Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
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Titelbild: Erntekreuz an der Kopfseite der Scheune des Klosters Impressum Herausgeber: Abtei Neuburg, Stiftweg 2, 69118 Heidelberg Redaktion: P. Ambrosius Leidinger OSB, Peter Stadler Mitarbeiter dieser Ausgabe: P. Benedikt, Altabt Franziskus, Barbara Grom, Bruno Volz Fotos dieser Ausgabe: P. Benedikt, Peter Stadler, P. Ambrosius Bankverbindung: Liga-Speyer, IBAN: DE09 7509 0300 0000 0644 67, BIC: GENODEF1MO5 E-Mail: kloster@stift-neuburg.de Internet: http://www.stift-neuburg.de · https://www.facebook.com/Stift-Neuburg Datenschutzrechtlicher Hinweis: Informieren Sie uns, wenn Sie die Zusendung in Zukunft nicht mehr wünschen. Sie werden dann sofort aus der Empfängerliste gestrichen. Weitere Informationen zur DSGVO finden Sie auf unserer Internetseite.
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde unserer Abtei! Papst Gregor der Große hat uns eine legendarische Biographie des Heiligen Benedikt, unseres Ordensgründers, hinterlassen. Darin wird unter anderem erzählt: Als Benedikt noch Eremit war, besuchte ihn zu Ostern ein Priester. Zu dessen Überraschung wusste Benedikt nicht, dass das wichtigste christliche Fest gefeiert wurde. Er sagte dem Priester nur: „ Ostern ist, weil du da bist!“ Was für eine Definition von Ostern, dem Fest der Begegnung mit dem Auferstandenen! Es ist Ostern, weil ein Gast da ist! Im Gast, der mit Benedikt feiern wollte, begegnete ihm also der Auferstandene. Der Gast übernimmt den Dienst der Apostel und legt „Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (Apg 4,33). Und dann halten Gast und Eremit miteinander Mahl. Dieses Essen, verbunden mit dem geistlichen Gespräch und dem Lob Gottes führt Benedikt aus der Einsamkeit des Eremitendaseins zurück in die Gemeinschaft der Glaubenden. Erst jetzt entdeckt er den Segen der Gemeinschaft. Dementsprechend beschreibt er in seiner Regel dann auch die Aufnahme der Gäste: „Bei der Begrüßung begegnet man allen Gästen in tiefer Demut. Man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus, der in Wahrheit aufgenommen wird“. Es handelt sich dabei also um eine konkrete Erfahrung mit dem Auferstandenen. Doch der Auferstandene ist gemäß der Regel des Heiligen Benedikt auf vielfältige Weise erlebbar: zum Beispiel in den Kranken, denn der Herr sage uns, so Benedikt: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht“. Ebenso kann man ihm begegnen in der Stellungnahme eines jüngeren Bruders oder in der Kritik eines Gastes. Ostererlebnisse also ein bisschen überall: im Gästehaus, am Krankenbett, bei Beratungen. Deshalb schmerzt es uns in diesem Jahr so sehr, dass wir keine Gäste empfangen können. Steht uns wieder ein stilles Osterfest bevor wie im letzten Jahr, als die Türen zum Stift und zur Kirche verschlossen waren? Was auch geschieht, wir Mönche werden Ostern gemein- sam mit Ihnen feiern, auch wenn Sie, liebe Freunde der Abtei, nur in unseren Gebeten und Gedanken anwesend sein können. Es wünscht Ihnen im Namen der Neuburger Kommunität eine gesegnete Fasten- und Osterzeit Ihr P. Benedikt 3
Das Kreuz an der Scheune Wo befindet sich das schöne Kreuz mit den Schnitzereien vom Titelbild? Man muss schon auf- merksam über das Klosterge- lände gehen, um es zu entde- cken. Es befindet sich über dem Eingangstor der großen Scheune. Dieses schöne Bau- werk mit dem Fachwerk wurde 1936-1937 im Mausbachtal errichtet. Mit dem Bau der Scheune und den dazugehörigen Stallungen wurde die damalige alte Ökonomie ersetzt. Diese befand sich an der Stelle des heutigen Konventgebäudes und der Pforte. Der Bau des neuen Ökonomiegebäudes muss für die damalige junge Abtei eine große Herausforderung gewesen sein. Der erste Abt Adalbert von Neipperg hatte 1934 Scheune während der Errichtung 1936 4
resigniert und die Abtei verlassen, und das junge Kloster hatte große finanzielle Probleme. Inzwischen hatten die Nationalsozialisten die politische Führung in Deutschland übernommen. Die große Scheune mit den Stallungen für die Kühe, deren Kälber und zwei Pferde war in vieler Hinsicht ein moderner Wirtschaftsbau. Überhaupt muss das neue Gebäude mit den Stallungen, der Milchkammer, den Silos und dem Rübenkeller für die umliegenden Klein- und Nebenerwerbsbauern ein Novum gewesen sein. Hinzu kamen noch zwei Wohnräume über den Stallungen. Charakteristisch sind das große tiefgezogene Dach und die Einfahrtsrampe an dem nörd- lichen Tor. Eine zweite Rampe an der Südseite des Gebäudes war wohl geplant, wurde jedoch nie realisiert. Das große Tor jedoch ist jedoch vorhanden. Auch innen beeindruckt die aufwendige Holzkonstruktion mit der langen Brücke, die sich durch da ganze Gebäude zieht. Die Architektur erinnert an die großen Schwarzwaldhäuser. Tatsächlich war einer der damaligen Ökonomiebrüder ein Schwarzwälder aus dem Kinzigtal: Bruder Paschal Harter war Konventuale in der Erzabtei Beuron und kam als Pionier nach Neuburg. Über Jahrzehnte hat er die Neuburger Ökonomie gepflegt und geprägt. In jüngster Zeit wurden die Stallungen mehrfach verändert und den jeweiligen neuen Anforderungen angepasst, dazu gehörte auch ein moderner Melkstand. Die Milch diente zunächst dem Eigenbedarf, wurde aber auch auf dem Hof verkauft und an die Milchzen- trale geliefert. Später ging die Milch an eine lokale Käserei. Seit geraumer Zeit steht die Scheune mit den Stallungen leer. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Peter Stadler 5
Die Mond-Theologie der frühen Kirche Das Kreuz mit Sonne, Mond und Sternen im Fachwerk unserer großen Scheune hat mich dazu angeregt, einige Gedanken der frühen Kirchenväter aufzugreifen. Wenn wir die aktuelle Situation unserer Kirche in Deutschland – und nicht nur dort – betrachten, dann müssen wir sagen: Gott scheint anderes mit ihr vorzuhaben als wir. Womöglich hat Gott einen Rückzug verfügt. Neu ist diese Erfahrung allerdings nicht, vielmehr hat sie die Kirche Jesu Christi von Anfang an begleitet, denn schon die Kirchen- väter wussten um Prozesse des Werdens und Vergehens in der Kirche, die sie mit dem zyklischen Anwachsen und Abnehmen des Mondes verglichen. Indem sie sich inspirieren ließen von den hellenis- tischen Spekulationen über das Ver- hältnis von Sonne und Mond, zwi- schen Mond und fruchtbringender Erde, entwickelten sie die sogenannte Lunar- oder Mond-Theologie, die aber vor allem Sinnbild des Mysteriums von Christus und seiner Kirche sein sollte, das heißt, ‚Sonne‘ war das Symbol für Christus und ‚Mond‘ das Symbol