenzielle Studierende vor dem und Medienanalyst der Thema Ärzteschwemme abdecken (vor allem bis Beginn eines Arztstudiums gewarnt werden sollen. APA-DeFacto Datenbank ins Jahr 2007), sind Patientenvertretungen über die Die mediale Berichterstattung dazu findet im Früh- & Contentmanagement gesamten 20 Jahre nur marginal am Diskurs betei- jahr 2000 ihren Höhepunkt: „Die Mediziner- GmbH. ligt (ca. 1 %). schwemme macht Ärztekammer und Stadtschulrat 216 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 5/2015
ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE NEUE WEGE Übersicht „Ärzteschwemme“ inkl. Akteure Kopfzerbrechen: Nun startet eine Info-Kampagne. zählige vergeudete Steuermilliarden und keines- […] ‚Die Situation ist nicht lustig‘, erklärt Walter wegs eine Verbesserung der medizinischen Versor- Dorner, Präsident der Wiener Ärztekammer. Mit ei- gung, erklärte Kammerpräsident Otto Pjeta [...], und ner Informationskampagne – Kostenpunkt 1,5 Mil- stellte fest: ‚Das ist ein zynischer Luxus. Man muss lionen Schilling – wollen Kammer und Stadtschul- nun endlich der laufenden Illusionszerstörung der rat in Maturaklassen darstellen, was es bedeutet, Jugend ein Ende setzen‘“ (Kärntner Tageszeitung, sich fürs Medizinstudium zu entscheiden“ (Die 25.1.2001). Presse, 28.4.2000). Abseits des von ÖVP und FPÖ sowie den Ärzte- Unter der schwarz-blauen Regierung Schüssel I kammern forcierten bildungspolitischen Themas Regulierung als Lösung? werden die Pläne zur Regulierung des Medizinstu- „Studierendenzahlen“ knüpft am Ende der 1990er diums konkret. FPÖ-Gesundheitsstaatssekretär Jahre ein zweiter, medial schwächer ausgeprägter Reinhart Waneck, der quantitativ wichtigste Kom- Themenstrang an das Thema Ärzteschwemme in munikator im Diskurs, fordert einerseits gemeinsam Österreich an: die Vergabe von Kassenverträgen. mit Ärztekammerpräsident Otto Pjeta die Einfüh- ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger ist aber- rung von Zugangsbeschränkungen zum Medizin- mals einer der zentralen Kommunikatoren in der studium und warnt gleichzeitig mit Nachdruck vor Debatte. Den Hauptkritikpunkt stellt dabei die einer drohenden Ärztearbeitslosigkeit (vgl. Neue quantitative Beschränkung der Kassenverträge und Kärntner Tageszeitung, 24.1.2001). Untermauert die damit einhergehende lange Wartezeit von Jung- wird der Argumentationsstrang durch eine erneute medizinern auf die zu vergebenden Kassenplanstel- Studie des ÖBIG, welche ein teils dramatisches Bild len dar. Unterstützt wird Erwin Rasinger in seiner von der zu erwartenden Ärzteschwemme zeichnet: Forderung u. a. von Wiens Ärztekammerpräsident ÖBIG-Chefin Michaela Moritz spricht sogar von ei- Walter Dorner, der die Chancen wartender Ärzte auf ner „beginnenden Verelendung einzelner Bereiche Verträge als „schlecht“ einstuft. Nicht zuletzt wer- der Mediziner“ und dem Entstehen eines „ärztlichen den in diesem Zusammenhang die Kosten von Proletariats“ (Salzburger Nachrichten, 9.10.2000). Gruppenpraxen bzw. die Sparpolitik der Kranken- Im Folgejahr setzt sich das Regulierungsthema fort: kassen medial thematisiert. „Gesundheitsstaatssekretär Reinhart Waneck (FP), Im Jahr 2001 finden sich erstmals vermehrt Stim- Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Otto men in der Berichterstattung, welche die Ärzte- Pjeta, sowie die Chefin des Bundesinstituts für Ge- schwemme anzweifeln. Die Kronen Zeitung OÖ sundheitswesen, Michaela Moritz, schlagen Alarm: startet im Spätsommer eine Aktion, die die Leser- Tritt keine Verringerung der Zahl der jährlichen Me- schaft dazu auffordert, ihre Erfahrungen in puncto dizin-Promovenden ein, wird es bis zum Jahr 2020 „ewiges Warten auf Arzt-Termine“ bzw. „überfüllte in Österreich ein Überangebot von rund 9.500 fer- Wartezimmer“ zu schildern: „Von wegen Ärzte- tig ausgebildeten Ärzten geben. […] Für die Allge- schwemme! Im Großraum Lambach haben frus- meinheit bedeute ein Überangebot an Ärzten un- trierte Mitbürger die Nase voll und eine Unter- 5/2015 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 217
