SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
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«LGBTQ-Angehörige haben nicht nur mit gesellschaftlichen Dis- kriminierungen zu kämpfen. Auch aus rechtlicher Sicht erfahren sie aufgrund ihrer Lebensweise, ihrer Genderidentität oder ihrer sexuellen Orientierung nach wie vor viele Benachteiligungen und Ungleichbehandlungen.» Der Regenbogen aus rechtlicher Sicht k Seite 23
EDITORIAL Unter dem Regenbogen LGBT ist eine Buchstabenfolge, die für unterschiedliche soziale Bewegungen steht. Diese Bewegungen lassen sich nicht klar und ein für alle Mal verorten, sondern sind on the move. Trotzdem werfen wir in der neuesten Ausgabe der Swiss Aids News einen Blick auf und hinter den Regenbogen. Wir gehen den Ursprüngen der LGBT-Bewegung nach und zeigen auf, wie LGBT-Feindlichkeit mit sexueller Gesundheit und HIV zusammen- hängt. Nathan Schocher schreibt über die Politisierung der Buchstaben LGBT und erklärt, wann und von wem das Q und das + Verwendung finden. Anna Rosenwasser spitzt die Schreibfeder für Frauen, die Sex mit Frauen haben, und klärt über Vorurteile auf, die da noch immer herumgeistern. Florian Vock und Florent Jouinot legen den Finger auf die Testkampagne für Männer, die Sex mit Männern haben. Und Marco Schock zeigt auf, dass rechtlich schon einiges, aber noch längst nicht alles gut ist. Zudem berichtet «Ein Tag im Leben von Emmanuel G.» aus dem Leben eines jungen schwulen Mannes aus Uganda und vom Engagement von Queeramnesty. Im Interview mit Erika Volkmar lernen Sie die Organisation Agnodice kennen, die sich für junge trans, nichtbinäre und questioning Menschen einsetzt. Einen guten Frühlingsstart wünscht Brigitta Javurek Redaktion der Aids-Hilfe Schweiz Herausgeberin Aids-Hilfe Schweiz (AHS) Korrektorat Die Orthografen, Zürich Cover © Keystone / Westend61/David Agüero Muñoz LG B T Bildredaktion LGBT – die Politisierung von vier Buchstaben 4 Marilyn Manser Gestaltung Unsichtbarer Sex, unsichtbare Gesundheit 8 Ritz & Häfliger, Basel Effektive Prävention verlangt solidarisches Handeln 10 SAN Nr. 1, 2021 © Aids-Hilfe Schweiz, Zürich Ein Tag im Leben von Emmanuel G. 12 Die SAN erscheinen in folgender Fondation Agnodice: ein Interview mit Erika Volkmar 14 Auflage: D 1750 Expl. / F 710 Expl. L E B E N M I T HI V Korrigendum Im Artikel «Die Krux mit dem Sex» (SAN 4/20) Ich bin die Krone der Schöpfung! 17 wurde der veraltete Begriff transsexuell ver- M E D IZ IN wendet. Wir bedauern dieses Missgeschick und haben die Wortwahl in der PDF-Fassung auf HIV und COVID-19: eine Wechselwirkung mit Folgen 20 unserer Website angepasst. Da uns ein nicht diskriminierender Sprachgebrauch wichtig ist, R EC H T begrüssen wir diesbezügliche Rückmeldungen. Der Regenbogen aus rechtlicher Sicht 23 SA M M EL S U RI U M Buch, Ausstellung 27
LGBT LGBT – die Politisierung von vier Buchstaben Mitte März hat das Europaparlament die Europäische Union zum Freiheitsraum für LGBTIQ-Personen erklärt. Die Erklärung kann als Reaktion auf Resolutionen gegen eine «LGBT-Ideologie» in etwa hundert polnischen Gemeinden gewertet werden. Doch was ist mit LGBTIQ eigentlich gemeint, und gibt es eine solche gemeinsame Ideologie überhaupt? Unser nicht abschliessendes ABC klärt auf und umreisst einige Spannungsfelder. NATHAN SCHOCHER | Aids-Hilfe Schweiz Die LGBT-Bewegung ist eine wacklige Koa- der man sich von «rückständigeren» Ländern lition unterschiedlicher sozialer Bewegun- unterscheide. Das geht bis zur selbstgerech- gen gegen gemeinsame Feinde. Herrschte ten Haltung, LGBT-Feindlichkeit existiere in Anfang der 80er-Jahre noch Zersplitterung westlichen Ländern nicht und sei höchstens vor, bewirkte die Aidskrise eine Solidari- ein Problem zugewanderter Communitys. Auf sierung gegen die erstarkte Homophobie der Gegenseite dienen LGBT-Rechte hingegen in der Gesellschaft. Mit dem vermehrten als Schreckgespenst und Symptom einer de- Einsatz des Begriffs LGBT ab 1988 begann kadenten westlichen Zivilisation, in der Indi- eine weltweite Erfolgsgeschichte; in vielen vidualismus und Hedonismus religiöse und Ländern, so auch der Schweiz, gelang es der Familienwerte ersetzt haben. Diese plakative Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten, Entgegensetzung hat unter anderem negative die rechtliche und gesellschaftliche Akzeptanz Folgen für die HIV-Prävention. Die Kriminali- von LGBTs entscheidend zu verbessern. Das sierung von LGBTs und der Aufklärung über Label vermag es offenbar, Anliegen zu bün- LGBT-Themen erschwert zielgerichtete Infor- deln, die von verschiedenen sexuellen und mation zu und die Behandlung von HIV massiv. geschlechtlichen Minderheiten geteilt werden. Vielleicht ist es deshalb trotzdem sinnvoll, Als Akronym für sexuelle und geschlechtliche dem Begriff LGBT eine gewisse Instabilität und Minderheiten hat LGBT allerdings das Pro- auch Unabgeschlossenheit zu belassen und ihn blem, dass es nicht abschliessend sein kann. weiterzuverwenden. Denn zu starre Identitäts- Um diese Offenheit für verwandte Communi- kategorien gehen am realen Leben vorbei. Und tys zu symbolisieren, wird manchmal auch die wenn Bemühungen um sexuelle Gesundheit Schreibweise LGBT+ verwendet. erfolgreich sein sollen, dann müssen sie im Politisch wird LGBT-Freundlichkeit mittler realen Leben Anwendung finden und umge- weile oft als Differenzierungsmarker einge- setzt werden. setzt. Vertreter westlicher Länder tragen sie oft wie eine Auszeichnung vor sich her, mit Das Label vermag es offenbar, Anliegen zu bündeln, die von verschiedenen sexuellen und geschlechtlichen Min- derheiten geteilt werden. Als Akronym für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten hat LGBT allerdings das Problem, dass es nicht abschliessend sein kann. 4 Swiss Aids News 1 | 2021