für die Kirche. Kirche als Braut Christi, die „schön ist wie der Mond“: Dieses Bild zeich- net eine geistige Wirklich- keit, auf die Sonne und Mond vorbildhaft hinweisen: Wie der Mond strahlt die Kirche kein eigenes Licht aus. Sie empfängt und reflektiert lediglich das Licht Christi, ihrer Sonne. Zugleich ver- weist der Mond aber noch auf eine andere Wirklichkeit, auf die des abnehmenden Lichts und der wach- senden Schatten, auf das Erlöschen der irdischen Sichtbarkeit, das heißt, auf Altern, Verfall und Tod. Die Kirche verkörpert daher ein seltsames Para- dox. Als in Christus Hineinsterbende erhält sie gerade in der täglichen Ver- nichtung ihrer irdischen Sichtbarkeit, nämlich in der mystischen Vereinigung mit Christus, die Kraft zur Zeugung geistlichen Lebens. Sie wird zur „Spenderin des Taus der Gnade“. Daher ist sie auch Leben spendende Mutter. Und sie ist strahlende Kirche. Wie der Mond erhellt sie die Nacht, durchläuft sie die Zeit bis zu dem Tag, wo Zunehmen und Wachsen, Abnehmen und 6
Sterben aufhören, wo die Pilgerschaft zu Ende ist. Dann erstrahlt sie in ihrer vollen Gestalt – wie der volle Mond. In diesem Sinne ist sie Braut, Mutter und Königin. Die lateinische Kirche übernahm diese Symbole und das damit einhergehende Denken von den griechischen Theologen, insbesondere von Origenes aus Alexandrien in Ägypten, dem größten Theologen der frühen Kirche. Wie wirkmächtig die Bilder von Sonne und Mond zu jener Zeit waren, lässt sich daran ablesen, dass z. B. der hl. Ambrosius immer wieder gegen den heidnischen Kult des Sol invictus, – den Kult der unbesiegbaren Sonne zur Wintersonnenwende am 25. Dezember – und gegen den Kult der lunaren Muttergottheit anging. Diese Kulte stellten für die frühe Christenheit eine ernste Gefahr dar. Deshalb setzte die frühe Kirche ihnen die christliche Symbolik von Christus, als der wahren Sonne, und von der Kirche als Luna (Mond), ihrem bräutlichen Schwester- gestirn, entgegen. Ambrosius will damit sagen, dass alles Irdische eine Zeit der Blüte und eine Zeit des Verfalls habe. Selbst die Kirche Christi sei Gezeiten unterworfen, doch sie allein sei – wie der Mond – imstande, ihr Licht und ihre Jugend in sich stets wiederho- lender Auferstehung zu erneuern. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts führte man dann das Weih- nachtsfest ein, das den Kult des Sol invictus verdrängen sollte. Aber noch der große Papst Leo (+ 461) musste alle Hebel in Bewegung setzen, um zu verhindern, dass die Christen die Riten des Sonnenkults übernahmen. Ungeachtet dessen beginnt der hl. Ambrosius seinen Sonnengesang mit: „Die Sonne ist das Auge der Welt, die Freude des Tages, des Himmels Schönheit, der Natur Liebreiz, das Juwel der Schöpfung“, münzt seinen Sonnenhymnus aber auf Christus um: „Wenn Du die Sonne siehst, denke an ihren Herrn, wenn du sie bewunderst, singe ihrem Schöpfer. Wenn schon die Sonne so lieblich strahlt, wie gütig muss erst jener sein, der da ist die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘!“ Dem liegt die Anschauung – und die astronomische Tatsache – zugrunde, dass Luna (der Mond, der in allen europäischen Sprachen „weiblich“ und nur auf deutsch „männlich“ ist) ihr Licht von der Sonne empfängt. Luna ist die „Braut der Sonne“, ja die Natur insge- 7
samt steht in einem empfangenden, bräutlichen Verhältnis zur Sonne. Zugleich ist Luna mit ihren Wandlungen und „Leiden“ ein Symbol für das menschliche Leben. Zwar sind es nur vermeintliche Veränderungen, die das menschliche Auge am Mond wahrnimmt, der seine Größe in Wirklichkeit ja nicht verändert. Nur sein Licht nimmt jeden Monat ab, seine körperliche Substanz nicht. Die Mondscheibe selbst bleibt immer so groß, wie man sie bei Vollmond sieht. Doch wenn bei abnehmendem Mond der Erdschatten immer größer wird, entsteht der Eindruck, als leide Luna, als sei sie gleichsam „eine trauernde Witwe“. Mit dem Bild von den „Leiden“ des Mondes verweist Origines auf das Mysterium des Todesleidens der Kirche. Ambrosius entwickelt diese Todestheologie noch weiter: Die „Leiden der Luna“ werden als Nachvollzug des christlichen Geheimnisses vom Herabstei- gen des menschgewordenen Logos verstanden. „Der Mond nimmt ab, um den Dingen ihre Fülle zu geben.“ Dieses paradoxe Grundgesetz sei dem Himmelsgestirn von Gott eingeschaffen worden, um daran das Grundgesetz der Erlösung zu veranschaulichen. In diesem Geheimnis des göttlichen Herabsteigens, in der Menschwerdung, gründe das Mysterium der Kirche selbst. Die Kirche sei seit dem Augenblick der Menschwerdung die Geliebte, die Braut, die als geistige Luna die Nacht der Zeit durchlaufe bis zu dem Tag, an dem sie voll erleuchtet und umstrahlt sei vom Licht des Logos, des Bräutigams. Solange die Kirche noch durch die Nacht der Zeit pilgert, ist sie auch den „Leiden“ des Mondes unterworfen. Wie der Mond kennt auch sie Lichtverlust und Lichtwachstum, allerdings unterliegt sie jener oben genannten paradoxen Dialektik der Todestheologie: während sie abzunehmen scheint, wächst sie. Noch einmal Ambrosius: „Die Kirche aber ist der wahre Mond. Vom unvergänglichen Licht ihres Brudergestirns borgt sie das Licht der Unsterblichkeit und Gnade; denn nicht im eigenen Licht leuchtet die Kirche, sondern im Licht Christi. Und ihren strahlenden Glanz entlehnt sie der Sonne der Gerechtigkeit, so dass sie sagen darf: ‚Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern in mir lebt Christus‘! O wahrhaft selig bist du, Luna, die du so großer Ehre gewürdigt wurdest!“ Ambrosius führt diesen Gedanken aber noch weiter. War bisher die Menschwerdung das große Mysterium, das sich in der Kirche fortsetzt, so denkt er nun darüber nach, wie der Tod des menschgewordenen Gottes am Kreuz sich auf die Kirche, auf ihr mystisches Sterben, auswirkt. „Denn gleich dem Mond scheint sie abzunehmen, und doch nimmt sie nicht ab. Dunkle Schatten können sie verhüllen, aber abnehmen kann sie nicht. Sie nimmt ab in der Verfolgung, wenn der eine oder andere von ihr abfällt, doch nur, um durch das Bekenntnis der Märtyrer wieder ihren vollmondlichen Glanz zu erlangen, um – vom Ruhm 8