NEUE WEGE ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE schriftenliste initiiert: Binnen kurzer Zeit wurde sie tekammerpräsident Reiner Brettenthaler (Kurier, von nicht weniger als 3.617 Leuten unterschrieben. 13.7.2005). Die Bundesregierung hält zu dieser Zeit Alle fordern dringend eine Augenarztpraxis, weil medial noch stark dagegen, Gesundheitsministerin sie die Wartezeiten bis zu einem halben Jahr satt ha- Maria Rauch-Kallat zerstreut die Bedenken der ben“ (Kronen Zeitung, 18.09.2001). Ärztekammern und meint, es bestehe „kein Grund zur Sorge“, die Ärztekammern würden „maßlos überziehen“ (Neues Volksblatt, 13.7.2005). Den- Während sich die Berichterstattung in den Jahren noch reagiert die Bundesregierung mit einer 1.2 Der Wendepunkt: 2005/2006 2002 bis 2004 zusehends beruhigt, kann in den Jah- Beschränkung der Studienplätze in insgesamt acht ren 2005 und 2006 von einem Wendepunkt in der Fächern, darunter Human- und Zahnmedizin. Debatte gesprochen werden. Im Jänner 2005 fordert Anfang 2006 präsentiert Bildungsministerin Elisa- Ärztekammerpräsident Reiner Brettenthaler nach beth Gehrer eine Lösung gegen den Medizineran- wie vor vehement die Beschränkung des Medizin- sturm aus Deutschland: Mittels Quotenregelungen studiums, wenngleich sich v. a. an den Medizin- soll gewährleistet werden, dass 75 % der Anfänger- Universitäten Unmut über ein aufkommendes plätze an österreichische Studierende vergeben Nachwuchsproblem breitzumachen beginnt. Bret- werden. tenthaler dazu wörtlich: „Jetzt werden zu viele aus- Der Begriff Ärzteschwemme wird ab 2005/2006 gebildet, deswegen fahren Kollegen jahrelang Taxi nur noch überwiegend in Zusammenhang mit einem und vergessen, was sie gelernt haben. Diese Planlo- bevorstehenden Ärztemangel thematisiert. Einzig sigkeit ist zynisch“ (Die Presse, 22.1.2005). das ÖBIG veröffentlicht Mitte 2006 noch eine Stu- Nahezu zeitgleich nimmt auf regionaler Ebene die mit der Conclusio: „Österreich bildet wesentlich allmählich das Thema Ärztemangel im Vergleich mehr Ärzte aus, als im heimischen Gesundheits- zum Thema Ärzteschwemme überhand: Ausge- system gebraucht werden“ (Salzburger Nachrich- hend von Oberösterreich konstatieren ÖVP- ten, 24.5.2006). Bezirksfunktionäre einen Fachärztemangel im Aufgrund der Fokussierung der Ärzteschwemme- Raum Vöcklabruck. Mit den OÖ Nachrichten bzw. Debatte auf eine relativ kleine Gruppe von Betrof- Ärzteschwemme: ein der OÖ Rundschau werden im Zuge dessen erst- fenen (Maturanten, Studierende, Jungmediziner) bildungspolitisches mals Medien mit regionalem Schwerpunkt brei- und einer mehrheitlich überregionalen Ausprägung Elitenthema. tenwirksam und meinungsbildend aktiv. Neben der Berichterstattung lässt sich attestieren, dass das Oberösterreich regen sich zudem Stimmen in Thema Ärzteschwemme spätestens am Höhepunkt regionalen Tageszeitungen von weiteren Bezirks- des Diskurses im Jahr 2001 zu einem bildungspoli- funktionären zum Thema Ärztemangel in Spitälern tischen Elitenthema wird. Der überregionale Anteil (Tiroler Tageszeitung, Kleine Zeitung, Salzburger der Berichterstattung liegt bei rund 40 %. Dies ist Nachrichten). darauf zurückzuführen, dass unter den Top-5-Be- Mitte des Jahres, im Juli 2005, kommt es aufgrund richterstattern (Salzburger Nachrichten, Die Presse, eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs über Kronen Zeitung, Kurier, Der Standard) nur eine re- die gemeinschaftswidrigen Zugangsbeschränkun- gionale Tageszeitung zu finden ist und regionale gen an österreichischen Universitäten zu einem me- Mutationen eine untergeordnete Rolle im Diskurs dial attestierten „Ausnahmezustand“ an heimischen einnehmen. Damit einhergehend lässt sich eine auf Hochschulen. Aufgrund der urteilsbedingten Öff- niedrigem Niveau befindliche, homogene Vertei- nung des Hochschulzugangs für Studierende aus lung der einzelnen Bundesländer beobachten: Ein- dem EU-Ausland entwickelt sich in der Voranmel- zig das Bundesland Salzburg bewegt sich, v. a. auf- dungsphase ein veritabler Ansturm deutscher Stu- grund der jahrelang