Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg

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Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Wort
                  in die Zeit
                     Abtei Neuburg
Heft 218 / 2021
Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Titelbild:
Erntekreuz an der Kopfseite der Scheune des Klosters

 Impressum
 Herausgeber:                Abtei Neuburg, Stiftweg 2, 69118 Heidelberg
 Redaktion:                  P. Ambrosius Leidinger OSB, Peter Stadler
 Mitarbeiter dieser Ausgabe: P. Benedikt, Altabt Franziskus, Barbara Grom, Bruno Volz
 Fotos dieser Ausgabe:       P. Benedikt, Peter Stadler, P. Ambrosius
 Bankverbindung:	Liga-Speyer, IBAN: DE09 7509 0300 0000 0644 67, BIC: GENODEF1MO5
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 Internet:	http://www.stift-neuburg.de · https://www.facebook.com/Stift-Neuburg

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Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde unserer Abtei!

Papst Gregor der Große hat uns eine legendarische Biographie des Heiligen Benedikt,
unseres Ordensgründers, hinterlassen. Darin wird unter anderem erzählt: Als Benedikt
noch Eremit war, besuchte ihn zu Ostern ein Priester. Zu dessen Überraschung wusste
Benedikt nicht, dass das wichtigste christliche Fest gefeiert wurde. Er sagte dem Priester
nur: „­ Ostern ist, weil du da bist!“ Was für eine Definition von Ostern, dem Fest der
Begegnung mit dem Auferstandenen! Es ist Ostern, weil ein Gast da ist! Im Gast, der mit
Benedikt feiern wollte, begegnete ihm also der Auferstandene. Der Gast übernimmt den
Dienst der Apostel und legt „Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn“ (Apg
4,33). Und dann halten Gast und Eremit miteinander Mahl. Dieses Essen, verbunden mit
dem geistlichen Gespräch und dem Lob Gottes führt Benedikt aus der Einsamkeit des
Eremitendaseins zurück in die Gemeinschaft der Glaubenden. Erst jetzt entdeckt er den
Segen der Gemeinschaft.

Dementsprechend beschreibt er in seiner Regel dann auch die Aufnahme der Gäste: „Bei
der Begrüßung begegnet man allen Gästen in tiefer Demut. Man verneige sich, werfe sich
ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus, der in Wahrheit aufgenommen wird“. Es
handelt sich dabei also um eine konkrete Erfahrung mit dem Auferstandenen.

Doch der Auferstandene ist gemäß der Regel des Heiligen Benedikt auf vielfältige Weise
erlebbar: zum Beispiel in den Kranken, denn der Herr sage uns, so Benedikt: „Ich war
krank, und ihr habt mich besucht“. Ebenso kann man ihm begegnen in der Stellungnahme
eines jüngeren Bruders oder in der Kritik eines Gastes. Ostererlebnisse also ein bisschen
überall: im Gästehaus, am Krankenbett, bei Beratungen.

Deshalb schmerzt es uns in diesem Jahr so sehr, dass wir keine Gäste empfangen können.
Steht uns wieder ein stilles Osterfest bevor wie im letzten Jahr, als die Türen zum Stift und
zur Kirche verschlossen waren? Was auch geschieht, wir Mönche werden Ostern gemein-
sam mit Ihnen feiern, auch wenn Sie, liebe Freunde der Abtei, nur in unseren Gebeten und
Gedanken anwesend sein können.

Es wünscht Ihnen im Namen der Neuburger Kommunität eine gesegnete Fasten- und
­Osterzeit

                                                                             Ihr P. Benedikt

                                                                                           3
Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Das Kreuz an der Scheune

Wo befindet sich das schöne
Kreuz mit den Schnitzereien vom
Titelbild? Man muss schon auf-
merksam über das Klosterge-
lände gehen, um es zu entde-
cken. Es befindet sich über dem
Eingangstor der großen
Scheune. Dieses schöne Bau-
werk mit dem Fachwerk wurde
1936-1937 im Mausbachtal
errichtet. Mit dem Bau der
Scheune und den dazugehörigen Stallungen wurde die damalige alte Ökonomie ersetzt.
Diese befand sich an der Stelle des heutigen Konventgebäudes und der Pforte.

Der Bau des neuen Ökonomiegebäudes muss für die damalige junge Abtei eine große
Herausforderung gewesen sein. Der erste Abt Adalbert von Neipperg hatte 1934

               Scheune während
             der Errichtung 1936

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Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
resigniert und die Abtei verlassen, und das junge Kloster hatte große finanzielle Probleme.
Inzwischen hatten die Nationalsozialisten die politische Führung in Deutschland übernommen.

Die große Scheune mit den Stallungen für die Kühe, deren Kälber und zwei Pferde war in
vieler Hinsicht ein moderner Wirtschaftsbau. Überhaupt muss das neue Gebäude mit den
Stallungen, der Milchkammer, den Silos und dem Rübenkeller für die umliegenden Klein-
und Nebenerwerbsbauern ein Novum gewesen sein. Hinzu kamen noch zwei Wohnräume
über den Stallungen.

Charakteristisch sind das große tiefgezogene Dach und die Einfahrtsrampe an dem nörd-
lichen Tor. Eine zweite Rampe an der Südseite des Gebäudes war wohl geplant, wurde
jedoch nie realisiert. Das große Tor jedoch ist jedoch vorhanden. Auch innen beeindruckt
die aufwendige Holzkonstruktion mit der langen Brücke, die sich durch da ganze Gebäude
zieht. Die Architektur erinnert an die großen Schwarzwaldhäuser. Tatsächlich war einer
der damaligen Ökonomiebrüder ein Schwarzwälder aus dem Kinzigtal: Bruder Paschal
Harter war Konventuale in der Erzabtei Beuron und kam als Pionier nach Neuburg. Über
Jahrzehnte hat er die Neuburger Ökonomie gepflegt und geprägt.

In jüngster Zeit wurden die Stallungen mehrfach verändert und den jeweiligen neuen
Anforderungen angepasst, dazu gehörte auch ein moderner Melkstand. Die Milch diente
zunächst dem Eigenbedarf, wurde aber auch auf dem Hof verkauft und an die Milchzen-
trale geliefert. Später ging die Milch an eine lokale Käserei.

Seit geraumer Zeit steht die Scheune mit den Stallungen leer. Das Gebäude steht unter
Denkmalschutz.
                                                                       Peter Stadler
                                                                                         5
Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Die Mond-Theologie der frühen Kirche

Das Kreuz mit Sonne, Mond und Sternen im Fachwerk unserer großen Scheune hat mich
dazu angeregt, einige Gedanken der frühen Kirchenväter aufzugreifen.
Wenn wir die aktuelle Situation unserer Kirche in Deutschland – und nicht nur dort –
betrachten, dann müssen wir sagen: Gott scheint anderes mit ihr vorzuhaben als wir.
Womöglich hat Gott einen Rückzug                   verfügt. Neu ist diese Erfahrung
allerdings nicht, vielmehr hat sie die             Kirche Jesu Christi von Anfang an
begleitet, denn schon die Kirchen-                 väter wussten um Prozesse des
Werdens und Vergehens in der                       Kirche, die sie mit dem zyklischen
Anwachsen und Abnehmen des                         Mondes verglichen. Indem sie sich
inspirieren ließen von den hellenis-               tischen Spekulationen über das Ver-
hältnis von Sonne und Mond, zwi-                   schen Mond und fruchtbringender
Erde, entwickelten sie die                                    sogenannte Lunar- oder
Mond-Theologie, die                                            aber vor allem Sinnbild
des Mysteriums von                                              Christus und seiner
Kirche sein sollte, das                                         heißt, ‚Sonne‘ war das