des sieghaft für Christus vergossenen Blutes überstrahlt – das immer herrlichere Licht der Gotthingabe und des Glaubens über den ganzen Erdkreis zu verströmen“. Nicht der Glanz des Messias ist also die Botschaft, nicht der Erfolg des Starken, sondern der Glaube des Angefochtenen, die Hoffnung des Bedrängten, die Treue des Berufenen, die Liebe des Abgelehnten! Es besteht mit dieser „Lunartheologie“ nicht die geringste Chance, aus Gott eine Erfolgsgeschichte zu machen. Würde der Glaube das ernst nehmen, hätte dies etwas Rettendes. Denn der Leitsatz unserer Welt „Ich bin, wenn ich erfolgreich bin“ ist einfach eine unerträgliche Verkitschung des Seins und – wenn jener Satz sich in Frömmigkeit kleidet – eine frevelhafte Banalisierung Gottes. Eine Religion und eine Kirche, in der Erfolg und Segen deckungsgleiche Größen sind, hat der Welt nichts zu sagen, denn was solch eine Religion sagen könnte, sagt die Welt sich bereits selbst. Unter dem Kreuz stehen Menschen und verhöhnen den Sterbenden. Sie bleiben ihrem einfachen Muster treu und rufen nach einem starken Gott: Erfülle unser Muster, dann wollen wir glauben! Mit den Worten des Markusevangeliums: „Hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz!“(Mk 15, 30). Im Vertrauen Jesu liegt dieser gewaltige Gegensatz:. Sein Leben ist kein Leben, das keine Brüche, keine Krisen kennt, das aber ebenso wenig angesichts einer Krise kein Vertrauen mehr kennt. Jesu Leben und Tod laden ein, sich beidem zu stellen – Vertrauen zu wagen und sich von Krisen nicht brechen zu lassen. Zum Schluss noch der hl. Augustinus: Dunkel sei der bescheidene und vor der Welt ver- borgene Beginn ihrer [der Kirche] Geschichte. Die Sündigkeit ihrer Glieder liege wie ein Schatten auf ihr und gereiche ihr zur Schande. Die Mondscheibe habe sich durch den Tod der Märtyrer blutrot gefärbt. Die sichtbare Kirche werde zum skandalon, weil ihr Geschick eine Nachbildung dessen sei, der im skandalon des Kreuzes den österlichen „Übergang“ vom Tod ins Leben hinein vollzog. Eine Theologie längst vergangener Zeiten – sie könnte zu denken geben. P. Ambrosius 9
Der Kreuzweg I. STATION Jesus wird zum Tod verurteilt Warum spricht man Jesus schuldig? Was hat er getan? Kaiphas ist eigentlich ein großer, kein schwacher oder einfacher Geist: „Es ist besser, wenn nur einer stirbt und nicht das ganze Volk.“ In seinen Augen ist Jesus ein Auf- rührer, der die religiöse und gesellschaftliche Ordnung ins Wanken bringt. Und dabei ist es bis heute geblieben. Immer noch gibt es Kaiphas-Prozesse, bei denen Unschuldige geopfert werden. Einsicht und Widerruf von Judas, dem Verräter, dem Mitläufer, kommen zu spät. Pilatus braucht das Urteil nur noch zu bestätigen – und wird es tun. Ecce homo, Tizian (1488-1576), Jes 53, 7-8 um 1560, Muzeul Naţional Brukenthal, Hermannstadt, Er wurde bedrängt und misshandelt, Rumänien aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt, so tat auch er seinen Mund nicht auf. Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Joh 18,37 „Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5) „Ecce homo – seht den Menschen“, sagt Pilatus über den zum Tod Verurteilten und wäscht demonstrativ seine Hände in Unschuld. Überall auf der Welt werden die Rechte von Menschen mit Füßen getreten. In Stille geden- ken wir der Menschen, die keine Hoffnung auf ein gerechtes Gerichtsverfahren haben und Opfer einer ungerechten Justiz werden. Ecce homo, Tizian (1488-1576), um 1543, Kunsthistorisches Museum Wien 10
Herr, Du hast das ungerechte Urteil schweigend angenommen. Steh denen bei, die zu Unrecht verurteilt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Gib uns die Kraft, dass auch wir lieber Unrecht erleiden als anderen Unrecht zuzufügen. Amen. II. STATION Jesus nimmt das Kreuz auf sich Kein Wort der Erklärung oder der Rechtfertigung kommt Jesus über die Lippen. In der Welt zählen die Zweckargumente. Wer aber immer nur fragt, was ‚bringt‘ mir das, wer immer nur fragt, wie er das Wasser auf die eigene Mühle leiten kann, der hat Gott nicht verstanden. Jesus muss jetzt alles loslassen – auch die Menschen, die er liebt, deren Wunden er im Vertrauen auf Gott geheilt hat. Verstehen wir, dass in jedem Kreuztragen die Chance der Verwandlung steckt? Jesus trägt das Kreuz, Tizian (1488-1576), um 1565, Museo del Prado, Madrid Jes 53,6.8b-9a Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der HERR ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen. Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Vergehen meines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Frevlern gab man ihm sein Grab und bei den Reichen seine Ruhestätte. „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Mk 8,34 Jesus hat sein Leben nicht für sich selbst gelebt, sondern die vielen Kreuze dieser Welt auf sich genommen. Damit solidarisiert er sich mit denen, denen Unmenschliches zugemutet wird. Wir gedenken in Stille der Menschen, denen unerträgliche Lasten aufgebürdet werden. Herr, du hast die Last des Kreuzes auf dich genommen. Gib uns die Kraft, dir nachzufolgen und dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Lass uns von uns selbst absehen und mit- fühlen mit den Sorgen und Schmerzen anderer. Amen. 11
III. STATION Jesus fällt zum ersten Mal Wir sehen die Nachrichten: Irgendwo ist gerade Krieg, irgendwo wird Menschen gerade Gewalt angetan, irgendwo wird gerade ein Kind misshandelt. Tag für Tag Katastrophenmeldungen. Das stumpft auf Dauer ab. So können wir Gott nicht begegnen. Wir müssen wieder lernen, uns auf konkrete Menschen zu konzentrieren, auf die alltägliche Not vor unserer Tür. Der Kreuzweg ist mühsam, ein Weg der kleinen Schritte – der Weg Die Kreuztragung Christi, der Kranken, der Leidenden, der Weg der Geknechteten. Hieronymus Bosch (1450-1616), 1515-16, Königliches Museum, Gent Jer 17 15-17 Siehe, jene sagen zu mir: Wo bleibt denn das Wort des HERRN? Soll es doch eintreffen! Ich aber habe mich nicht entzogen, hinter dir Hirte zu sein, und habe den Unglückstag nicht herbeigewünscht. Du weißt es selbst; was mir über die Lippen kam, liegt offen vor dir. Werde nicht zum Schrecken für mich! Du bist meine Zuflucht am Tag des Unheils. „Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Mt 8,20 Immer war Jesus für Andere da und half ihnen, wo er konnte. Jetzt, wo er selbst Hilfe braucht, verlassen ihn sogar seine besten Freunde. Es gibt Menschen, die sich für andere aufopfern, aber auf niemanden zählen können, wenn sie selbst Hilfe brauchen. In Stille gedenken wir der Menschen, die in der Stunde ihrer Not verlassen werden. Herr, unter der Last des Kreuzes bist du zu Boden gestürzt. Lass uns nicht den Mut verlie- ren, wenn uns Freunde und Bekannte verlassen. Amen. IV. STATION Jesus begegnet seiner Mutter Wir kennen Fragen wie: Was sagen die Anderen? Was halten die Mächtigen von Dir? Was soll aus deinem Leben werden? Eltern sorgen sich um den Werdegang ihrer Kinder. Sie haben Wünsche, sie haben Pläne, sie möchten ihnen ihre größere Lebenserfahrung weitergeben. Doch Kinder gehen ihre eigenen Wege und treffen ihre eigenen Entscheidungen. „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ fragt Jesus und schaut rings um sich auf die, die um ihn im Kreis sitzen, und sagt: „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk 3,34-35). 12
