SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit

Die Seite wird erstellt Nikolai-Stefan Krause
 
WEITER LESEN
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
SAN 1|21   SWI SS A I D S N E WS
           UNTER DEM REGENBOGEN
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
«LGBTQ-Angehörige haben nicht nur mit gesellschaftlichen Dis-
kriminierungen zu kämpfen. Auch aus rechtlicher Sicht erfahren
sie aufgrund ihrer Lebensweise, ihrer Genderidentität oder ihrer
­sexuellen Orientierung nach wie vor viele Benachteiligungen
 und Ungleichbehandlungen.»
Der Regenbogen aus rechtlicher Sicht k Seite 23
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
EDITORIAL

                                                Unter dem Regenbogen
                                                LGBT ist eine Buchstabenfolge, die für unterschiedliche soziale Bewegungen
                                                  steht. Diese Bewegungen lassen sich nicht klar und ein für alle Mal verorten,
                                                    sondern sind on the move. Trotzdem werfen wir in der neuesten Ausgabe
                                                      der Swiss Aids News einen Blick auf und hinter den Regenbogen.
                                                        Wir gehen den Ursprüngen der LGBT-Bewegung nach und zeigen auf,
                                                         wie LGBT-Feindlichkeit mit sexueller Gesundheit und HIV zusammen-
                                                         hängt. Nathan Schocher schreibt über die Politisierung der Buchstaben
                                                         LGBT und erklärt, wann und von wem das Q und das + Verwendung
                                                         finden. Anna Rosenwasser spitzt die Schreibfeder für Frauen, die Sex
                                                        mit Frauen haben, und klärt über Vorurteile auf, die da noch immer
                                                       herumgeistern. Florian Vock und Florent Jouinot legen den Finger auf die
                                                      Testkampagne für Männer, die Sex mit Männern haben. Und Marco Schock
                                                   zeigt auf, dass rechtlich schon einiges, aber noch längst nicht alles gut ist.
                                                 Zudem berichtet «Ein Tag im Leben von Emmanuel G.» aus dem Leben eines
                                                jungen schwulen Mannes aus Uganda und vom Engagement von Queeramnesty.
                                                Im Interview mit Erika Volkmar lernen Sie die Organisation Agnodice kennen,
                                                die sich für junge trans, nichtbinäre und questioning Menschen einsetzt.

                                                Einen guten Frühlingsstart wünscht

                                                Brigitta Javurek
                                                Redaktion der Aids-Hilfe Schweiz

Herausgeberin
Aids-Hilfe Schweiz (AHS)
Korrektorat
Die Orthografen, Zürich
Cover
© Keystone / Westend61/David Agüero Muñoz       LG B T
Bildredaktion                                   LGBT – die Politisierung von vier Buchstaben                             4
Marilyn Manser
Gestaltung
                                                Unsichtbarer Sex, unsichtbare Gesundheit                                 8
Ritz & Häfliger, Basel
                                                Effektive Prävention verlangt solidarisches Handeln                     10
SAN Nr. 1, 2021
© Aids-Hilfe Schweiz, Zürich
                                                Ein Tag im Leben von Emmanuel G.                                        12
Die SAN erscheinen in folgender                 Fondation Agnodice: ein Interview mit Erika Volkmar                     14
Auflage: D 1750 Expl. / F 710 Expl.
                                                L E B E N M I T HI V
Korrigendum
Im Artikel «Die Krux mit dem Sex» (SAN 4/20)    Ich bin die Krone der Schöpfung!                                        17
wurde der veraltete Begriff transsexuell ver-
                                                M E D IZ IN
wendet. Wir bedauern dieses Missgeschick und
haben die Wortwahl in der PDF-Fassung auf       HIV und COVID-19: eine Wechselwirkung mit Folgen                       20
unserer Website angepasst. Da uns ein nicht
diskriminierender Sprachgebrauch wichtig ist,   R EC H T
begrüssen wir diesbezügliche Rückmeldungen.
                                                Der Regenbogen aus rechtlicher Sicht                                   23
                                                SA M M EL S U RI U M
                                                Buch, Ausstellung                                                       27
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
LGBT

                   LGBT – die Politisierung
                   von vier Buchstaben
                               Mitte März hat das Europaparlament die Europäische Union zum Freiheitsraum für
                               LGBTIQ-Personen erklärt. Die Erklärung kann als Reaktion auf Resolutionen gegen eine
                               «LGBT-Ideologie» in etwa hundert polnischen Gemeinden gewertet werden. Doch was ist
                               mit LGBTIQ eigentlich gemeint, und gibt es eine solche gemeinsame Ideologie überhaupt?
                               Unser nicht abschliessendes ABC klärt auf und umreisst einige Spannungsfelder.

                                       NATHAN SCHOCHER | Aids-Hilfe Schweiz

                                         Die LGBT-Bewegung ist eine wacklige Koa-          der man sich von «rückständigeren» Ländern
                                           lition unterschiedlicher sozialer Bewegun-      unterscheide. Das geht bis zur selbstgerech-
                                             gen gegen gemeinsame Feinde. Herrschte        ten Haltung, LGBT-Feindlichkeit existiere in
                                              Anfang der 80er-Jahre noch Zersplitterung    westlichen Ländern nicht und sei höchstens
                                              vor, bewirkte die Aidskrise eine Solidari-   ein Problem zugewanderter Communitys. Auf
                                              sierung gegen die erstarkte Homophobie       der Gegenseite dienen LGBT-Rechte hingegen
                                              in der Gesellschaft. Mit dem vermehrten      als Schreckgespenst und Symptom einer de-
                                             Einsatz des Begriffs LGBT ab 1988 begann      kadenten westlichen Zivilisation, in der Indi-
                                           eine weltweite Erfolgsgeschichte; in vielen     vidualismus und Hedonismus religiöse und
                                         Ländern, so auch der Schweiz, gelang es der       Familienwerte ersetzt haben. Diese plakative
                                       Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten,            Entgegensetzung hat unter anderem negative
                                       die rechtliche und gesellschaftliche Akzeptanz      Folgen für die HIV-Prävention. Die Kriminali-
                                       von LGBTs entscheidend zu verbessern. Das           sierung von LGBTs und der Aufklärung über
                                       Label vermag es offenbar, Anliegen zu bün-          LGBT-Themen erschwert zielgerichtete Infor-
                                       deln, die von verschiedenen sexuellen und           mation zu und die Behandlung von HIV massiv.
                                       geschlechtlichen Minderheiten geteilt werden.          Vielleicht ist es deshalb trotzdem sinnvoll,
                                       Als Akronym für sexuelle und geschlechtliche        dem Begriff LGBT eine gewisse Instabilität und
                                       Minderheiten hat LGBT allerdings das Pro-           auch Unabgeschlossenheit zu belassen und ihn
                                       blem, dass es nicht abschliessend sein kann.        weiterzuverwenden. Denn zu starre Identitäts-
                                       Um diese Offenheit für verwandte Communi-           kategorien gehen am realen Leben vorbei. Und
                                       tys zu symbolisieren, wird manchmal auch die        wenn Bemühungen um sexuelle Gesundheit
                                       Schreibweise LGBT+ verwendet.                       erfolgreich sein sollen, dann müssen sie im
                                          Politisch wird LGBT-Freundlichkeit mittler­      realen Leben Anwendung finden und umge-
                                       weile oft als Differenzierungsmarker einge-         setzt werden.
                                       setzt. Vertreter westlicher Länder tragen sie
                                       oft wie eine Auszeichnung vor sich her, mit

                                                            Das Label vermag es offenbar, Anliegen zu bündeln, die
                                                            von verschiedenen sexuellen und geschlechtlichen Min-
                                                            derheiten geteilt werden. Als Akronym für sexuelle und
                                                            geschlechtliche Minderheiten hat LGBT allerdings das
                                                            Problem, dass es nicht abschliessend sein kann.

4   Swiss Aids News 1 | 2021
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
A
        wie asexuell: Asexualität bezeichnet das Fehlen von sexuellem Interesse oder Verlan-
        gen. Der Begriff stellt für die unter LGBT versammelten sexuellen und geschlechtlichen
        Minderheiten eine Herausforderung dar, da er gerade die Abwesenheit von sexuellen
Bedürfnissen thematisiert. Er passt aber insofern dazu, indem er ebenfalls eine Abweichung von
einer dominierenden gesellschaftlichen Norm bezüglich Sexualität darstellt, nämlich der Norm,
überhaupt sexuelle Bedürfnisse zu haben. Damit bringt die Orientierung eine wichtige Kritik
an sexuellem Leistungsdruck und heteronormativen Lebensformen, die auch in LGBT-Kreisen
präsent sind, zum Ausdruck.