präsenten Forderung nach einer dierender. Die daraufhin abgebrochene Anmel- eigenen medizinischen Fakultät, über der 15%- dungsphase an der Medizinischen Universität Wien Schwelle. Alle weiteren Bundesländer weisen lässt Boulevardmedien u. a. titeln: „Deutsche Stu- durchschnittlich einen Anteil von 6 % an der Ge- denten stürmen die heimischen Universitäten“ samtberichterstattung auf. (News, 14.7.2005). In den analysierten Jahren 1995 bis 2014 werden in Wenngleich die Ärztekammern im Jänner 2005 Summe 284 Beiträge zum Thema Ärzteschwemme noch von „zynischer Planlosigkeit“ hinsichtlich der verzeichnet. Im Vergleich zum Ärztemangel lässt Medizinerschwemme sprechen, wird nun aufgrund sich dabei ein quantitativ erhebliches Ungleichge- der neuen Tatsachen erstmals deutlich ein potenziell wicht ablesen: Mit 3.697 Beiträgen ergibt sich bevorstehender Ärztemangel thematisiert. „Wenn ein unverhältnismäßig größerer Anteil am Gesamt- wir künftig überwiegend Deutsche ausbilden und diskurs. 93 % der Gesamtberichterstattung behan- diese nach dem Studium nach Deutschland gehen, deln den Mangel an Ärzten in Österreich, wo- haben wir in sechs Jahren zu wenige Ärzte“, so Ärz- bei der Fokus eindeutig auf den letzten vier Jahren 218 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 5/2015
ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE NEUE WEGE des Untersuchungszeitraums liegt. Allein im Jahr 2014 werden dazu 896 Beiträge bzw. knapp ein Viertel der gesamten Präsenz verzeichnet. 2 Chronologie des Diskurses Das bis 2006 unterschwellig transportierte Thema zum Thema Ärztemangel Ärztemangel ist aufgrund einer Europäisierung der Thematik ab Mitte der 2000er Jahre medial präsent © WavebreakmediaMicro - Fotolia.com und wird in weiterer Folge ab 2011 durch eine Re- gionalisierung der Berichterstattung geprägt. Im Unterschied zur Ärzteschwemme-Thematik, welche in erster Linie von den Ärztekammern ge- tragen wird, dominieren die Debatte zum Thema Ärztemangel zu 40 % politische Akteure. In rund je- dem zehnten Beitrag zum Thema Ärztemangel fin- sabeth Gehrer dazu: „Mit der Quote ist der Medizi- det z. B. der oberösterreichische Landeshauptmann ner-Nachwuchs gesichert“ (Kleine Zeitung, Josef Pühringer Eingang in die Berichterstattung, 14.2.2006). Die Bundesregierung wähnt sich mit womit er den wichtigsten Kommunikator des Dis- der sogenannten „Safeguard-Regelung“ auf der kurses darstellt. Zudem finden sich unter den Top- rechtlich sicheren Seite. 10-Personenakteuren neben LH Pühringer noch Anders sieht dies die EU-Kommission: Im Jänner fünf weitere Landes- bzw. Bundespolitiker. 2007 strengt sie erneut ein Vertragsverletzungsver- Die Ärztekammern stellen mit einem Anteil von fahren gegen Österreich an, welches durch eine sei- rund 27 % den zweitwichtigsten Akteur zum Thema tenstarke, studiengestützte Argumentationsschrift dar. Die Medizin-Universitäten werden in rund von der österreichischen Bundesregierung Mitte des 18 % der Beiträge thematisiert und nehmen somit Jahres beantwortet wird. Wissenschaftsminister Jo- im Vergleich zur Ärzteschwemme einen höheren hannes Hahn argumentiert dahingehend, dass eine Politik-Akteure als Stellenwert in der Berichterstattung ein. Der Haupt- akute „Gefährdung unseres Gesundheitssystems bei führende Kommunikatoren. verband mit allen Trägerorganisationen folgt auf einer Freigabe des Uni-Zugangs“ bestünde, die Rang vier mit einem Anteil von 14 %. Patienten- Quotenregelung deshalb „notwendig, korrekt und vertretungen besetzen erneut eine untergeordnete richtig“ sei (Salzburger Nachrichten, 26.5.2007). Rolle im Ärztemangel-Diskurs. Diese Aussagen basieren auf der Annahme eines be- vorstehenden Ärztemangels, der ausschließlich durch eine Quotierung des universitären Zugangs eingedämmt werden kann. Kanzler Alfred Gusen- 2.1 Mitte der 2000er: Während das Thema Ärzteschwemme hauptsäch- bauer übernimmt den Argumentationsgang und tritt Europäisierung der Thematik lich in einem rein österreichischen Rahmen medial in Verhandlungen mit EU-Kommissionspräsident thematisiert wird, stellt