Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie - Sleep Coaching in Psychotherapy
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Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie Sleep Coaching in Psychotherapy Günther W. Amann-Jennson Schlaf Zusammenfassung sion, ADHD, bipolar disorders, sexual disorders etc. This is true for children, young adults as well as middle-aged adults and elderly people. Studies have revealed that the combina- Die Mehrheit von PatientInnen/KlientInnen mit psychischen, tion of sleep and mental disorders or even depression increases psychosomatischen oder psychiatrischen Störungen leidet both episode severity and duration as well as relapse rates. unter Schlafstörungen. Obwohl Schlafstörungen typische Fortunately, recent studies have shown that psychotherapeu- Merkmale von psychischen Problemen und Depressionen tic treatments in combination with an optimization of sleep sind, treten solche Symptome häufig bereits vor einer Episode quality favorably reduce mental disorders and minimize the einer solchen Störung oder Depression auf. In Längsschnitt- risk of relapse. In order to put these findings into effective studien treten durchwegs Schlafstörungen und Schlafmangel practice, the model “sleep-healthy coaching in psychotherapy” als Risikofaktoren für die Entwicklung von psychischen Stö- is presented. This should capture cause-and-effect relation- rungen, Depressionen, ADHS, bipolaren Erkrankungen, ships in a more accurate way and improve therapeutic effects. Sexualstörungen etc. auf. Dies betrifft sowohl Kinder als auch junge Erwachsene und Erwachsene mittleren und äl- teren Alters. In Studien wurde beobachtet, dass die Kombi- nation von Schlafstörungen und psychischen Störungen bis 1. Einleitung hin zu Depressionen die Schwere und Dauer der Episoden so- wie die Rückfallraten erhöht. Glücklicherweise haben neuere Studien gezeigt, dass psychotherapeutische Behandlungen Seit sich Medizin, Psychologie, Schlaf- und Neurowis- bei gleichzeitiger Verbesserung der Schlafqualität psychische senschaften in ihren Forschungen immer mehr annä- Störungen günstig reduzieren und das Rückfallrisiko mini- hern, ist deutlich erkennbar, dass der Schlaf und die mieren. Um diese Erkenntnisse in der Praxis umsetzbar zu psychisch-mentale Gesundheit ganz eng miteinander machen, wird das Modell „Schlaf-Gesund-Coaching in der verbunden sind. Denn hunderte Studien und prak- Psychotherapie“ vorgestellt. Damit sollen die Ursache-Wir- tische Erfahrungen zeigen, dass sich Schlafstörungen, kungs-Beziehungen besser erfasst und die Therapieerfolge Schlafdefizit und nichterholsamer Schlaf nicht nur verbessert werden. auf das Wohlbefinden und die körperliche Gesund- heit negativ auswirken, sondern vor allem im psychi- schen Bereich zu starken Wechselwirkungen führen. Menschen mit psychischen Problemen leiden eher Abstract an nichtorganischen Schlafstörungen (ICD-10). Die Einschlaf- und Durchschlafstörungen sowie das Syn- drom des zu frühen Erwachens bleiben dabei mit Ab- The majority of patients/clients with mental, psychosomatic stand die häufigsten Probleme mit dem Schlaf. In der or psychiatric disorders suffer from sleep disorders. Although Schlafmedizin gibt es über 70 relevante Formen von sleep disorders are typical features of mental problems and gestörtem Schlaf. In diesem Beitrag soll aufgezeigt depression, such symptoms often occur even before an episode werden, weswegen es innerhalb der Psychotherapie of such disorder or depression starts. Longitudinal studies immer wichtiger wird, sich explizit mit dem Schlaf der show that sleep disorders and sleep deprivation are consistent PatientInnen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig benö- risk factors for the development of mental disorders, depres- tigt es auch neue Möglichkeiten, die PatientInnen in 404 Psychologie in Österreich 5 | 2019
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie ihrer Schlafregulation zu unterstützen. Hier kann eine 2016). Diese Forschungsergebnisse haben zwischenzeit- Zusatzausbildung zum „Zertifizierten Schlaf-Gesund- lich hohe klinische Bedeutung, denn daraus ist abzulei- Coach“ die psychotherapeutischen Behandlungser- ten, dass die parallele Behandlung einer Schlafstörung folge massiv unterstützen. die Symptome von psychischen Gesundheitsproblemen Vor über 20 Jahren betraf die Hauptgruppe der deutlich lindern, den Genesungsprozess beschleuni- Schlafgestörten noch PatientInnen und KlientInnen gen und die Rückfallgefahr drastisch senken kann. Dem mit psychiatrischen Beschwerden, psychologischen Schlaf sollte daher künftig auch in der Psychotherapie Problemen oder psychosomatischen Störungen. Diese eine ganz neue Bedeutung beigemessen werden. Gruppe machte bis zu 80 % der Schlafgestörten aus und die Schlafstörung wurde eher als Begleitsymptom der Abb. 1: Die Zusammenhänge zwischen Schlafstörungen und psychisch-men- psychischen Störung angesehen. Auffallend häufig war talem Wohlbefinden, seelischen Störungen bis hin zu Depressionen werden für die Wissenschaft immer verständlicher. dies bei PatientInnen mit Angstzuständen, Depressi- onen, bipolaren Störungen und Aufmerksamkeitsde- fizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) zu beobachten („Sleep and mental health – Harvard Health“, 2019). Traditionell haben also KlinikerInnen, die PatientInnen mit psychischen Störungen behandelten, Schlaflosig- keit und andere Schlafstörungen bestenfalls als Sym- ptome angesehen. Der erste große Paradigmenwechsel erfolgte bereits 1998 als der Leiter des Schlafforschungszentrums an der Stanford University (USA) Prof. Dr. William C. Dement anlässlich seiner Emeritierung zusammenfasste: „Nach 40 Jahren Schlafforschung habe ich keinen Faktor gefunden, der auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit einen größeren Einfluss hat als der Die Gruppe mit Schlafproblemen in der allgemeinen Schlaf. Unsere Gesundheit hängt zu über Bevölkerung lag in den 90-iger Jahren statistisch noch unter 20 %. Aktuell klagen beinahe 80 % der Erwerbstä- 90 % von einem erholsamen Schlaf ab.