B
        wie bisexuell: Bisexualität beschreibt die sexuelle Anziehung sowohl zu Männern als
        auch Frauen. Bisexuelle geniessen wenig Sichtbarkeit in der LGBT-Bewegung. Sie sehen
        sich wechselweise dem Verdacht, eigentlich doch schwul beziehungsweise lesbisch zu
sein, und dem Vorwurf der Kollaboration mit dem System ausgesetzt. Neuerdings erwächst der
Bisexualität Konkurrenz vom Begriff der Pansexualität. Dieser erweitert das Spektrum der Bi-
sexualität auf die Geschlechtsidentitäten zwischen männlich und weiblich. Sowohl Bi- als auch
Pansexuelle haben mit dem Vorurteil der sexuellen Unersättlichkeit zu kämpfen, obwohl die
Offenheit bezüglich des Geschlechts ja über die Anzahl der gewünschten Partner_innen nichts
aussagt.

G
        wie gay: In den 60er-Jahren begann sich bei schwulen Männern im Englischen der
        Begriff «gay» gegenüber den ungeliebten Begriffen «homosexual» oder «homophile»
        durchzusetzen. Der Widerstand gegen die Räumung der New Yorker Stonewall-Bar am
27. Juni 1969 gilt als Geburtsstunde der Gay Liberation, der Schwulenbewegung. Hatte vorher
die Homophilen-Bewegung mit grosser Zurückhaltung für die Entkriminalisierung schwuler
Lebensweisen plädiert, trug das Ereignis Stonewall diesen Kampf auf die Strasse. Als Folge von
Stonewall sind rund um die Welt die Pride-Märsche entstanden, an denen die LGBT-Community
laut und sichtbar gegen Diskriminierung kämpft. Historisch nehmen an diesen Prides schwule
Männer eine dominante Rolle ein, was ihnen innerhalb der LGBT-Community gelegentlich den
Vorwurf einträgt, die Pride-Veranstaltungen für schwule Anliegen zu okkupieren.

I
        wie intersexuell: Intersexuelle werden mit sogenannt uneindeutigen Geschlechtsmerk-
        malen geboren. Sie fordern, dass nicht ohne Einbezug der betroffenen Person kurz nach
        der Geburt bereits geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen werden. Expo-
nent_innen der LGBT-Bewegung führen die Existenz von Intersexualität gern als Beweis dafür
an, dass es auf biologischer Ebene mehr als zwei Geschlechter gibt. Als Menschen, die ungefragt
mit den Folgen von geschlechtsangleichenden Operationen leben müssen, können Intersexuelle
allerdings mit der queeren Lust an der Geschlechtervielfalt nicht so viel anfangen. Im Gegenzug
fallen ihre spezifischen Forderungen häufig unter den Tisch.

                                                                                                  Swiss Aids News 1 | 2021   5
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
LGBT

                                L
                                         wie lesbisch: Gesellschaftlich im Vergleich zu Schwulen weniger ausdrücklich krimi-
                                         nalisiert, kämpfen Lesben seit jeher darum, wahr- und ernst genommen zu werden.
                                         Auch innerhalb der LGBT-Bewegung wird dieser Kampf um Wahrnehmung immer wieder
                                 geführt. Als Motor und Zankapfel zugleich fungiert der Feminismus. Lesben waren und sind
                                 ein aktiver Teil der Frauenbewegung. Trotzdem gab es gerade in den späten 70er- und frühen
                                 80er-Jahren Feministinnen, die sich bewusst von der lesbischen Community abgrenzen wollten.
                                 Das Verhältnis zur Schwulenbewegung ist ebenfalls nicht spannungsfrei, profitieren Schwule
                                 doch von der sogenannten patriarchalen Dividende; das heisst, sie geniessen aufgrund ihrer
                                 Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht Privilegien, die Frauen vorenthalten werden.

                                Q
                                         wie queer oder questioning: Wird oft dem Akronym LGBT angefügt, um als Sammelbe-
                                         griff zu dienen für Identitäten, die von den vorangestellten Buchstaben nicht eingefangen
                                         werden. Dies eröffnet aus zwei Gründen ein Spannungsfeld: Erstens hat queer im Eng-
                                 lischen seine abwertende Bedeutung im Sinne von «seltsam, suspekt» nicht komplett abgelegt.
                                 Zweitens verweist die Zweitbedeutung questioning auf die kritische, aktivistische Bedeutung
                                 von queer: etwas «queeren» im Sinn von «eine Ordnung stören», «eine Norm infrage stellen»,
                                 «eine Regel brechen». Das macht den Begriff zum Störfaktor der Kategorisierung anstelle einer
                                 bloss zusätzlichen Kategorie.

                                T
                                         wie trans*: Trans – der Gegenbegriff ist cis – benennt die Identifizierung mit einem an-
                                         deren als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Anders als die drei Buchstaben
                                         LGB steht das T für eine von der Norm abweichende Geschlechtsidentität und nicht für
                                 eine sexuelle Orientierung. Ein grosser Erfolg der Trans-Bewegung ist insbesondere der Abbau
                                 juristischer und medizinischer Hürden zu geschlechtsangleichenden Massnahmen. In den letzten
                                 Jahren haben innerhalb des Trans-Spektrums nichtbinäre Menschen, die sich zwischen oder
                                 ausserhalb der Geschlechterbinarität positionieren, an Sichtbarkeit gewonnen. Ihr Kampf um
                                 Anerkennung hat es jedoch in einer Welt, die bis ins Detail entlang der Achse männlich/weiblich
                                 organisiert ist, schwer. Forderungen sind etwa ein dritter Geschlechtseintrag, die Verwendung
                                 neutraler Pronomen und Anredeformen oder institutionelle Anpassungen wie zum Beispiel gen­
                                 derneutrale Umkleiden, Toiletten etc. Medial werden diese Forderungen oft aufgegriffen, um
                                 die LGBT-Bewegung gänzlich als extremistisch zu diskreditieren. Das Thema trans* stellt die
                                 Solidarität aber auch innerhalb der LGBT-Bewegung immer wieder auf eine Belastungsprobe: So
                                 gibt etwa die Inklusion von Transmännern in schwule und von Transfrauen in lesbische Räume
                                 Anlass zu Diskussionen.

                Politisch wird LGBT-Freundlichkeit mittlerweile oft als Differenzierungsmarker
                eingesetzt. Vertreter westlicher Länder tragen sie oft wie eine Auszeichnung vor
                sich her, mit der man sich von «rückständigeren» Ländern unterscheide. Das
                geht bis zur selbstgerechten Haltung, LGBT-Feindlichkeit existiere in westlichen
                Ländern nicht und sei höchstens ein Problem zugewanderter Communitys.
                                                                                                                                     © David Rosenthal

6   Swiss Aids News 1 | 2021
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
Swiss Aids News 1 | 2021   7
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
LGBT

           Unsichtbarer Sex,
           unsichtbare Gesundheit

                                                                                                                                       © istockphoto / franckreporter
                               Frauen, die Sex mit Frauen haben – kurz: FSF – werden kaum über sexuelle ­Risiken
                               und Gesundheit informiert. Liegt das am statistisch geringen ­HIV-Risiko oder an
                               einer falschen Vorstellung von Sex?

                               ANNA ROSENWASSER

                               «Sind Sie sexuell aktiv?» – «Ja.» – «Verhüten         von Heterosexualität ausgeht. Damit fällt eine
                               Sie?» – «Nein.» – «Ah, Sie möchten schwanger          wichtige Grundlage weg: die Grundlage dafür,
                               werden?» – «Nein.»                                    mit einer Fachperson die eigene sexuelle Ge-
                                  Als Frau, die Sex mit Frauen hat, ist es oft ei-   sundheit zu thematisieren.
                               ne bizarre Angelegenheit, zu Gynäkolog_innen
                               zu gehen. Meist steht man früher oder später          Der Begriff «sexuelle Gesundheit» wird, be-
                               vor der Frage: Korrigiere ich die fachärztliche       sonders im queeren Kontext, oftmals mit HIV
                               Annahme, dass ich hetero bin? Oder bleibe ich         gleichgesetzt. Dabei umfasst die sexuelle Ge-
                               einfach ungeoutet?                                    sundheit bei Weitem nicht nur sexuell übertrag-
                                  Nicht wenige Frauen entscheiden sich für           bare Krankheiten: Auch das Wohlbefinden mit
                               Letzteres: Sie haben die Kraft nicht, sich ei-        der eigenen Sexualität und ein respektvoller,
                               ner Frauenärztin gegenüber zu outen – erst            sicherer Zugang zu sexuellen Beziehungen
                               recht nicht, wenn diese ganz selbstverständlich       sind Teil dieses Gesundheitsbereichs. Wer