Symbol für Christus und                                           ‚Mond‘ das Symbol für
die Kirche. Kirche als Braut                                    Christi, die „schön ist wie
der Mond“: Dieses Bild zeich-                                  net eine geistige Wirklich-
keit, auf die Sonne und Mond                                 vorbildhaft hinweisen: Wie
der Mond strahlt die Kirche kein                           eigenes Licht aus. Sie empfängt
und reflektiert lediglich das Licht                   Christi, ihrer Sonne. Zugleich ver-
weist der Mond aber noch auf eine                     andere Wirklichkeit, auf die des
abnehmenden Lichts und der wach-                      senden Schatten, auf das Erlöschen
der irdischen Sichtbarkeit, das heißt,                auf Altern, Verfall und Tod. Die Kirche
verkörpert daher ein seltsames Para-                  dox. Als in Christus Hineinsterbende
erhält sie gerade in der täglichen Ver-              nichtung ihrer irdischen Sichtbarkeit,
nämlich in der mystischen Vereinigung                mit Christus, die Kraft zur Zeugung
geistlichen Lebens. Sie wird zur „Spenderin des Taus der Gnade“. Daher ist sie auch Leben
spendende Mutter. Und sie ist strahlende Kirche. Wie der Mond erhellt sie die Nacht,
durchläuft sie die Zeit bis zu dem Tag, wo Zunehmen und Wachsen, Abnehmen und
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Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Sterben aufhören, wo die Pilgerschaft zu Ende ist. Dann erstrahlt sie in ihrer vollen Gestalt
– wie der volle Mond.

In diesem Sinne ist sie Braut, Mutter und Königin.

Die lateinische Kirche übernahm diese Symbole und das damit einhergehende Denken
von den griechischen Theologen, insbesondere von Origenes aus Alexandrien in Ägypten,
                          dem größten Theologen der frühen Kirche. Wie wirkmächtig
                          die Bilder von Sonne und Mond zu jener Zeit waren, lässt sich
                          daran ablesen, dass z. B. der hl. Ambrosius immer wieder
                          gegen den heidnischen Kult des Sol invictus, – den Kult der
                          unbesiegbaren Sonne zur Wintersonnenwende am 25.
                          Dezember – und gegen den Kult der lunaren Muttergottheit
                          anging. Diese Kulte stellten für die frühe Christenheit eine
                          ernste Gefahr dar. Deshalb setzte die frühe Kirche ihnen die
                          christliche Symbolik von Christus, als der wahren Sonne, und
                          von der Kirche als Luna (Mond), ihrem bräutlichen Schwester-
                          gestirn, entgegen.

                            Ambrosius will damit sagen, dass alles Irdische eine Zeit der
                            Blüte und eine Zeit des Verfalls habe. Selbst die Kirche Christi
                            sei Gezeiten unterworfen, doch sie allein sei – wie der Mond
                            – imstande, ihr Licht und ihre Jugend in sich stets wiederho-
                            lender Auferstehung zu erneuern.

                            Zu Beginn des 4. Jahrhunderts führte man dann das Weih-
                            nachtsfest ein, das den Kult des Sol invictus verdrängen sollte.
                            Aber noch der große Papst Leo (+ 461) musste alle Hebel in
                            Bewegung setzen, um zu verhindern, dass die Christen die
                            Riten des Sonnenkults übernahmen. Ungeachtet dessen
                            beginnt der hl. Ambrosius seinen Sonnengesang mit: „Die
                            Sonne ist das Auge der Welt, die Freude des Tages, des Himmels
Schönheit, der Natur Liebreiz, das Juwel der Schöpfung“, münzt seinen Sonnenhymnus
aber auf Christus um: „Wenn Du die Sonne siehst, denke an ihren Herrn, wenn du sie
bewunderst, singe ihrem Schöpfer. Wenn schon die Sonne so lieblich strahlt, wie gütig
muss erst jener sein, der da ist die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘!“

Dem liegt die Anschauung – und die astronomische Tatsache – zugrunde, dass Luna (der
Mond, der in allen europäischen Sprachen „weiblich“ und nur auf deutsch „männlich“
ist) ihr Licht von der Sonne empfängt. Luna ist die „Braut der Sonne“, ja die Natur insge-

                                                                                           7
Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
samt steht in einem empfangenden, bräutlichen Verhältnis zur Sonne. Zugleich ist Luna
mit ihren Wandlungen und „Leiden“ ein Symbol für das menschliche Leben. Zwar sind es
nur vermeintliche Veränderungen, die das menschliche Auge am Mond wahrnimmt, der
seine Größe in Wirklichkeit ja nicht verändert. Nur sein Licht nimmt jeden Monat ab, seine
körperliche Substanz nicht. Die Mondscheibe selbst bleibt immer so groß, wie man sie bei
Vollmond sieht. Doch wenn bei abnehmendem Mond der Erdschatten immer größer wird,
entsteht der Eindruck, als leide Luna, als sei sie gleichsam „eine trauernde Witwe“.

Mit dem Bild von den „Leiden“ des Mondes verweist Origines auf das Mysterium des
Todesleidens der Kirche. Ambrosius entwickelt diese Todestheologie noch weiter: Die
„Leiden der Luna“ werden als Nachvollzug des christlichen Geheimnisses vom Herabstei-
gen des menschgewordenen Logos verstanden. „Der Mond nimmt ab, um den Dingen
ihre Fülle zu geben.“ Dieses paradoxe Grundgesetz sei dem Himmelsgestirn von Gott
eingeschaffen worden, um daran das Grundgesetz der Erlösung zu veranschaulichen.

In diesem Geheimnis des göttlichen Herabsteigens, in der Menschwerdung, gründe das
Mysterium der Kirche selbst. Die Kirche sei seit dem Augenblick der Menschwerdung die
Geliebte, die Braut, die als geistige Luna die Nacht der Zeit durchlaufe bis zu dem Tag, an
dem sie voll erleuchtet und umstrahlt sei vom Licht des Logos, des Bräutigams.

Solange die Kirche noch durch die Nacht der Zeit pilgert, ist sie auch den „Leiden“ des
Mondes unterworfen. Wie der Mond kennt auch sie Lichtverlust und Lichtwachstum,
allerdings unterliegt sie jener oben genannten paradoxen Dialektik der Todestheologie:
während sie abzunehmen scheint, wächst sie.

Noch einmal Ambrosius: „Die Kirche aber ist der wahre Mond. Vom unvergänglichen Licht
ihres Brudergestirns borgt sie das Licht der Unsterblichkeit und Gnade; denn nicht im
eigenen Licht leuchtet die Kirche, sondern im Licht Christi. Und ihren strahlenden Glanz
entlehnt sie der Sonne der Gerechtigkeit, so dass sie sagen darf: ‚Ich lebe, aber nicht mehr
ich lebe, sondern in mir lebt Christus‘! O wahrhaft selig bist du, Luna, die du so großer
Ehre gewürdigt wurdest!“

Ambrosius führt diesen Gedanken aber noch weiter. War bisher die Menschwerdung das
große Mysterium, das sich in der Kirche fortsetzt, so denkt er nun darüber nach, wie der
Tod des menschgewordenen Gottes am Kreuz sich auf die Kirche, auf ihr mystisches
Sterben, auswirkt. „Denn gleich dem Mond scheint sie abzunehmen, und doch nimmt sie
nicht ab. Dunkle Schatten können sie verhüllen, aber abnehmen kann sie nicht. Sie nimmt
ab in der Verfolgung, wenn der eine oder andere von ihr abfällt, doch nur, um durch das
Bekenntnis der Märtyrer wieder ihren vollmondlichen Glanz zu erlangen, um – vom Ruhm
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Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
des sieghaft für Christus vergossenen Blutes überstrahlt – das immer herrlichere Licht der
Gotthingabe und des Glaubens über den ganzen Erdkreis zu verströmen“.