“ tigen über einen schlechten, gestörten, zu kurzen oder nicht mehr erholsamen Schlaf (Marschall, Hildebrandt, Diese Zusammenfassung wird in seinem Buch „The pro- Sydow, Nolting, Burgart, 2017). Dabei handelt es sich mise of sleep“ (Dement, 1999) vollumfänglich bestätigt. großteils um stressbedingte, also nichtorganisch be- Nicht nur, dass daraufhin die Weltgesundheitsorganisa- dingte Formen der Schlafstörungen. Dazu kommt eine tion (WHO) den Schlaf neben Ernährung und Bewegung sowohl in der Verbreitung als auch in der psychischen als dritte wichtige Säule für unsere Gesundheit ausrief, Auswirkung nach wie vor stark unterschätzte atembe- sondern die Schlafforschung kam insgesamt in Bewe- zogene Schlafstörung dazu: die obstruktive Schlafap- gung und befasste sich unter anderem auch mit den Zu- noe (OSA) mit mehr oder weniger regelmäßigen Aus- sammenhängen von psychischen Störungen, Stresser- setzern der Atemfunktion während des Schlafs. Dies krankungen, Depressionen etc. und dem Schlaf bzw. den führt zu einem chronischen Sauerstoff-Defizit während Störungen des Schlafs. des Schlafs mit fatalen Folgen für Körper und Psyche. Die Prävalenz einer obstruktiven Schlafapnoe (OSA) in der Bevölkerung liegt bei 3-7 % der Männer und 2-5 % der Frauen, wobei eine aktuelle Studie sogar 49,7 % 2. Schlafprobleme: Risiken für psychisch- beziehungsweise 23,4 % als OSA-PatientInnen identi- mentale Erkrankungen fizierte (Faßbender, Herbstreit, Eikermann, Teschler & Peters, 2016). Zahlreiche wissenschaftliche Studien sowohl bei Er- wachsenen als auch bei Kindern sind zum Ergebnis gekommen, dass Schlafstörungen nicht nur ein Risi- 3. Arbeit am Abend führt oft zu kofaktor für unsere körperliche Gesundheit sind, son- Schlafmangel dern für die Entwicklung psychiatrischer Störungen, mental-psychologischer Probleme, psychosomatischer Störungen bis hin zu neurodegenerativen Krankheiten Über 70 % der Menschen beklagen sich über Stress am wie Alzheimer direkt beitragen können (Baglioni et al., Arbeitsplatz (Korn Ferry, 2018). Diese sozialen Konflikte Psychologie in Österreich 5 | 2019 405
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie am Arbeitsplatz sind sowohl für das seelische Gleich- später müde und schläfrig werden. Doch diese Zeit als gewicht als auch für einen erholsamen Schlaf ein oft „nachtaktive Eule“ birgt Risiken: Kinder und Jugendli- unbeachteter Belastungsfaktor. Auch die tatsächli- che mit ausgeprägtem Abendtypus weisen oft eine ge- che Zunahme des Arbeitspensums ist immer öfter ein ringere Stresstoleranz sowie eine höhere Reizbarkeit Thema. Doch was die Erfahrung zeigt, wird durch die auf als ihre morgenorientierten AltersgenossInnen. Statistik bestätigt: Viele Menschen verlegen ihre Ar- Meistens sind auch die Schulleistungen schlechter beitszeit tatsächlich in den Feierabend, weil sie tagsü- als bei den Morgentypen. Dies ist ein Hinweis auf ein ber nicht alles schaffen, da sie sich zu gestresst fühlen. Schlafdefizit, hervorgerufen durch den sogenannten Bereits 2014 arbeitete jede/jeder vierte Erwerbstätige „Social Jetlag“. Genau dieser führt über kurz oder lang in Deutschland regelmäßig zwischen 18:00 Uhr und bei den Betroffenen zu einer psychisch-emotionalen 23:00 Uhr (Statistisches Bundesamt, 2014). Dies lässt Instabilität. Eine Folge davon sind schlechtere Kon- sich problemlos auch auf die Verhältnisse in Österreich zentrations- und Schulleistungen. Weiters ist auffällig, übertragen. Ob diese zunehmende Gewohnheit der dass Jugendliche mit ausgeprägter Abendorientierung abendlichen Arbeit unseren Schlaf tatsächlich stört, eher rauchen und häufiger Alkohol und Drogen kon- hängt von verschiedenen Faktoren ab. Da geht es vor- sumieren als diejenigen, die eine solche Orientierung rangig um die eigene Chronobiologie. Denn großteils nicht aufweisen. Es ist nicht überraschend, dass gerade hängt von dieser ab, wann wir am leistungsfähigsten Jugendliche mit Schlafstörungen und einer starken sind und wann unsere beste Schlafzeit ist, wann wir Abendorientierung deutlich häufiger psychische Stö- also am besten natürlich einschlafen und erholt aufste- rungen aufweisen als Jugendliche, die nicht als „nacht- hen können. aktive Eulen“ reagieren. Eine starke Abendorientierung „Frühtypen“ (Lerchen) tun sich mit abendlicher Ar- in der Jugendzeit könnte somit möglicherweise ein beit eher schwer und sollten diese am besten am Vor- signifikanter Risikofaktor für die spätere Entwicklung mittag erledigen. Die „Spättypen“ haben ihr Leistungs- psychischer Erkrankungen sein. hoch gegen Abend und würden gerne am Morgen länger schlafen. Allerdings haben Menschen dieser Gruppe Abb. 3: Kinder und Jugendliche mit ausgeprägtem Abendtypus entwickeln häu- das höchste Risiko, ein chronisches Schlafdefizit aufzu- figer psychische Störungen als die Morgentypen. bauen, insbesondere solange sie berufstätig sind. Denn sie gehen spät ins Bett und müssen trotzdem früh auf- stehen. Diese Gruppe sollte bemüht sein, ihren Schlaf- mangel immer wieder an Wochenenden oder durch re- gelmäßige Powernaps auszugleichen. Abb. 2: Die genetisch bedingte und individuelle Chronotypologie hat auf den Schlafrhythmus und die Leistungsfähigkeit einen großen Einfluss. Abendtypen zeigen mehr psychische Störungen. Die Abendorientierung kann auch auf eine Schlafstörung hinweisen, die ihrerseits wiederum mit einem erhöhten Risiko für Verhaltensauffälligkeiten assoziiert ist. Stu- dentInnen mit starker Abendorientierung haben auch