Jer 15,10.18a Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast, einen Mann, der mit aller Welt in Zank und Streit liegt. Ich bin niemands Gläubiger und niemands Schuldner und doch fluchen mir alle. Warum dauert mein Leiden ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Lk 2,35 Auf grausame Weise erfüllt sich mit dem Kreuzweg ihres Sohnes für Maria die Weissagung des Simeon. Wir entdecken in Maria den Kummer aller Mütter auf dieser Welt, die um ihre Männer und Söhne trauern. In Stille gedenken wir vor allem der Mütter in Afghanistan und Syrien, deren Männer, Söhne und Väter verschleppt oder ermordet wurden. Herr, Maria hat auf deinem Weg zum Kreuz deine Schmerzen mitgelitten. Lass uns durch ihr Beispiel zu Menschen werden, die auch dann nicht weglaufen, wenn das Leiden scheinbar unerträglich wird. Amen. V. STATION Simon von Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen Niemand hat Jesu Tod gewollt – weder Judas, der Verräter, noch Pilatus, der Richter. Doch alle haben Angst, Angst um sich selbst, Angst vor Konsequenzen. Angst verstellt ihnen die Möglichkeit, anders zu handeln. Sie glauben nicht helfen zu können. Simon muss gezwun- gen werden, Jesus das Kreuz tragen zu helfen. Auch das ist Antwort, wenn einer durch sein Tun dazu beiträgt, das Leid anderer etwas zu erleichtern. Kohelet 4,9-10.12 Zwei sind besser als einer allein, falls sie nur reichen Ertrag aus ihrem Besitz ziehen. Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet. Und wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt, zwei sind ihm gewachsen und eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell. „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Gal 6,2 Simon hat Jesus das schwere Kreuz eine Zeitlang abgenommen. Viele Menschen fühlen sich allein gelassen mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihrem ganzen Leben. Wir gedenken in Stille der Menschen, die einsam sind. 13
Herr, du warst auf die Hilfe anderer angewiesen. So bist du uns auch in unserer Bedürf- tigkeit gleich geworden. Bleibe bei uns, wenn uns die Einsamkeit überfällt. Schenke uns ein hörendes Herz, damit wir mit dem Herzen erkennen, wer unsere Nähe braucht. Amen. VI. STATION Veronika reicht Jesus das Schweißtuch Vielleicht erinnert sich Veronika in diesem Augenblick daran, dass Jesus am Vortag mit seinen Jüngern in Bethanien an einem Abendessen teilnahm und eine Frau sein Haupt mit kostbarem Öl salbte. Nun, angesichts der erbarmungslosen Gewalt, bricht aus Veronika eine zärtliche Geste der Liebe hervor. Veronika und die unbekannte Frau in Bethanien, beide sind auf ewig unvergessen. Wir dürfen vor Gott das Gefühl haben, dass das Gute, was wir tun, auf ewig unvergessen bleibt. Was die beiden Frauen getan haben, wird durch den Tod nicht zerstört. Das „Schweißtuch der Jes 58, 9b-10 Hl. Veronika“ von 1419, Gemünden Wenn du Unterjochung aus deiner Mitte entfernst, auf keinen mit dem Finger zeigst und niemandem übel nachredest, den Hungrigen stärkst und den Gebeugten satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf und deine Finsternis wird hell wie der Mittag. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Mt 25, 40 Barmherzig sein wie der Vater im Himmel: das war die Botschaft Jesu in Wort und Tat. So viele mögliche Werke der Barmherzigkeit bleiben ungetan. Wir gedenken in Stille der vielen Menschen auf der Erde, denen es am Allernotwendigsten wie Nahrung, Kleidung, sauberem Wasser fehlt. Herr, eine mutige Frau hat dich auf deinem Leidensweg getröstet. Lass uns am Beispiel Veronikas begreifen, dass es nicht immer großer körperlicher Anstrengungen bedarf, um einem Menschen beizustehen. Gib uns ein Herz, das Anteil nimmt am Schicksal anderer Menschen. Amen. 14
VII. STATION Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz Die entscheidende Frage lautet nicht: ‚Was haben wir richtig gemacht?‘ oder: ‚Was haben wir falsch gemacht?‘ Die Hauptaufgabe unseres Lebens besteht nicht darin, ängstlich jedem Fehler nachzuspüren. Gott ist kein Buchhalter. Er führt keine Listen, kein Sünden- register. Er sieht uns in jedem Augenblick und trägt uns mit seiner bedingungslosen Liebe. Allein die Art und Weise, wie wir einander Leben ermöglichen, entscheidet darüber, ob wir das Leben Jesu in uns töten oder es in uns aufnehmen. Jes 50, 6-7a Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und meine Wange denen, die mir den Bart ausrissen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. Und GOTT, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. „Wer also zu stehen meint, der gebe Acht, dass er nicht fällt.“ 1 Kor 10,12 Jesus ist kein Übermensch. Er bricht wieder unter seiner Last zusammen. Wir entdecken in diesem zweiten Sturz Jesu all diejenigen, die unter den Überforderungen ihres Lebens zusammenbrechen. In Stille gedenken wir auch der Not arbeitsloser Menschen, die es nicht nur in unserem Land gibt. Herr, zum zweiten Mal brichst du unter der Last des Kreuzes zusammen. Bewahre uns davor, dass wir über das hinaus geprüft werden, was wir ertragen können. Lass uns wieder aufstehen, wenn wir gefallen sind. Amen. VIII. STATION Jesus begegnet den weinenden Frauen Frauen haben den Lebensweg Jesu begleitet, und nun begleiten sie auch seinen Leidens- weg. Sie sind es, die ihn nicht verleugnen und die standhalten. Sie wagen es, in sein geschundenes Gesicht zu blicken. Menschen weinen, wenn sie eine schreckliche Situation mit dem Verstand nicht mehr begreifen können. Aber es gibt eine Traurigkeit, die zu Selbstmitleid und ständigem Jammern führen kann, zur Einkrümmung in sich selbst. Es gibt jedoch noch eine andere Traurigkeit angesichts der Wunden, die das Leben geschla- gen hat, die dazu führt, dass ich mich öffne. Sie lindert meine Schmerzen, indem sie mich barmherzig macht und die Not des Anderen sehen lehrt. 15