Nicht der Glanz des Messias ist also die Botschaft, nicht der Erfolg des Starken, sondern der
Glaube des Angefochtenen, die Hoffnung des Bedrängten, die Treue des Berufenen, die Liebe
des Abgelehnten! Es besteht mit dieser „Lunartheologie“ nicht die geringste Chance, aus
Gott eine Erfolgsgeschichte zu machen. Würde der Glaube das ernst nehmen, hätte dies
etwas Rettendes. Denn der Leitsatz unserer Welt „Ich bin, wenn ich erfolgreich bin“ ist
einfach eine unerträgliche Verkitschung des Seins und – wenn jener Satz sich in Frömmigkeit
kleidet – eine frevelhafte Banalisierung Gottes. Eine Religion und eine Kirche, in der Erfolg
und Segen deckungsgleiche Größen sind, hat der Welt nichts zu sagen, denn was solch eine
Religion sagen könnte, sagt die Welt sich bereits selbst.

Unter dem Kreuz stehen Menschen und verhöhnen den Sterbenden. Sie bleiben ihrem
einfachen Muster treu und rufen nach einem starken Gott: Erfülle unser Muster, dann
wollen wir glauben! Mit den Worten des Markusevangeliums: „Hilf dir nun selber und
steig herab vom Kreuz!“(Mk 15, 30).

Im Vertrauen Jesu liegt dieser gewaltige Gegensatz:. Sein Leben ist kein Leben, das keine
Brüche, keine Krisen kennt, das aber ebenso wenig angesichts einer Krise kein Vertrauen
mehr kennt. Jesu Leben und Tod laden ein, sich beidem zu stellen – Vertrauen zu wagen
und sich von Krisen nicht brechen zu lassen.

Zum Schluss noch der hl. Augustinus: Dunkel sei der bescheidene und vor der Welt ver-
borgene Beginn ihrer [der Kirche] Geschichte. Die Sündigkeit ihrer Glieder liege wie ein
Schatten auf ihr und gereiche ihr zur Schande. Die Mondscheibe habe sich durch den Tod
der Märtyrer blutrot gefärbt. Die sichtbare Kirche werde zum skandalon, weil ihr Geschick
eine Nachbildung dessen sei, der im skandalon des Kreuzes den österlichen „Übergang“
vom Tod ins Leben hinein vollzog.

Eine Theologie längst vergangener Zeiten – sie könnte zu denken geben.
                                                                               P. Ambrosius
                                                                                           9
Wort in die Zeit Abtei Neuburg - Stift Neuburg
Der Kreuzweg

I. STATION      Jesus wird zum Tod verurteilt
Warum spricht man Jesus schuldig? Was hat er getan?
Kaiphas ist eigentlich ein großer, kein schwacher oder
einfacher Geist: „Es ist besser, wenn nur einer stirbt und
nicht das ganze Volk.“ In seinen Augen ist Jesus ein Auf-
rührer, der die religiöse und gesellschaftliche Ordnung ins
Wanken bringt. Und dabei ist es bis heute geblieben. Immer
noch gibt es Kaiphas-Prozesse, bei denen Unschuldige
geopfert werden. Einsicht und Widerruf von Judas, dem
Verräter, dem Mitläufer, kommen zu spät. Pilatus braucht
das Urteil nur noch zu bestätigen – und wird es tun.
                                                              Ecce homo, Tizian (1488-1576),
Jes 53, 7-8                                                   um 1560, Muzeul Naţional
                                                              Brukenthal, Hermannstadt,
Er wurde bedrängt und misshandelt,                            Rumänien
aber er tat seinen Mund nicht auf.
Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt,
und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt,
so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft,
doch wen kümmerte sein Geschick?

       „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die
       Wahrheit Zeugnis ablege.“ Joh 18,37
       „Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel.
       Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch!“ (Joh 19,5)

„Ecce homo – seht den Menschen“, sagt
Pilatus über den zum Tod Verurteilten und
wäscht demonstrativ seine Hände in Unschuld.
Überall auf der Welt werden die Rechte von
Menschen mit Füßen getreten. In Stille geden-
ken wir der Menschen, die keine Hoffnung auf
ein gerechtes Gerichtsverfahren haben und
Opfer einer ungerechten Justiz werden.            Ecce homo, Tizian (1488-1576), um 1543,
                                                  Kunsthistorisches Museum Wien

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Herr, Du hast das ungerechte Urteil schweigend angenommen. Steh denen bei, die zu
Unrecht verurteilt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Gib uns die Kraft, dass
auch wir lieber Unrecht erleiden als anderen Unrecht zuzufügen. Amen.

II. STATION      Jesus nimmt das Kreuz auf sich
Kein Wort der Erklärung oder der Rechtfertigung
kommt Jesus über die Lippen. In der Welt zählen
die Zweckargumente. Wer aber immer nur fragt,
was ‚bringt‘ mir das, wer immer nur fragt, wie er
das Wasser auf die eigene Mühle leiten kann, der
hat Gott nicht verstanden. Jesus muss jetzt alles
loslassen – auch die Menschen, die er liebt, deren
Wunden er im Vertrauen auf Gott geheilt hat.
Verstehen wir, dass in jedem Kreuztragen die
Chance der Verwandlung steckt?                       Jesus trägt das Kreuz, Tizian (1488-1576),
                                                     um 1565, Museo del Prado, Madrid
Jes 53,6.8b-9a
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe,
jeder ging für sich seinen Weg.
Doch der HERR ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen.
Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten
und wegen der Vergehen meines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Frevlern gab man ihm sein Grab
und bei den Reichen seine Ruhestätte.

       „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst,
       nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Mk 8,34

Jesus hat sein Leben nicht für sich selbst gelebt, sondern die vielen Kreuze dieser Welt auf
sich genommen. Damit solidarisiert er sich mit denen, denen Unmenschliches zugemutet
wird. Wir gedenken in Stille der Menschen, denen unerträgliche Lasten aufgebürdet
werden.

Herr, du hast die Last des Kreuzes auf dich genommen. Gib uns die Kraft, dir nachzufolgen
und dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Lass uns von uns selbst absehen und mit-
fühlen mit den Sorgen und Schmerzen anderer. Amen.

                                                                                             11
III. STATION Jesus fällt zum ersten Mal
Wir sehen die Nachrichten: Irgendwo ist gerade Krieg,
irgendwo wird Menschen gerade Gewalt angetan,
irgendwo wird gerade ein Kind misshandelt. Tag für Tag
Katastrophenmeldungen. Das stumpft auf Dauer ab.
So können wir Gott nicht begegnen. Wir müssen wieder
lernen, uns auf konkrete Menschen zu konzentrieren,
auf die alltägliche Not vor unserer Tür. Der Kreuzweg
ist mühsam, ein Weg der kleinen Schritte – der Weg
                                                         Die Kreuztragung Christi,
der Kranken, der Leidenden, der Weg der Geknechteten.
                                                         Hieronymus Bosch (1450-1616),
                                                         1515-16, Königliches Museum, Gent
Jer 17 15-17
Siehe, jene sagen zu mir: Wo bleibt denn das Wort des HERRN?
Soll es doch eintreffen!
Ich aber habe mich nicht entzogen, hinter dir Hirte zu sein,
und habe den Unglückstag nicht herbeigewünscht.
Du weißt es selbst;
was mir über die Lippen kam, liegt offen vor dir.
Werde nicht zum Schrecken für mich!
Du bist meine Zuflucht am Tag des Unheils.

       „Der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Mt 8,20
Immer war Jesus für Andere da und half ihnen, wo er konnte. Jetzt, wo er selbst Hilfe
braucht, verlassen ihn sogar seine besten Freunde. Es gibt Menschen, die sich für andere
aufopfern, aber auf niemanden zählen können, wenn sie selbst Hilfe brauchen. In Stille
gedenken wir der Menschen, die in der Stunde ihrer Not verlassen werden.

Herr, unter der Last des Kreuzes bist du zu Boden gestürzt. Lass uns nicht den Mut verlie-
ren, wenn uns Freunde und Bekannte verlassen. Amen.