Der individuelle Schlaf- und Chronotyp zeigt sich meist eine erhöhte Neigung zu einer ADHS-Symptomatik („Ri- schon im Kindes- und Jugendalter. So zeigen Studien, sikofaktor Eule – Jugendliche Abendtypen bilden häu- dass Kinder und Jugendliche, die zu den nachtaktiven figer psychische Symptome aus“, o. J.). Eulen zählen, häufiger als z. B. frühaktive Lerchen psy- chische Störungen entwickeln. Vor allem Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren mutieren hormonbedingt in Richtung Eulen, darunter auch bis dahin ausgeprägte 4. Fact-Box Morgentypen. Das pendelt sich dann in Richtung 20. Lebensjahr chronobiologisch wieder ein. Diese ju- gendliche Abendorientierung beschreiben die Jugend- ■■ Von Schlafstörungen und chronischem Schlafmangel lichen mit „ich fühle mich spät abends noch hellwach sind PatientInnen/KlientInnen mit mentalen Proble- und munter“. Ursache ist die spätere Ausschüttung von men und psychischen Störungen häufiger betroffen Melatonin, wodurch die Jugendlichen tatsächlich erst als Menschen in der Allgemeinbevölkerung. 406 Psychologie in Österreich 5 | 2019
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie ■■ Eine unterschätzte Gefahr sind atembezogene Schlaf- Abb. 4: Stress, Umwelteinflüsse, Schadstoffe, Schlafstörungen und Schlafmangel störungen wie die obstruktive Schlafapnoe (OSA). verändern die Gehirnchemie. Dadurch werden psychische Störungen begünstigt. Durch das Sauerstoff-Defizit während der Nacht wirkt sich dieses Syndrom sowohl auf die körperliche als auch die psychisch-mentale Gesundheit sehr negativ aus. ■■ Schlafstörungen können ein Begleitsymptom von psychischen Störungen sein. Umgekehrt können diese das Risiko für deren Entstehung massiv erhö- hen, insbesondere was Herzinfarkt, Schlaganfall oder Depressionen anbelangt. ■■ Eine Schlafregulation samt einer messbaren Verbes- serung der Schlaf- und Regenerationsqualität kann dazu beitragen, die Symptome des psychischen Ge- sundheitsproblems zu lindern, den Genesungspro- zess samt Therapieerfolg positiv zu beeinflussen und die Rückfallgefahr deutlich zu reduzieren. 5. Wie Schlaf die psychische Gesundheit 6. Das Gehirn ist die wichtigste beeinflusst Schaltzentrale Etwa alle 90 Minuten wechselt man während eines ge- Bei psychischen und psychiatrischen Problemen wird sunden Schlafs zwischen zwei wesentlichen Schlafpha- immer wieder übersehen, dass es sich dabei auch um sen: einmal dem Tiefschlaf, der für die körperliche Re- funktionelle Störungen im Gehirn und Nervensystem generation sowie Entgiftung von Körper und Gehirn handelt. Hier stehen Nervenbotenstoffe im Gehirn wie wichtig ist und dem REM-Traum-Schlaf (Rapid Eye etwa Noradrenalin, Dopamin, Serotonin oder Melatonin Movement), der vor allem für die seelisch-emotionale im Mittelpunkt, die mit zu den wichtigen Reglern von Erholung eine Schlüsselrolle spielt. So kann man mit Wachen und Schlafen gehören. Diese und eine Reihe heutigem Wissensstand davon ausgehen, dass 70 % der anderer Transmitterstoffe und Hormone beeinflussen körperlichen und 100 % (!) der seelisch-emotionalen Re- auch unseren Gemütszustand, unser Wahrnehmen und generation von einem gesunden und damit erholsamen unser Denken stark. So wirken sich Schwankungen und Schlaf abhängig sind. Ausfälle in den zuständigen Nervenzentren verändernd Während der REM-Traum-Schlafphasen steigt die auf die Psyche aus. Ebenso provozieren äußere Einflüsse Körpertemperatur, der Blutdruck erhöht sich und die wie chronischer negativer Stress, Trauer, nicht bewäl- Herzfrequenz samt Atmung steigt auf Werte, die man im tigte traumatische Erlebnisse, unbekannte Auslöser Wachzustand messen kann. Genau aus diesem Grund oder degenerative Prozesse Störungen in den Nerven- wird diese Schlafphase als „paradoxer Schlaf“ bezeich- funktionen. Dies begünstigt wiederum psychische bezie- net. Studien berichten, dass der REM-Traum-Schlaf das hungsweise psychiatrische Erkrankungen. Da die Rege- Lernen und das Gedächtnis verbessert und durch sehr neration des Gehirns samt der nächtlichen Verarbeitung komplexe Prozesse im Gehirn und autonomen Nerven- von Emotionen großteils vom Schlaf abhängig ist, sind system (ANS) wesentlich zur psychisch-emotionalen Ge- die Folgen von gestörtem Schlaf bis hin zu Schlafman- sundheit beiträgt. gel für unsere psychische Gesundheit nachvollziehbar. Fortlaufende Experimente, Studien und Praxiserfah- Wie eng diese Verbindung zwischen Schlaf und Psyche rungen zeigen, dass Schlafstörungen und Schlafmangel tatsächlich sein kann, zeigen die möglichen Folgen von unter anderem den Spiegel von Neurotransmittern und fehlendem Schlaf bei der Entstehung von Suchterkran- Stresshormonen beeinträchtigen. Dadurch werden die kungen wie Alkoholismus, Essstörungen, Psychosen, neurophysiologischen Mechanismen so beeinträchtigt, Schizophrenien sowie Demenzerkrankungen. Gerade bei dass kognitive Funktionen wie das Denken sowie die Persönlichkeitsstörungen wie dem Borderline-Syndrom emotionale Regulation während des Tages nachhaltig bleiben die vorausgehenden und anhaltenden Schlaf- gestört werden. störungen oft zu wenig beachtet (Selby, 2013). Diese Auf diese Weise kann Schlaflosigkeit die Auswir- Zusammenhänge bestätigen deutlich, dass es innerhalb kungen von psychologischen, mentalen und psychiat- einer Psychotherapie mehr als sinnvoll ist, sich auch in- rischen Störungen verstärken oder solche sogar auslö- tensiv mit dem Schlaf von PatientInnen/KlientInnen aus- sen. einanderzusetzen. Psychologie in Österreich 5 | 2019 407