Klagelieder 3,48-51 Tränenströme vergießt mein Auge über den Zusammenbruch der Tochter, meines Volkes. Mein Auge ergießt sich und ruht nicht; es hört nicht auf, bis der HERR vom Himmel her sieht und schaut. Mein Auge schmerzt mich wegen all der Töchter meiner Stadt. „Töchter Jerusalems, weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und eure Kinder! “ Lk 23,28 Trotz der eigenen Not vergisst Jesus nicht das Schicksal seines Volkes, vor allem nicht das der Frauen und Kinder. Wir gedenken in Stille der Frauen und Kinder, die in den militärischen Auseinandersetzungen die Hauptleidtragenden sind – selbst dann noch, wenn ein Krieg bereits beendet ist. Wir gedenken auch der vielen Kinder und Erwachsenen, die durch Landminen verstümmelt oder getötet werden. Herr, du gehst den gleichen Leidensweg wie die Menschen deines Volkes Israel. Bewahre uns davor, dass wir angesichts der vielen Leidensnachrichten aus aller Welt zynisch werden und unser Mitgefühl verlieren. Amen. IX. STATION Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz Die Last des Kreuzes drückt Jesus nieder. „Ihr alle werdet straucheln“, sagte Jesus zu Petrus. Jesus weiß um die Schwachheit seiner Jünger. Sie, und allen voran Petrus, stehen stellvertretend für uns alle, die immer wieder der Vergebung bedürfen. Auch wenn wir schuldig geworden sind, wendet Gott seinen Blick nicht von uns ab. Er steht zu uns, gerade wenn wir stolpern und straucheln. Unser Leben ist von der Liebe Gottes umgriffen, mag geschehen was will. Jes 49,1b.3-4 Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will. Ich aber sagte: Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft für Nichtiges und Windhauch vertan. Aber mein Recht liegt beim HERRN und mein Lohn bei meinem Gott. 16
„Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt.“ Mt 23,37 Jesu dritter Sturz ist die Folge von Erschöpfung und Verzweiflung. Wir erkennen in ihm die vielen Menschen, die verzweifeln, weil ihnen ihr Leben sinnlos erscheint. In Stille gedenken wir der Menschen, die glauben, ihr Leben sei gescheitert. Herr, du stürzt nicht nur aus Erschöpfung, dich schlägt auch die Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit der Menschen nieder. Bewahre uns vor Verzweiflung, wenn wir die Frucht unserer Bemühungen nicht zu erkennen vermögen. Lass uns für Menschen eine Stütze sein, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen. Amen. X. STATION Jesus wird seiner Kleider beraubt Selbst seines letzten Schutzes wird Jesus beraubt. Was wird Gott tun? Was kann Gott jetzt noch tun? Wenig später wird er beten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas- sen?“. Und doch vertraut er darauf, dass Gott ihn nicht verlässt, denn er nennt ihn auch jetzt noch: „Abba, – lieber Vater“. Was immer auch geschieht, Gott, sein Vater, weiß es. Deshalb kann er mit Psalm 31 beten: „In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist“. Ps 22,18-21 Ich kann all meine Knochen zählen; sie gaffen und starren mich an. Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand. Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe! Entreiß mein Leben dem Schwert, aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut! „Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben.“ Mt 25,36 Dass man ihm die Kleider vom Leib reisst, ist eine letzte Erniedrigung des Herrn. Wir wissen, dass auch heute Menschen in ihrer körperlichen Würde verletzt werden. In Stille gedenken wir der Menschen, die in Folterkellern psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind. Herr, die Soldaten haben dich vor aller Welt bloßgestellt. Dein Anblick soll uns davor bewahren, anderen Menschen ihre Würde zu nehmen und sie lächerlich zu machen. Amen. 17
XI. STATION Jesus wird ans Kreuz genagelt Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld. Das eigene Überleben hat schließlich Vorrang. Außerdem hält er sich ja an das Gesetz. Auch die Soldaten befolgen nur Befehle. Sie strecken den geschundenen Körper Jesu auf dem Kreuz aus. Was folgt, ist für die Henker Routine. Brutal verrichten sie ihre Arbeit. Jesus verfällt nicht in Hass oder Bitterkeit, sondern bittet um Vergebung für seine Peiniger. Ps 51, 3-6 Christus und der gute Schächer, Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, Tizian (1488-1576), um 1563, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! National-Pinakothek, Bologna Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was böse ist in deinen Augen. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Lk 23,34 Die Schergen tun ihre sogenannte Pflicht. Jesus bittet um Vergebung für sie, die ihn erbarmungslos hinrichten. Menschen, die unschuldig leiden müssen, sind oft voller Hass und Rache. In Stille gedenken wir aller Menschen, die, wie in Israel und Palästina, unter den Folgen von Hass und Rache leiden müssen. Herr, Dein Erbarmen mit den Menschen ist so groß, dass es uns unbegreiflich erscheint. Du verkörperst die Liebe deines Vaters, damit wir durch Dein Beispiel lernen, uns überall für Versöhnung unter den Menschen einzusetzen. Amen. XII. STATION Jesus stirbt am Kreuz Das bittere Ende des Lebens Jesu erscheint wie ein Alptraum. Nur der römische Hauptmann, der unter dem Kreuz steht, kommt bestürzt zu der Einsicht, die alles verändert: „Dieser Mensch ist in Wahrheit Gottes Sohn“. Im Tod wird endgültig klar, was Jesus sein Leben lang gelebt hat: dass alle menschliche Angst bei ihm geborgen ist und er alle menschliche Schuld vergeben kann. Der Schleier vor unseren Augen zerreißt, so wie der Vorhang im Tempel. Vom Kreuz kommt das Heil. Sind wir bereit? 18
1Petr 2,23-24 Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. „Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ Phil 2,8 Er, der noch so viel Gutes in dieser Welt hätte wirken können, stirbt wie ein Verbrecher am Kreuz. Viel zu viele Menschen müssen sterben, weil sie Opfer von ungerechten Ver- hältnissen, von Hunger, Terror und Krieg werden. In Stille gedenken wir der Menschen, die einen zu frühen Tod sterben müssen. Herr, du hast unser irdisches Dasein bis zur Neige gekostet, bis zum Tod am Kreuz. Gib uns Kraft und Mut, dass wir überall da widerstehen, wo die Sünde zu Gewalt oder gar zu Tod führt. Bleibe bei uns, wenn wir uns von allen Menschen verlassen fühlen. Amen. XIII. STATION J esus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt Josef von Arimatäa, ein Freund Jesu, und andere Jünger neh- men den Leichnam behutsam vom Kreuz und legen ihn in den Schoß seiner Mutter. Maria weint um ihren Sohn. Gemeinsam erweisen sie dem Herrn den letzten Liebesdienst: sie salben den toten Körper und umwickeln ihn mit Leinenbinden. Was bleibt, ist die Liebe. Klagelieder 1,12.16 Pietà, Benediktiner-Abtei Ihr alle, die ihr des Weges zieht, Maria Laach, schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, 15. Jahrhundert den man mir angetan, mit dem der HERR mich geschlagen hat am Tag seines glühenden Zornes. Darüber muss ich weinen, mein Auge, ja, mein Auge fließt von Tränen. Fern von mir ist ein Tröster, mein Leben zurückzubringen. „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.“ Mt 5,4 19