IV. STATION      Jesus begegnet seiner Mutter
Wir kennen Fragen wie: Was sagen die Anderen? Was halten die Mächtigen von Dir? Was
soll aus deinem Leben werden? Eltern sorgen sich um den Werdegang ihrer Kinder. Sie haben
Wünsche, sie haben Pläne, sie möchten ihnen ihre größere Lebenserfahrung weitergeben.
Doch Kinder gehen ihre eigenen Wege und treffen ihre eigenen Entscheidungen. „Wer ist
meine Mutter und meine Brüder?“ fragt Jesus und schaut rings um sich auf die, die um ihn
im Kreis sitzen, und sagt: „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen
Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk 3,34-35).

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Jer 15,10.18a
Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast,
einen Mann, der mit aller Welt in Zank und Streit liegt.
Ich bin niemands Gläubiger und niemands Schuldner
und doch fluchen mir alle.
Warum dauert mein Leiden ewig
und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will?
       „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Lk 2,35
Auf grausame Weise erfüllt sich mit dem Kreuzweg ihres Sohnes für Maria die Weissagung
des Simeon. Wir entdecken in Maria den Kummer aller Mütter auf dieser Welt, die um ihre
Männer und Söhne trauern. In Stille gedenken wir vor allem der Mütter in Afghanistan
und Syrien, deren Männer, Söhne und Väter verschleppt oder ermordet wurden.
Herr, Maria hat auf deinem Weg zum Kreuz deine Schmerzen mitgelitten. Lass uns durch
ihr Beispiel zu Menschen werden, die auch dann nicht weglaufen, wenn das Leiden
scheinbar unerträglich wird. Amen.

V. STATION Simon von Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Niemand hat Jesu Tod gewollt – weder Judas, der Verräter, noch Pilatus, der Richter. Doch
alle haben Angst, Angst um sich selbst, Angst vor Konsequenzen. Angst verstellt ihnen die
Möglichkeit, anders zu handeln. Sie glauben nicht helfen zu können. Simon muss gezwun-
gen werden, Jesus das Kreuz tragen zu helfen. Auch das ist Antwort, wenn einer durch
sein Tun dazu beiträgt, das Leid anderer etwas zu erleichtern.

Kohelet 4,9-10.12
Zwei sind besser als einer allein,
falls sie nur reichen Ertrag aus ihrem Besitz ziehen.
Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf.
Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt,
ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet.
Und wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt,
zwei sind ihm gewachsen
und eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell.
       „Einer trage des anderen Last;
       so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Gal 6,2

Simon hat Jesus das schwere Kreuz eine Zeitlang abgenommen. Viele Menschen fühlen
sich allein gelassen mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihrem ganzen Leben. Wir gedenken
in Stille der Menschen, die einsam sind.
                                                                                      13
Herr, du warst auf die Hilfe anderer angewiesen. So bist du uns auch in unserer Bedürf-
tigkeit gleich geworden. Bleibe bei uns, wenn uns die Einsamkeit überfällt. Schenke uns
ein hörendes Herz, damit wir mit dem Herzen erkennen, wer unsere Nähe braucht. Amen.

VI. STATION      Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
Vielleicht erinnert sich Veronika in diesem Augenblick daran,
dass Jesus am Vortag mit seinen Jüngern in Bethanien an
einem Abendessen teilnahm und eine Frau sein Haupt mit
kostbarem Öl salbte. Nun, angesichts der erbarmungslosen
Gewalt, bricht aus Veronika eine zärtliche Geste der Liebe
hervor. Veronika und die unbekannte Frau in Bethanien, beide
sind auf ewig unvergessen. Wir dürfen vor Gott das Gefühl
haben, dass das Gute, was wir tun, auf ewig unvergessen
bleibt. Was die beiden Frauen getan haben, wird durch den
Tod nicht zerstört.
                                                                Das „Schweißtuch der
Jes 58, 9b-10                                                   Hl. Veronika“ von 1419,
                                                                Gemünden
Wenn du Unterjochung aus deiner Mitte entfernst,
auf keinen mit dem Finger zeigst und niemandem übel nachredest,
den Hungrigen stärkst
und den Gebeugten satt machst,
dann geht im Dunkel dein Licht auf
und deine Finsternis wird hell wie der Mittag.

       „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt,
       das habt ihr mir getan.“ Mt 25, 40

Barmherzig sein wie der Vater im Himmel: das war die Botschaft Jesu in Wort und Tat. So
viele mögliche Werke der Barmherzigkeit bleiben ungetan. Wir gedenken in Stille der
vielen Menschen auf der Erde, denen es am Allernotwendigsten wie Nahrung, Kleidung,
sauberem Wasser fehlt.

Herr, eine mutige Frau hat dich auf deinem Leidensweg getröstet. Lass uns am Beispiel
Veronikas begreifen, dass es nicht immer großer körperlicher Anstrengungen bedarf, um
einem Menschen beizustehen. Gib uns ein Herz, das Anteil nimmt am Schicksal anderer
Menschen. Amen.

14
VII. STATION      Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz
Die entscheidende Frage lautet nicht: ‚Was haben wir richtig gemacht?‘ oder: ‚Was haben
wir falsch gemacht?‘ Die Hauptaufgabe unseres Lebens besteht nicht darin, ängstlich
jedem Fehler nachzuspüren. Gott ist kein Buchhalter. Er führt keine Listen, kein Sünden-
register. Er sieht uns in jedem Augenblick und trägt uns mit seiner bedingungslosen Liebe.
Allein die Art und Weise, wie wir einander Leben ermöglichen, entscheidet darüber, ob wir
das Leben Jesu in uns töten oder es in uns aufnehmen.

Jes 50, 6-7a
Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen,
und meine Wange denen, die mir den Bart ausrissen.
Mein Gesicht verbarg ich nicht
vor Schmähungen und Speichel.
Und GOTT, der Herr, wird mir helfen;
darum werde ich nicht in Schande enden.

       „Wer also zu stehen meint, der gebe Acht,
       dass er nicht fällt.“ 1 Kor 10,12

Jesus ist kein Übermensch. Er bricht wieder unter seiner Last zusammen. Wir entdecken
in diesem zweiten Sturz Jesu all diejenigen, die unter den Überforderungen ihres Lebens
zusammenbrechen. In Stille gedenken wir auch der Not arbeitsloser Menschen, die es
nicht nur in unserem Land gibt.

Herr, zum zweiten Mal brichst du unter der Last des Kreuzes zusammen. Bewahre uns
davor, dass wir über das hinaus geprüft werden, was wir ertragen können. Lass uns
wieder aufstehen, wenn wir gefallen sind. Amen.

VIII. STATION      Jesus begegnet den weinenden Frauen
Frauen haben den Lebensweg Jesu begleitet, und nun begleiten sie auch seinen Leidens-
weg. Sie sind es, die ihn nicht verleugnen und die standhalten. Sie wagen es, in sein
geschundenes Gesicht zu blicken. Menschen weinen, wenn sie eine schreckliche Situation
mit dem Verstand nicht mehr begreifen können. Aber es gibt eine Traurigkeit, die zu
Selbstmitleid und ständigem Jammern führen kann, zur Einkrümmung in sich selbst. Es
gibt jedoch noch eine andere Traurigkeit angesichts der Wunden, die das Leben geschla-
gen hat, die dazu führt, dass ich mich öffne. Sie lindert meine Schmerzen, indem sie mich
barmherzig macht und die Not des Anderen sehen lehrt.

                                                                                       15
Klagelieder 3,48-51
Tränenströme vergießt mein Auge
über den Zusammenbruch der Tochter, meines Volkes.
Mein Auge ergießt sich und ruht nicht;
es hört nicht auf,
bis der HERR vom Himmel her sieht und schaut.
Mein Auge schmerzt mich wegen all der Töchter meiner Stadt.