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie 7. Genussmittel und Medikamente können Entwicklungen: 1. Der Dis-Stress wird für unsere körper- Schlafstörungen verursachen liche und vor allem psychisch-mentale Gesundheit zur größten Gefahr. 2. Die Depression wird innerhalb der nächsten 10 Jahre zur Krankheit Nr. 1 und wird damit die Ein gesunder, erholsamer Schlaf ist nicht nur von der Herz-Kreislaufkrankheiten ablösen. Schlafmenge abhängig, sondern insbesondere auch von Studien mit unterschiedlichem Studien-Design samt der Schlafqualität. Die Schlafkontinuität samt der Schlaf- unterschiedlichen Populations-Gruppierungen gehen effizienz sind weitere wichtige Parameter für einen bio- davon aus, dass 65-90 % der erwachsenen PatientInnen, logisch hochwertigen Schlaf. Gerade die Schlafeffizienz die an schweren Depressionen leiden und über 90 % hat sich durch lange Einschlafphasen und bei Durch- der Kinder/Jugendlichen mit depressiven Erkrankungen schlafstörungen durch verlängerte Wieder-Einschlaf- gleichzeitig an Schlafstörungen leiden. Damit zeigt sich, phasen bei den PatientInnen massiv verschlechtert. dass tatsächlich der Großteil der PatientInnen mit De- Gute SchläferInnen haben eine Effizienz von 95-98 %, pressionen gleichzeitig an Schlaflosigkeit und Schlaf- das heißt von der Zeit, in der sie im Bett liegen, schlafen problemen leiden. Bei etwa 20 % wird zusätzlich eine sie auch diese 95-98 %. Wenn jemand zwar 8 Stunden im obstruktive Schlafapnoe (OSA) diagnostiziert. An dieser Bett liegt, aber nur 6 Stunden tatsächlich schläft, sinkt Stelle sei erwähnt, dass die Symptome der OSA gerade die Schlafeffizienz auf unbefriedigende 75 %. Dies wirkt bei Kindern zu sehr ähnlichen Symptomen wie bei der sich sehr negativ auf die Regenerationsqualität aus, da Diagnose von ADHS/ADS führen. Dies ist möglicher- die biologisch durchschnittlich notwendige Schlaflänge weise einer der Hauptgründe, weswegen es bei diesem von 7 bis 8 Stunden nicht erreicht wird. Die Einnahme Formenkreis relativ häufig zu Fehldiagnosen kommen oder das Absetzen von Medikamenten kann die Schlaf- kann. qualität, Schlafkontinuität und Schlafeffizienz ebenfalls verschlechtern. Hier sind vor allem Schilddrüsen-Medi- Abb. 5: Einer WHO-Studie zufolge litten 2017 weltweit etwa 322 Millionen Men- kamente, Schmerzmittel, Blutdrucksenker (Betablocker), schen an Depressionen. Das sind 4,4 % der Weltbevölkerung. Laut WHO-Exper- tInnen soll die Häufigkeit in den nächsten 10 Jahren auf bis zu 20 % ansteigen. Appetitzügler und paradoxerweise auch Schlafmedika- mente zu nennen. 8. Psychologische Auswirkungen von Schlafentzug Was körperlich-psychische Fehlregulationen anbelangt, spielt neben den Schlafstörungen und dem Schlafman- gel vor allem die obstruktive Schlafapnoe (OSA) eine ernst zu nehmende Rolle. Die Atmungsstörungen samt chronischem Sauerstoffdefizit verändern nämlich die Schlafarchitektur, verkürzen oder verhindern den Tief- schlaf und schränken auch die notwendige Länge der Traumphasen ein. Dadurch werden neben vielen ande- Aktuelle Studien lassen keinen Zweifel mehr daran, dass ren Gesundheitsstörungen verschiedene Bewegungs- anhaltende Schlaflosigkeit und andere Schlafstörungen syndrome wie das Restless-Legs-Syndrom (RLS) be- das Risiko, an Depressionen zu erkranken um das 4- bis günstigt. Die Form der Schlafstörung, deren Prävalenz 10-fache erhöhen können (National Sleep Foundation, und Auswirkungen auf bestehende Beschwerden vari- o. J.). Studien aus der Zwillings-Forschung bestätigen, ieren je nach psychologischer oder psychiatrischer Di- dass Schlafprobleme und der Ausbruch von Depressi- agnose. Die Überschneidung zwischen Schlafstörungen onen einen klaren Zusammenhang haben (Roberts & und verschiedenen psychischen oder psychiatrischen Duong, 2014). Störungen ist jedoch so groß, dass ForscherInnen seit Eine weitere wissenschaftliche Erkenntnis lässt sich Langem vermuten, dass beide Arten von Problemen ge- ebenfalls auf die Therapie von PatientInnen/KlientInnen meinsame biologische Wurzeln haben könnten. mit psychischen, psychologischen und psychosoma- tischen Störungen übertragen. Studien berichten, dass depressive PatientInnen, die weiterhin unter Schlaflo- sigkeit leiden, seltener auf die Behandlung ansprechen 9. Depressionen werden weltweit zur als PatientInnen ohne Schlafstörungen. Selbst bei Pa- Krankheit Nr. 1 tientInnen, deren Stimmung sich durch eine pharma- kologische Behandlung mit Antidepressiva verbessert, besteht später ein viel höheres Risiko für einen Rückfall Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) prognostiziert der Depression. Zudem zeigen Statistiken, dass depres- für das 21. Jahrhundert unter anderem zwei dramatische sive PatientInnen, die unter Schlaflosigkeit oder anderen 408 Psychologie in Österreich 5 | 2019
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie Schlafstörungen leiden, eher an einen Suizid denken. lich die depressive Episode abklingt, sinkt zunächst der Tatsächlich sterben solche PatientInnen auch eher an Kortisol-Spiegel, während das Schlafmuster noch eine einem Suizid als depressive PatientInnen, die normal Weile gestört bleibt (Pietschmann, 2016). schlafen können. Diesbezüglich ist vor allem das Syn- drom des zu frühen Erwachens als Warnsignal zu beach- Abb. 6: Das Diagramm vergleicht die Schlafarchitektur eines gesunden Individu- ten. Denn genau diese Gruppe hat nach Untersuchungen ums (oben) mit jener eines Patienten/einer Patientin mit Depressionen (unten). Sie zeigt die insgesamt kürzere Schlafzeit, die verringerte REM-Latenzzeit und ein um bis zu 30 % höheres Suizid-Risiko (Bernert, 2008). den gestörten Schlaf mit zu wenig Tiefschlafphasen. Noch dramatischer sind die Zusammenhänge von gestörtem Schlaf und einer bipolaren Störung. Studien in verschiedenen Populationen kommen zum Ergebnis, dass statistisch 70 bis beinahe 100 % der PatientInnen während einer manischen Episode unter Schlaflosigkeit leiden oder weniger Schlaf benötigen. Bemerkenswert ist auch die Beobachtung, dass bei bipolaren Depressi- onen mindestens 20 % und im Extremfall bis zu 80 % der PatientInnen an einer Hypersomnie leiden, also über- mäßig viel schlafen. Genauso gibt es in dieser Gruppe PatientInnen, die unter massiver Schlaflosigkeit oder einem unruhigen Schlaf leiden können. 