sich das Thema Ärzteman- Barroso, um das eingeleitete Strafverfahren abzu- gel als ein Problem europäischen Umfangs dar. wenden. Im Oktober 2007 kündigt die EU-Kom- Dementsprechend ändern sich auch die involvierten mission schließlich an, das Strafverletzungsverfah- Akteure bzw. auch deren Argumentationsstil. Die ren für fünf Jahre (bis 2012) auszusetzen. Voraus- Debatte findet in der Mitte der 2000er Jahre mehr- setzung für diesen Aufschub ist ein regelmäßiger heitlich auf anderen politischen Ebenen statt, als Nachweis eines Ärztemangels in Österreich. dies noch beim Medizinerüberschuss der Fall war. Der wiederholte Beleg eines potenziellen Mangels Die erste Präsenzspitze im Ärztemangel-Diskurs ist an Ärzten wird somit ab 2007 zur notwendigen Vor- in den Jahren 2005 und 2006 erkennbar. Wie bereits raussetzung, um längerfristig eine Mediziner-Quote erläutert, geraten die österreichischen Universitäten auf EU-Ebene rechtfertigen zu können. Damit ein- aufgrund des EuGH-Urteils in einen „Ausnahmezu- her geht eine Institutionalisierung der Thematik, die stand“. Neue, vermeintlich gemeinschaftsrechts- für alle weiteren Bundesregierungen – bis heute – konforme Zugangsregelungen kommen ins Ge- aufrecht ist. In den Jahren 2008 und 2010 flacht die spräch. First come – first serve, Numerus clausus, Thematik quantitativ etwas ab, um ab 2011 förmlich Studieneingangsphasen, Herkunftsprinzip und wei- zu „explodieren“. In dieser Phase findet die regio- tere Konzepte werden parlamentarisch und medial nale Verortung der Berichterstattung mehrheitlich in intensiv debattiert und führen im Jahr 2006 zur Ein- Westösterreich, sprich Oberösterreich, Salzburg, Ti- führung einer Quotenregelung an Medizin-Univer- rol und Vorarlberg, statt, was in weiterer Folge als sitäten. Bildungs- und Wissenschaftsministerin Eli- Indikator für die 2010er Jahre zu verstehen ist. Die 5/2015 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 219
NEUE WEGE ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE Übersicht „Ärztemangel“ inkl. Akteure Salzburger Volkszeitung etwa meint am 19.4.2008: Pühringer eine von SP-Gesundheitslandesrätin Sil- „Immer mehr heimische Ärzte wandern nach via Stöger beauftragte Studie, die einen drohenden Deutschland ab. Im Vorjahr gingen rund 350 öster- Fachärztemangel in Oberösterreich belegt. „Wenn reichische Mediziner ins Nachbarland, heuer sollen nicht umgehend wirksame Gegenmaßnahmen ge- es noch mehr werden. Und der Bedarf in dem an troffen werden, wird sich die medizinische Versor- Ärztemangel leidenden Nachbarstaat ist längst nicht gung der Bevölkerung spätestens in 10 bis 15 Jah- Medizin-Universität Linz: gedeckt.“ Der Verweis auf Deutschland scheint be- ren deutlich verschlechtern“, so Stöger (Kronen Absage oder Umsetzung? rechtigt und wichtig, da eine zeitliche Verschiebung Zeitung, 9.1.2009). Die Warnung geht mit der For- bereits bei der Thematik Ärzteschwemme zu attes- derung nach einer eigenen Ausbildungsstätte in tieren war. Im überregionalen Medium medianet ist Oberösterreich einher und untermauert deren Dring- dazu bereits am 11.4.2008 zu lesen gewesen: „Vor lichkeit. Unmittelbar nach Präsentation dieser Stu- allem in ländlichen Regionen und den neuen Bun- die erteilt Wissenschaftsminister Hahn einer Medi- desländern herrsche enormer Bedarf. Derzeit gebe zin-Universität in Linz eine vorläufige Absage und es rund 16.800 ausländische Ärzte in Deutschland, sorgt damit für Empörung bei Ärztekammer und […] die meisten davon kommen aus Russland, Landespolitik. Für Silvia Stöger ist Hahns Absage Griechenland und Österreich. Gesucht werden so- „inakzeptabel und kurzsichtig“, auch „Grüne wohl Assistenzärzte zur Facharztausbildung als (‚Hahns Argumente sind unlogisch‘), FPÖ (‚eine auch Oberärzte und leitende Ärzte.