       „Töchter Jerusalems, weint nicht über mich;
       weint vielmehr über euch und eure Kinder! “ Lk 23,28

Trotz der eigenen Not vergisst Jesus nicht das Schicksal seines Volkes, vor allem nicht das
der Frauen und Kinder. Wir gedenken in Stille der Frauen und Kinder, die in den militärischen
Auseinandersetzungen die Hauptleidtragenden sind – selbst dann noch, wenn ein Krieg
bereits beendet ist. Wir gedenken auch der vielen Kinder und Erwachsenen, die durch
Landminen verstümmelt oder getötet werden.

Herr, du gehst den gleichen Leidensweg wie die Menschen deines Volkes Israel. Bewahre
uns davor, dass wir angesichts der vielen Leidensnachrichten aus aller Welt zynisch werden
und unser Mitgefühl verlieren. Amen.

IX. STATION      Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz
Die Last des Kreuzes drückt Jesus nieder. „Ihr alle werdet straucheln“, sagte Jesus zu
Petrus. Jesus weiß um die Schwachheit seiner Jünger. Sie, und allen voran Petrus, stehen
stellvertretend für uns alle, die immer wieder der Vergebung bedürfen. Auch wenn wir
schuldig geworden sind, wendet Gott seinen Blick nicht von uns ab. Er steht zu uns, gerade
wenn wir stolpern und straucheln. Unser Leben ist von der Liebe Gottes umgriffen, mag
geschehen was will.

Jes 49,1b.3-4
Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen;
als ich noch im Schoß meiner Mutter war,
hat er meinen Namen genannt.
Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel,
an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will.
Ich aber sagte: Vergeblich habe ich mich bemüht,
habe meine Kraft für Nichtiges und Windhauch vertan.
Aber mein Recht liegt beim HERRN
und mein Lohn bei meinem Gott.
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„Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln,
       so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt;
       aber ihr habt nicht gewollt.“ Mt 23,37

Jesu dritter Sturz ist die Folge von Erschöpfung und Verzweiflung. Wir erkennen in ihm die
vielen Menschen, die verzweifeln, weil ihnen ihr Leben sinnlos erscheint. In Stille gedenken
wir der Menschen, die glauben, ihr Leben sei gescheitert.

Herr, du stürzt nicht nur aus Erschöpfung, dich schlägt auch die Gleichgültigkeit und
Lieblosigkeit der Menschen nieder. Bewahre uns vor Verzweiflung, wenn wir die Frucht
unserer Bemühungen nicht zu erkennen vermögen. Lass uns für Menschen eine Stütze
sein, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen. Amen.

X. STATION       Jesus wird seiner Kleider beraubt
Selbst seines letzten Schutzes wird Jesus beraubt. Was wird Gott tun? Was kann Gott jetzt
noch tun? Wenig später wird er beten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas-
sen?“. Und doch vertraut er darauf, dass Gott ihn nicht verlässt, denn er nennt ihn auch jetzt
noch: „Abba, – lieber Vater“. Was immer auch geschieht, Gott, sein Vater, weiß es. Deshalb
kann er mit Psalm 31 beten: „In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist“.

Ps 22,18-21
Ich kann all meine Knochen zählen;
sie gaffen und starren mich an.
Sie verteilen unter sich meine Kleider
und werfen das Los um mein Gewand.
Du aber, HERR, halte dich nicht fern!
Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
Entreiß mein Leben dem Schwert,
aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut!

       „Ich war nackt,
       und ihr habt mir Kleidung gegeben.“ Mt 25,36

Dass man ihm die Kleider vom Leib reisst, ist eine letzte Erniedrigung des Herrn. Wir
wissen, dass auch heute Menschen in ihrer körperlichen Würde verletzt werden. In Stille
gedenken wir der Menschen, die in Folterkellern psychischer oder physischer Gewalt
ausgesetzt sind.

Herr, die Soldaten haben dich vor aller Welt bloßgestellt. Dein Anblick soll uns davor
bewahren, anderen Menschen ihre Würde zu nehmen und sie lächerlich zu machen. Amen.
                                                                                           17
XI. STATION       Jesus wird ans Kreuz genagelt
Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld. Das eigene
Überleben hat schließlich Vorrang. Außerdem hält er sich
ja an das Gesetz. Auch die Soldaten befolgen nur Befehle.
Sie strecken den geschundenen Körper Jesu auf dem
Kreuz aus. Was folgt, ist für die Henker Routine. Brutal
verrichten sie ihre Arbeit. Jesus verfällt nicht in Hass oder
Bitterkeit, sondern bittet um Vergebung für seine Peiniger.

Ps 51, 3-6                                                      Christus und der gute Schächer,
Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld,                          Tizian (1488-1576), um 1563,
tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!                National-Pinakothek, Bologna
Wasch meine Schuld von mir ab
und mach mich rein von meiner Sünde!
Denn ich erkenne meine bösen Taten,
meine Sünde steht mir immer vor Augen.
Gegen dich allein habe ich gesündigt,
ich habe getan, was böse ist in deinen Augen.
        „Vater, vergib ihnen,
        denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Lk 23,34
Die Schergen tun ihre sogenannte Pflicht. Jesus bittet um Vergebung für sie, die ihn
erbarmungslos hinrichten. Menschen, die unschuldig leiden müssen, sind oft voller Hass
und Rache. In Stille gedenken wir aller Menschen, die, wie in Israel und Palästina, unter
den Folgen von Hass und Rache leiden müssen.
Herr, Dein Erbarmen mit den Menschen ist so groß, dass es uns unbegreiflich erscheint.
Du verkörperst die Liebe deines Vaters, damit wir durch Dein Beispiel lernen, uns überall
für Versöhnung unter den Menschen einzusetzen. Amen.

XII. STATION       Jesus stirbt am Kreuz
Das bittere Ende des Lebens Jesu erscheint wie ein Alptraum. Nur der römische Hauptmann,
der unter dem Kreuz steht, kommt bestürzt zu der Einsicht, die alles verändert: „Dieser
Mensch ist in Wahrheit Gottes Sohn“.

Im Tod wird endgültig klar, was Jesus sein Leben lang gelebt hat: dass alle menschliche
Angst bei ihm geborgen ist und er alle menschliche Schuld vergeben kann. Der Schleier
vor unseren Augen zerreißt, so wie der Vorhang im Tempel. Vom Kreuz kommt das Heil.
Sind wir bereit?
18
1Petr 2,23-24
Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht;
als er litt, drohte er nicht,
sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.
Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib
auf das Holz des Kreuzes getragen,
damit wir tot sind für die Sünden
und leben für die Gerechtigkeit.
Durch seine Wunden seid ihr geheilt.
       „Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod,
       bis zum Tod am Kreuz.“ Phil 2,8
Er, der noch so viel Gutes in dieser Welt hätte wirken können, stirbt wie ein Verbrecher
am Kreuz. Viel zu viele Menschen müssen sterben, weil sie Opfer von ungerechten Ver-
hältnissen, von Hunger, Terror und Krieg werden. In Stille gedenken wir der Menschen, die
einen zu frühen Tod sterben müssen.
Herr, du hast unser irdisches Dasein bis zur Neige gekostet, bis zum Tod am Kreuz. Gib
uns Kraft und Mut, dass wir überall da widerstehen, wo die Sünde zu Gewalt oder gar zu
Tod führt. Bleibe bei uns, wenn wir uns von allen Menschen verlassen fühlen. Amen.

XIII. STATION      J esus wird vom Kreuz abgenommen
                    und in den Schoß seiner Mutter gelegt
Josef von Arimatäa, ein Freund Jesu, und andere Jünger neh-
men den Leichnam behutsam vom Kreuz und legen ihn in den
Schoß seiner Mutter. Maria weint um ihren Sohn. Gemeinsam
erweisen sie dem Herrn den letzten Liebesdienst: sie salben
den toten Körper und umwickeln ihn mit Leinenbinden. Was
bleibt, ist die Liebe.