8   Swiss Aids News 1 | 2021
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
zwar keine sexuell übertragbare Krankheit          sen­sibilisiert sind, ist eine Frage von Glück
hat, aber innerhalb der eigenen Sexualität Ge-     oder Pech.
walt, Diskriminierung oder Angst erlebt, kann         Was HIV angeht, gibt es beim Sex ­zwischen
kaum als gesund eingestuft werden. Dazu ge-        Frauen aus der Sicht der Aids-Hilfe Schweiz
hört auch eine Form der Diskriminierung, die       kein Ansteckungsrisiko. «Es gibt eine Handvoll
frauenliebende Frauen besonders oft betrifft:      Fälle innert 35 Jahren», so Nathan Schocher. In
Unsichtbarkeit. Auch die sexuelle Gesundheit       den vergangenen Jahren ist sogar die Safer-Sex-
einer Personengruppe kann unsichtbar sein,         Regel «kein Blut und Sperma in den Mund» ver-
tabuisiert, fetischisiert werden – und das hat     schwunden. «Das Risiko, sich dabei mit HIV an-
Folgen.                                            zustecken, ist kleiner als beim eindringenden
                                                   Sex mit Kondom. Wir können nicht vor etwas
Als Frau, die Sex mit Frauen hat, ist              warnen, was statis­tisch gesehen sicherer ist
                                                   als eine Safer-Sex-Praktik», erklärt Schocher.
es oft eine bizarre Angelegenheit, zu
                                                   Anders sei es natürlich, wenn weitere Sexpart-
Gynäkolog_innen zu gehen.
                                                   ner_innen von FSF Risikoverhalten aufwiesen.
                                                      Hier­bei gilt es, die Perspektive HIV-positiver
Unsichtbare Gefahren                               Menschen zu bedenken: Heutzutage sind sie,

                                                                                                        © Lea Reutimann
Chlamydien sind ein gutes Beispiel, um zu illus-   wenn sie gut therapiert sind, sexuell nicht
trieren, was momentan schiefläuft. «Chlamy-        infektiös. Jedoch können Menschen mit HIV
dien gehören zu den häufigsten sexuell über-       einen schwierigeren Therapieverlauf erleben,
tragbaren Krankheiten unter Frauen, die Sex        wenn sie sich mit einer sexuell übertragbaren
mit Frauen haben», erklärt Camille Beziane.        Krankheit anstecken. Es geht also auch darum,
Sie leitet eine Organisation, die auch gleich so   HIV-positive Menschen vor anderen Krank-                               Anna Rosenwasser
­heisst: Les Klamydia’s. Der Französischschwei-    heiten als HIV zu schützen.                                            Anna Rosenwasser arbeitet seit
                                                                                                                          2017 in der Geschäftsleitung der
 zer Verein setzt sich seit 2008 für die Gesund-
 heit frauenliebender Frauen ein; im deutsch-      Habt ihr Lecktücher?                                                   Lesbenorganisation Schweiz (LOS).
                                                                                                                          Die Zürcherin schreibt Kolumnen
 sprachigen Raum sind Vereine mit diesem           Wenn kaum eine Gefahr der HIV-Ansteckung
                                                                                                                          und Buchtexte über queere Se-
 Fokus selten. «Es ist kein Zufall, dass wir uns   besteht und andere sexuell übertragbare
                                                                                                                          xualität und Feminismus, zuletzt für
 von Chlamydien zu unserem Vereinsnamen            Krankheiten nicht thematisiert werden, fehlt                           «Queer Sex: Whatever the fuck you
 inspi­rieren liessen», so Beziane. «Wer Vagina    auch die Information darüber, wie FSF sich                             want» (Print Matters 2020).
 und Vulva hat und sich Chlamydien einfängt,       beim Sex am besten schützen. Weil in der
 hat häufig keine spürbaren Symptome. Diese        queeren Frauenszene kaum Fachpersonen be-
 Frauen merken also oft nicht, dass sie Chla-      kannt sind, sind es nicht selten Sexshop-Arbei-
 mydien haben. Gleichzeitig gehen Frauen, die      terinnen, die Fragen zur sexuellen Gesundheit                          FSF: Drei Buchstaben,
 Sex mit Frauen haben, ohnehin oft davon aus,      abkriegen. Neben klassischen Fragen werden                             viele Probleme
 dass sie sich beim Sex nicht mit Krankheiten      ihen dort auffällig oft Fragen gestellt, die Leck-
 anstecken könnten.» Häufig gingen selbst Gy-      tücher betreffen, berichtet beispielsweise der                         Die Unsichtbarmachung von Sex
                                                                                                                          unter Frauen geschieht auf meh-
 näkolog_innen davon aus, dass frauenliebende      queere Sexshop Untamed.love.
                                                                                                                          reren Ebenen. Zum einen sagt
 Frauen kaum gefährdet sind, sich mit sexuell         Während Kondome in der MSM-Welt gratis
                                                                                                                          die Norm, Sex ohne Penetration
 übertragbaren Krankheiten anzustecken. So         verteilt werden, kostet ein einzelnes Lecktuch
                                                                                                                          durch einen Penis sei kein rich-
 können sich Chlamydien und weitere sexuell        zwei bis drei Franken. Zu kaufen gibt es sie in                        tiger Sex; dieses Konzept ist
 übertragbare Krankheiten unter FSF prima          manchen Sexshops; Apotheker_innen wissen                               in allen sexuellen Orientierungen
 verbreiten.                                       oft nicht, wovon die Kund_innen reden. Die                             verbreitet, frauenliebende
                                                   Aids-Hilfe Schweiz sowie das Bundesamt für                             Frauen eingeschlossen. Zum
Queere Community-Angebote, die sich an frau-       Gesundheit empfehlen Lecktücher nur bei be-                            anderen ist die Finanzierung von
enliebende Frauen richten, existieren zwar in      zahltem Sex. Ansonsten sollen sich FSF, die                            Informationskampagnen histo-
allen drei deutschsprachigen Ländern. Sie          wechselnde Partner_innen haben, einfach                                risch und strukturell bedingt
basieren allerdings oft auf unbezahlter Arbeit     mindestens einmal pro Jahr testen lassen. Im                           asymmetrisch. Die Ressourcen
und kämpfen mit Ressourcenknappheit, die           Gegensatz dazu setzen sich Aktivistinnen wie                           sind also noch immer rar, finanzi-
ihnen die Professionalisierung verunmöglicht.      Camille Beziane für die Zugänglichkeit so-                             ell wie personell. Was bleibt,
Offizielle, breiter angelegte Beratungsstellen     wie die Normalisierung von Lecktüchern als                             ist ein Informationsvakuum –
hingegen sind ein Glücksspiel. Ob die entspre-     Schutz­option ein.                                                     und ganz, ganz viele Fragen über
                                                                                                                          Lecktücher.
chenden Fachpersonen auf queere Themen

                                                                                                                                Swiss Aids News 1 | 2021     9
SAN 1|21 SWISS AIDS NEWS - UNTER DEM REGENBOGEN - Sexuelle Gesundheit
LGBT

                      Effektive Prävention verlangt
                      solidarisches Handeln
                      Das HIV-Paradigma hat sich in der Schweiz völlig verändert, aber die Früherkennung
                      bleibt ein wesentliches Element, um die Epidemie zu stoppen. Das gilt insbesondere für
                      die schwule Welt, wo die Virenlast insgesamt hoch ist – hier braucht es auch den
                      gemeinsamen Kraftakt der Community.

                                     FLORENT JOUINOT, FLORIAN VOCK | Aids-Hilfe Schweiz

                                     Daten der Schweizerischen HIV-Kohortenstu-         Gesellschaft in der Finanzierung. Das ist schon
                                     die zeigen: Zwischen 2001 und 2015 blieb die       lange klar. Zugänglichkeit hat aber noch viele
                                     jährliche Zahl von HIV-Neuinfektionen bei          weitere (und kompliziertere Aspekte) als den
                                     Männern, die Sex mit Männern haben (MSM),          Preis, denn sonst wäre die HIV-Situation in
                                     auf einem hohen Niveau stabil. Die Endemie         Ländern wie Frankreich oder Spanien schon
                                     war in der Schweiz nicht unter Kontrolle. Mit-     viel besser. Zugänglichkeit beinhaltet auch
                                     hilfe eines mathematischen Modells zeigten         Standorte von Teststellen, Öffnungszeiten am
                                     Kusejko et al. (2018), wie Testen der wichtigste   Abend und am Wochenende, Anonymität und
                                     Ansatz gewesen wäre, um die Zahl der Über-         Vertrauen, Community-basierte Anbieter statt
                                     tragungen zu senken.                               gewinnorientierte Dienstleister.