Am Ende des Leidensweges steht für die Mutter Jesu und seine Jünger abgrundtiefe Trauer. Angesichts des Todes verstummen alle gescheiten Reden und Erklärungen. In Stille geden- ken wir der Menschen, die um einen lieben Menschen trauern und keinen Trost finden. Herr, als du unter uns lebtest, hast du die Trauernden seliggepriesen. Du hast sie getröstet, wo du nur konntest. Steh allen bei, die um ihre Angehörigen trauern. Schenk uns dein liebevolles Mitgefühl für die Trauernden. Amen. XIV. STATION Jesus wird ins Grab gelegt Letzter Akt der Trauer. Ein Leichentuch und ein offenes Grab. Doch vorerst ahnen wir nur, dass dies womöglich nicht der letzte Akt ist. Vielleicht wird doch wahr, was der Prophet Jesaja gesagt hat: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“? Warten. Hoffen. „Sorgt euch nicht um euer Leben. Alles kann, wer glaubt. Friede sei mit euch. Kommt und folgt mir nach“. Ijob 17,1-2.7 Mein Geist ist verwirrt, meine Tage sind ausgelöscht, nur Gräber bleiben mir. Wahrhaftig, nur Spott begleitet mich. In ihren Bitterkeiten verbringt mein Auge die Nacht. Vor Kummer ist mein Auge matt, Grablegung, Rembrandt all meine Glieder sind wie ein Schatten. (1606-1669), 1635, Alte Pinakothek, München „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ Joh 12,32 Gott geht den Weg aller Menschen bis zum Ende. Für viele Hinterbliebene ist das Grab oft der letzte Ort, an dem sie die Nähe ihrer Verstorbenen erfahren. Wir denken in Stille besonders an diejenigen, die zum Trauern nicht einmal ein Grab haben, weil ihre Ange- hörigen verschleppt und ermordet wurden. Herr, wir danken dir, dass du unser Menschenlos bis in die letzte Dunkelheit hinein geteilt hast. Lass uns aus der Hoffnung leben, dass die Liebe deines Vaters stärker ist als die Macht des Todes. Amen. P. Ambrosius 20
Der gläubige Thomas So etwas wie Zufall gibt es nicht, aber es kann uns etwas zufallen, das uns etwas Wesentliches neu vor Augen führt. Im Februar bekamen wir Mönche eine Abbildung geschenkt, die mich sehr berührte. Es handelte sich um einen Entwurf von Valentin Feuer- steins für ein Glasfenster, des Künstlers, der die Fenster im Chor unserer Klosterkirche gestaltet hat. Für welche Kirche dieser Ent- wurf gedacht war, weiß ich nicht. Vielleicht war er sogar ein erster Versuch für das mittlere Fenster unserer Kirche. jedenfalls befand er sich im Besitz des Architekten Sauer, der Ende der fünfziger Jahre den Umbau unserer Kirche leitete und damit sozusagen die Umrah- mung für die Glasfenster schuf. Da Thomas auch der Schutzpatron der Architekten ist und manchmal mit dem Winkelmaß abgebildet ist, dürfte sich ihm der Architekt Sauer besonders verbunden gefühlt haben. Auf der hier abgebildeten Darstellung der Thomasepisode aus Jo 20, 24-29 sind nur zwei Personen zu sehen: Thomas kniet mit erhobenen Händen vor dem Herrn, der ihm seinerseits seine Hände mit den Wundmalen zeigt. Ich fand es immer schade, dass diese Perikope in unseren Fenstern nicht dargestellt ist, denn diesen Apostel verehre ich besonders. Von dem sogenannten „ungläubigen“ Thomas wird am zweiten Sonntag nach Ostern erzählt – und jedesmal bin ich irritiert, dass den Erstkom- munionkindern am Weißen Sonntag dieser Auferstehungszeuge nicht vermittelt wird, weil die Geschichte angeblich zu kompliziert ist. Deswegen wird sie durch ein „leichteres“ Evangelium ersetzt. Die kirchliche Auslegung dieser Perikope hat das Bild des Apostels arg verzeichnet. Für ganze Generationen von Christen hat er als schlechtes Beispiel herhalten müssen. Da konnte man mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen: Schaut euch diesen Zweifler an! Thomas habe gezweifelt und sich nicht mit der bloßen Nachricht, dass der Herr auferstanden sei, zufriedengegeben. Er habe es ganz genau wissen wollen. Unverschämt sei er gewesen, als er behauptete, das alles nur glauben zu können, wenn er seine Hände in die Wunden des Herrn legen dürfe. Was aber wollte Thomas wirklich? Er muss ein Mann gewesen sein, der aufs Ganze ging, halbe Sachen kamen für ihn wohl nicht in Frage. Er wollte nicht nur den Auferstandenen berühren, sondern Gott. „Mein Herr und mein Gott“ – das will und das darf er bekennen. Berühren ist eben etwas ganz anderes als sehen oder reflektieren, in Gedanken etwas nachvollziehen, was andere berichten. Berührung – wie viele Menschen sehnen sich in Corona-Zeiten danach, wieder einmal in den Arm genommen zu werden, sich nicht begnügen zu müssen mit Zoom-Konferenzen und Telefona- 21
ten. Aber Gott berühren? Wenn wir etwas richtig verstanden haben, sagen wir zur Bestätigung, wir hätten es „begriffen“. Begreifen ist demnach mehr als verstehen. Bei kleinen Kindern können wir beobachten, wie wichtig das ist: Ein Ding wird in beide Hände genommen, betastet, weggeworfen und immer und immer wieder in die Händchen genommen. Auch wenn das, was wir begreifen wollen, im Laufe der Zeit immer größer und vor allem immer abstrakter wird, so dass wir es nicht mehr so einfach in die Hand nehmen können, bleibt die gefühlsmäßige Qualität frühkindlichen Begreifens in unserer Seele bestehen. Der Apostel Thomas will nicht bloß sehen wie die anderen Jünger. Im Gegensatz zu Thomas werden sie im Evangelium merkwürdig verschwommen geschildert. Sie werden nicht beim Namen genannt, man hat das Gefühl, als existierten sie gar nicht als Einzelpersonen, sondern bildeten nur den begleitenden Chor. Thomas hingegen wird sehr lebendig geschildert. Er stellt eine Bedingung für seinen Glauben, denn er will um nichts in der Welt auf ein Trugbild hereinfallen. Nein, er will ganz real begreifen. Er will wissen, ob es sich bei der Auferstehung um ein handfestes Geschehen handelt und nicht um ein Hirngespinst verschreckter Männer. Aber ist es nicht ein unverschämter Anspruch, den Auferstandenen oder gar Gott berühren zu wollen? Und wie verhält es sich mit uns? Teilen wir den Wunsch von Thomas, wollen auch wir aufs Ganze gehen? Oder bleiben wir vorsichtshalber lieber auf Distanz und finden dafür auch die passenden Argumente? Erstens: Wir könnten Gott gar nicht „begreifen“, denn er sei etwas, das wir einfach nicht berühren könnten, und zweitens hätten wir nicht das Recht, in puncto Glauben Forderungen zu stellen. Dafür seien wir doch zu klein, das überfordere uns, wir