Klagelieder 1,12.16
                                                              Pietà, Benediktiner-Abtei
Ihr alle, die ihr des Weges zieht,
                                                              Maria Laach,
schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, 15. Jahrhundert
den man mir angetan,
mit dem der HERR mich geschlagen hat
am Tag seines glühenden Zornes.
Darüber muss ich weinen, mein Auge, ja, mein Auge fließt von Tränen.
Fern von mir ist ein Tröster, mein Leben zurückzubringen.
       „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.“ Mt 5,4
                                                                                          19
Am Ende des Leidensweges steht für die Mutter Jesu und seine Jünger abgrundtiefe Trauer.
Angesichts des Todes verstummen alle gescheiten Reden und Erklärungen. In Stille geden-
ken wir der Menschen, die um einen lieben Menschen trauern und keinen Trost finden.
Herr, als du unter uns lebtest, hast du die Trauernden seliggepriesen. Du hast sie getröstet,
wo du nur konntest. Steh allen bei, die um ihre Angehörigen trauern. Schenk uns dein
liebevolles Mitgefühl für die Trauernden. Amen.

XIV. STATION       Jesus wird ins Grab gelegt
Letzter Akt der Trauer. Ein Leichentuch und ein offenes Grab. Doch vorerst ahnen wir nur,
dass dies womöglich nicht der letzte Akt ist. Vielleicht wird doch wahr, was der Prophet
Jesaja gesagt hat: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“?
Warten. Hoffen. „Sorgt euch nicht um euer Leben. Alles
kann, wer glaubt. Friede sei mit euch. Kommt und folgt
mir nach“.

Ijob 17,1-2.7
Mein Geist ist verwirrt,
meine Tage sind ausgelöscht,
nur Gräber bleiben mir.
Wahrhaftig, nur Spott begleitet mich.
In ihren Bitterkeiten verbringt mein Auge die Nacht.
Vor Kummer ist mein Auge matt,                                Grablegung, Rembrandt
all meine Glieder sind wie ein Schatten.                      (1606-1669), 1635,
                                                              Alte Pinakothek, München
       „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin,
       werde alle zu mir ziehen.“ Joh 12,32

Gott geht den Weg aller Menschen bis zum Ende. Für viele Hinterbliebene ist das Grab
oft der letzte Ort, an dem sie die Nähe ihrer Verstorbenen erfahren. Wir denken in Stille
besonders an diejenigen, die zum Trauern nicht einmal ein Grab haben, weil ihre Ange-
hörigen verschleppt und ermordet wurden.

Herr, wir danken dir, dass du unser Menschenlos bis in die letzte Dunkelheit hinein geteilt
hast. Lass uns aus der Hoffnung leben, dass die Liebe deines Vaters stärker ist als die
Macht des Todes. Amen.
                                                                            P. Ambrosius

20
Der gläubige Thomas

So etwas wie Zufall gibt es nicht, aber es kann uns etwas zufallen,
das uns etwas Wesentliches neu vor Augen führt. Im Februar
bekamen wir Mönche eine Abbildung geschenkt, die mich sehr
berührte. Es handelte sich um einen Entwurf von Valentin Feuer-
steins für ein Glasfenster, des Künstlers, der die Fenster im Chor
unserer Klosterkirche gestaltet hat. Für welche Kirche dieser Ent-
wurf gedacht war, weiß ich nicht. Vielleicht war er sogar ein erster
Versuch für das mittlere Fenster unserer Kirche. jedenfalls befand
er sich im Besitz des Architekten Sauer, der Ende der fünfziger Jahre
den Umbau unserer Kirche leitete und damit sozusagen die Umrah-
mung für die Glasfenster schuf. Da Thomas auch der Schutzpatron
der Architekten ist und manchmal mit dem Winkelmaß abgebildet
ist, dürfte sich ihm der Architekt Sauer besonders verbunden gefühlt haben. Auf der hier
abgebildeten Darstellung der Thomasepisode aus Jo 20, 24-29 sind nur zwei Personen zu
sehen: Thomas kniet mit erhobenen Händen vor dem Herrn, der ihm seinerseits seine Hände
mit den Wundmalen zeigt.

Ich fand es immer schade, dass diese Perikope in unseren Fenstern nicht dargestellt ist, denn
diesen Apostel verehre ich besonders. Von dem sogenannten „ungläubigen“ Thomas wird
am zweiten Sonntag nach Ostern erzählt – und jedesmal bin ich irritiert, dass den Erstkom-
munionkindern am Weißen Sonntag dieser Auferstehungszeuge nicht vermittelt wird, weil
die Geschichte angeblich zu kompliziert ist. Deswegen wird sie durch ein „leichteres“
Evangelium ersetzt. Die kirchliche Auslegung dieser Perikope hat das Bild des Apostels arg
verzeichnet. Für ganze Generationen von Christen hat er als schlechtes Beispiel herhalten
müssen. Da konnte man mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen: Schaut euch diesen
Zweifler an! Thomas habe gezweifelt und sich nicht mit der bloßen Nachricht, dass der Herr
auferstanden sei, zufriedengegeben. Er habe es ganz genau wissen wollen. Unverschämt
sei er gewesen, als er behauptete, das alles nur glauben zu können, wenn er seine Hände
in die Wunden des Herrn legen dürfe. Was aber wollte Thomas wirklich?