                                     Warum? MSM, die mit HIV leben, entdecken           Die Communitys müssen das Senken
                                     dies im Vergleich zu anderen Gruppen relativ       der Viruslast als gemeinsame Aufga-
                                     früh, aber noch nicht früh genug, um Über-         ben begreifen. Es braucht die Solida-
                                     tragungsketten zu durchbrechen. Es ist davon       rität innerhalb der schwulen Welt.
                                     auszugehen, dass die Mehrzahl der Infektionen
                                     beim Sex zwischen Männern auf jene zurückzu-          Die Communitys müssen das Senken der Vi-
                                     führen ist, die sich erst vor Kurzem mit HIV in-   ruslast als gemeinsame Aufgaben begreifen. Es
                                     fiziert haben (Primoinfektion) und eine extrem     braucht die Solidarität innerhalb der schwulen
                                     hohe Viruslast aufweisen. Um die Epidemie zu       Welt. Sich selbst zu testen, ist nicht nur für die
                                     stoppen, ist deshalb – in Kombination mit den      eigene Gesundheit gut, sondern auch ein Bei-
Solidarisch spenden
                                     anderen Strategien (Kondom, PrEP, TasP) – ein      trag an ein gemeinsames Ziel: die Community
für Jugendliche.                     verstärkter Einsatz von Tests unerlässlich.        von den Viren zu befreien. Diese Form der So-
Einfach Twint öffnen,                                                                   lidarität ist, dank Corona, für viele Menschen
Code scannen und                     HIV-negativen MSM wird ein- bis viermal jähr-      wieder verständlicher und präsenter.
gewünschten Betrag                   lich zum Test auf HIV und die wichtigsten ande-
senden.                              ren STI geraten, bei einer HIV-Risikosituation        In der Prävention tätige Personen müssen
                                     aber unmittelbar (15–20 Tage) nach der Risi-       sich mit ihren Zielgruppen solidarisch zeigen.
                                     kosituation. Diese Empfehlung ist leicht aus-      Solidarische Arbeit begegnet den Menschen
                                     gesprochen. Doch damit Präventionsempfeh-          auf Augenhöhe und schafft in anwaltschaft-
                                     lungen auch gelebt werden können, müssen die       lichem Engagement die Bedingungen und
                                     Rahmenbedingungen stimmen. Dazu braucht            Möglichkeiten zum Test. Anforderungen an
                                     es in dreierlei Hinsicht solidarisches Handeln:    sexuelles Verhalten zu stellen oder Empfeh-
                                                                                        lungen zur Testhäufigkeit auszusprechen, ohne
                                       Der HIV/STI-Test nach VCT-Konzept muss           ernsthaft die Ressourcen dafür zu erkämpfen,
                                     zumindest für jene Menschen komplett kos­          ist unehrlich. Es ist zwingend nötig, dass die
                                     tenlos sein, wo Prävalenzen und Inzidenzen         Fachpersonen nicht zögern, in der Öffentlich-
                                     es anzeigen – es braucht die Solidarität der       keit für «ihre» Community einzustehen.

10   Swiss Aids News 1 | 2021
güns tig:
                          it                                                     xtra

                                                                            -
                      m                                                      ai e

                                                                           .
       ris   c  h                                                       Im M STI-Test
Solida dlichen!

                                                                         75
                                                                        HIV- &
JugeDnank für deineenndet
       Als          est sp
       m a c hten T n Gratis-
    ge              a
             y 10.–        .
     Dr.Ga für Junge
        Test   s

   Mai                                                                      g endliche b
                                                                                        is
                                                                                                             25.-
Im
                                                                      Für Ju g 2001 nur
                                                                            an
                                                                      Jahrg

                   Test!
               zum                                                   an   d e r e
                                                                                       IV,
                                                                                       s se
                                                                                            C h
                                                                                  vor H n, sind
                                                                                                 l a mydie
                                                                                                           n,

                                                              h und e testen la                        und
                                               t d   u  d i c
                                                                      a ll               h w  u le, bi
                                          üt z                    ns                 rsc               ai
                            m  T e st sch Wenn wir u ur gültig fü                         g ay.ch/m
                        ne               per.                     tn                 fd r
                Mit ei        d e r Trip          t . A  ngebo n. Mehr au
                        lis o             hü  t z                on e
                Syphi esser gesc                 r a  n s Pers
                       le  b               ie  t
                wir al       ä n n  er sow
                         eM
                qu e e r

                                                                                           M I LC H
                                                                                           JUGEND
                                                                                            FALSCHSEXUELLE
                                                                                                   WELTEN
LGBT

                         Ein Tag im Leben
                         von Emmanuel G.
                          Der 23-jährige Emmanuel G.* aus Uganda lebt seit mehr als einem Jahr in der Schweiz. Er liebt Fuss-
                          ball, Video-Games, ugandisches Essen, TikTok, R & B, Psychothriller, Musicals und Komödien. Sein
                          Asylverfahren ist seit Januar 2020 hängig. Aufgrund seiner persönlichen Geschichte entschied das
                          Staatsekretariat für Migration SEM, ihn ins erweiterte Verfahren aufzunehmen. Queeramnesty hat
                          sich für Emmanuel eingesetzt und begleitet ihn weiterhin.

                                     AMBRA BARONI | Queeramnesty

                                     MORGEN
                                     Jeden Morgen wache ich um 7 Uhr auf, We-
                                     cker brauche ich keinen. Gerne bleibe ich dann
                                     noch liegen und spiele eine Weile Videogames
                                     auf dem Smartphone. Dann schlafe ich wieder
                                     ein. Schlafen, aufwachen, schlafen. Viele Stun-
                                     den meines Tages verbringe ich hier auf diese
                                     Weise. Unfreiwillig. Videospiele habe ich in
                                     meinem Heimatland nie gespielt. Ich begann
                                     damit erst, als ich in einem Bundesasylzen-
                                     trum in der Westschweiz lebte. Jetzt wohne
                                     ich in einem Durchgangszentrum im Kanton
                                     Waadt, und diese Spiele sind zur Gewohnheit
                                     geworden.
                                        Wenn ich dann aufstehe, mache ich mir
                                     ein Frühstück aus heisser Milch und Brot,
                                     manch­mal mit einem Spiegelei. Ich bin kein
                                     Kaffeetrinker. Zu Hause bestand meine erste
                                     Mahlzeit meist aus Porridge, frittierter Cassava
                                     (Maniok), Avocado und Eiern. Als ich kürzlich
                                     bei einer Freundin zu Besuch war, bereitete
                                     sie mir ein typisches Frühstück mit Cassava
 Uganda – eines der homo­
                                     zu. Herrlich!
                                                                                        © Ambra Baroni

 phobsten Länder der Welt
                                     TAGSÜBER
 In Uganda gibt es Politiker,
 welche die Todesstrafe für          Mir ist sehr häufig langweilig. Arbeiten kann
 Homosexuelle fordern. Als           ich nicht und lernen auch nicht, obschon ich                        Beispiel Reis mit Huhn, Bohnen und Chapati.
 LGBTI* muss man in Uganda           beides sehr gerne tun würde. Ich liebe es,                          Eine Freundin hat mir die Zubereitung sehr
 ständig um sein Leben fürch-        Neues zu lernen. Hier hingegen fühle ich mich                       vieler Gerichte beigebracht. Ich habe gelernt,
 ten und ist Belästigungen,          nutzlos. Im Durchgangszentrum habe ich keine                        Speisen im Backofen zuzubereiten und wie
 Diskriminierung, Verfolgung         Freunde und tausche mich mit niemandem aus.                         ich sie würzen kann. Im kleinen Ort, wo ich
 und Gewalt ausgesetzt.              Die Angst sitzt mir im Nacken, in der Unter-                        derzeit lebe, gibt es allerdings keine afrika-
 Homosexualität wird von vielen      kunft plötzlich geoutet und bedroht zu werden.                      nischen Läden.
 Ugander_innen als vom Westen
                                                                                                            Nach dem Mittagessen schaue ich, ob die
 importierte Krankheit ange-         NACHMITTAG                                                          Kinder draussen Fussball spielen. Mit den Kin-
 sehen.
                                     Etwa um 15 Uhr esse ich zu Mittag. Ich koche                        dern Fussball zu spielen ist mir wichtig – mein
                                     selbst, aber nur ganz einfache Gerichte. Zum                        einziges regelmässiges Vergnügen. Wenn die