“ Die Verlage- richtige Ohrfeige‘) und BZÖ (‚zentralistische Ab- rung der Berichterstattung nach Westen wird auch gehobenheit‘) sparen nicht mit Kritik. Der gemein- durch die vermehrte Kommunikation von Peter Nie- same Tenor: Wenn nicht umgehend die Weichen für dermoser, dem Präsidenten der oberösterreichischen eine Medizin-Uni in Linz gestellt würden, drohe in Ärztekammer, deutlich, der im September 2008 den kommenden vier bis fünf Jahren ein akuter konstatiert: „Es droht in zehn bis zwölf Jahren ein Ärztemangel“ (Österreich, 24.1.2009). Ärztemangel in Oberösterreich“ (OÖ Nachrichten, Die quantitative Medienpräsenz zum Thema Ärzte- 24.9.2008). Niedermoser sieht in diesem Zusam- mangel verläuft zu Ende der 2000er Jahre auf kon- menhang die Attraktivierung der Arbeitsplätze für stantem, überschaubarem Niveau: Unter anderem Jungärzte bzw. die Erhöhung des Studienangebots wiederholt sich die stetige Forderung nach einer für angehende Mediziner als Voraussetzung, um die Medizin-Hochschule in Linz, es werden weitere Gesundheitsversorgung im Land Oberösterreich zu Gründe für die Abwanderung (wie z. B. Wegfall der sichern. Als Lösungsansatz knüpft Niedermoser an Hausapotheken, Landflucht) thematisiert sowie die den bereits 2002 formulierten Gedanken von LH seit 2007 aufrechte Quotenregelung debattiert. Die Josef Pühringer an, der eine eigene Medizin-Uni- bis dato erhobenen Präsenzen stehen vor dem Jahr versität in Linz vorsieht. „Es gibt nur positive Ar- 2011 in keiner Relation zu den Entwicklungen der gumente für eine Medizin-Uni in Oberösterreich“, Folgejahre. Das Thema Ärztemangel wird ab 2011 so Peter Niedermoser (OÖ Rundschau, 21.12.2008). in einem davor nicht erkennbaren Ausmaß virulent: Zu Beginn des Jahres 2009 präsentiert LH Josef In Zahlen ausgedrückt ergeben sich zwischen An- 220 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 5/2015
ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE NEUE WEGE fang 2011 und Ende 2014 mehr als zwei Drittel der verbandes der Sozialversicherungsträger, Hans Jörg Gesamtberichterstattung der vergangenen 20 Jahre Schelling, betreibt die Ärztekammer bezüglich zum Thema Ärztemangel. der Gesundheitsreform „Fundamentalopposition“ (Vorarlberger Nachrichten, 19.6.2012). Als Antwort auf die Kritik der Ärztekammer legt Schelling der Ärzteschaft einen 10-Punkte-Katalog mit Forderun- 2.2 2011 bis 2014: Regionalisierung und Die letzten vier analysierten Jahre in der medialen gen vor – zentraler Punkt dabei: die Ärztekammer Emotionalisierung der Thematik Debatte rund um das Thema Ärztemangel konzen- solle Jungärzte bei ihrer Niederlassung im ländli- trieren sich im Wesentlichen auf zwei zentrale Poli- chen Raum unterstützen. „Angesichts des von der tikfelder: Bildungspolitik und Gesundheitspolitik. Ärztekammer herbeigeredeten Ärztemangels [sei Medial beinhaltet die bildungspolitische Debatte gerade dieser Punkt] ein besonderes Anliegen“, so hauptsächlich die Themen Quotenregelung und Me- Schelling. Dazu weiter: Von einem Mangel könne dizin-Universität Linz, wobei hervorzuheben ist, überdies „keine Rede sein“ (Wiener Zeitung, dass die Uni-Thematik der stärkste Präsenztreiber 23.11.2012). Mit den ersten Maßnahmen der Ende im gesamten Untersuchungszeitraum ist. Die ge- 2012 beschlossenen Gesundheitsreform bricht die Ärztemangel: Beitrags- sundheitspolitische Dimension des Diskurses um- direkte mediale Konfrontation ab. In den Folgejah- menge explodiert. fasst einerseits die österreichische Gesundheitsre- ren bleibt das Thema Gesundheitsreform zwar Teil form und andererseits, quantitativ weit dominanter, des Diskurses, wird aber nahezu ausschließlich in drohende Versorgungsengpässe im Gesundheits- Zusammenhang mit den attestierten Versorgungs- system. engpässen thematisiert. Im Jahr 2011 setzen sich Wissenschaftsministerin Die mehrheitlich in Westösterreich geführte Debat- Beatrix Karl und Bundeskanzler Werner Faymann te zum Thema Versorgungsengpässe beginnt bereits auf EU-Ebene für eine Verlängerung der Quotenre- 2011 virulenter zu werden. So wird z. B. in Vorarl- gelung bzw. für ein weiteres Aussetzen des Ver- berg die Abwanderung heimischer Mediziner als tragsverletzungsverfahrens gegen Österreich ein. Folge einer klaffenden Gehaltsschere zwischen Die Argumentation der Bundesregierung baut dar- österreichischen