könnten doch nicht einmal den Zipfel seines Gewandes berühren. Doch der Evangelist Johannes sieht das anders. Überall, wo wir die Finger in Wunden legen, auf einen verwundeten Menschen zugehen und uns seiner Not und seiner Verletzungen annehmen, berühren wir Gott. Die Vorstellung eines verwundeten Gottes, der am Kreuz starb und durch seine Ohnmacht alle Mächte der Welt in die Schranken wies, hat damals die Welt verändert und lässt uns auch heute einen Gott „begreifen“, der sich leidenschaftlich unserer Verletzlichkeit annimmt, der solidarisch ist mit uns und durch die Wunden, die man ihm zufügte, mit uns verbunden ist. Thomas hat das begriffen: Wir haben nicht einen Gott, der wie die anderen „Götter“ ist – unbeteiligt und in sich selbst ruhend, unerreichbar in irgend- einem Olymp. Wir haben nicht einen Gott, den wir bequem verehren können, indem wir ihm ab und zu ein kleines Opfer darbringen, und dann läuft die Sache schon – ein Gott, der uns ansonsten in Ruhe lässt und den wir auf sich beruhen lassen können. Nein, der auferstandene Christus zeigt seine Verletzungen und sagt: Seht her, ich bin versehrt, verwundet wie ihr alle. Noch dazu wurde er völlig unschuldig gequält und gemartert, und das verändert alles. Leiden ist nun nicht mehr absurd, sondern führt in Gott hinein. Aus der fernöstlichen Spiritualität stammt die Mahnung: Vertraue nicht wohlklingenden Ideen und Lehren, sondern nimm nur das ernst, was durchlitten ist. Anders formuliert: Nimm nur 22
an, was mit Herzblut verbunden ist, was so wichtig ist, dass einer bereit ist, dafür sein Leben zu geben. Nur dann ist es keine Spekulation, keine Theorie, kein abgehobenes Ideal ohne Wurzelgrund im Leben. Indem er seine Wunden zeigt, erinnert Jesus also die Jünger daran, dass alles wahr ist, was er sagte, weil er dafür sein eigenes Leben einsetzte – nicht das anderer. Diese Wunden sind ein Beweis seiner Liebe, und Liebe macht nun einmal verwund- bar. Weil es Wunden der Liebe sind, erkennen die Jünger an ihnen ihren Rabbi. Es sind nicht die Wunden eines unbelehrbaren Fanatikers, die nach Rache rufen. Zudem sind es Wunden, die durch unsere Schuld immer wieder aufbrechen können. Wenn der Apostel Thomas sagt, er werde nur glauben, wenn wer die Wunden berühren könne, dann hat das nichts mit Skepsis zu tun. Deshalb ist es so unsinnig, von dem „ungläubigen“ Thomas zu sprechen. Mit den Wunden Jesu in Berührung zu kommen, ist doch nur möglich, weil Gott Mensch geworden ist. Im Berühren der Verletzungen Jesu, bricht über Thomas ein Art empathisches Erkennen herein: Jesus Christus ist Gott und leidender Mensch. Thomas geht es nicht darum, Christus an irgendwelchen Körpermerkmalen oder vertrau- ten Gesichtszügen wiederzuerkennen. Er möchte vielmehr die Kontinuität einer Geschichte begreifen, die durch die Dunkelheit des Leidens hindurch den Tod überwindet. Die Wunden sind dem Auferstandenen geblieben; sie sind geradezu eine Art Brücke zu dem zuvor Erlebten. Das will Thomas spüren, darauf besteht er. Denn wenn das alles wahr ist, wenn die Wunden Jesu echt sind, dann gilt diese Kontinuität auch für sein Leben und Auferste- hen. Dann wischt der Tod nicht alles weg, dann macht er nicht Tabula rasa. Sondern alles, was unser irdisches Leben prägte, auch die Schrunden und Wunden, wird – angesehen und angerührt von Gott – hineingenommen in das ewige Leben. Thomas darf die Wunden berühren, aber ob er es auch getan hat, lässt das Johannesevangelium offen. In der Kunst wird die Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Thomas ganz unter- schiedlich dargestellt, am drastischen vielleicht bei Caravaggio. In seiner Darstellung führt Christus die Hand des Jüngers tief in die klaffende Seitenwunde. Navid Kermani interpretiert dies mit einem Hinweis auf das apokryphe Thomasevangelium: Es gehe darum, dass die Wahrheit nicht etwas Äußerliches oder Höheres, von uns schlechthin Unterschiedenes sei, an das man unbesehen glauben müsse, Es gehe auch nicht darum, einzig und allein dem Wort zu vertrauen und damit der Autorität derjenigen, die es interpretieren. „Wenn die, die euch leiten, euch sagen: ‚Seht, das Reich ist im Himmel‘, so Michelangelo Merisi da Caravaggio, werden die Vögel des Himmels euch zuvorkom- 1571-1610, der hl. Thomas, um 1600, men. Und wenn sie euch sagen: ‚Es ist im Meer‘, Bildergalerie in Schloss Sanssouci, Potsdam 23
so werden die Fische euch zuvorkommen. Das Reich ist vielmehr innerhalb von euch und außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden.“ (Thomas 3) Ganz anders eine Darstellung von Rubens. Der Auferstan- dene streckt Thomas und zwei anderen Jüngern die Hände mit den deutlich erkennbaren Wundmalen entgegen, die Seitenwunde bleibt im Schatten verborgen. Die Geste der Hände drückt wohl eine gelassene Aufforderung zu einem geistigen Betasten mit den Augen aus, und Christus gibt den verklärten Leib den Blicken der Jünger preis. Thomas begnügt sich hier mit dem Betrachten der Wunden. Ein- drucksvoll sind seine gespreizten Hände, sie drücken nicht nur Überraschung aus, sondern schon der Gedanke, den Herrn zu berühren, scheint eine Art Schauder bei ihm Hl. Thomas, Peter Paul Rubens (1577-1640), 1613/1615, auszulösen. Tatsächlich berichtet das Evangelium nicht, ob Königliches Museum der Thomas wirklich ernst gemacht hat mit dem Berühren. Schönen Künste, Antwerpen Wichtig ist jedoch, dass Rubens – pars pro toto – noch zwei andere Jünger in das Bild mit aufnimmt. Zwar geht es primär um die Begegnung zwischen Thomas und seinem Herrn, doch sollte nicht übersehen werden, dass Thomas vor der Begegnung eine Woche lang im Kreis der anderen Jünger auf Christus gewartet hat. Es wäre ja auch denkbar, dass er aus Enttäuschung, dem Herrn nicht mit den anderen begegnet zu sein, diese Gemeinschaft gemieden oder sogar verletzt und zornig verlassen hätte. Doch er bleibt mit seinem Anspruch und seinen Fragen bei ihnen, und die Jünger ertragen seine sture Beharrlichkeit und nehmen sie ernst. Thomas ist mit seinem rigorosen Fragen und Suchen die Brücke zu uns Christen heute. Er sah und glaubte: „Selig, die nicht sehen und glauben“. So wird deutlich, dass wir als Kirche der Nachgeborenen glauben können, dass der gekreuzigte Herr auferstanden ist. Und nachdem sich Christus durch seine Wundmale zu erkennen gab, sagte er: „Der Friede sei mit euch.“ Womöglich hatten sich die Jünger bis zu diesem Augenblick noch in gegen- seitigen Schuldzuweisungen ergangen: Wer ihn verraten habe, wer feige davongelaufen sei und ihn im Stich ließ. Christus durchbricht mit seinem Erscheinen und dem Friedensgruß alle Isolierung, die den Einzelnen von der Gemeinschaft oder die Kleingruppe der Jünger von der großen Glaubenstradition Israels trennt. Für den Auferstandenen gibt es kein Aufrechnen und Abrechnen. Das Versagen der Jünger am Karfreitag ist zur felix culpa, zur glücklichen Schuld geworden. Die Darstellung der Thomasperikope von Valentin Feuerstein macht diese frohe Botschaft deutlich durch die segnenden Hände über dem knienden Thomas. Wunden können zum Segen werden, wenn sie hinweisen auf das endgültige und erfüllte Leben in Christus. P. Benedikt 24