12   Swiss Aids News 1 | 2021
Kinder nicht spielen, gehe ich zurück auf mein     in der Schule zwangsgeoutet. Meine Familie
Zimmer. Zum Glück bewohne ich dies allein.         erfuhr davon und wollte nichts mehr mit mir zu
Am Anfang musste ich das Zimmer mit einem          tun haben: Sie stellte mich auf die Strasse. Zum
anderen Bewohner teilen. Ich fühlte mich un-       Glück fand ich Unterschlupf bei einem Cou-
wohl und befürchtete, geoutet und bedroht zu       sin. Eine spätere Beziehung zu einem Freund
werden. Dann haben sich Focus Refugees von         endete in einem Desaster: Als der Vermieter
Queeramnesty und Asile LGBT in Genf beim           begriff, dass wir schwul waren, schrie er alle
Durchgangszentrum dafür eingesetzt, dass ich       Nachbarn zusammen, die in Scharen angerannt
ein Einzelzimmer erhalte.                          kamen, Fenster und Türen einschlugen und uns
   Ich wünsche mir mehr Freunde innerhalb          zu prügeln begannen. Dann traf die Polizei ein
der Community, denn ich will mich nicht ver-       und verhaftete mich. Im Gefängnis wurde ich
stecken müssen. In meinem Heimatland hatte         regelmässig geschlagen. Ein Freund hat mich
ich nur heterosexuelle Freunde, wir sprachen       dann gegen Geld aus dem Gefängnis geholt.
nie über Homosexualität. Um das Thema aus-         Schliesslich schaffte ich es, mein Heimatland
zuklammern, sagte ich ihnen immer, ich hätte       zu verlassen. Im eigenen Land nicht akzeptiert
keine Beziehung.                                   zu sein und um sein Leben fürchten zu müs-
                                                   sen, gehört für mich zu den schrecklichsten
ABEND                                              Erlebnissen. Ich bin damals nur knapp mit dem
Ich bin nicht der Typ, der in Clubs geht. Klima-   Leben davongekommen.
tisierte Lokale sind meiner Gesundheit nicht
zuträglich. Zudem trinke ich keinen Alkohol.
Ich gehe früh zu Bett, schlafe aber noch lange     Nachtrag
nicht ein. Vor dem Einschlafen höre ich gerne      Emmanuel ist nun bei einer Schweizer Familie
meine Lieblingsmusik. Das sind derzeit trau-       untergebracht. Er kann sich frei bewegen und
rige Lieder.                                       hat neue Freunde gefunden. Er spielt noch im-
                                                   mer viele Videospiele, aber neu auch Schach
RÜCKBLICK                                          und regelmässig mit Freunden Fussball.
Was mir in Uganda zugestossen ist, hatte und
hat immer noch gravierende Konsequenzen für
mein Leben. Als ich 14 Jahre alt war, wurde ich    * Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

GEFLÜCHTETE LGBTI-MENSCHEN
Der Praxisleitfaden «Geflüchtete LGBTI-Menschen» soll Asyl- und Migrationsfach­personen
im Umgang mit LGBTI-Asylsuchenden unterstützen – das heisst Menschen, die aufgrund
ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsmerkmale und/oder ihres
Geschlechtsausdrucks aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Diese Asylsuchenden sind beson-
ders verletzlich und auch in der Schweiz leider noch immer mit Diskriminierung konfron-
tiert. Die Broschüre richtet sich aber auch an Mitarbeitende von LGBTI-Organisationen,
um die Integration der Geflüchteten in die lokalen LGBTI-Communitys zu erleichtern,
sowie an alle Menschen, die sich für dieses Thema interessieren.
Diese Broschüre wurde von Asile LGBT in Genf entwickelt und von Queeramnesty für
die Deutschschweiz angepasst. Sie vermittelt theoretisches Wissen, um ein besseres
Verständnis für LGBTI-Menschen und ihre Situation auf der Flucht zu ermöglichen, und sie
enthält praktische Hilfestellungen für konkrete Alltagssituationen.

  Menschenrechte für Lesben, Schwule, bi*, trans und intergeschlechtliche
Personen – weltweit! Queeramnesty Schweiz ist eine ehrenamtliche Gruppe und enga-                     Die Broschüre kann gedruckt bestellt
giert sich zum Themengebiet Menschenrechte, sexuelle Orientierung und geschlechtliche                 oder gratis heruntergeladen werden:
Identität. Sie ist Teil von Amnesty International Schweiz.                                            queeramnesty.ch/praxisleitfaden-
                                                                                                      gefluechtete-lgbti-menschen/

                                                                                                            Swiss Aids News 1 | 2021    13
LGBT

                 «Bei trans Jugendlichen
                  erleben wir oft spektaktuläre
                  Verwandlungen»
                     Die Fondation Agnodice setzt sich seit fast fünfzehn Jahren für eine offene
                     Gesellschaft ein, in der die Variationen der Geschlechtsidentität als Reichtum der
                     menschlichen Vielfalt angesehen werden. Dieses Ressourcenzentrum begleitet
                     und fördert das Wohlbefinden von trans, nichtbinären und questioning Menschen
                     auf vielen Ebenen. Wir haben uns mit der Direktorin, Erika Volkmar, getroffen.

                                            INTERVIEW: ANTOINE BAL

                                            Erika Volkmar, können Sie uns erklä-        Einsatzbereich so gross, dass wir Priori-
                                            ren, was Sie dazu bewogen hat, Agno-        täten setzen mussten. Vor zwanzig Jahren
                                            dice in der Westschweiz zu gründen?         gab es keine Ausbildung zu Fragen
                                            Agnodice wurde vor etwa fünfzehn            der Transidentität, weder auf sozialer,
                                            Jahren in Lausanne geboren, als Reaktion    pädagogischer noch medizinischer Ebene.
                                            auf ein schockierendes Misstrauensklima     Deshalb bieten wir Institutionen mass­
                                            seitens der Fachleute, an die sich trans    geschneiderte Schulungen an. Gleich-
                                            Personen in ihrem Leben irgendwann          zeitig haben wir uns dafür entschieden,
                                            einmal wenden mussten. Psychopatholo-       ein Netzwerk von kompetenten und
                                            gisierende Haltungen, viel Unwissenheit     respektvollen Fachpersonen aufzu-
«Wir versuchen, in einem Prozess
                                            und sogar offen transphober Aktivismus      bauen, und zwar nicht nur im Bereich
des gemeinsamen Entscheidens                führten zu Missbrauch. Für mich per-        psychische Gesundheit, sondern auch
voranzukommen, von gleich zu                sönlich war es ein Schock, als ich mich     unter Endokrinolog_innen, Kinderärzt_
gleich, ohne dass jemand Macht              nach einer Karriere in der humanitären      innen oder spezialisierten, etwa in den
ausübt. Einem Prozess der Ent-              Arbeit entschied, für mich selbst zu        Checkpoints für sexuelle Gesundheit mit
psychiatrisierung, insofern als             sorgen. Entgegen meinen Erwartungen         Trans-Achse tätigen Sozialarbeitenden.
jeder Trans-Prozess subjektiv und           war es selbst in der Schweiz schwierig,     Wir bieten ihnen die Möglichkeit, an
zutiefst individuell ist.»                  Fachpersonen mit einer verantwortungs-      der Peer-Supervision teilzunehmen, um
                                            vollen und respektvollen Haltung zu         ein multidisziplinäres und interaktives
                                            finden. Das war äusserst selten. Selbst     Betreuungsnetzwerk zu entwickeln, das
                                            innerhalb gemeinnütziger Organisationen     trans-affirmative Werte teilt.
                                            gab es fast nichts Trans-Spezifisches.
                                            Wir haben einen langen Weg hinter uns,      Was ist ein trans-affirmativer Ansatz?
                                            aber ein wirkliches Bewusstsein ist erst    Es geht darum, die gelebte Geschlechtser-
                                            vor Kurzem entstanden, dank trans oder      fahrung eines jeden Menschen zu aner-
                                            nichtbinärer Menschen, die in LGBTIQ+-      kennen, zu unterstützen und aufzuwer-
                                            Vereine investiert haben. Allerdings sind   ten. Eine Ethik der Ko-Konstruktion und
                                            in der Zivilgesellschaft diskriminierende   des Vertrauens, mit Fachleuten, die sich
                                            und pathologisierende Vorstellungen         gegenüber Patientinnen und Patienten,
                                            auch heute noch sehr stark verankert.       die ja Fachpersonen für ihre Situation
                                                                                        sind, in die Position von Lernenden
                                            Was sind Ihre strategischen Ziele, wie      versetzen können. Dies ist grundlegend.
                                            arbeiten Sie im Feld?                       Wir versuchen, in einem Prozess des
                                            Wir haben einen sehr flexiblen Ansatz.      gemeinsamen Entscheidens voranzu-
                                            Zu Beginn waren die Bedürfnisse und der     kommen, von gleich zu gleich, ohne dass

14   Swiss Aids News 1 | 2021
© Diego Sanchez

                                                                                          Dr. Erika Volkmar, Direktorin der Fondation Agnodice.