Er muss ein Mann gewesen sein, der aufs Ganze ging, halbe Sachen kamen für ihn wohl nicht
in Frage. Er wollte nicht nur den Auferstandenen berühren, sondern Gott. „Mein Herr und
mein Gott“ – das will und das darf er bekennen. Berühren ist eben etwas ganz anderes als
sehen oder reflektieren, in Gedanken etwas nachvollziehen, was andere berichten. Berührung
– wie viele Menschen sehnen sich in Corona-Zeiten danach, wieder einmal in den Arm
genommen zu werden, sich nicht begnügen zu müssen mit Zoom-Konferenzen und Telefona-
                                                                                          21
ten. Aber Gott berühren? Wenn wir etwas richtig verstanden haben, sagen wir zur Bestätigung,
wir hätten es „begriffen“. Begreifen ist demnach mehr als verstehen. Bei kleinen Kindern
können wir beobachten, wie wichtig das ist: Ein Ding wird in beide Hände genommen,
betastet, weggeworfen und immer und immer wieder in die Händchen genommen. Auch
wenn das, was wir begreifen wollen, im Laufe der Zeit immer größer und vor allem immer
abstrakter wird, so dass wir es nicht mehr so einfach in die Hand nehmen können, bleibt die
gefühlsmäßige Qualität frühkindlichen Begreifens in unserer Seele bestehen.
Der Apostel Thomas will nicht bloß sehen wie die anderen Jünger. Im Gegensatz zu Thomas
werden sie im Evangelium merkwürdig verschwommen geschildert. Sie werden nicht beim
Namen genannt, man hat das Gefühl, als existierten sie gar nicht als Einzelpersonen, sondern
bildeten nur den begleitenden Chor. Thomas hingegen wird sehr lebendig geschildert. Er
stellt eine Bedingung für seinen Glauben, denn er will um nichts in der Welt auf ein Trugbild
hereinfallen. Nein, er will ganz real begreifen. Er will wissen, ob es sich bei der Auferstehung
um ein handfestes Geschehen handelt und nicht um ein Hirngespinst verschreckter Männer.
Aber ist es nicht ein unverschämter Anspruch, den Auferstandenen oder gar Gott berühren
zu wollen? Und wie verhält es sich mit uns? Teilen wir den Wunsch von Thomas, wollen auch
wir aufs Ganze gehen? Oder bleiben wir vorsichtshalber lieber auf Distanz und finden dafür
auch die passenden Argumente? Erstens: Wir könnten Gott gar nicht „begreifen“, denn er
sei etwas, das wir einfach nicht berühren könnten, und zweitens hätten wir nicht das Recht,
in puncto Glauben Forderungen zu stellen. Dafür seien wir doch zu klein, das überfordere
uns, wir könnten doch nicht einmal den Zipfel seines Gewandes berühren.
Doch der Evangelist Johannes sieht das anders. Überall, wo wir die Finger in Wunden legen,
auf einen verwundeten Menschen zugehen und uns seiner Not und seiner Verletzungen
annehmen, berühren wir Gott. Die Vorstellung eines verwundeten Gottes, der am Kreuz starb
und durch seine Ohnmacht alle Mächte der Welt in die Schranken wies, hat damals die Welt
verändert und lässt uns auch heute einen Gott „begreifen“, der sich leidenschaftlich unserer
Verletzlichkeit annimmt, der solidarisch ist mit uns und durch die Wunden, die man ihm
zufügte, mit uns verbunden ist. Thomas hat das begriffen: Wir haben nicht einen Gott, der
wie die anderen „Götter“ ist – unbeteiligt und in sich selbst ruhend, unerreichbar in irgend-
einem Olymp. Wir haben nicht einen Gott, den wir bequem verehren können, indem wir ihm
ab und zu ein kleines Opfer darbringen, und dann läuft die Sache schon – ein Gott, der uns
ansonsten in Ruhe lässt und den wir auf sich beruhen lassen können. Nein, der auferstandene
Christus zeigt seine Verletzungen und sagt: Seht her, ich bin versehrt, verwundet wie ihr alle.
Noch dazu wurde er völlig unschuldig gequält und gemartert, und das verändert alles. Leiden
ist nun nicht mehr absurd, sondern führt in Gott hinein.
Aus der fernöstlichen Spiritualität stammt die Mahnung: Vertraue nicht wohlklingenden Ideen
und Lehren, sondern nimm nur das ernst, was durchlitten ist. Anders formuliert: Nimm nur
22
an, was mit Herzblut verbunden ist, was so wichtig ist, dass einer bereit ist, dafür sein Leben
zu geben. Nur dann ist es keine Spekulation, keine Theorie, kein abgehobenes Ideal ohne
Wurzelgrund im Leben. Indem er seine Wunden zeigt, erinnert Jesus also die Jünger daran,
dass alles wahr ist, was er sagte, weil er dafür sein eigenes Leben einsetzte – nicht das
anderer. Diese Wunden sind ein Beweis seiner Liebe, und Liebe macht nun einmal verwund-
bar. Weil es Wunden der Liebe sind, erkennen die Jünger an ihnen ihren Rabbi. Es sind nicht
die Wunden eines unbelehrbaren Fanatikers, die nach Rache rufen. Zudem sind es Wunden,
die durch unsere Schuld immer wieder aufbrechen können. Wenn der Apostel Thomas sagt,
er werde nur glauben, wenn wer die Wunden berühren könne, dann hat das nichts mit
Skepsis zu tun. Deshalb ist es so unsinnig, von dem „ungläubigen“ Thomas zu sprechen.
Mit den Wunden Jesu in Berührung zu kommen, ist doch nur möglich, weil Gott Mensch
geworden ist. Im Berühren der Verletzungen Jesu, bricht über Thomas ein Art empathisches
Erkennen herein: Jesus Christus ist Gott und leidender Mensch.

Thomas geht es nicht darum, Christus an irgendwelchen Körpermerkmalen oder vertrau-
ten Gesichtszügen wiederzuerkennen. Er möchte vielmehr die Kontinuität einer Geschichte
begreifen, die durch die Dunkelheit des Leidens hindurch den Tod überwindet. Die Wunden
sind dem Auferstandenen geblieben; sie sind geradezu eine Art Brücke zu dem zuvor
Erlebten. Das will Thomas spüren, darauf besteht er. Denn wenn das alles wahr ist, wenn
die Wunden Jesu echt sind, dann gilt diese Kontinuität auch für sein Leben und Auferste-
hen. Dann wischt der Tod nicht alles weg, dann macht er nicht Tabula rasa. Sondern alles,
was unser irdisches Leben prägte, auch die Schrunden und Wunden, wird – angesehen
und angerührt von Gott – hineingenommen in das ewige Leben. Thomas darf die Wunden
berühren, aber ob er es auch getan hat, lässt das Johannesevangelium offen.

In der Kunst wird die Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Thomas ganz unter-
schiedlich dargestellt, am drastischen vielleicht bei Caravaggio. In seiner Darstellung führt
Christus die Hand des Jüngers tief in die klaffende Seitenwunde. Navid Kermani interpretiert
dies mit einem Hinweis auf das apokryphe
Thomasevangelium: Es gehe darum, dass die
Wahrheit nicht etwas Äußerliches oder Höheres,
von uns schlechthin Unterschiedenes sei, an das
man unbesehen glauben müsse, Es gehe auch
nicht darum, einzig und allein dem Wort zu
vertrauen und damit der Autorität derjenigen,
die es interpretieren. „Wenn die, die euch leiten,
euch sagen: ‚Seht, das Reich ist im Himmel‘, so Michelangelo Merisi da Caravaggio,
werden die Vögel des Himmels euch zuvorkom- 1571-1610, der hl. Thomas, um 1600,
men. Und wenn sie euch sagen: ‚Es ist im Meer‘, Bildergalerie in Schloss Sanssouci, Potsdam
                                                                                            23
so werden die Fische euch zuvorkommen. Das Reich ist vielmehr innerhalb von euch und
außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden.“ (Thomas 3)

Ganz anders eine Darstellung von Rubens. Der Auferstan-
dene streckt Thomas und zwei anderen Jüngern die Hände
mit den deutlich erkennbaren Wundmalen entgegen, die
Seitenwunde bleibt im Schatten verborgen. Die Geste der
Hände drückt wohl eine gelassene Aufforderung zu einem
geistigen Betasten mit den Augen aus, und Christus gibt
den verklärten Leib den Blicken der Jünger preis. Thomas
begnügt sich hier mit dem Betrachten der Wunden. Ein-
drucksvoll sind seine gespreizten Hände, sie drücken nicht
nur Überraschung aus, sondern schon der Gedanke, den
Herrn zu berühren, scheint eine Art Schauder bei ihm Hl. Thomas, Peter Paul Rubens
                                                           (1577-1640), 1613/1615,
auszulösen. Tatsächlich berichtet das Evangelium nicht, ob Königliches Museum der
Thomas wirklich ernst gemacht hat mit dem Berühren. Schönen Künste, Antwerpen
Wichtig ist jedoch, dass Rubens – pars pro toto – noch
zwei andere Jünger in das Bild mit aufnimmt. Zwar geht es primär um die Begegnung
zwischen Thomas und seinem Herrn, doch sollte nicht übersehen werden, dass Thomas
vor der Begegnung eine Woche lang im Kreis der anderen Jünger auf Christus gewartet
hat. Es wäre ja auch denkbar, dass er aus Enttäuschung, dem Herrn nicht mit den anderen
begegnet zu sein, diese Gemeinschaft gemieden oder sogar verletzt und zornig verlassen
hätte. Doch er bleibt mit seinem Anspruch und seinen Fragen bei ihnen, und die Jünger
ertragen seine sture Beharrlichkeit und nehmen sie ernst.