10. „Der Schlaf sei das tägliche Brot meiner Seele“ Der deutsche Arzt Dr. Carl Ludwig Schleich (1859-1922) war bekanntlich ein maßgeblicher Pionier der Anästhe- sie. Er betätigte sich nebenbei als Schriftsteller und ei- nige interessante Zitate, wie das hier angeführte, stam- 11. Angststörungen haben massiv men von ihm. Damit trifft er den Kern der Sache ganz zugenommen genau, denn unser Wohlbefinden und das seelische Gleichgewicht sind tatsächlich von der Qualität unseres Schlafs abhängig – und zwar zu 100 %. Dies geht sogar so Es ist eigentlich in der täglichen Praxis nicht mehr zu weit, dass das Schlafprofil immer öfter als „Bio-Marker“ übersehen: Immer häufiger treten heute Angststö- sowohl diagnostische als auch therapeutische Anwen- rungen und Panikattacken auf, zunehmend auch bei dung findet. Das erste Nachtdrittel ist nämlich von aus- jüngeren PatientInnen/KlientInnen. Es dürfte nach den geprägten Tiefschlafphasen gekennzeichnet. Dann folgt bisherigen Ausführungen nicht überraschend sein, dass die erste REM-Traum-Phase und depressive Menschen bei über 50 % der erwachsenen PatientInnen mit gene- fallen auffallend schneller, manchmal schon nach zehn ralisierter Angststörung, mit posttraumatischen Belas- Minuten, in eine solche REM-Traum-Phase. Genau diese tungsstörungen (PTBS), bei Panikstörungen, Zwangs- vorverlagerten REM-Traum-Phasen stehen oft in Zusam- störungen oder Phobien gleichzeitig Schlafstörungen menhang mit psychischen Störungen, insbesondere mit auftreten. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Quote Depressionen. Dabei kann die erste vorverlagerte REM- der Schlafprobleme noch viel höher. Untersuchungen Traum-Phase der Nacht bei PatientInnen mit Depressi- im Schlaflabor zeigten, dass z. B. Jugendliche mit einer onen zusätzlich deutlich länger ausfallen. Angststörung länger brauchten, um einzuschlafen und Interessant ist auch die Beobachtung, dass bei depres- im Vergleich zu einer Kontrollgruppe gesunder Kinder siven PatientInnen weniger Wachstumshormon (HGH) weniger tief schliefen. Auch hier zeigt sich wieder, dass ausgeschüttet wird als bei Gesunden. Auch die Werte der gestörte Schlafprozess ein Risikofaktor für die Ent- von Kortisol steigen vor allem in der zweiten Nachthälfte wicklung einer Angststörung sein kann, jedoch nicht so deutlich an. Kortisol ist ein wichtiges Stresshormon und ausgeprägt wie bei schweren Depressionen. Bei Kindern hilft auch bei Infektionen, da das Immunsystem aktiviert und Teenagern gehen den Angststörungen etwa 30 % wird. Dasselbe passiert allerdings auch bei Stress und Schlafprobleme voraus, während vergleichsweise bei negativen Emotionen wie Wut, Ärger oder Eifersucht. Depressionen etwa 70 % im Vorfeld der Erkrankungen Normalerweise kommt dies bei psychisch Gesunden bereits Schlafprobleme hatten (Leblanc, Desjardins & durch Rückkoppelungseffekte im Gehirn wieder rasch ins Desgagné, 2015). Lot. Man geht deshalb davon aus, dass bei Menschen Diese Zusammenhänge sollten deutlich aufzeigen, mit depressiven Erkrankungen unter anderem die Korti- dass der gestörte Schlaf mit hoher Wahrscheinlichkeit sol-Rezeptoren nicht richtig funktionieren. Sobald näm- die Symptome von Angststörungen verschlimmert und Psychologie in Österreich 5 | 2019 409
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie deren Genesung temporär blockiert oder sogar gänz- Kinder. Gesamthaft betreffen verschiedene Formen von lich verhindern kann. So können anhaltende Schlafstö- Schlafstörungen etwa ein Viertel bis die Hälfte von Kin- rungen bei PTBS sogar dazu beitragen, negative emo- dern mit ADHS. Typische Probleme sind eine teilweise tionale Erinnerungen „zu konservieren“, da diese nicht massiv verkürzte Schlafdauer und ein unruhiger, frag- ausreichend über den Schlafprozess kompensiert wer- mentierter Schlaf. Dabei können sich die Symptome von den (Kovachy et al., 2013). Dadurch kann der Erfolg einer ADHS und Schlafstörungen so stark überlagern, dass Psychotherapie zum Abbau der Angstsymptome stark es schwierig sein kann, diese diagnostisch auseinan- beeinträchtigt werden. derzuhalten. ADHS kann also Ursache und Wirkung von psychischen Störungen sein, was in der Folge sowohl Abb. 7: Die Amygdala ist ein paariges Kerngebiet des Gehirns im medialen Teil Diagnose als auch Therapie erschweren kann. Vom Zu- des jeweiligen Temporallappens. Sie ist Teil des Limbischen Systems. Zusam- sammentreffen von Restless-Legs-Syndrom (RLS) oder men mit dem Hippocampus regelt diese Hirnregion emotionale Äußerungen. Vor allem die Entstehung von Angstgefühlen ist im Mandelkern verankert. periodischen Bewegungsstörungen der Extremitäten, die zusätzlich den Schlaf stören, sind statistisch bis zu 36 % der Kinder betroffen. Gerade Kinder mit diesen spe- Teile des Gehirns ziellen Schlafstörungen können hyperaktiv, unaufmerk- sam und emotional instabil werden, auch dann wenn sie Präfrontaler Cortex die diagnostischen Kriterien für ADHS eigentlich nicht Hippocampus erfüllen (Hvolby, 2015). 