A wie asexuell: Asexualität bezeichnet das Fehlen von sexuellem Interesse oder Verlan- gen. Der Begriff stellt für die unter LGBT versammelten sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten eine Herausforderung dar, da er gerade die Abwesenheit von sexuellen Bedürfnissen thematisiert. Er passt aber insofern dazu, indem er ebenfalls eine Abweichung von einer dominierenden gesellschaftlichen Norm bezüglich Sexualität darstellt, nämlich der Norm, überhaupt sexuelle Bedürfnisse zu haben. Damit bringt die Orientierung eine wichtige Kritik an sexuellem Leistungsdruck und heteronormativen Lebensformen, die auch in LGBT-Kreisen präsent sind, zum Ausdruck. B wie bisexuell: Bisexualität beschreibt die sexuelle Anziehung sowohl zu Männern als auch Frauen. Bisexuelle geniessen wenig Sichtbarkeit in der LGBT-Bewegung. Sie sehen sich wechselweise dem Verdacht, eigentlich doch schwul beziehungsweise lesbisch zu sein, und dem Vorwurf der Kollaboration mit dem System ausgesetzt. Neuerdings erwächst der Bisexualität Konkurrenz vom Begriff der Pansexualität. Dieser erweitert das Spektrum der Bi- sexualität auf die Geschlechtsidentitäten zwischen männlich und weiblich. Sowohl Bi- als auch Pansexuelle haben mit dem Vorurteil der sexuellen Unersättlichkeit zu kämpfen, obwohl die Offenheit bezüglich des Geschlechts ja über die Anzahl der gewünschten Partner_innen nichts aussagt. G wie gay: In den 60er-Jahren begann sich bei schwulen Männern im Englischen der Begriff «gay» gegenüber den ungeliebten Begriffen «homosexual» oder «homophile» durchzusetzen. Der Widerstand gegen die Räumung der New Yorker Stonewall-Bar am 27. Juni 1969 gilt als Geburtsstunde der Gay Liberation, der Schwulenbewegung. Hatte vorher die Homophilen-Bewegung mit grosser Zurückhaltung für die Entkriminalisierung schwuler Lebensweisen plädiert, trug das Ereignis Stonewall diesen Kampf auf die Strasse. Als Folge von Stonewall sind rund um die Welt die Pride-Märsche entstanden, an denen die LGBT-Community laut und sichtbar gegen Diskriminierung kämpft. Historisch nehmen an diesen Prides schwule Männer eine dominante Rolle ein, was ihnen innerhalb der LGBT-Community gelegentlich den Vorwurf einträgt, die Pride-Veranstaltungen für schwule Anliegen zu okkupieren. I wie intersexuell: Intersexuelle werden mit sogenannt uneindeutigen Geschlechtsmerk- malen geboren. Sie fordern, dass nicht ohne Einbezug der betroffenen Person kurz nach der Geburt bereits geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen werden. Expo- nent_innen der LGBT-Bewegung führen die Existenz von Intersexualität gern als Beweis dafür an, dass es auf biologischer Ebene mehr als zwei Geschlechter gibt. Als Menschen, die ungefragt mit den Folgen von geschlechtsangleichenden Operationen leben müssen, können Intersexuelle allerdings mit der queeren Lust an der Geschlechtervielfalt nicht so viel anfangen. Im Gegenzug fallen ihre spezifischen Forderungen häufig unter den Tisch. Swiss Aids News 1 | 2021 5
LGBT L wie lesbisch: Gesellschaftlich im Vergleich zu Schwulen weniger ausdrücklich krimi- nalisiert, kämpfen Lesben seit jeher darum, wahr- und ernst genommen zu werden. Auch innerhalb der LGBT-Bewegung wird dieser Kampf um Wahrnehmung immer wieder geführt. Als Motor und Zankapfel zugleich fungiert der Feminismus. Lesben waren und sind ein aktiver Teil der Frauenbewegung. Trotzdem gab es gerade in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren Feministinnen, die sich bewusst von der lesbischen Community abgrenzen wollten. Das Verhältnis zur Schwulenbewegung ist ebenfalls nicht spannungsfrei, profitieren Schwule doch von der sogenannten patriarchalen Dividende; das heisst, sie geniessen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht Privilegien, die Frauen vorenthalten werden. Q wie queer oder questioning: Wird oft dem Akronym LGBT angefügt, um als Sammelbe- griff zu dienen für Identitäten, die von den vorangestellten Buchstaben nicht eingefangen werden. Dies eröffnet aus zwei Gründen ein Spannungsfeld: Erstens hat queer im Eng- lischen seine abwertende Bedeutung im Sinne von «seltsam, suspekt» nicht komplett abgelegt. Zweitens verweist die Zweitbedeutung questioning auf die kritische, aktivistische Bedeutung von queer: etwas «queeren» im Sinn von «eine Ordnung stören», «eine Norm infrage stellen», «eine Regel brechen». Das macht den Begriff zum Störfaktor der Kategorisierung anstelle einer bloss zusätzlichen Kategorie. T wie trans*: Trans – der Gegenbegriff ist cis – benennt die Identifizierung mit einem an- deren als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Anders als die drei Buchstaben LGB steht das T für eine von der Norm abweichende Geschlechtsidentität und nicht für eine sexuelle Orientierung. Ein grosser Erfolg der Trans-Bewegung ist insbesondere der Abbau juristischer und medizinischer Hürden zu geschlechtsangleichenden Massnahmen. In den letzten Jahren haben innerhalb des Trans-Spektrums nichtbinäre Menschen, die sich zwischen oder ausserhalb der Geschlechterbinarität positionieren, an Sichtbarkeit gewonnen. Ihr Kampf um Anerkennung hat es jedoch in einer Welt, die bis ins Detail entlang der Achse männlich/weiblich organisiert ist, schwer. Forderungen sind etwa ein dritter Geschlechtseintrag, die Verwendung neutraler Pronomen und Anredeformen oder institutionelle Anpassungen wie zum Beispiel gen derneutrale Umkleiden, Toiletten etc. Medial werden diese Forderungen oft aufgegriffen, um die LGBT-Bewegung gänzlich als extremistisch zu diskreditieren. Das Thema trans* stellt die Solidarität aber auch innerhalb der LGBT-Bewegung immer wieder auf eine Belastungsprobe: So gibt etwa die Inklusion von Transmännern in schwule und von Transfrauen in lesbische Räume Anlass zu Diskussionen. Politisch wird LGBT-Freundlichkeit mittlerweile oft als Differenzierungsmarker eingesetzt. Vertreter westlicher Länder tragen sie oft wie eine Auszeichnung vor sich her, mit der man sich von «rückständigeren» Ländern unterscheide. Das geht bis zur selbstgerechten Haltung, LGBT-Feindlichkeit existiere in westlichen Ländern nicht und sei höchstens ein Problem zugewanderter Communitys. © David Rosenthal 6 Swiss Aids News 1 | 2021
LGBT Unsichtbarer Sex, unsichtbare Gesundheit © istockphoto / franckreporter Frauen, die Sex mit Frauen haben – kurz: FSF – werden kaum über sexuelle Risiken und Gesundheit informiert. Liegt das am statistisch geringen HIV-Risiko oder an einer falschen Vorstellung von Sex? ANNA ROSENWASSER «Sind Sie sexuell aktiv?» – «Ja.» – «Verhüten von Heterosexualität ausgeht. Damit fällt eine Sie?» – «Nein.» – «Ah, Sie möchten schwanger wichtige Grundlage weg: die Grundlage dafür, werden?» – «Nein.» mit einer Fachperson die eigene sexuelle Ge- Als Frau, die Sex mit Frauen hat, ist es oft ei- sundheit zu thematisieren. ne bizarre Angelegenheit, zu Gynäkolog_innen zu gehen. Meist steht man früher oder später Der Begriff «sexuelle Gesundheit» wird, be- vor der Frage: Korrigiere ich die fachärztliche sonders im queeren Kontext, oftmals mit HIV Annahme, dass ich hetero bin? Oder bleibe ich gleichgesetzt. Dabei umfasst die sexuelle Ge- einfach ungeoutet? sundheit bei Weitem nicht nur sexuell übertrag- Nicht wenige Frauen entscheiden sich für bare Krankheiten: Auch das Wohlbefinden mit Letzteres: Sie haben die Kraft nicht, sich ei- der eigenen Sexualität und ein respektvoller, ner Frauenärztin gegenüber zu outen – erst sicherer Zugang zu sexuellen Beziehungen recht nicht, wenn diese ganz selbstverständlich sind Teil dieses Gesundheitsbereichs. Wer 8 Swiss Aids News 1 | 2021