und Schweizer bzw. süddeutschen auf auf, dass „man erst 2015 ausreichend Zahlen- Ärzten dargestellt. „In Süddeutschland liegt das mo- material zur Verfügung habe, um einen drohenden natliche Einkommen eines Spitalsarztes um ein Medizinermangel nachweisen [zu können]“ (Wie- Drittel über dem seiner Vorarlberger Kollegen. Die ner Zeitung, 8.10.2011). Karlheinz Töchterle, Karls Schweizer Krankenhäuser greifen noch tiefer in die Nachfolger im Wissenschaftsministerium, kann Taschen und zahlen um das Doppelte mehr“ (Vor- rund ein Jahr später bekannt geben, dass das Ver- arlberger Nachrichten, 2.3.2012). tragsverletzungsverfahren gegen Österreich für wei- In Tirol ist die Diskussion um den Landärztemangel tere vier Jahre ausgesetzt und die Quotenregelung präsent: In den Tiroler Bezirksblättern vom im Medizinstudium bis 2016 verlängert wird. Da- 21.3.2012 spricht der Präsident der Ärztekammer von lässt sich ableiten, dass im Jahr 2016 entweder für Tirol, Artur Wechselberger, über die Notwen- ein weiteres Aussetzen des Vertragsverletzungsver- digkeit von Hausapotheken für das Überleben von fahrens eintritt oder alternative Maßnahmen in der Tiroler Landärzten – nicht nur in entlegenen Tälern, Regelung des Hochschulzugangs getroffen werden sondern auch in Tourismusgebieten und im Raum müssen. Innsbruck komme es bereits zu Engpässen. Mit der im Jahr 2012 vereinbarten Gesundheitsre- In Oberösterreich werden 2011 v. a. in Innviertler form eröffnet sich eine präsenzstarke gesundheits- Spitälern fehlende Turnusarztstellen beklagt: „Frü- politische Dimension der Ärztemangel-Debatte. Die her gab es acht bis zehn Ärzte, die sich um eine Stel- Österreichische Ärztekammer sieht in der Umset- le beworben haben, heute sind es einer oder maxi- zung der Gesundheitsreform eine Gefährdung der mal zwei“ (OÖ Nachrichten, 9.12.2011). Besonders medizinischen Versorgung. Laut Ärztekammer stellt im ländlichen Raum wird die Qualität der ärztlichen die geplante Gesundheitsreform nichts weiter als Versorgung öffentlich in Frage gestellt. 2012 sollen ein massives Sparpaket dar, es drohen Zentralisie- erstmals bereits 30 Turnusärzte an oberösterreichi- rung, Verstaatlichung und rein ökonomische Leis- schen Spitälern fehlen. Peter Niedermoser attestiert tungskürzungen – eine Verschärfung des Ärzte- dazu im Standard vom 13.2.2013: „In Oberöster- mangels mit einhergehenden Versorgungsengpässen reich mangelt es derzeit vor allem an Turnusärzten. sei die logische Konsequenz. Mit einem Protest- Dadurch werden uns im Jahr 2020 zwischen 180 konvent der Österreichischen Ärztekammer gegen und 200 Fachärzte fehlen.“ Als Hauptgründe des die geplante Gesundheitsreform beginnt ein media- ärztlichen Nachwuchsproblems werden hauptsäch- ler Schlagabtausch zwischen Ärztekammer und lich folgende Punkte angeführt: Durch die Arbeit- Hauptverband. Laut dem Vorsitzenden des Haupt- nehmerfreizügigkeit eröffnet sich die Möglichkeit 5/2015 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 221
NEUE WEGE ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE der Abwanderung ins europäische Ausland, unat- rie“ und „Panikmache“ rund um den Begriff Ärzte- traktive Arbeitsbedingungen in Österreich (z. B. mangel: „Wir haben kein Mengenproblem, sondern Turnusärzteausbildung, Ärztegehälter, Arbeitszei- ein Strukturproblem“ (Kronen Zeitung, 17.4.2014). ten) forcieren die Abwanderung noch zusehends Der Vorstandsvorsitzende des Hauptverbandes, Pe- und eine Überalterung der bestehenden Ärzteschaft ter McDonald, stellt dazu in einem Presse-Interview sowie limitierte Studienplätze an österreichischen vom 23.10.2014 klar, dass „Österreich [...] eine der Hochschulen beschränken den Nachwuchs. „Ärzte- höchsten Ärztedichten weltweit [hat]“. kammer-Chef Peter Niedermoser wundert sich nicht Hinsichtlich der jahrelang attestierten Bedrohung über den zunehmenden Ärztemangel und sieht vor der Versorgungssicherheit befindet sich der Diskurs allem ‚schlechte Arbeitsbedingungen‘ von Ärzten nun erstmals auf einer für die breite Leserschaft und Turnusärzten als