jemand Macht ausübt. Einem Prozess             Warum haben Sie sich entschieden,              einer Verzögerung der Pubertät durch
der Entpsychiatrisierung, insofern als         sich auf trans Jugendliche unter               Sexualhormonblocker. Dadurch wird
jeder Trans-Prozess subjektiv und zutiefst     18 Jahren zu konzentrieren?                    viel Leid vermieden, da der Beginn der
individuell ist.                               Erstens, weil die Anfragen junger Men-         Pubertät um zwei, drei Jahre verschoben
                                               schen in vier Jahren um 150 Prozent            wird, in denen ein Reflexionsprozess
Ist Agnodice auch ein Ort des Aufge-           gestiegen sind. Dies ist beachtlich. Wir       stattfinden kann. Wir stellen sicher, dass
nommenwerdens und des Zuhörens?                haben uns entschieden, uns auf sie zu          trans Jugendliche in der Lage sind, selbst
Wir bieten keine rein klinischen Dienst-       konzentrieren, da wir davon ausgehen,          zu bestimmen und im Rahmen eines
leistungen an, denn unser Ziel ist es nicht,   dass trans Erwachsene auch ohne uns            einvernehmlichen Klärungsprozesses zu
die ausgebildeten Fachkräfte des Netz-         den Weg zu anderen, mittlerweile kompe-        verstehen, was auf dem Spiel steht, bevor
werks zu ersetzen. Unsere Psycholog_in-        tenten Strukturen finden dürften. Zudem        sie Zugang zu den Hormonen erhalten,
nen empfangen, begleiten und beraten           ist es eine Frage der Spezialisierung.         die irreversible Veränderungen bewirken
junge Menschen ebenso wie Familien,            In der somatischen Medizin wie in der          werden. Dieser Prozess unterscheidet sich
Eltern, Kinderärzt_innen, Ärzt_innen           Psychiatrie arbeiten Fachpersonen, die         stark von dem der Erwachsenen.
oder Lehrpersonen, die mit komplexen           mit Kindern und Jugendlichen anders
Situationen konfrontiert sind. Wir sind        arbeiten als mit Erwachsenen. Und nicht        Allein im Jahr 2020 haben Sie mehr als
ein Ressourcenzentrum, das jungen              zuletzt ist es eine klinische Frage. Bis zum   1700 verschiedene Anfragen erhalten
Menschen in der gesamten französischs-         Alter von zwölf Jahren konzentriert sich       und 101 Kinder und Jugendliche aufge-
prachigen Schweiz eine Nachbetreuung           unser Ansatz vor allem auf die Selbst­         nommen und unterstützt. Wie erklären
ermöglicht. Wir sind hier, um Lösungen         identifikation und, wenn nötig, auf die        Sie sich diesen Anstieg der Anfragen?
zu finden. Wir bieten auch Gesprächs-          soziale Transition, womit wir trans Kinder     Wir hatten damit gerechnet, denn die Er-
gruppen für Jugendliche und Selbsthilfe-       enorm entlasten können. Ab dem zwölf-          fahrung in anderen Ländern zeigte, dass
gruppen für Eltern an.                         ten Lebensjahr stellt sich die Frage nach      sich die Anfragen vervielfachen, sobald

                                                                                                              Swiss Aids News 1 | 2021     15
LGBT

ein spezialisiertes Zentrum eröffnet wird.    Geschlecht zugewiesen wurde, wobei           Sie haben uns aufgezeigt, worin die
Heute zirkulieren wissenschaftliche,          Sexarbeitende besonders hohe Risiken         Vorteile bestehen, mit der Transition
assoziative und mediale Informationen         eingehen. Einer der Hauptfaktoren, der       und der Unterstützung früh zu be-
leichter. Mit den Eltern zu reden, ist ein-   diese höhere Prävalenz erklärt, ist, dass    ginnen. Was entgegnen Sie zu Ihren
fach geworden. Es gibt mehr Plattformen       viele trans Frauen eine fortschreitende      Kritikern, die finden, es sei zu früh?
für den Austausch, insbesondere in den        soziale Desintegration durchmachen           Wir arbeiten auf einem sensiblen Terrain,
sozialen Netzwerken, was sich wiederum        (Ablehnung durch die Familie, Vertrauens­-   im Herzen eines «Cisthems», in dem
auf die Bilder und Vorstellungen auf          abbruch, Verlust des Arbeitsplatzes,         manche Leute es nicht für angemessen
gesellschaftlicher Ebene auswirkt. Früher     Verlust der Wohnung). In diesem Prozess      halten, einem vierjährigen Kind zu
haben Betroffene mitunter jahrzehnte-         kann Sexarbeit de facto die einzige ein-     erlauben, sein soziales Geschlecht zu
lang die Zähne zusammengebissen. Sie          kommenssichernde Tätigkeit sein. Hier        wechseln. Diese Vorurteile ignorieren
waren sich ihrer Geschlechtsidentität         spricht man von «survival sex».              in erster Linie das Leiden von trans
manchmal schon sehr früh bewusst, aber                                                     Menschen als Kinder und Jugendliche.
das Stigma war derart gross, dass ihr         «Wir sind ein Ressourcenzentrum,             Es gibt sehr frühe Formen der Depres-
Trans-Coming-out erst viel später erfolgte,   das jungen Menschen in der                   sion. Nichts tun und hoffen, dass es
wenn ihre Situation verzweifelt war und       gesamten französischsprachigen               vorbeigeht, ist auch eine Form des Tuns.
sie aufgrund des psychologischen Trau-        Schweiz eine Nachbetreuung                   Ich möchte daran erinnern, dass 25 bis
mas durch das jahrelange Verheimlichen                                                     35 Prozent der jungen trans Menschen
                                              ermöglicht. Wir sind hier, um
nur noch die Wahl hatten, zu sterben                                                       unter 16 Jahren mindestens einen Selbst­
                                              Lösungen zu finden. Wir bieten
oder sozialen Selbstmord zu begehen.                                                       mordversuch hinter sich haben, ganz
                                              auch Gesprächsgruppen für                    zu schweigen von Schulabbruch oder
Diese grosse Zahl Anfragen von jungen         ­Jugendliche und Selbsthilfegrup-            -versagen. Kleine Kinder experimentie-
trans Menschen ist also ein gutes Zei-         pen für Eltern an.»                         ren per se mit dem Geschlecht, aber das
chen für die Zukunft?                                                                      macht sie nicht automatisch zu trans
Ja, ein sehr gutes. Es lässt mich vermuten,   Behandeln Sie mit Jugendlichen               Kindern. Unser primärer Indikator ist das
dass die späten Coming-outs allmählich        speziell die Themen der sexuellen            psychische Leiden, seine Persistenz und
seltener und die frühen Coming-outs           Gesundheit?                                  Intensität. Je weniger Trauma und Leid
häufiger werden. Die jungen Menschen,         Die neue Generation verschiebt die           Sie erfahren, desto wahrscheinlicher ist
die sich an uns wenden, standen früher        Kampflinien, weil sie die neuen              es, dass Sie sich besser fühlen. Aber egal,
vor einer extrem schwierigen Pubertät         Geschlechts- und Sexualitätsmodelle          wie alt Sie sind: Weil Sie leiden, sind Sie
und später vor schweren und auch nicht        verinnerlicht hat. Für sie ist das Thema     noch lange nicht unfähig, über sich selbst
unbedingt zufriedenstellenden Opera-          trans heute untrennbar mit dem Thema         nachzudenken und sich zu mobilisieren,
tionen. Wenn wir jedoch in der Familie        nichtbinär verbunden. Das Geschlecht         um über sich selbst hinauszugehen.
oder in der Schule eine frühe Transition      gegen gesellschaftliche Verkrustungen zu     Deshalb ist die Weiterentwicklung des
begleiten, erleben wir oft spektakuläre       unterwandern, hat etwas Jubilierendes.       Schweizerischen Zivilgesetzbuches hin
Verwandlungen! Die Aussichten für die         Das sind Dynamiken, die uns viel bringen     zur geschlechtlichen Selbstbestimmung
soziale, berufliche und emotionale Inte-      und die wir zu fördern versuchen, ohne       ohne medizinische Kontrolle ein wesent-
gration sind wesentlich besser, weil diese    «im Namen von» zu sprechen. In der           licher Schritt. Selbst wenn sie in ihrem
Jugendlichen sich mit ihrem Geschlecht        Arbeit mit diesen Jugendlichen scheint       ganzen Ausmass noch nicht absehbar ist,
wohlerfühlen.                                 alles, was mit der sexuellen Gesundheit      ist die neue Periode, an deren Schwelle
                                              zu tun hat, enorm wichtig zu sein. Sie       wir stehen, faszinierend.
Was sind die besonderen Bedürfnisse           berichten ziemlich Katastrophales über
von trans Menschen beim Thema HIV?            das, was im Sexualkundeunterricht noch
In diesem Bereich, der sehr stark von         immer vermittelt wird. Unsere Arbeit mit
binärem und cis Denken geprägt ist, gab       Schulen ist daher unerlässlich. Ausser-
es keine für trans Menschen geeigneten        dem entwickeln wir derzeit ein Pilotpro-
Präventionsinstrumente. Wir mussten           jekt für einen inklusiven Leitfaden zur
kämpfen. Es brauchte Zeit und ein paar        sexuellen Gesundheit von und für junge
Elektroschocks in Richtung BAG und            trans, nichtbinäre oder questioning Men-
Aids-Hilfe Schweiz. Alle internationalen      schen. Sie wertschätzen eine anatomische
Studien zeigen jedoch eine enorm hohe         Vielfalt, die ein immenses Puzzle an Prak-
HIV-Prävalenz unter trans Personen,           tiken, Wünschen und Präventionstechni-
denen bei der Geburt das männliche            ken eröffnet. Dies ist äusserst positiv!