zwar keine sexuell übertragbare Krankheit sensibilisiert sind, ist eine Frage von Glück hat, aber innerhalb der eigenen Sexualität Ge- oder Pech. walt, Diskriminierung oder Angst erlebt, kann Was HIV angeht, gibt es beim Sex zwischen kaum als gesund eingestuft werden. Dazu ge- Frauen aus der Sicht der Aids-Hilfe Schweiz hört auch eine Form der Diskriminierung, die kein Ansteckungsrisiko. «Es gibt eine Handvoll frauenliebende Frauen besonders oft betrifft: Fälle innert 35 Jahren», so Nathan Schocher. In Unsichtbarkeit. Auch die sexuelle Gesundheit den vergangenen Jahren ist sogar die Safer-Sex- einer Personengruppe kann unsichtbar sein, Regel «kein Blut und Sperma in den Mund» ver- tabuisiert, fetischisiert werden – und das hat schwunden. «Das Risiko, sich dabei mit HIV an- Folgen. zustecken, ist kleiner als beim eindringenden Sex mit Kondom. Wir können nicht vor etwas Als Frau, die Sex mit Frauen hat, ist warnen, was statistisch gesehen sicherer ist als eine Safer-Sex-Praktik», erklärt Schocher. es oft eine bizarre Angelegenheit, zu Anders sei es natürlich, wenn weitere Sexpart- Gynäkolog_innen zu gehen. ner_innen von FSF Risikoverhalten aufwiesen. Hierbei gilt es, die Perspektive HIV-positiver Unsichtbare Gefahren Menschen zu bedenken: Heutzutage sind sie, © Lea Reutimann Chlamydien sind ein gutes Beispiel, um zu illus- wenn sie gut therapiert sind, sexuell nicht trieren, was momentan schiefläuft. «Chlamy- infektiös. Jedoch können Menschen mit HIV dien gehören zu den häufigsten sexuell über- einen schwierigeren Therapieverlauf erleben, tragbaren Krankheiten unter Frauen, die Sex wenn sie sich mit einer sexuell übertragbaren mit Frauen haben», erklärt Camille Beziane. Krankheit anstecken. Es geht also auch darum, Sie leitet eine Organisation, die auch gleich so HIV-positive Menschen vor anderen Krank- Anna Rosenwasser heisst: Les Klamydia’s. Der Französischschwei- heiten als HIV zu schützen. Anna Rosenwasser arbeitet seit 2017 in der Geschäftsleitung der zer Verein setzt sich seit 2008 für die Gesund- heit frauenliebender Frauen ein; im deutsch- Habt ihr Lecktücher? Lesbenorganisation Schweiz (LOS). Die Zürcherin schreibt Kolumnen sprachigen Raum sind Vereine mit diesem Wenn kaum eine Gefahr der HIV-Ansteckung und Buchtexte über queere Se- Fokus selten. «Es ist kein Zufall, dass wir uns besteht und andere sexuell übertragbare xualität und Feminismus, zuletzt für von Chlamydien zu unserem Vereinsnamen Krankheiten nicht thematisiert werden, fehlt «Queer Sex: Whatever the fuck you inspirieren liessen», so Beziane. «Wer Vagina auch die Information darüber, wie FSF sich want» (Print Matters 2020). und Vulva hat und sich Chlamydien einfängt, beim Sex am besten schützen. Weil in der hat häufig keine spürbaren Symptome. Diese queeren Frauenszene kaum Fachpersonen be- Frauen merken also oft nicht, dass sie Chla- kannt sind, sind es nicht selten Sexshop-Arbei- mydien haben. Gleichzeitig gehen Frauen, die terinnen, die Fragen zur sexuellen Gesundheit FSF: Drei Buchstaben, Sex mit Frauen haben, ohnehin oft davon aus, abkriegen. Neben klassischen Fragen werden viele Probleme dass sie sich beim Sex nicht mit Krankheiten ihen dort auffällig oft Fragen gestellt, die Leck- anstecken könnten.» Häufig gingen selbst Gy- tücher betreffen, berichtet beispielsweise der Die Unsichtbarmachung von Sex unter Frauen geschieht auf meh- näkolog_innen davon aus, dass frauenliebende queere Sexshop Untamed.love. reren Ebenen. Zum einen sagt Frauen kaum gefährdet sind, sich mit sexuell Während Kondome in der MSM-Welt gratis die Norm, Sex ohne Penetration übertragbaren Krankheiten anzustecken. So verteilt werden, kostet ein einzelnes Lecktuch durch einen Penis sei kein rich- können sich Chlamydien und weitere sexuell zwei bis drei Franken. Zu kaufen gibt es sie in tiger Sex; dieses Konzept ist übertragbare Krankheiten unter FSF prima manchen Sexshops; Apotheker_innen wissen in allen sexuellen Orientierungen verbreiten. oft nicht, wovon die Kund_innen reden. Die verbreitet, frauenliebende Aids-Hilfe Schweiz sowie das Bundesamt für Frauen eingeschlossen. Zum Queere Community-Angebote, die sich an frau- Gesundheit empfehlen Lecktücher nur bei be- anderen ist die Finanzierung von enliebende Frauen richten, existieren zwar in zahltem Sex. Ansonsten sollen sich FSF, die Informationskampagnen histo- allen drei deutschsprachigen Ländern. Sie wechselnde Partner_innen haben, einfach risch und strukturell bedingt basieren allerdings oft auf unbezahlter Arbeit mindestens einmal pro Jahr testen lassen. Im asymmetrisch. Die Ressourcen und kämpfen mit Ressourcenknappheit, die Gegensatz dazu setzen sich Aktivistinnen wie sind also noch immer rar, finanzi- ihnen die Professionalisierung verunmöglicht. Camille Beziane für die Zugänglichkeit so- ell wie personell. Was bleibt, Offizielle, breiter angelegte Beratungsstellen wie die Normalisierung von Lecktüchern als ist ein Informationsvakuum – hingegen sind ein Glücksspiel. Ob die entspre- Schutzoption ein. und ganz, ganz viele Fragen über Lecktücher. chenden Fachpersonen auf queere Themen Swiss Aids News 1 | 2021 9
LGBT Effektive Prävention verlangt solidarisches Handeln Das HIV-Paradigma hat sich in der Schweiz völlig verändert, aber die Früherkennung bleibt ein wesentliches Element, um die Epidemie zu stoppen. Das gilt insbesondere für die schwule Welt, wo die Virenlast insgesamt hoch ist – hier braucht es auch den gemeinsamen Kraftakt der Community. FLORENT JOUINOT, FLORIAN VOCK | Aids-Hilfe Schweiz Daten der Schweizerischen HIV-Kohortenstu- Gesellschaft in der Finanzierung. Das ist schon die zeigen: Zwischen 2001 und 2015 blieb die lange klar. Zugänglichkeit hat aber noch viele jährliche Zahl von HIV-Neuinfektionen bei weitere (und kompliziertere Aspekte) als den Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), Preis, denn sonst wäre die HIV-Situation in auf einem hohen Niveau stabil. Die Endemie Ländern wie Frankreich oder Spanien schon war in der Schweiz nicht unter Kontrolle. Mit- viel besser. Zugänglichkeit beinhaltet auch hilfe eines mathematischen Modells zeigten Standorte von Teststellen, Öffnungszeiten am Kusejko et al. (2018), wie Testen der wichtigste Abend und am Wochenende, Anonymität und Ansatz gewesen wäre, um die Zahl der Über- Vertrauen, Community-basierte Anbieter statt tragungen zu senken. gewinnorientierte Dienstleister. Warum? MSM, die mit HIV leben, entdecken Die Communitys müssen das Senken dies im Vergleich zu anderen Gruppen relativ der Viruslast als gemeinsame Aufga- früh, aber noch nicht früh genug, um Über- ben begreifen. Es braucht die Solida- tragungsketten zu durchbrechen. Es ist davon rität innerhalb der schwulen Welt. auszugehen, dass die Mehrzahl der Infektionen beim Sex zwischen Männern auf jene zurückzu- Die Communitys müssen das Senken der Vi- führen ist, die sich erst vor Kurzem mit HIV in- ruslast als gemeinsame Aufgaben begreifen. Es fiziert haben (Primoinfektion) und eine extrem braucht die Solidarität innerhalb der schwulen hohe Viruslast aufweisen. Um die Epidemie zu Welt. Sich selbst zu testen, ist nicht nur für die stoppen, ist deshalb – in Kombination mit den eigene Gesundheit gut, sondern auch ein Bei- Solidarisch spenden anderen Strategien (Kondom, PrEP, TasP) – ein trag an ein gemeinsames Ziel: die Community für Jugendliche. verstärkter Einsatz von Tests unerlässlich. von den Viren zu befreien. Diese Form der So- Einfach Twint öffnen, lidarität ist, dank Corona, für viele Menschen Code scannen und HIV-negativen MSM wird ein- bis viermal jähr- wieder verständlicher und präsenter. gewünschten Betrag lich zum Test auf HIV und die wichtigsten ande- senden. ren STI geraten, bei einer HIV-Risikosituation In der Prävention tätige Personen müssen aber unmittelbar (15–20 Tage) nach der Risi- sich mit ihren Zielgruppen solidarisch zeigen. kosituation. Diese Empfehlung ist leicht aus- Solidarische Arbeit begegnet den Menschen gesprochen. Doch damit Präventionsempfeh- auf Augenhöhe und schafft in anwaltschaft- lungen auch gelebt werden können, müssen die lichem Engagement die Bedingungen und Rahmenbedingungen stimmen. Dazu braucht Möglichkeiten zum Test. Anforderungen an es in dreierlei Hinsicht solidarisches Handeln: sexuelles Verhalten zu stellen oder Empfeh- lungen zur Testhäufigkeit auszusprechen, ohne Der HIV/STI-Test nach VCT-Konzept muss ernsthaft die Ressourcen dafür zu erkämpfen, zumindest für jene Menschen komplett kos ist unehrlich. Es ist zwingend nötig, dass die tenlos sein, wo Prävalenzen und Inzidenzen Fachpersonen nicht zögern, in der Öffentlich- es anzeigen – es braucht die Solidarität der keit für «ihre» Community einzustehen. 10 Swiss Aids News 1 | 2021
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LGBT Ein Tag im Leben von Emmanuel G. Der 23-jährige Emmanuel G.* aus Uganda lebt seit mehr als einem Jahr in der Schweiz. Er liebt Fuss- ball, Video-Games, ugandisches Essen, TikTok, R & B, Psychothriller, Musicals und Komödien. Sein Asylverfahren ist seit Januar 2020 hängig. Aufgrund seiner persönlichen Geschichte entschied das Staatsekretariat für Migration SEM, ihn ins erweiterte Verfahren aufzunehmen. Queeramnesty hat sich für Emmanuel eingesetzt und begleitet ihn weiterhin. AMBRA BARONI | Queeramnesty MORGEN Jeden Morgen wache ich um 7 Uhr auf, We- cker brauche ich keinen. Gerne bleibe ich dann noch liegen und spiele eine Weile Videogames auf dem Smartphone. Dann schlafe ich wieder ein. Schlafen, aufwachen, schlafen. Viele Stun- den meines Tages verbringe ich hier auf diese Weise. Unfreiwillig. Videospiele habe ich in meinem Heimatland nie gespielt. Ich begann damit erst, als ich in einem Bundesasylzen- trum in der Westschweiz lebte. Jetzt wohne ich in einem Durchgangszentrum im Kanton Waadt, und diese Spiele sind zur Gewohnheit geworden. Wenn ich dann aufstehe, mache ich mir ein Frühstück aus heisser Milch und Brot, manchmal mit einem Spiegelei. Ich bin kein Kaffeetrinker. Zu Hause bestand meine erste Mahlzeit meist aus Porridge, frittierter Cassava (Maniok), Avocado und Eiern. Als ich kürzlich bei einer Freundin zu Besuch war, bereitete sie mir ein typisches Frühstück mit Cassava Uganda – eines der homo zu. Herrlich! © Ambra Baroni phobsten Länder der Welt TAGSÜBER In Uganda gibt es Politiker, welche die Todesstrafe für Mir ist sehr häufig langweilig. Arbeiten kann Homosexuelle fordern. Als ich nicht und lernen auch nicht, obschon ich Beispiel Reis mit Huhn, Bohnen und Chapati. LGBTI* muss man in Uganda beides sehr gerne tun würde. Ich liebe es, Eine Freundin hat mir die Zubereitung sehr ständig um sein Leben fürch- Neues zu lernen. Hier hingegen fühle ich mich vieler Gerichte beigebracht. Ich habe gelernt, ten und ist Belästigungen, nutzlos. Im Durchgangszentrum habe ich keine Speisen im Backofen zuzubereiten und wie Diskriminierung, Verfolgung Freunde und tausche mich mit niemandem aus. ich sie würzen kann. Im kleinen Ort, wo ich und Gewalt ausgesetzt. Die Angst sitzt mir im Nacken, in der Unter- derzeit lebe, gibt es allerdings keine afrika- Homosexualität wird von vielen kunft plötzlich geoutet und bedroht zu werden. nischen Läden. Ugander_innen als vom Westen Nach dem Mittagessen schaue ich, ob die importierte Krankheit ange- NACHMITTAG Kinder draussen Fussball spielen. Mit den Kin- sehen. Etwa um 15 Uhr esse ich zu Mittag. Ich koche dern Fussball zu spielen ist mir wichtig – mein selbst, aber nur ganz einfache Gerichte. Zum einziges regelmässiges Vergnügen. Wenn die 12 Swiss Aids News 1 | 2021
Kinder nicht spielen, gehe ich zurück auf mein in der Schule zwangsgeoutet. Meine Familie Zimmer. Zum Glück bewohne ich dies allein. erfuhr davon und wollte nichts mehr mit mir zu Am Anfang musste ich das Zimmer mit einem tun haben: Sie stellte mich auf die Strasse. Zum anderen Bewohner teilen. Ich fühlte mich un- Glück fand ich Unterschlupf bei einem Cou- wohl und befürchtete, geoutet und bedroht zu sin. Eine spätere Beziehung zu einem Freund werden. Dann haben sich Focus Refugees von endete in einem Desaster: Als der Vermieter Queeramnesty und Asile LGBT in Genf beim begriff, dass wir schwul waren, schrie er alle Durchgangszentrum dafür eingesetzt, dass ich Nachbarn zusammen, die in Scharen angerannt ein Einzelzimmer erhalte. kamen, Fenster und Türen einschlugen und uns Ich wünsche mir mehr Freunde innerhalb zu prügeln begannen. Dann traf die Polizei ein der Community, denn ich will mich nicht ver- und verhaftete mich. Im Gefängnis wurde ich stecken müssen. In meinem Heimatland hatte regelmässig geschlagen. Ein Freund hat mich ich nur heterosexuelle Freunde, wir sprachen dann gegen Geld aus dem Gefängnis geholt. nie über Homosexualität. Um das Thema aus- Schliesslich schaffte ich es, mein Heimatland zuklammern, sagte ich ihnen immer, ich hätte zu verlassen. Im eigenen Land nicht akzeptiert keine Beziehung. zu sein und um sein Leben fürchten zu müs- sen, gehört für mich zu den schrecklichsten ABEND Erlebnissen. Ich bin damals nur knapp mit dem Ich bin nicht der Typ, der in Clubs geht. Klima- Leben davongekommen. tisierte Lokale sind meiner Gesundheit nicht zuträglich. Zudem trinke ich keinen Alkohol. Ich gehe früh zu Bett, schlafe aber noch lange Nachtrag nicht ein. Vor dem Einschlafen höre ich gerne Emmanuel ist nun bei einer Schweizer Familie meine Lieblingsmusik. Das sind derzeit trau- untergebracht. Er kann sich frei bewegen und rige Lieder. hat neue Freunde gefunden. Er spielt noch im- mer viele Videospiele, aber neu auch Schach RÜCKBLICK und regelmässig mit Freunden Fussball. Was mir in Uganda zugestossen ist, hatte und hat immer noch gravierende Konsequenzen für mein Leben. Als ich 14 Jahre alt war, wurde ich * Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt. GEFLÜCHTETE LGBTI-MENSCHEN Der Praxisleitfaden «Geflüchtete LGBTI-Menschen» soll Asyl- und Migrationsfachpersonen im Umgang mit LGBTI-Asylsuchenden unterstützen – das heisst Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsmerkmale und/oder ihres Geschlechtsausdrucks aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Diese Asylsuchenden sind beson- ders verletzlich und auch in der Schweiz leider noch immer mit Diskriminierung konfron- tiert. Die Broschüre richtet sich aber auch an Mitarbeitende von LGBTI-Organisationen, um die Integration der Geflüchteten in die lokalen LGBTI-Communitys zu erleichtern, sowie an alle Menschen, die sich für dieses Thema interessieren. Diese Broschüre wurde von Asile LGBT in Genf entwickelt und von Queeramnesty für die Deutschschweiz angepasst. Sie vermittelt theoretisches Wissen, um ein besseres Verständnis für LGBTI-Menschen und ihre Situation auf der Flucht zu ermöglichen, und sie enthält praktische Hilfestellungen für konkrete Alltagssituationen. Menschenrechte für Lesben, Schwule, bi*, trans und intergeschlechtliche Personen – weltweit! Queeramnesty Schweiz ist eine ehrenamtliche Gruppe und enga- Die Broschüre kann gedruckt bestellt giert sich zum Themengebiet Menschenrechte, sexuelle Orientierung und geschlechtliche oder gratis heruntergeladen werden: Identität. Sie ist Teil von Amnesty International Schweiz. queeramnesty.ch/praxisleitfaden- gefluechtete-lgbti-menschen/ Swiss Aids News 1 | 2021 13
LGBT «Bei trans Jugendlichen erleben wir oft spektaktuläre Verwandlungen» Die Fondation Agnodice setzt sich seit fast fünfzehn Jahren für eine offene Gesellschaft ein, in der die Variationen der Geschlechtsidentität als Reichtum der menschlichen Vielfalt angesehen werden. Dieses Ressourcenzentrum begleitet und fördert das Wohlbefinden von trans, nichtbinären und questioning Menschen auf vielen Ebenen. Wir haben uns mit der Direktorin, Erika Volkmar, getroffen. INTERVIEW: ANTOINE BAL Erika Volkmar, können Sie uns erklä- Einsatzbereich so gross, dass wir Priori- ren, was Sie dazu bewogen hat, Agno- täten setzen mussten. Vor zwanzig Jahren dice in der Westschweiz zu gründen? gab es keine Ausbildung zu Fragen Agnodice wurde vor etwa fünfzehn der Transidentität, weder auf sozialer, Jahren in Lausanne geboren, als Reaktion pädagogischer noch medizinischer Ebene. auf ein schockierendes Misstrauensklima Deshalb bieten wir Institutionen mass seitens der Fachleute, an die sich trans geschneiderte Schulungen an. Gleich- Personen in ihrem Leben irgendwann zeitig haben wir uns dafür entschieden, einmal wenden mussten. Psychopatholo- ein Netzwerk von kompetenten und gisierende Haltungen, viel Unwissenheit respektvollen Fachpersonen aufzu- «Wir versuchen, in einem Prozess und sogar offen transphober Aktivismus bauen, und zwar nicht nur im Bereich des gemeinsamen Entscheidens führten zu Missbrauch. Für mich per- psychische Gesundheit, sondern auch voranzukommen, von gleich zu sönlich war es ein Schock, als ich mich unter Endokrinolog_innen, Kinderärzt_ gleich, ohne dass jemand Macht nach einer Karriere in der humanitären innen oder spezialisierten, etwa in den ausübt. Einem Prozess der Ent- Arbeit entschied, für mich selbst zu Checkpoints für sexuelle Gesundheit mit psychiatrisierung, insofern als sorgen. Entgegen meinen Erwartungen Trans-Achse tätigen Sozialarbeitenden. jeder Trans-Prozess subjektiv und war es selbst in der Schweiz schwierig, Wir bieten ihnen die Möglichkeit, an zutiefst individuell ist.» Fachpersonen mit einer verantwortungs- der Peer-Supervision teilzunehmen, um vollen und respektvollen Haltung zu ein multidisziplinäres und interaktives finden. Das war äusserst selten. Selbst Betreuungsnetzwerk zu entwickeln, das innerhalb gemeinnütziger Organisationen trans-affirmative Werte teilt. gab es fast nichts Trans-Spezifisches. Wir haben einen langen Weg hinter uns, Was ist ein trans-affirmativer Ansatz? aber ein wirkliches Bewusstsein ist erst Es geht darum, die gelebte Geschlechtser- vor Kurzem entstanden, dank trans oder fahrung eines jeden Menschen zu aner- nichtbinärer Menschen, die in LGBTIQ+- kennen, zu unterstützen und aufzuwer- Vereine investiert haben. Allerdings sind ten. Eine Ethik der Ko-Konstruktion und in der Zivilgesellschaft diskriminierende des Vertrauens, mit Fachleuten, die sich und pathologisierende Vorstellungen gegenüber Patientinnen und Patienten, auch heute noch sehr stark verankert. die ja Fachpersonen für ihre Situation sind, in die Position von Lernenden Was sind Ihre strategischen Ziele, wie versetzen können. Dies ist grundlegend. arbeiten Sie im Feld? Wir versuchen, in einem Prozess des Wir haben einen sehr flexiblen Ansatz. gemeinsamen Entscheidens voranzu- Zu Beginn waren die Bedürfnisse und der kommen, von gleich zu gleich, ohne dass 14 Swiss Aids News 1 | 2021
© Diego Sanchez Dr. Erika Volkmar, Direktorin der Fondation Agnodice. jemand Macht ausübt. Einem Prozess Warum haben Sie sich entschieden, einer Verzögerung der Pubertät durch der Entpsychiatrisierung, insofern als sich auf trans Jugendliche unter Sexualhormonblocker. Dadurch wird jeder Trans-Prozess subjektiv und zutiefst 18 Jahren zu konzentrieren? viel Leid vermieden, da der Beginn der individuell ist. Erstens, weil die Anfragen junger Men- Pubertät um zwei, drei Jahre verschoben schen in vier Jahren um 150 Prozent wird, in denen ein Reflexionsprozess Ist Agnodice auch ein Ort des Aufge- gestiegen sind. Dies ist beachtlich. Wir stattfinden kann. Wir stellen sicher, dass nommenwerdens und des Zuhörens? haben uns entschieden, uns auf sie zu trans Jugendliche in der Lage sind, selbst Wir bieten keine rein klinischen Dienst- konzentrieren, da wir davon ausgehen, zu bestimmen und im Rahmen eines leistungen an, denn unser Ziel ist es nicht, dass trans Erwachsene auch ohne uns einvernehmlichen Klärungsprozesses zu die ausgebildeten Fachkräfte des Netz- den Weg zu anderen, mittlerweile kompe- verstehen, was auf dem Spiel steht, bevor werks zu ersetzen. Unsere Psycholog_in- tenten Strukturen finden dürften. Zudem sie Zugang zu den Hormonen erhalten, nen empfangen, begleiten und beraten ist es eine Frage der Spezialisierung. die irreversible Veränderungen bewirken junge Menschen ebenso wie Familien, In der somatischen Medizin wie in der werden. Dieser Prozess unterscheidet sich Eltern, Kinderärzt_innen, Ärzt_innen Psychiatrie arbeiten Fachpersonen, die stark von dem der Erwachsenen. oder Lehrpersonen, die mit komplexen mit Kindern und Jugendlichen anders Situationen konfrontiert sind. Wir sind arbeiten als mit Erwachsenen. Und nicht Allein im Jahr 2020 haben Sie mehr als ein Ressourcenzentrum, das jungen zuletzt ist es eine klinische Frage. Bis zum 1700 verschiedene Anfragen erhalten Menschen in der gesamten französischs- Alter von zwölf Jahren konzentriert sich und 101 Kinder und Jugendliche aufge- prachigen Schweiz eine Nachbetreuung unser Ansatz vor allem auf die Selbst nommen und unterstützt. Wie erklären ermöglicht. Wir sind hier, um Lösungen identifikation und, wenn nötig, auf die Sie sich diesen Anstieg der Anfragen? zu finden. Wir bieten auch Gesprächs- soziale Transition, womit wir trans Kinder Wir hatten damit gerechnet, denn die Er- gruppen für Jugendliche und Selbsthilfe- enorm entlasten können. Ab dem zwölf- fahrung in anderen Ländern zeigte, dass gruppen für Eltern an. ten Lebensjahr stellt sich die Frage nach sich die Anfragen vervielfachen, sobald Swiss Aids News 1 | 2021 15