Hauptursache des Problems. erkennbaren, emotionalisierenden Ebene. Im Ver- Lange Dienstzeiten, der Stressfaktor Bürokratie und gleich zur Ärzteschwemme-Debatte, welche sich schlechte Ausbildung würden viele abschrecken“ auf eine relativ kleine Gruppe von Betroffenen be- (Kronen Zeitung, 9.10.2013). schränkt, betrifft das Thema Ärztemangel unver- Auch in den weiteren Bundesländern West- und hältnismäßig viele Adressaten, nämlich alle Patien- Südösterreichs regt sich Unmut über den vermeint- tinnen und Patienten. Als Ausweg aus der von den Pühringer: Wir haben lichen Ärztemangel: So versucht z. B. die Salzbur- Ärztekammern sowie Bezirks- und Landespolitik ein Recht nicht ger Gemeinde Großarl mittels eines „Marsches nach bescheinigten Bedrohungslage für das Gesundheits- übergangen zu werden. Wien“ einen Jungmediziner nach Salzburg zu system erscheint nun seit den frühen 2010er Jahren „locken“ (vgl. Kurier, 12.11.2014). Drastisch for- v. a. in Oberösterreich die Ausbildung von zusätzli- muliert dies der Präsident der Kärntner Ärztekam- chen Ärzten als Ultima Ratio der Debatte: die Me- mer, Josef Huber, der die gesundheitliche Versor- dizin-Universität in Linz. gung der Kärntner Bevölkerung bedroht sieht. Er LH Josef Pühringer und der Präsident der Ärzte- spricht von einer „dramatisch schlechten“ Ausbil- kammer für Oberösterreich, Peter Niedermoser, dungssituation, einem Missbrauch der Turnusärzte engagieren sich hierbei gemeinsam für die Errich- als „System-Erhalter“ und „unzumutbaren Perspek- tung einer vierten öffentlichen Ausbildungsstätte für tiven“ für Jungärzte (vgl. Kärntner Tageszeitung, Medizin und erreichen mit diesem Thema spätes- 30.3.2013). Hinsichtlich der wiederkehrenden tens ab 2011 eine breite Öffentlichkeit in Ober- Wortwahl der Ärztekammern warnt die OÖ Ge- österreich. Darüber hinaus macht der oberösterrei- bietskrankenkasse im April 2014 vor einer „Hyste- chische Landeshauptmann auch Druck auf der Bun- desebene und appelliert in diesem Zusammenhang am 7.2.2011 im Neuen Volksblatt: „Die Medizin- Universität ist eines der größten Anliegen der Lan- despolitik, [wir] gehen diesen Weg konsequent wei- ter.“ Die Initiative der OÖ Nachrichten namens „Ärzte für Oberösterreich“ unterstützt die Forde- rung nach einer eigenen Medizin-Fakultät – mehr als 136.000 Unterschriften werden u.a. an Wissen- schaftsminister Karlheinz Töchterle übergeben (vgl. OÖ Nachrichten, 6.4.2012). In Folge spricht Peter Niedermoser davon, dass „es vom Bund gar unver- antwortlich“ wäre, „das in den Startlöchern stehen- de Projekt in Linz nicht zu realisieren“ (Neues Volksblatt, 21.7.2012). Ende 2012 werden mit der Präsentation des soge- nannten „Linzer Modells“ die Pläne für eine Medi- zinische Fakultät in Oberösterreich konkret. Lan- deshauptmann Josef Pühringer, Landeshauptmann- Stv. Josef Ackerl (SP), der Linzer Bürgermeister Franz Dobusch (SP) und der Rektor der Johannes Kepler Universität, Richard Hagelauer, stellen ein von Stadt, Land, Universität und Medizinischer Ge- © Daniel Ernst - Fotolia.com sellschaft ausgearbeitetes Modell zur medizinischen Fakultät vor (vgl. OÖ Nachrichten, 14.12.2012). Pühringer erhebt dabei Anspruch auf die Mediziner- ausbildung im eigenen Bundesland, um die medizi- 222 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 5/2015
ÄRZTESCHWEMME- UND ÄRZTEMANGELDEBATTE NEUE WEGE nische Versorgung der oberösterreichischen Bevöl- kerung gewährleisten zu können: „,Daran führt kein Weg vorbei, wir werden daher im nächsten Jahr den politischen Druck verstärken.