12. Autonome Fehlfunktion kann sich direkt auf die Depression auswirken Bei der Entwicklung von psychischen, psychosoma- tischen oder psychiatrischen Störungen spielt das auto- (Anteriorer) Amygdala nome Nervensystem eine bedeutende Rolle. Unter dem cingulärer Cortex Sammelbegriff „funktionelle-psychogene Störungen“ (ICD-10 somatoforme Störungen) findet man eine Reihe unterschiedlicher Symptome, die mit einer Fehlfunktion Schlafstörungen und Schlafmangel unterbrechen unter des vegetativen Nervensystems zusammenhängen – also anderem die Kommunikation zwischen dem Frontallap- jener Nerven, die nicht willkürlich ansteuerbar sind. Zu pen und der Amygdala (Mandelkern). Der Frontallappen den Beschwerden gehören vorrangig Nervosität, Schlaf- reguliert bekanntlich kognitive Prozesse, wie Lernen, störungen, Krämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme etc. Planen, Problemlösen, Vergleichen, Erkennen, Nach- Unabhängig davon werden psychisch-mentale Probleme denken und Entscheiden. Die Amygdala ist der Teil des und vor allem depressive Erkrankungen ebenfalls mit ei- Gehirns, welcher die Bewertung der emotionalen Reize ner autonomen Fehlregulation in Verbindung gebracht. und damit auch das Angstempfinden steuert. Werden Um die Funktion des autonomen Nervensystems – vor nun diese Prozesse des Gehirns gestört, kann man nicht allem das Wechselspiel zwischen Anspannung/Stress mehr angemessen auf emotionale Reize reagieren, was (Sympathikus) und Entspannung/Schlaf/Regeneration zu psychischen und psychiatrischen Symptomen führen (Parasympathikus) zu überprüfen – zeigt sich die Herz- kann. Betroffene leiden unter Konzentrationsschwäche, Raten-Variabilität (HRV) als sehr zuverlässig und eigent- machen oft Fehler, sind ungeduldig und schnell mit Situ- lich unverzichtbar. Deshalb spielen bei einem Schlaf- ationen überfordert, was sie zu Überreaktionen antreibt. coaching sowohl ambulante Schlafmessungen als auch Die Symptome von Schlafstörungen oder Schlaf- Herzraten-Variabilitäts-Analysen zur Beurteilung der mangel ähneln den Symptomen von psychischen Er- Schlafqualität sowie der vegetativen Fitness eine zuneh- krankungen sehr, weswegen Betroffene oft falsch dia- mend wichtige Rolle. Auch zur Kontrolle der Therapieer- gnostiziert werden. Dadurch werden diese gegen eine folge werden solche Messungen in der täglichen Praxis psychische Erkrankung behandelt, obwohl eigentlich immer wichtiger. der schlechte Schlaf die eigentliche Ursache für ihre Durch spezielle Recorder und entsprechende Soft- Symptomatik ist. Das betrifft im Besonderen Kinder und ware gewinnt man über die HRV-Analyse einen tiefen Jugendliche, die fälschlicherweise mit ADHS diagnos- Einblick in die Ordnung oder Unordnung der inneren tiziert werden. In diesem Zusammenhang fanden Wis- Rhythmik. Der Herzschlag ist dazu deswegen gut ge- senschafterInnen heraus, dass circa ein Viertel der Kin- eignet, weil er sozusagen ein übergeordneter Rhyth- der mit leichter ADHS unter Schlafapnoe, einer bereits mus-Geber ist und dadurch eine Reihe anderer innerer beschriebenen Form einer Atemstörung während des Rhythmen mitsteuert. Zudem ist das Herz von den Ner- Schlafs leiden. Dies trifft dagegen nur auf 5 % der Kin- ven des autonomen Nervensystems (ANS) durchzogen. der mit starker ADHS zu und weiteren 5 % der gesunden Diagnostisch relevant ist dabei die Variabilität zwischen 410 Psychologie in Österreich 5 | 2019
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie zwei Herzschlägen. Je besser diese ist, umso besser kann orientiert reagiert werden. Schlafgestörte PatientInnen das autonome Nervensystem Stressreize verarbeiten werden öfters neben einer Psychotherapie auch mit und durch die Aktivierung des Parasympathikus, ins- entsprechenden Schlaf-Medikamenten versorgt. Hier ist besondere des Nervus vagus als dessen größter Nerv, vorsorglich zu berücksichtigen, dass dadurch teilweise ausgleichen. Menschen mit psychischen Problemen, erhebliche Nebenwirkungen entstehen können, ein er- Angststörungen, Panikattacken, Beziehungsstörungen, höhtes Suchtrisiko besteht und schlussendlich nicht die sozialen Verhaltensproblemen, Libidoverlust etc. haben Ursachen der Schlafstörung behoben werden können. eine signifikant erniedrigte HRV und damit auch eine Es gibt also ein zunehmendes Vakuum für ganzheitlich verschlechterte Schlafqualität samt verminderter kör- orientierte Therapie-Alternativen. Denn gerade für Men- perlich-seelisch-geistiger Regeneration. schen mit psychischen oder psychiatrischen Störungen benötigt es künftig vermehrt integrative und ursachen- Abb. 8: Das autonome Nervensystem (ANS) des Menschen. Das Schema zeigt orientierte Therapieformen. Ein Schlafcoaching steigert eine Auswahl von Zielorganen sowie die antagonistische Wirkungsweise von die Erfolgsquote in der Psychotherapie, stabilisiert die Sympathikus und Parasympathikus. Quelle: chirit.com PatientInnen/KlientInnen psychisch-mental und bietet ein gutes Fundament für eine gesteigerte Resilienz. 14. Fact-Box ■■ Etwa 65 % bis 90 % der Erwachsenen mit schweren Depressionen leiden auch an teilweise massiven Schlafstörungen. Umgekehrt erhöhen Schlafstö- rungen und Schlafmangel das Risiko für die Entwick- lung von Depressionen deutlich, nämlich um das 4- bis 10-fache. ■■ Während einer manischen Episode leiden 70 % der bipolar depressiven PatientInnen gleichzeitig an Schlaflosigkeit oder berichten von einem geringeren Sowohl beim Burnout-Syndrom als auch bei der Depres- Schlafbedarf. Studien deuten darauf hin, dass sich sion zeigen die HRV-Werte ungünstige Veränderungen Schlaflosigkeit und andere Schlafstörungen vor einer (Schwarzinger, 2015). Eine ganzheitliche Schlafregu- Manie-Episode spür- und messbar verschlimmern. lation (Tag und Nacht) beeinflusst die HRV messbar positiv. Künftig werden daher HRV-Werte als gültige ■■ Schlafstörungen betreffen mehr als die Hälfte der biologische Marker und Prädikatoren für Burnout und PatientInnen/KlientInnen mit einer generalisierten Depressionen klinisch einsetzbar sein. Das Institut für Angststörung. Schlaflosigkeit kann auch ein Risiko- Chronomedizin und Chronopsychologie an der Sigmund faktor für die Entwicklung einer Angststörung sein, Freud Privat Universität, Wien, und dessen stellvertre- die Symptome verschlimmern oder die Genesung tender Leiter MMag. Dr. Peter