Thomas ist mit seinem rigorosen Fragen und Suchen die Brücke zu uns Christen heute. Er
sah und glaubte: „Selig, die nicht sehen und glauben“. So wird deutlich, dass wir als
Kirche der Nachgeborenen glauben können, dass der gekreuzigte Herr auferstanden ist.
Und nachdem sich Christus durch seine Wundmale zu erkennen gab, sagte er: „Der Friede
sei mit euch.“ Womöglich hatten sich die Jünger bis zu diesem Augenblick noch in gegen-
seitigen Schuldzuweisungen ergangen: Wer ihn verraten habe, wer feige davongelaufen
sei und ihn im Stich ließ. Christus durchbricht mit seinem Erscheinen und dem Friedensgruß
alle Isolierung, die den Einzelnen von der Gemeinschaft oder die Kleingruppe der Jünger
von der großen Glaubenstradition Israels trennt. Für den Auferstandenen gibt es kein
Aufrechnen und Abrechnen. Das Versagen der Jünger am Karfreitag ist zur felix culpa, zur
glücklichen Schuld geworden. Die Darstellung der Thomasperikope von Valentin Feuerstein
macht diese frohe Botschaft deutlich durch die segnenden Hände über dem knienden
Thomas. Wunden können zum Segen werden, wenn sie hinweisen auf das endgültige und
erfüllte Leben in Christus. 	                                                  P. Benedikt
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Pfingsten, das Geburtstagsfest der Kirche

Der Heilige Geist scheint in unseren Tagen in der Kirche nur noch schwer auszumachen
zu sein. Angesichts des Ausmaßes des Kindesmissbrauchs und vor allem angesichts der
Aufarbeitung dieser Skandale, scheinen viele Verantwortliche in der Kirche von allen guten
Geistern verlassen. Diese Sicht mag provozierend und zu kurz gegriffen erscheinen – aber
sie ist ein Notschrei. Daher möchte ich hier einige Gedanken zum Verhältnis von Heiligem
Geist und Kirche aufschreiben.
Kirche verdankt ihr Sein und Wirken nicht sich selbst, sondern hat ihren Ort im Schöpfungs-
und Erlösungswerk des dreifaltigen Gottes. Deshalb ist sie ihrem innersten Wesen nach
ein Geheimnis. Sie empfängt ihr Leben aus Gottes Wort und den Sakramenten. Doch
existiert sie auch in der Geschichte und hat somit Anteil an deren sündiger Struktur. Darin
liegt auch ihre Begrenzung: Ihr Begreifen ist Stückwerk (1 Kor 13,9), und ihr Leben aus
den Gaben Gottes ist bedroht durch menschliche Schwäche und Schuld. Die Skandale um
den abscheulichen Missbrauch verdunkeln das Zeugnis der christlichen Botschaft und
stellen die Glaubwürdigkeit unserer Kirche in Frage. Dass diese skandalösen Vorkommnisse
ans Licht gekommen sind, ist meines Erachtens aber ein Zeichen für das Wirken des

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Heiligen Geistes, „der aufdecken wird, was Sünde ist“ (vgl. Joh 16,8). In der frühen
Christenheit wurde der Vater-Unser-Bitte „Dein Reich komme“ oft noch der Kommentar
hinzugefügt: „Dein Heiliger Geist komme auf uns und reinige uns!“ Und auch in der
Pfingstsequenz, die im Mittelalter entstand, beten wir: „Was befleckt ist, wasche rein!“.
Die Ecclesia semper reformanda, „die Kirche, die sich immer wieder reformieren muss“
war zu allen Zeiten aktuell – und heute ist dies in ganz besonderem Maße erforderlich.
Der Heilige Geist ist das Lebensprinzip der Kirche. Bestimmend für ihre Gestalt ist diese
vom Heiligen Geist gewirkte Lebendigkeit. Es ist dieser Geist, der jedem Einzelnen seine
Gaben, sein Charisma, zuteilt, wie er will, so dass „alle Glieder des Leibes aber, obgleich
es viele sind, einen einzigen Leib“ bilden – in Christus (1 Kor 12,11f). Christus wirkt in
der Kirche durch den Heiligen Geist (Joh 14,26; 16,13 f). Der Heilige Geist ist es, der durch
die Sakramente und durch sein Wort – „die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt,
erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben“, so Martin
Luther in seinem Kleinen Katechismus im 3. Artikel. Und weil wir „nicht aus eigener
Vernunft noch Kraft an Jesus Christus glauben“ können, müssen wir um den Heiligen
Geist bitten (vgl. Lk 11,13).
So berichtet die Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas, das „Evangelium des Hl. Geistes“,
in der der Heilige Geist 68 mal erwähnt wird, wie schon die allerersten Schritte der entste-
henden Kirche unter der Führung von Gottes Geist stattfinden. Die Apostel sind voll des
Heiligen Geistes (Apg 4; 8; 9; 17), der sie, wie Jesus, Wundertaten vollbringen lässt und ihr
Tun bestätigt (Apg 10,44; 11,15). Der Geist lässt sie die Worte des Herrn verkünden und gibt
ihnen die Kraft, die Zuhörer zu überzeugen. Und er ist es auch, der bewirkt, dass die trennen-
den Mauern zwischen Juden und Heiden niedergerissen werden und dadurch die Kirche
darauf vorzubereitet wird, Jesus Christus allen Völkern zu verkündigen. Der Geist entsendet
die Apostel in die Mission und gibt ihnen sogar die Reiseroute vor: Sie sollen nicht weiter in
Kleinasien verkündigen, sondern sich in Richtung Mazedonien, d.h. Europa bewegen.
Durch die Ausgießung des Heiligen Geistes geschieht außerdem Zweierlei: Die Jünger
werden von ihrer Angst befreit und dadurch frei für die Verkündigung – und es scheiden
sich die Geister: Da sind diejenigen, die von den ‚großen Taten Gottes‘ angerührt sind
(Apg. 2, 11) und die anderen, die die Jünger für betrunken halten (Apg. 2, 13). Und es
geschieht noch mehr: es ereignet sich ein „Sprach- und ein Hörwunder“, denn die Apos-
tel sprechen in Sprachen, die ihnen der Geist eingibt, und die Anwesenden hören sie in
ihrer jeweiligen Muttersprache reden.
Heute, denke ich, könnten wir das im Hinblick auf die Ökumene deuten. Wir haben in
unseren kirchlichen Traditionen verschiedene „Sprachen“ entwickelt, die auch ein Stück
weit unsere kirchliche Identität ausmachen. Deshalb sollten wir den Heiligen Geist um ein
neues Sprach- und Hörwunder bitten, damit wir die jeweils andere Kirche verstehen lernen
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und Fremdheit zu Vertrautheit wird. Dazu braucht es die „Übersetzungsarbeit“ des Heilige
Geistes, ja geradezu ein neues Pfingstwunder, durch das der Heilige Geist unsere historisch
gewachsene Verschiedenheit reinigt und versöhnt und geschwisterliche Harmonie unter
uns bewirkt.
In seinem programmatischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude am Evangelium)
lädt Papst Franziskus das gesamte Volk Gottes ein, mit neuem Elan das Evangelium in die
Welt zu tragen: „Jeder Getaufte ist ein Verkündiger – ein Missionar“. Mit welcher Methode
oder mit welchem Pastoralplan will Franziskus das erreichen? Der Anfang des Schreibens
gibt die Methode an: die Freude, die ansteckt. Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz
und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Der Papst weiß, dass es den geeigne-
ten Boden für das Aufkeimen der Saat des Wortes braucht und dass in manchen Gegenden
der Boden ausgelaugt und trocken, sogar zur Wüste geworden ist. Doch „gerade in der
Wüste entdeckt man, was wesentlich für das Leben ist. So gibt es in unserer Zeit implizite
und explizite Anzeichen einer Suche, eines Durstes nach Gott, nach dem Sinn des Lebens.
… In dieser Situation sind wir gerufen, Wasserspender für die anderen zu sein…. Und
wir kennen den Ort, aus dem das lebendige Wasser fließt: es ist die durchbohrte Seite des
Gekreuzigten.“ „Manchmal kann es scheinen, als hätten wir mit unserer Anstrengung
überhaupt nichts erreicht. … Doch wir müssen fest daran glauben, dass, wer sich mit

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