16   Swiss Aids News 1 | 2021
LEBEN MIT HIV

   © Christopher Kletter­mayer

Ich bin die Krone
    der Schöpfung!
                                 PHILIPP SPIEGEL

                                 «Ich darf alles – ausser der Norm                  «Man erkennt seine Privilegien erst,
                                 nicht entsprechen»                                 wenn sie infrage gestellt werden»
                                 Zumindest wurde mir das immer weisgemacht.         Seit über zweitausend Jahren wird uns von
                                 Nicht direkt von meinen Eltern oder meinen         etlichen Religionen eingeprügelt, wie toll und
                                 Freunden. Nein, das geschah alles viel subtiler,   stark wir Männer, wie moralisch verwerflich
                                 war geschickt in alle Gesellschaftsbereiche        Schwule sind und welch manipulativer Besitz
                                 eingewoben. In Kleinigkeiten, in positive Dis-     so eine Frau sein kann. Zudem: Mein europä-
                                 kriminierung. Klassischer Wiener Mittelstand,      ischer Pass, der mir relativ einfach Reisefreiheit
                                 wenige Barrieren oder Steine im Weg, wuchs         beschert. Meine Hautfarbe, die mich in weiten
                                 ich in einer Welt auf, ohne meine eigene Stel-     Teilen der Welt unverdächtig erscheinen lässt,
                                 lung zu hinterfragen. Kaum je fand ich mich in     mir Türen öffnet und selten eine verschliesst.
                                 einer Position, die Zweifel hochkommen liess.      Mein Geschlecht, das mir mehr Gehalt, Respekt
                                 Und wenn, konnte ich diese einfach ignorieren.     und Autorität verschafft. Meine Sexualität, die
                                 Das ultimative Privileg!                           nie infrage gestellt, angezweifelt oder gar gegen
                                                                                    mich verwendet wird.

                                                                                                       Swiss Aids News 1 | 2021    17
LEBEN MIT HIV

                                Als weisser, heterosexueller Europäer geniesst       des Lernens, der mit dem ultimativen Klick
                                Mann Privilegien. Unzählige Privilegien, die         richtig Fahrt aufnahm: meiner HIV-Infektion.
                                gar nicht alle aufzulisten sind, schwer zu sa-          Als HIV in mein Leben trat, schlitterte ich
                                gen, wo sie anfangen und wo sie enden. Aber          in einen gesellschaftlichen Konflikt, von dem
                                mir war das alles nie so bewusst. Wenn man           ich zuvor nur peripher etwas mitbekommen
                                sich in einer Ausgangslage wie meiner befin-         hatte. Bei dem ich immer unwissentlich auf
                                det, nimmt man diese «angeborene» Immunität          der schweigenden Seite gestanden hatte.
Als ich die ersten Artikel      nicht wahr. Warum auch?                                 Plötzlich erhielt ich eine Überdosis an unge-
über mein Leben mit HIV ver-       Klar, das Verständnis, das Mitgefühl und          wöhnlichen Gefühlen und Situationen. Plötzlich
öffentlichte, erfuhr ich zum    die Solidarität für weniger privilegierte Men-       war ich nicht mehr Teil der Krone der Schöp-
                                schen waren immer da. Ich nahm sie immer             fung. Ich war anders. Minderwertig. Opfer. Ge-
ersten Mal, was es bedeutet,
                                ernst, fühlte mit, unterstützte, wo ich konnte       brauchte Ware. Ich erlitt einen Statusverlust.
negativ vorverurteilt zu
                                – aber Diskriminierung oder den Entzug von              Als ich die ersten Artikel über mein Leben
werden, ohne es ignorieren      Privilegien nachvollziehen zu können, ist eine       mit HIV veröffentlichte, erfuhr ich zum ersten
zu können. In den Kommen-       komplett andere Geschichte.                          Mal, was es bedeutet, negativ vorverurteilt zu
taren wurde mein sexuelles         Pride, Paraden, Kundgebungen, Frauenmär-          werden, ohne es ignorieren zu können. In den
Verhalten angeprangert.         sche, Proteste? Ja, klar soll man das machen,        Kommentaren wurde mein sexuelles Verhal-
Ich sei pervers. Sexsüchtig.    dachte ich mir immer. So ein bisschen mitmar-        ten angeprangert. Ich sei pervers. Sexsüchtig.
Selber schuld.                  schieren ist gut, mach ich gern! Aber das war es     Selber schuld. Oder sonst was. Diese Kommen-
                                auch schon mit der Solidarität. Daneben hatte        tare verärgerten mich. Verunsicherten mich.
                                ich einfach anderes zu tun, in meinem Alltag         Nicht nur weil einige davon gehässig waren,
                                beschäftigten mich andere Sorgen.                    weil viele vor Unwissen trieften. Ich wollte zu-
                                                                                     rückschlagen, sie beschimpfen. Aber ich hielt
                                Ich wusste es damals nicht besser. Im konser­        mich zurück. Hatten sie vielleicht recht?
                                vativen Österreich wächst man ohnehin in ei-            Es war das erste Mal, dass ich mich für mei-
                                ner konservativen Blase auf. Obwohl es schon         nen Sex schämte. Das erste Mal, dass ich dachte,
                                besser geworden ist, kriecht der Fortschritt         ich müsse mich gegenüber mir selber rechtferti-
                                elendig langsam voran.                               gen – und gegenüber der Gesellschaft. Ich bin so,
                                   Selbst in Sachen sexuelle Belästigung habe        wie ich bin. Aber wie ich bin, ist unerwünscht.
                                ich, das tolle männliche Geschöpf, Vorteile. Als        Zu gross war die Scham, das Gefühl, nicht
                                mir eine Public-Relations-Frau an den Arsch          mehr als Teil der Gesellschaft angenommen zu
                                grabschte, war das eine Ehre. Passiert mir ja        werden. Wie ein Krimineller, der hilflos seine
                                sonst nie. Was für ein Klischee! Wenn ich mit        Unschuld beteuert. Und je mehr ich mich ver-
                                ihr schlafe, bekomme ich den Job? So mit Mitte       teidige, desto schuldiger wirke ich. Ich musste
                                zwanzig lässt sich damit als Jungspund sogar         versteckt bleiben.
                                prahlen. Weil es eine Ausnahme ist, etwas, was          Ich gab meiner Leidenschaft und meinen se-
                                sonst nie vorkommt. Ignoranz kann schon et-          xuellen Vorlieben die Schuld, schämte mich für
                                was Wunderschönes sein.                              sie. Und gab somit meinen Kritikern recht: Ich
                                                                                     bin mit meinem Verhalten unverantwortlich
                                Dass Frauen täglich mit so was umgehen müs-          gewesen, ich verdiene den gesellschaftlichen
                                sen, dass es ein Alltag ist, wusste ich – aber ich   Ausschluss. Das hatte ich nun vom Brechen des
                                war in dieser Angelegenheit ohnmächtig. Was          Schweigens – eine Lawine an Vorwürfen und
                                kann ich schon bewegen, auf dass sich etwas          die Überzeugung, dass ich selber schuld bin.
                                ändert? So ist die Gesellschaft nun mal, da wer-        Auf einmal war ich empfänglicher für die
                                de ich als Einzelner wenig erreichen können ...      Ungerechtigkeiten andern gegenüber, auf ein-
                                Erst mit der Zeit sollte ich lernen, dass Schwei-    mal war da mehr als nur Mitgefühl. Der tägliche
                                gen eine Form von Zulassen ist.                      Kampf der anderen war plötzlich nachvollzieh-
                                                                                     bar. Das tägliche Sichrechtfertigenmüssen,
                                «Bis es irgendwann geklickt hat»                     dass man ist, wie man ist. Dass man auf Männer
                                Je älter ich wurde, desto mehr wurden mir diese      steht, auf Frauen, auf Anal-, Oral- oder sonstigen
                                Zustände bewusst. Die Ungerechtigkeiten. Die         Sex. Dass man «anders» ist. Dass man nicht dem
                                Missstände. Die Konflikte. Und die Macht, et-        Normativ entspricht. Und sich dafür schämen
                                was dagegen tun zu können. Ein langsamer Weg         soll.