LGBT ein spezialisiertes Zentrum eröffnet wird. Geschlecht zugewiesen wurde, wobei Sie haben uns aufgezeigt, worin die Heute zirkulieren wissenschaftliche, Sexarbeitende besonders hohe Risiken Vorteile bestehen, mit der Transition assoziative und mediale Informationen eingehen. Einer der Hauptfaktoren, der und der Unterstützung früh zu be- leichter. Mit den Eltern zu reden, ist ein- diese höhere Prävalenz erklärt, ist, dass ginnen. Was entgegnen Sie zu Ihren fach geworden. Es gibt mehr Plattformen viele trans Frauen eine fortschreitende Kritikern, die finden, es sei zu früh? für den Austausch, insbesondere in den soziale Desintegration durchmachen Wir arbeiten auf einem sensiblen Terrain, sozialen Netzwerken, was sich wiederum (Ablehnung durch die Familie, Vertrauens- im Herzen eines «Cisthems», in dem auf die Bilder und Vorstellungen auf abbruch, Verlust des Arbeitsplatzes, manche Leute es nicht für angemessen gesellschaftlicher Ebene auswirkt. Früher Verlust der Wohnung). In diesem Prozess halten, einem vierjährigen Kind zu haben Betroffene mitunter jahrzehnte- kann Sexarbeit de facto die einzige ein- erlauben, sein soziales Geschlecht zu lang die Zähne zusammengebissen. Sie kommenssichernde Tätigkeit sein. Hier wechseln. Diese Vorurteile ignorieren waren sich ihrer Geschlechtsidentität spricht man von «survival sex». in erster Linie das Leiden von trans manchmal schon sehr früh bewusst, aber Menschen als Kinder und Jugendliche. das Stigma war derart gross, dass ihr «Wir sind ein Ressourcenzentrum, Es gibt sehr frühe Formen der Depres- Trans-Coming-out erst viel später erfolgte, das jungen Menschen in der sion. Nichts tun und hoffen, dass es wenn ihre Situation verzweifelt war und gesamten französischsprachigen vorbeigeht, ist auch eine Form des Tuns. sie aufgrund des psychologischen Trau- Schweiz eine Nachbetreuung Ich möchte daran erinnern, dass 25 bis mas durch das jahrelange Verheimlichen 35 Prozent der jungen trans Menschen ermöglicht. Wir sind hier, um nur noch die Wahl hatten, zu sterben unter 16 Jahren mindestens einen Selbst Lösungen zu finden. Wir bieten oder sozialen Selbstmord zu begehen. mordversuch hinter sich haben, ganz auch Gesprächsgruppen für zu schweigen von Schulabbruch oder Diese grosse Zahl Anfragen von jungen Jugendliche und Selbsthilfegrup- -versagen. Kleine Kinder experimentie- trans Menschen ist also ein gutes Zei- pen für Eltern an.» ren per se mit dem Geschlecht, aber das chen für die Zukunft? macht sie nicht automatisch zu trans Ja, ein sehr gutes. Es lässt mich vermuten, Behandeln Sie mit Jugendlichen Kindern. Unser primärer Indikator ist das dass die späten Coming-outs allmählich speziell die Themen der sexuellen psychische Leiden, seine Persistenz und seltener und die frühen Coming-outs Gesundheit? Intensität. Je weniger Trauma und Leid häufiger werden. Die jungen Menschen, Die neue Generation verschiebt die Sie erfahren, desto wahrscheinlicher ist die sich an uns wenden, standen früher Kampflinien, weil sie die neuen es, dass Sie sich besser fühlen. Aber egal, vor einer extrem schwierigen Pubertät Geschlechts- und Sexualitätsmodelle wie alt Sie sind: Weil Sie leiden, sind Sie und später vor schweren und auch nicht verinnerlicht hat. Für sie ist das Thema noch lange nicht unfähig, über sich selbst unbedingt zufriedenstellenden Opera- trans heute untrennbar mit dem Thema nachzudenken und sich zu mobilisieren, tionen. Wenn wir jedoch in der Familie nichtbinär verbunden. Das Geschlecht um über sich selbst hinauszugehen. oder in der Schule eine frühe Transition gegen gesellschaftliche Verkrustungen zu Deshalb ist die Weiterentwicklung des begleiten, erleben wir oft spektakuläre unterwandern, hat etwas Jubilierendes. Schweizerischen Zivilgesetzbuches hin Verwandlungen! Die Aussichten für die Das sind Dynamiken, die uns viel bringen zur geschlechtlichen Selbstbestimmung soziale, berufliche und emotionale Inte- und die wir zu fördern versuchen, ohne ohne medizinische Kontrolle ein wesent- gration sind wesentlich besser, weil diese «im Namen von» zu sprechen. In der licher Schritt. Selbst wenn sie in ihrem Jugendlichen sich mit ihrem Geschlecht Arbeit mit diesen Jugendlichen scheint ganzen Ausmass noch nicht absehbar ist, wohlerfühlen. alles, was mit der sexuellen Gesundheit ist die neue Periode, an deren Schwelle zu tun hat, enorm wichtig zu sein. Sie wir stehen, faszinierend. Was sind die besonderen Bedürfnisse berichten ziemlich Katastrophales über von trans Menschen beim Thema HIV? das, was im Sexualkundeunterricht noch In diesem Bereich, der sehr stark von immer vermittelt wird. Unsere Arbeit mit binärem und cis Denken geprägt ist, gab Schulen ist daher unerlässlich. Ausser- es keine für trans Menschen geeigneten dem entwickeln wir derzeit ein Pilotpro- Präventionsinstrumente. Wir mussten jekt für einen inklusiven Leitfaden zur kämpfen. Es brauchte Zeit und ein paar sexuellen Gesundheit von und für junge Elektroschocks in Richtung BAG und trans, nichtbinäre oder questioning Men- Aids-Hilfe Schweiz. Alle internationalen schen. Sie wertschätzen eine anatomische Studien zeigen jedoch eine enorm hohe Vielfalt, die ein immenses Puzzle an Prak- HIV-Prävalenz unter trans Personen, tiken, Wünschen und Präventionstechni- denen bei der Geburt das männliche ken eröffnet. Dies ist äusserst positiv! 16 Swiss Aids News 1 | 2021
LEBEN MIT HIV © Christopher Klettermayer Ich bin die Krone der Schöpfung! PHILIPP SPIEGEL «Ich darf alles – ausser der Norm «Man erkennt seine Privilegien erst, nicht entsprechen» wenn sie infrage gestellt werden» Zumindest wurde mir das immer weisgemacht. Seit über zweitausend Jahren wird uns von Nicht direkt von meinen Eltern oder meinen etlichen Religionen eingeprügelt, wie toll und Freunden. Nein, das geschah alles viel subtiler, stark wir Männer, wie moralisch verwerflich war geschickt in alle Gesellschaftsbereiche Schwule sind und welch manipulativer Besitz eingewoben. In Kleinigkeiten, in positive Dis- so eine Frau sein kann. Zudem: Mein europä- kriminierung. Klassischer Wiener Mittelstand, ischer Pass, der mir relativ einfach Reisefreiheit wenige Barrieren oder Steine im Weg, wuchs beschert. Meine Hautfarbe, die mich in weiten ich in einer Welt auf, ohne meine eigene Stel- Teilen der Welt unverdächtig erscheinen lässt, lung zu hinterfragen. Kaum je fand ich mich in mir Türen öffnet und selten eine verschliesst. einer Position, die Zweifel hochkommen liess. Mein Geschlecht, das mir mehr Gehalt, Respekt Und wenn, konnte ich diese einfach ignorieren. und Autorität verschafft. Meine Sexualität, die Das ultimative Privileg! nie infrage gestellt, angezweifelt oder gar gegen mich verwendet wird. Swiss Aids News 1 | 2021 17