‘ Oberösterreich sei der bedeutendste Wirtschaftsstandort, man sei in al- len Bereichen Nettozahler — ‚wir haben daher ein Recht, von der Republik nicht übergangen zu wer- den‘“ (Neues Volksblatt, 15.12.2012). Anfang des Jahres 2013 wird erstmals für eine brei- te Leserschaft die baldige Umsetzung und Finan- zierung des Projektes ersichtlich. Wie die Tiroler Tageszeitung am 24.4.2013 schreibt, sei laut Kanz- ler Werner Faymann die Medizin-Uni „auf guter Schiene“. Auch Karlheinz Töchterle spricht von ei- © Kzenon - Fotolia.com ner baldigen Entscheidung, betont aber, dass für ei- ne finale Entscheidung noch „wesentliche Fragen“ beantwortet werden müssen. Gegenwind erfährt das Projekt zu dieser Zeit nur noch von Gesundheitsex- Mutationen statt. Die zentrale Region stellt dabei perten wie Ernest Pichlbauer, der die Fakultät für ei- das Bundesland Oberösterreich dar: Hier werden al- nen „PR-Gag“ hält und von einem „reinen Prestige- leine ein Viertel aller Beiträge verbucht. Im Ver- objekt“ spricht (vgl. Kurier, 26.4.2013). Auch der gleich zum Thema Ärzteschwemme nimmt der gebürtige Linzer Genetiker Markus Hengstschläger überregionale Anteil um elf Prozentpunkte auf ei- sowie der Rektor der Medizin-Uni Wien Wolfgang nen Anteil von rund 29 % ab. Unter den Top-15-Be- Schütz bezweifeln, dass mehr Studienplätze auto- richterstattern finden sich alleine zehn rein regional matisch das Problem des Ärztemangels lösen wür- verortete Tages- und Wochenzeitungen (v. a. OÖ den. Einer der zentralen Sätze ihres Gastkommen- Nachrichten, Vorarlberger Nachrichten, Neues tars in der Presse vom 28.3.2013 lautet: „Ziel muss Volksblatt, Tiroler Tageszeitung, OÖ Rundschau). sein, Abwanderungen, Berufsniederlegungen und vorzeitige Pensionierungen im Arztberuf zu ver- meiden. Dazu muss auch Oberösterreich beitragen. Abschließend lassen sich in Anbetracht der vorlie- 3 Fazit Aber ein vierter medizinischer Uni-Standort wird genden Untersuchung wesentliche Unterschiede der Reines Prestigeobjekt zum Erreichen dieses Ziels nichts beitragen.“ beiden analysierten medialen Diskurse festmachen. oder "Erleichterung, Medial präsenter sind jedoch, mit einem deutlich So sind beide Stränge in klar auszumachende Poli- Stolz und Freude"? höheren Anteil, die Befürworter und Initiatoren tikfelder einzuordnen: Während sich die Ärzte- der neuen Medizin-Universität. Das lange Warten schwemme-Thematik überwiegend mit bildungspo- auf eine Entscheidung nimmt mit dem 13.8.2013, litischen Aspekten beschäftigt, zeigt sich die Ärzte- dem finalen Beschluss im Ministerrat, ein Ende. mangel-Debatte ausdifferenzierter und multidimen- Das Neue Volksblatt titelt dazu am 14.8.2013 sionaler. Mit dem Wendepunkt der Jahre 2005/2006 mit „Geburtsurkunde für Linzer Med-Fakultät“ kann das Thema Ärzteschwemme medial als abge- und spricht von „Erleichterung, Stolz und Freude“. schlossen bezeichnet werden. Ärztemangel hinge- Im letzten Jahr des analysierten Untersuchungszeit- gen stellt eine in den letzten Jahren kontinuierlich raums fällt der Startschuss für die ersten 60 Studie- wachsende Thematik dar, bei der neben bildungs- renden der Medizin-Universität Linz. LH Josef Püh- und europapolitischen Aspekten auch ganz maß- ringer bekräftigt im Zuge der Gründungsfeier erneut geblich Gesundheitspolitik eine zentrale Rolle in die Notwendigkeit der neu beschlossenen Universi- der Berichterstattung einnimmt. Die Ärzteschwem- tät: „Wir setzen mit der Realisierung der Medizin- me-Problematik kann darüber hinaus als „Eliten- Fakultät den ersten wichtigen Schritt gegen den thema“ identifiziert werden, Ärztemangel hingegen Ärztemangel. Um Oberösterreichs Medizinstuden- betrifft potenziell eine breite Bevölkerungsschicht. tinnen und -studenten auch nach Abschluss ihres Daraus abgeleitet ergibt sich aufgrund der gefühlten Studiums im Bundesland halten zu können, müssen Nähe des Themas Ärztemangel ein deutlich höheres sie daher auch in Oberösterreich studieren können“ Emotionalisierungspotenzial. Dies belegt auch die (Neues Volksblatt, 27.9.2014). starke Regionalisierung der Berichterstattung, wel- Es kann festgehalten werden, dass der Diskurs zum che eine unmittelbare Betroffenheit vor Ort aufzeigt Thema Ärztemangel eine überwiegend regionale und im Vergleich zum Thema Ärzteschwemme die Dimension aufweist. Nahezu 50 % der Berichter- überregionale Medienpräsenz prozentuell und zah- stattung findet in westösterreichischen Medien bzw. lenmäßig bei weitem übersteigt. 5/2015 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 223
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