18   Swiss Aids News 1 | 2021
Je mehr ich in die Welt der Menschen mit HIV       flössend. Statt die Unwissenheit anzuprangern,
eintrat, desto mehr öffnete sich mir eine an-      muss man die Leute bei der Hand nehmen und
dere Perspektive. Im Austausch mit anderen         es ihnen langsam und verständlich erklären.
HIV-positiven Menschen erkannte ich aber              Bewusstsein entsteht nur häppchenweise.
auch eklatante Unterschiede. Der Mann, der         Es sind die Alltagssituationen, in denen man
wegen seiner Homosexualität von der Fami-          Verständnis schafft und zum Nachdenken an-
lie verstossen wurde. Die Frau, die sich in der    regt. Nachvollziehbare Ereignisse, die einzelne
vermeintlich monogamen Ehe beim Ehemann            Situationen erklären – und nicht die komple-
angesteckt hatte. Schicksale, die doch sehr an-    xen patriarchalischen Systeme, die in unserer
ders waren als meins.                              Gesellschaft so tief verankert sind.
    Zum ersten Mal hörte ich das ohrenbetäu-          Ja, das ist mühsam, langwierig und anstren-
bende Schweigen anderer heterosexueller            gend. Aber wenn ich mit der Moralkeule oder
Männer. Ein Schweigen, das so viele andere         mit Fingerzeigen aufklären will, fühlen sich
Lebensbereiche betrifft. Frauenrechte. Migra-      viele Leute angegriffen.
tion. Sexuelle Gesundheit und Schwanger-
schaftsverhütung. Alles Themen, die einen          Die Krone der Schöpfung ist schnell verunsi-
möglichen Verlust von Privilegien und Status       chert und überfordert. Bei jeder Kritik fühlt sie
mit sich ziehen.                                   sich sofort angegriffen und schnappt zurück.
    Hatte ich wirklich einen Privilegienverlust    Ein angelerntes Verhalten, Wut und Angst müs-
erlitten? Oder war dieser nur gefühlt? HIV war     sen durch Machogehabe überkompensiert wer-
zwar ein harter Schnitt, aber ich genoss weiter-   den. Die Krone der Schöpfung muss, jetzt erst
hin mein Dasein als weisser, heterosexueller       recht, ihren Mann stehen, um sich zu verteidi-
Mann. Geborgen von Freunden und Familie.           gen. Damit sich am Status quo ja nichts ändert.
Und solange ich HIV nicht erwähnte, war es            In der Defensive greifen die weissen Hete-
einfach nicht da.                                  ros zu vereinfachten Antworten auf komplexe
                                                   Probleme – «Werte», «Moral», «Anstand» – und
Ich passe nicht in die Diskriminierungssche-       schnappen so nach dem Köder, den Populisten
mas der anderen. Ich bin keine Schwuchtel,         für sie ausgelegt haben, um sie an der Leine
keine Schlampe, kein Ausländer. Weiterhin          langsam, aber stetig fester an sich zu binden.
stehe ich unter dem Schutzschild des weissen,
westeuropäischen Heteros. Mir bleibt dieses        Ich erinnere mich an eine Situation in meiner
Privileg. Und es erlaubt mir, eine Entscheidung    Jugend, als eine gute Freundin von mir einfach
zu treffen: weiterzuleben wie bisher, indem        fragte: «Fühlst du dich sicher, nachts, leicht
ich HIV kaum thematisiere und mich dem             betrunken, allein auf dem Heimweg, und eine
Schweigen anschliesse – oder das Schweigen         Gestalt geht ein paar Meter hinter dir?»
zu brechen.                                           «Ja, klar.»
                                                      «Eben. Ich nicht.»
                                                                                                       Philipp Spiegel
«Schweigen ist nicht Gold,                            Da machte es das erste Mal Klick. Ein Häpp-      In meinem Leben als Fotograf
Schweigen ist der einfache Weg»                    chen, das ich nachvollziehen konnte. Das mir        heisse ich Christopher Kletter­
Mit Schweigen mache ich mir keine Feinde,          mein Privileg zeigte, ohne mich und mein Da-        mayer. In meinem Leben als Autor
lasse aber die Diskriminierung anderer zu.         sein zu werten. Seither wechsle ich bewusst         und Künstler heisse ich Philipp
   Oft frage ich mich: Warum habe ich diese        die Strassenseite, wenn ich nachts eine Frau        Spiegel – ein Pseudonym, das
Immunität, die der weisse Hetero geniesst, nie     allein die Strasse entlanggehen sehe.               ausschliesslich für meine HIV-
zuvor gesehen? Was hätte es vor HIV gebraucht,        Der Kampf für Gleichstellung ist ein langer,     bezogenen Arbeiten steht und als
um mich darauf aufmerksam zu machen? Um            einer, der womöglich nie zu Ende sein wird.         persönliche Abgrenzung dient.
sie nachvollziehen zu können? Ich weiss es         Wenn man allerdings bedenkt, dass über                 Seit 2013 bin ich HIV-positiv,
nicht.                                             zweitausend Jahre lang nur die eine Seite           seit dem 2. Januar 2014 weiss ich
   Zahlreiche Kommentare zu meinen Artikeln        des Menschseins, die männliche, privilegiert        davon, und seit 2017 schreibe
zeigen mir, dass Unwissenheit nicht gleich Igno-   war, sind wir in rund hundertfünfzig Jahren         ich regelmässig über mein Leben
ranz ist. Dass Themen wie Privilegien und Rech-    Frauenbewegung und knapp vierzig Jahren             mit HIV.
te komplex und langwierig sind. Vor allem in       LGBTQ-Bewegung doch schon verdammt weit
einer Zeit, wo man alles sofort wissen will und    gekommen.                                           www.philipp-spiegel.com
soll. Komplexität ist erdrückend und angstein-                                                         www.cklettermayer.com

                                                                                                             Swiss Aids News 1 | 2021   19
MEDIZIN

              HIV und COVID-19:
              Eine Wechselwirkung mit Folgen
                                Gleich wie zu Beginn die HIV-Pandemie hat uns COVID-19 innerhalb kurzer Zeit tief geprägt,
                                hat Verunsicherungen und Ängste ausgelöst und viele Fragen aufgeworfen: Besteht eine Wech-
                                selwirkung zwischen HIV und der Erkrankung an COVID-19? Schützen und wirken HIV-Medi-
                                kamente gegen COVID-19? Und weshalb konnte innerhalb weniger Monate eine hochwirksame
                                Impfung gegen COVID-19 entwickelt werden, während wir drei Jahrzehnte nach Entdeckung
                                von HIV noch immer auf eine Impfung gegen dieses Virus warten? Der vorliegende Artikel
                                beleuchtet diese Fragen und gibt Antworten darauf.

                                        DOMINIQUE LAURENT BRAUN

                                        Die Wechselwirkung zwischen                      pelt so hohes ­Risiko, im Spital an COVID-19
                                        HIV und COVID-19                                 zu versterben, allerdings in erster Linie bei
                                        Schon früh zu Beginn der COVID-19-Pan-           Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren wie
                                        demie kam die Frage auf, ob Personen mit         Übergewicht oder Diabetes. Zudem zeigt sich
                                        HIV ein höheres Risiko für einen schweren        dieses erhöhte Risiko vor allem bei Personen
                                        Verlauf mit COVID-19 haben. Blickt man in        mit einer Helferzellzahl unter 200 und in der
                                        die Zeiten der Aids-Pandemie zurück, findet      Altersgruppe unter fünfzig Jahren. Letztere
                                        sich bei Personen mit HIV für die meisten        Beobachtung lässt sich mit dem Konzept der
                                        viralen Atemwegsinfektionen keine erhöhte        früheren biologischen Alterung bei Personen
                                        Sterblichkeit oder Krankheitslast. Diese Beo-    mit HIV erklären.
                                        bachtung führte deshalb zur Annahme, dass
                                        Personen mit HIV – zumindest diejenigen, die     Fazit: Basierend auf den neusten Studien be-
                                        unter einer wirksamen HIV-Therapie stehen        steht bei Personen mit HIV wahrscheinlich
                                        und deren Helferzellzahl sich im normalen        ein erhöhtes Risiko für einen schweren Ver-
                                        Bereich befindet – kein erhöhtes Risiko für      lauf der COVID-19-Infektion, wobei dies mehr-
                                        eine schwere COVID-Infektion aufweisen.          heitlich auf Personen zutrifft, die bereits an
                                           Mittlerweile liegen Daten mehrerer Stu-       Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, lange
                                        dien aus Grossbritannien, den USA und            Zeit gegen ihre HIV-Infektion nicht behandelt
                                        Südafrika vor, die Personen mit HIV ein-         wurden oder eine tiefe Helferzellzahl aufwei-
                                        schlossen, von denen die meisten unter           sen. Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie
                                        einer wirksamen antiretroviralen Therapie        SHCS (www.shcs.ch) führt derzeit ebenfalls
                                        standen: In diesen Studien zeigt sich für Per-   eine Studie zu diesem Thema durch und wird
                                        sonen mit HIV, im Vergleich zu einer HIV-        Daten liefern, die das Schweizer Gesundheits-
                                        negativen Kontrollgruppe, ein ungefähr dop-      system besser reflektieren.

                                                                                         Schützen HIV-Medikamente
          Über kein Thema wurde in den letzten Wochen mehr                               gegen COVID-19?
          geschrieben, in der Politik gestritten und kochten                             Vielversprechend hörten sich die Resultate
          die Emotionen in der Gesellschaft höher als über die                           einer spanischen Beobachtungsstudie an, die
          COVID-19-Impfstoffe und deren Verfügbarkeit.                                   rückblickend bei Personen, die als Bestand-
                                                                                         teil ihrer HIV-Therapie mit dem Medikament
                                                                                         Tenofovir Disoproxil Fumarat (TDF) behan-
                                                                                         delt wurden, einen schützenden Effekt vor
                                                                                         einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 nahelegten.
                                                                                         Die Autoren führten diesen Effekt auf das im

20   Swiss Aids News 1 | 2021
Sie können auch lesen