LEBEN MIT HIV Als weisser, heterosexueller Europäer geniesst des Lernens, der mit dem ultimativen Klick Mann Privilegien. Unzählige Privilegien, die richtig Fahrt aufnahm: meiner HIV-Infektion. gar nicht alle aufzulisten sind, schwer zu sa- Als HIV in mein Leben trat, schlitterte ich gen, wo sie anfangen und wo sie enden. Aber in einen gesellschaftlichen Konflikt, von dem mir war das alles nie so bewusst. Wenn man ich zuvor nur peripher etwas mitbekommen sich in einer Ausgangslage wie meiner befin- hatte. Bei dem ich immer unwissentlich auf det, nimmt man diese «angeborene» Immunität der schweigenden Seite gestanden hatte. Als ich die ersten Artikel nicht wahr. Warum auch? Plötzlich erhielt ich eine Überdosis an unge- über mein Leben mit HIV ver- Klar, das Verständnis, das Mitgefühl und wöhnlichen Gefühlen und Situationen. Plötzlich öffentlichte, erfuhr ich zum die Solidarität für weniger privilegierte Men- war ich nicht mehr Teil der Krone der Schöp- schen waren immer da. Ich nahm sie immer fung. Ich war anders. Minderwertig. Opfer. Ge- ersten Mal, was es bedeutet, ernst, fühlte mit, unterstützte, wo ich konnte brauchte Ware. Ich erlitt einen Statusverlust. negativ vorverurteilt zu – aber Diskriminierung oder den Entzug von Als ich die ersten Artikel über mein Leben werden, ohne es ignorieren Privilegien nachvollziehen zu können, ist eine mit HIV veröffentlichte, erfuhr ich zum ersten zu können. In den Kommen- komplett andere Geschichte. Mal, was es bedeutet, negativ vorverurteilt zu taren wurde mein sexuelles Pride, Paraden, Kundgebungen, Frauenmär- werden, ohne es ignorieren zu können. In den Verhalten angeprangert. sche, Proteste? Ja, klar soll man das machen, Kommentaren wurde mein sexuelles Verhal- Ich sei pervers. Sexsüchtig. dachte ich mir immer. So ein bisschen mitmar- ten angeprangert. Ich sei pervers. Sexsüchtig. Selber schuld. schieren ist gut, mach ich gern! Aber das war es Selber schuld. Oder sonst was. Diese Kommen- auch schon mit der Solidarität. Daneben hatte tare verärgerten mich. Verunsicherten mich. ich einfach anderes zu tun, in meinem Alltag Nicht nur weil einige davon gehässig waren, beschäftigten mich andere Sorgen. weil viele vor Unwissen trieften. Ich wollte zu- rückschlagen, sie beschimpfen. Aber ich hielt Ich wusste es damals nicht besser. Im konser mich zurück. Hatten sie vielleicht recht? vativen Österreich wächst man ohnehin in ei- Es war das erste Mal, dass ich mich für mei- ner konservativen Blase auf. Obwohl es schon nen Sex schämte. Das erste Mal, dass ich dachte, besser geworden ist, kriecht der Fortschritt ich müsse mich gegenüber mir selber rechtferti- elendig langsam voran. gen – und gegenüber der Gesellschaft. Ich bin so, Selbst in Sachen sexuelle Belästigung habe wie ich bin. Aber wie ich bin, ist unerwünscht. ich, das tolle männliche Geschöpf, Vorteile. Als Zu gross war die Scham, das Gefühl, nicht mir eine Public-Relations-Frau an den Arsch mehr als Teil der Gesellschaft angenommen zu grabschte, war das eine Ehre. Passiert mir ja werden. Wie ein Krimineller, der hilflos seine sonst nie. Was für ein Klischee! Wenn ich mit Unschuld beteuert. Und je mehr ich mich ver- ihr schlafe, bekomme ich den Job? So mit Mitte teidige, desto schuldiger wirke ich. Ich musste zwanzig lässt sich damit als Jungspund sogar versteckt bleiben. prahlen. Weil es eine Ausnahme ist, etwas, was Ich gab meiner Leidenschaft und meinen se- sonst nie vorkommt. Ignoranz kann schon et- xuellen Vorlieben die Schuld, schämte mich für was Wunderschönes sein. sie. Und gab somit meinen Kritikern recht: Ich bin mit meinem Verhalten unverantwortlich Dass Frauen täglich mit so was umgehen müs- gewesen, ich verdiene den gesellschaftlichen sen, dass es ein Alltag ist, wusste ich – aber ich Ausschluss. Das hatte ich nun vom Brechen des war in dieser Angelegenheit ohnmächtig. Was Schweigens – eine Lawine an Vorwürfen und kann ich schon bewegen, auf dass sich etwas die Überzeugung, dass ich selber schuld bin. ändert? So ist die Gesellschaft nun mal, da wer- Auf einmal war ich empfänglicher für die de ich als Einzelner wenig erreichen können ... Ungerechtigkeiten andern gegenüber, auf ein- Erst mit der Zeit sollte ich lernen, dass Schwei- mal war da mehr als nur Mitgefühl. Der tägliche gen eine Form von Zulassen ist. Kampf der anderen war plötzlich nachvollzieh- bar. Das tägliche Sichrechtfertigenmüssen, «Bis es irgendwann geklickt hat» dass man ist, wie man ist. Dass man auf Männer Je älter ich wurde, desto mehr wurden mir diese steht, auf Frauen, auf Anal-, Oral- oder sonstigen Zustände bewusst. Die Ungerechtigkeiten. Die Sex. Dass man «anders» ist. Dass man nicht dem Missstände. Die Konflikte. Und die Macht, et- Normativ entspricht. Und sich dafür schämen was dagegen tun zu können. Ein langsamer Weg soll. 18 Swiss Aids News 1 | 2021
Je mehr ich in die Welt der Menschen mit HIV flössend. Statt die Unwissenheit anzuprangern, eintrat, desto mehr öffnete sich mir eine an- muss man die Leute bei der Hand nehmen und dere Perspektive. Im Austausch mit anderen es ihnen langsam und verständlich erklären. HIV-positiven Menschen erkannte ich aber Bewusstsein entsteht nur häppchenweise. auch eklatante Unterschiede. Der Mann, der Es sind die Alltagssituationen, in denen man wegen seiner Homosexualität von der Fami- Verständnis schafft und zum Nachdenken an- lie verstossen wurde. Die Frau, die sich in der regt. Nachvollziehbare Ereignisse, die einzelne vermeintlich monogamen Ehe beim Ehemann Situationen erklären – und nicht die komple- angesteckt hatte. Schicksale, die doch sehr an- xen patriarchalischen Systeme, die in unserer ders waren als meins. Gesellschaft so tief verankert sind. Zum ersten Mal hörte ich das ohrenbetäu- Ja, das ist mühsam, langwierig und anstren- bende Schweigen anderer heterosexueller gend. Aber wenn ich mit der Moralkeule oder Männer. Ein Schweigen, das so viele andere mit Fingerzeigen aufklären will, fühlen sich Lebensbereiche betrifft. Frauenrechte. Migra- viele Leute angegriffen. tion. Sexuelle Gesundheit und Schwanger- schaftsverhütung. Alles Themen, die