Pfingsten, das Geburtstagsfest der Kirche Der Heilige Geist scheint in unseren Tagen in der Kirche nur noch schwer auszumachen zu sein. Angesichts des Ausmaßes des Kindesmissbrauchs und vor allem angesichts der Aufarbeitung dieser Skandale, scheinen viele Verantwortliche in der Kirche von allen guten Geistern verlassen. Diese Sicht mag provozierend und zu kurz gegriffen erscheinen – aber sie ist ein Notschrei. Daher möchte ich hier einige Gedanken zum Verhältnis von Heiligem Geist und Kirche aufschreiben. Kirche verdankt ihr Sein und Wirken nicht sich selbst, sondern hat ihren Ort im Schöpfungs- und Erlösungswerk des dreifaltigen Gottes. Deshalb ist sie ihrem innersten Wesen nach ein Geheimnis. Sie empfängt ihr Leben aus Gottes Wort und den Sakramenten. Doch existiert sie auch in der Geschichte und hat somit Anteil an deren sündiger Struktur. Darin liegt auch ihre Begrenzung: Ihr Begreifen ist Stückwerk (1 Kor 13,9), und ihr Leben aus den Gaben Gottes ist bedroht durch menschliche Schwäche und Schuld. Die Skandale um den abscheulichen Missbrauch verdunkeln das Zeugnis der christlichen Botschaft und stellen die Glaubwürdigkeit unserer Kirche in Frage. Dass diese skandalösen Vorkommnisse ans Licht gekommen sind, ist meines Erachtens aber ein Zeichen für das Wirken des 25
Heiligen Geistes, „der aufdecken wird, was Sünde ist“ (vgl. Joh 16,8). In der frühen Christenheit wurde der Vater-Unser-Bitte „Dein Reich komme“ oft noch der Kommentar hinzugefügt: „Dein Heiliger Geist komme auf uns und reinige uns!“ Und auch in der Pfingstsequenz, die im Mittelalter entstand, beten wir: „Was befleckt ist, wasche rein!“. Die Ecclesia semper reformanda, „die Kirche, die sich immer wieder reformieren muss“ war zu allen Zeiten aktuell – und heute ist dies in ganz besonderem Maße erforderlich. Der Heilige Geist ist das Lebensprinzip der Kirche. Bestimmend für ihre Gestalt ist diese vom Heiligen Geist gewirkte Lebendigkeit. Es ist dieser Geist, der jedem Einzelnen seine Gaben, sein Charisma, zuteilt, wie er will, so dass „alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib“ bilden – in Christus (1 Kor 12,11f). Christus wirkt in der Kirche durch den Heiligen Geist (Joh 14,26; 16,13 f). Der Heilige Geist ist es, der durch die Sakramente und durch sein Wort – „die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben“, so Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus im 3. Artikel. Und weil wir „nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus glauben“ können, müssen wir um den Heiligen Geist bitten (vgl. Lk 11,13). So berichtet die Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas, das „Evangelium des Hl. Geistes“, in der der Heilige Geist 68 mal erwähnt wird, wie schon die allerersten Schritte der entste- henden Kirche unter der Führung von Gottes Geist stattfinden. Die Apostel sind voll des Heiligen Geistes (Apg 4; 8; 9; 17), der sie, wie Jesus, Wundertaten vollbringen lässt und ihr Tun bestätigt (Apg 10,44; 11,15). Der Geist lässt sie die Worte des Herrn verkünden und gibt ihnen die Kraft, die Zuhörer zu überzeugen. Und er ist es auch, der bewirkt, dass die trennen- den Mauern zwischen Juden und Heiden niedergerissen werden und dadurch die Kirche darauf vorzubereitet wird, Jesus Christus allen Völkern zu verkündigen. Der Geist entsendet die Apostel in die Mission und gibt ihnen sogar die Reiseroute vor: Sie sollen nicht weiter in Kleinasien verkündigen, sondern sich in Richtung Mazedonien, d.h. Europa bewegen. Durch die Ausgießung des Heiligen Geistes geschieht außerdem Zweierlei: Die Jünger werden von ihrer Angst befreit und dadurch frei für die Verkündigung – und es scheiden sich die Geister: Da sind diejenigen, die von den ‚großen Taten Gottes‘ angerührt sind (Apg. 2, 11) und die anderen, die die Jünger für betrunken halten (Apg. 2, 13). Und es geschieht noch mehr: es ereignet sich ein „Sprach- und ein Hörwunder“, denn die Apos- tel sprechen in Sprachen, die ihnen der Geist eingibt, und die Anwesenden hören sie in ihrer jeweiligen Muttersprache reden. Heute, denke ich, könnten wir das im Hinblick auf die Ökumene deuten. Wir haben in unseren kirchlichen Traditionen verschiedene „Sprachen“ entwickelt, die auch ein Stück weit unsere kirchliche Identität ausmachen. Deshalb sollten wir den Heiligen Geist um ein neues Sprach- und Hörwunder bitten, damit wir die jeweils andere Kirche verstehen lernen 26
und Fremdheit zu Vertrautheit wird. Dazu braucht es die „Übersetzungsarbeit“ des Heilige Geistes, ja geradezu ein neues Pfingstwunder, durch das der Heilige Geist unsere historisch gewachsene Verschiedenheit reinigt und versöhnt und geschwisterliche Harmonie unter uns bewirkt. In seinem programmatischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude am Evangelium) lädt Papst Franziskus das gesamte Volk Gottes ein, mit neuem Elan das Evangelium in die Welt zu tragen: „Jeder Getaufte ist ein Verkündiger – ein Missionar“. Mit welcher Methode oder mit welchem Pastoralplan will Franziskus das erreichen? Der Anfang des Schreibens gibt die Methode an: die Freude, die ansteckt. Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Der Papst weiß, dass es den geeigne- ten Boden für das Aufkeimen der Saat des Wortes braucht und dass in manchen Gegenden der Boden ausgelaugt und trocken, sogar zur Wüste geworden ist. Doch „gerade in der Wüste entdeckt man, was wesentlich für das Leben ist. So gibt es in unserer Zeit implizite und explizite Anzeichen einer Suche, eines Durstes nach Gott, nach dem Sinn des Lebens. … In dieser Situation sind wir gerufen, Wasserspender für die anderen zu sein…. Und wir kennen den Ort, aus dem das lebendige Wasser fließt: es ist die durchbohrte Seite des Gekreuzigten.“ „Manchmal kann es scheinen, als hätten wir mit unserer Anstrengung überhaupt nichts erreicht. … Doch wir müssen fest daran glauben, dass, wer sich mit 27
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