Hauschild hat zusammen blockieren oder gar verhindern. mit Spezialisten ein präzises HRV-Mess-System mit automatischer Schlafphasenerkennung samt automa- ■■ Schlafstörungen beeinflussen den Spiegel von Neu- tischer Auswertung („Konto der Gesundheit“) entwickelt. rotransmittern und Stresshormonen, von denen Es soll noch 2019 für ÄrztInnen, PsychologInnen und viele an Depressionen und anderen psychischen Stö- TherapeutInnen verfügbar sein. rungen beteiligt sind. Schlaflosigkeit beeinträchtigt deshalb nicht nur unser Denken und unsere emoti- onale Regulation, sondern kann auch die Auswir- kungen psychischer/psychiatrischer Störungen ver- 13. Schlafstörungen korrelieren mit stärken und umgekehrt. psychischen Störungen ■■ Bei der Entwicklung von psychischen und psychoso- matischen Störungen spielt das autonome Nervensy- Nachdem bereits etwa 80 % der Erwachsenen an Schlaf- stem eine zentrale Rolle. Deshalb nehmen bei einem störungen oder Schlafmangel leiden und die Wissen- Schlafcoaching sowohl ambulante Schlafmessungen schaft den Nachweis erbracht hat, dass die Schlafstö- als auch Herzraten-Variabilitäts-Analysen zur Beur- rung sowohl Ursache als auch Wirkung von psychischen teilung der vegetativen Fitness, der Schlafqualität Problem sein kann, sollte auch in der Psychotherapie da- und damit der eigenen Rhythmik und Chronobiolo- rauf zum Wohle der PatientInnen/KlientInnen lösungs- gie eine zunehmend wichtige Rolle ein. Psychologie in Österreich 5 | 2019 411
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie 15. Kann man Probleme im Schlaf lösen? dend sind für die komplex verknüpften Abbildungen in unserem Gehirn. Dies ist die eigentliche Grundlage menschlichen Denkens. Ungelöste Probleme sind vielfach die Grundlage für psychische, psychosomatische und psychiatrische Stö- rungen. 16. Gesunder Schlaf als Zusatz-Therapie Die Wissenschaft bestätigt, dass die nächtliche Ruhepause beim Lösen Ausschließlich im Schlaf werden die wichtigen Selbst- regulations-, Selbstreparatur- und Selbstheilungs- von Problemen hilft und kreative Denk- kräfte aktiviert. Dies betrifft den Menschen als Ganzes, ansätze fördert. also auch seine Seele und seinen Geist. Genau in diese Richtung konnte in den letzten 30 Jahren das unter meiner Leitung entwickelte Schlaf-Gesund-Konzept Ein gesunder Schlaf kann daher eine Psychotherapie (SAMINA) laufend vertieft werden. Das Ziel war schon auch in diese Richtung wesentlich unterstützen. Nach vor 30 Jahren, nicht nur für einen biologisch hochwer- einem erholsamen Schlaf erscheinen verworrene Si- tigen Schlaf zu sorgen, sondern den Schlaf gleichzeitig tuationen plötzlich in einem neuen Licht, die Lösung medizinisch-therapeutisch zu nutzen. Dies wird heute für ein kompliziertes Problem lässt sich so therapeu- umgesetzt, zumal erst dadurch alle bekannten schlaf- tisch leichter lösen. Der altbekannte Ratschlag „erstmal medizinischen, schlafbiologischen, bettklimatischen, drüber schlafen“ wurde in der Zwischenzeit in wissen- thermoregulatorischen, orthopädischen, mikrozirkula- schaftlichen Experimenten und Studien an der Cardiff torischen und elektrobiologischen Kriterien an einen University (UK) bewiesen. Dabei haben Forscher he- gesunden Schlaf erfüllt werden. Deshalb nutzen immer rausgefunden, dass im Schlaf eine Art von Restruktu- mehr ÄrztInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen, Pri- rierung der relevanten Informationen stattfindet. Der vatkliniken neben ihren Behandlungsangeboten den Schlaf hilft beim „Querdenken“, denn um auf die Lösung „Schlaf als Zusatz-Therapie“. Dabei werden zusätzliche zu kommen, müssen die vorhandenen Informationen passive Therapien während des Schlafs erfolgreich ein- tatsächlich neu strukturiert werden, um neue Zusam- gesetzt. Im Speziellen geht es dabei um eine großflä- menhänge zwischen ihnen zu finden. Dabei zeigt sich, chige Körpererdung (Earthing), wo dem Organismus dass vor allem der Non-REM-Schlaf für diese Restruk- während des Schlafs freie Elektronen zugeführt werden. turierung notwendig ist, damit die vorhandenen Infor- Über die vielfältige Wirkweise gibt es bereits 28 wissen- mationen in sinnvolle Kategorien geordnet werden. Bei schaftliche Studien. Es kommt unter anderem zu einem der weitergehenden Einteilung des NREM-Schlafs wird rascheren Abbau von Kortisol, was sich nicht nur auf zwischen den Schlafstadien N1, N2 und N3 unterschie- die körperliche, sondern vor allem auf die psychisch- den. Diese Nomenklatur geht auf eine Veröffentlichung mentale Regeneration positiv auswirkt. Ein weiterer der American Academy of Sleep Medicine aus dem Jahr Vorteil ist der Schutz vor den Schlaf und Gesundheit 2007 zurück. Dabei steht das Schlafstadium N1 für den störenden elektromagnetischen Feldern (EMF). Dies ist Übergang zwischen Wachen und Schlafen, N2 steht für deshalb wichtig, weil Studien zeigen, dass EMFs unter stabilen Schlaf und N3 den Tief- oder Deltaschlaf. Der anderem neuropsychiatrische Effekte, einschließlich Non-REM-Schlaf als Ganzes wird auch als Schlafstadium Depressionen, auslösen können („WHO | Electroma- N bezeichnet. Der REM-Traum-Schlaf, also die Zeit, wo gnetic fields and public health“, 2016) wir während des Schlafs am meisten träumen, hilft uns, Eine weitere Möglichkeit ist der Einsatz von MusikMe- über diese Kategorien hinauszublicken und unerwartete dizin im Schlaf (Soundlife Sleep System), was nicht nur Verbindungen zu entdecken, also die innere Kreativität stressbedingte Ein- und Durchschlafstörungen natür- zu aktivieren. lich reguliert, sondern ein Langzeitprogramm aktiviert Es sind den Forschungen zufolge beide Formen des messbar den Parasympathikus im Schlaf, was speziell Schlafs wichtig, um den Schlafprozess für Problemlö- auch psychotherapeutische Behandlungen unterstützt sungen zu