einen Die Krone der Schöpfung ist schnell verunsi- möglichen Verlust von Privilegien und Status chert und überfordert. Bei jeder Kritik fühlt sie mit sich ziehen. sich sofort angegriffen und schnappt zurück. Hatte ich wirklich einen Privilegienverlust Ein angelerntes Verhalten, Wut und Angst müs- erlitten? Oder war dieser nur gefühlt? HIV war sen durch Machogehabe überkompensiert wer- zwar ein harter Schnitt, aber ich genoss weiter- den. Die Krone der Schöpfung muss, jetzt erst hin mein Dasein als weisser, heterosexueller recht, ihren Mann stehen, um sich zu verteidi- Mann. Geborgen von Freunden und Familie. gen. Damit sich am Status quo ja nichts ändert. Und solange ich HIV nicht erwähnte, war es In der Defensive greifen die weissen Hete- einfach nicht da. ros zu vereinfachten Antworten auf komplexe Probleme – «Werte», «Moral», «Anstand» – und Ich passe nicht in die Diskriminierungssche- schnappen so nach dem Köder, den Populisten mas der anderen. Ich bin keine Schwuchtel, für sie ausgelegt haben, um sie an der Leine keine Schlampe, kein Ausländer. Weiterhin langsam, aber stetig fester an sich zu binden. stehe ich unter dem Schutzschild des weissen, westeuropäischen Heteros. Mir bleibt dieses Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Privileg. Und es erlaubt mir, eine Entscheidung Jugend, als eine gute Freundin von mir einfach zu treffen: weiterzuleben wie bisher, indem fragte: «Fühlst du dich sicher, nachts, leicht ich HIV kaum thematisiere und mich dem betrunken, allein auf dem Heimweg, und eine Schweigen anschliesse – oder das Schweigen Gestalt geht ein paar Meter hinter dir?» zu brechen. «Ja, klar.» «Eben. Ich nicht.» Philipp Spiegel «Schweigen ist nicht Gold, Da machte es das erste Mal Klick. Ein Häpp- In meinem Leben als Fotograf Schweigen ist der einfache Weg» chen, das ich nachvollziehen konnte. Das mir heisse ich Christopher Kletter Mit Schweigen mache ich mir keine Feinde, mein Privileg zeigte, ohne mich und mein Da- mayer. In meinem Leben als Autor lasse aber die Diskriminierung anderer zu. sein zu werten. Seither wechsle ich bewusst und Künstler heisse ich Philipp Oft frage ich mich: Warum habe ich diese die Strassenseite, wenn ich nachts eine Frau Spiegel – ein Pseudonym, das Immunität, die der weisse Hetero geniesst, nie allein die Strasse entlanggehen sehe. ausschliesslich für meine HIV- zuvor gesehen? Was hätte es vor HIV gebraucht, Der Kampf für Gleichstellung ist ein langer, bezogenen Arbeiten steht und als um mich darauf aufmerksam zu machen? Um einer, der womöglich nie zu Ende sein wird. persönliche Abgrenzung dient. sie nachvollziehen zu können? Ich weiss es Wenn man allerdings bedenkt, dass über Seit 2013 bin ich HIV-positiv, nicht. zweitausend Jahre lang nur die eine Seite seit dem 2. Januar 2014 weiss ich Zahlreiche Kommentare zu meinen Artikeln des Menschseins, die männliche, privilegiert davon, und seit 2017 schreibe zeigen mir, dass Unwissenheit nicht gleich Igno- war, sind wir in rund hundertfünfzig Jahren ich regelmässig über mein Leben ranz ist. Dass Themen wie Privilegien und Rech- Frauenbewegung und knapp vierzig Jahren mit HIV. te komplex und langwierig sind. Vor allem in LGBTQ-Bewegung doch schon verdammt weit einer Zeit, wo man alles sofort wissen will und gekommen. www.philipp-spiegel.com soll. Komplexität ist erdrückend und angstein- www.cklettermayer.com Swiss Aids News 1 | 2021 19
MEDIZIN HIV und COVID-19: Eine Wechselwirkung mit Folgen Gleich wie zu Beginn die HIV-Pandemie hat uns COVID-19 innerhalb kurzer Zeit tief geprägt, hat Verunsicherungen und Ängste ausgelöst und viele Fragen aufgeworfen: Besteht eine Wech- selwirkung zwischen HIV und der Erkrankung an COVID-19? Schützen und wirken HIV-Medi- kamente gegen COVID-19? Und weshalb konnte innerhalb weniger Monate eine hochwirksame Impfung gegen COVID-19 entwickelt werden, während wir drei Jahrzehnte nach Entdeckung von HIV noch immer auf eine Impfung gegen dieses Virus warten? Der vorliegende Artikel beleuchtet diese Fragen und gibt Antworten darauf. DOMINIQUE LAURENT BRAUN Die Wechselwirkung zwischen pelt so hohes Risiko, im Spital an COVID-19 HIV und COVID-19 zu versterben, allerdings in erster Linie bei Schon früh zu Beginn der COVID-19-Pan- Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren wie demie kam die Frage auf, ob Personen mit Übergewicht oder Diabetes. Zudem zeigt sich HIV ein höheres Risiko für einen schweren dieses erhöhte Risiko vor allem bei Personen Verlauf mit COVID-19 haben. Blickt man in mit einer Helferzellzahl unter 200 und in der die Zeiten der Aids-Pandemie zurück, findet Altersgruppe unter fünfzig Jahren. Letztere sich bei Personen mit HIV für die meisten Beobachtung lässt sich mit dem Konzept der viralen Atemwegsinfektionen keine erhöhte früheren biologischen Alterung bei Personen Sterblichkeit oder Krankheitslast. Diese Beo- mit HIV erklären. bachtung führte deshalb zur Annahme, dass Personen mit HIV – zumindest diejenigen, die Fazit: Basierend auf den neusten Studien be- unter einer wirksamen HIV-Therapie stehen steht bei Personen mit HIV wahrscheinlich und deren Helferzellzahl sich im normalen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Ver- Bereich befindet – kein erhöhtes Risiko für lauf der COVID-19-Infektion, wobei dies mehr- eine schwere COVID-Infektion aufweisen. heitlich auf Personen zutrifft, die bereits an Mittlerweile liegen Daten mehrerer Stu- Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, lange dien aus Grossbritannien, den USA und Zeit gegen ihre HIV-Infektion nicht behandelt Südafrika vor, die Personen mit HIV ein- wurden oder eine tiefe Helferzellzahl aufwei- schlossen, von denen die meisten unter sen. Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie einer wirksamen antiretroviralen Therapie SHCS (www.shcs.ch) führt derzeit ebenfalls standen: In diesen Studien zeigt sich für Per- eine Studie zu diesem Thema durch und wird sonen mit HIV, im Vergleich zu einer HIV- Daten liefern, die das Schweizer Gesundheits- negativen Kontrollgruppe, ein ungefähr dop- system besser reflektieren. Schützen HIV-Medikamente Über kein Thema wurde in den letzten Wochen mehr gegen COVID-19? geschrieben, in der Politik gestritten und kochten Vielversprechend hörten sich die Resultate die Emotionen in der Gesellschaft höher als über die einer spanischen Beobachtungsstudie an, die COVID-19-Impfstoffe und deren Verfügbarkeit. rückblickend bei Personen, die als Bestand- teil ihrer HIV-Therapie mit dem Medikament Tenofovir Disoproxil Fumarat (TDF) behan- delt wurden, einen schützenden Effekt vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 nahelegten. Die Autoren führten diesen Effekt auf das im 20 Swiss Aids News 1 | 2021
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