nutzen. Erst durch das Abstrahieren von In- (Amann-Jennson, 2018). Dieses zusammen mit der Mu- formationen nach Kategorien wird es im Laufe der Zeit sikwirkungsforscherin Vera Brandes (Paracelsus Medizi- möglich, lösungsorientierte Analogien zwischen diesen nische Privatuniversität) entwickelte Soundsystem zeigt Informationen zu erkennen und zur tatsächlichen Lö- in Studien eine sehr positive Wirkung auf die chronobio- sung zu nutzen. Im Wechselspiel von Non-REM- und logischen Körperrhythmen. Dies steigert Schlafqualität, REM-Schlaf werden also neu entdeckte Verbindungen Wohlbefinden und Resilienz. genutzt, um zuvor generierte Schemata umzustruktu- Zusammen mit Prof. Dr. med. Karl Hecht, der 30 Jahre rieren. Es ist genau genommen der Wechsel zwischen die Schlafmedizin an der Charité Berlin leitete, wurde der Schemata-Bildung und dem Herstellen von Ver- das Schlafen in Ganzkörper-Schräglage entwickelt. Dies bindungen zwischen diesen Schemata und anderen, hat zahlreiche positive Effekte auf sämtliche Regulati- im Cortex repräsentierten Informationen, die entschei- onsprozesse, insbesondere auf das autonome Nerven- 412 Psychologie in Österreich 5 | 2019
Günther W. Amann-Jennson Schlaf-Gesund-Coaching in der Psychotherapie system. Ebenfalls können durch die Schräglage über Abb. 10: Die Grundlagen zum „Zertifizierten Schlaf-Gesund-Coach nach 80 % der obstruktiven Schlafapnoe (OSA) erfolgreich be- Prof. Amann-Jennson“ werden in einem 2½ tägigen Ausbildungs-Seminar ver- mittelt. In Folge-Seminaren werden unter anderem mobile Schlafmessungen seitigt werden. und 24-Stunden-HRV-Messungen erlernt. Ab 2020 ist unter der Leitung von Prof. Amann-Jennson eine universitäre Schlafcoaching-Ausbildung an der Abb. 9: Schlafen in Ganzkörper-Schräglage aktiviert die HRV und die Vagus-Funk- Sigmund Freud Privat Universität (SFU) Wien geplant. tionen und verbessert so Erholung, Vitalität, Entgiftung von Körper und Gehirn. Herzraten-Variabilitäts-Messungen zeigen durch die 3,5 Zusammengefasst bietet das Schlaf-Gesund-Coaching bis 5,5 Grad Ganzkörper-Schräglage eine erhöhte HRV Unterstützung in den Bereichen Psychologie, Psycho- und eine Reduzierung der Herzschläge um über 3.000 therapie, Psychosomatik, Psychiatrie, Medizin und jeg- Schläge pro Nacht. Gleichzeitig wird die Entgiftung von licher Form von Therapien. Insbesondere wenn es um Körper und Gehirn stark verbessert, da durch die Akti- Konflikt- und Stressbewältigung sowie um allgemeine vierung der Gravitation im Gegensatz zur horizontalen Gesundheits-Prävention geht, spielt die körperlich-psy- Schlaflage auch während des Schlafs sowohl das Lymph- chische Regeneration durch Schlaf eine Hauptrolle. Der system im Körper als auch das Glymphsystem im Gehirn Schlafplatz ist deshalb der biologisch wichtigste Platz in angeregt werden. Dadurch wird u. a. die Plaque-Bildung Haus, Wohnung, Klinik, Hotel etc. Dessen schlafbiolo- der Beta-Amyloide und Tau-Proteine unterbunden, die gische Optimierung stellt neben einem „schlaffreund- wiederum wesentlich an der Entstehung der Alzheimer- lichen Lebensstil“ die Hauptmaßnahmen in einem krankheit beteiligt sind. Schlaf-Gesund-Coaching dar. 17. Schlaf-Gesund-Coaching ist eine ideale Literatur Ergänzung der Psychotherapie AMANN-JENNSON, G. W. (2018). MusikMedizin im Schlaf. Die parallele Behandlung von Schlafstörungen während BAGLIONI, C., NANOVSKA, S., REGEN, W., SPIEGELHALDER, K., FEIGE, B., NISSEN, C. et al. (2016). Sleep and mental disorders: A einer Psychotherapie kann die Erfolgsquote maßgeb- meta-analysis of polysomnographic research. Psychological Bulle- lich steigern und das Rückfallrisiko mehr als halbieren. tin, 142(9), 969-990. American Psychological Association Inc. https:// Dies ist einer der größten Fortschritte in der Psycho- doi.org/10.1037/bul0000053. therapie in den letzten Jahrzehnten! Die unter meiner BERNERT, R. A. (2008). Sleep disturbances and suicide risk: A review of Leitung angebotene Ausbildung zum „Zertifizierten the literature. Neuropsychiatric Disease and Treatment, Volume 3, Schlaf-Gesund-Coach“ unterstützt PsychologInnen und 735-743. Dove Medical Press Ltd. https://doi.org/10.2147/ndt.s1248. PsychotherapeutInnen, ihren PatientInnen/KlientInnen DEMENT, W. C. (1999). The promise of sleep, DTP. Wege zu einem gesunden, erholsamen und damit auch heilenden Schlaf aufzuzeigen. Die Grundlagen basieren FAßBENDER, P., HERBSTREIT, F., EIKERMANN, M., TESCHLER, H. & PETERS, J. (2016). Obstruktive Schlafapnoe – ein periopera- auf jahrzehntelanger Forschung und Praxis. Von bio- tiver Risikofaktor. Deutsches Arzteblatt International, 113(27-28), logischer Seite bildet dabei die wichtige Optimierung 463-469. Deutscher Arzte-Verlag GmbH. https://doi.org/10.3238/ von Schlafraum-Schlafplatz-Bettsystem die schlafbio- arztebl.2016.0463. logische Konstante gepaart mit dem Lebensstil (Er- HVOLBY, A. (2015). Associations of sleep disturbance with ADHD: impli- nährung, Bewegung, Natur etc.) als schlafbiologische cations for treatment. Attention deficit and hyperactivity disorders, Variable. Schlaf-Gesund-Coaching stellt innerhalb der 7(1), 1-18. https://doi.org/10.1007/s12402-014-0151-0. Psychotherapie eine Prozessbegleitung dar, in der neue KORN, F. (2018). Worried Workers: Korn Ferry survey finds professio- Wege für Veränderung, neue Denk- und Handlungsopti- nals are more stressed out at work today than 5 years ago. Zugriff onen entwickelt werden, um den Schlafprozess zu ver- am 31.10.2019. Verfügbar unter: https://www.kornferry.com/press/ stehen und damit auch die richtigen Maßnahmen treffen worried-workers-korn-ferry-survey-finds-professionals-are-more- stressed-out-at-work-today-than-5-years-ago. zu können. Psychologie in Österreich 5 | 2019 413
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