Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...

Die Seite wird erstellt Edith Berger
 
WEITER LESEN
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Mitteilungen des
Regensburger Verbunds für Werbeforschung – RVW

                                         6/2018

                        Schwerpunkt:
                          Out of Line
           Zur Theorie und Geschichte
          ungewöhnlicher Werbemittel
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Impressum

                               Mitteilungen des Regensburger Verbunds für
                               Werbeforschung – RVW
                               http://www.werbeforschung.org
                               Im Auftrag des RVW herausgegeben von
                               Bernhard J. Dotzler und Sandra Reimann

                         ISSN 2198-0500
Elektronische Veröffentlichung Universität Regensburg, Publikationsserver
                               http://epub.uni-regensburg.de/rvw.html
         Bezugsbedingungen CC BY-SA 3.0 DE

   Anschrift der Herausgeber Regensburger Verbund für Werbeforschung
                             Prof. Dr. Sandra Reimann · Universität Regensburg
                             93040 Regensburg
                             info@werbeforschung.org

    Einreichung von Beiträgen Unaufgefordert eingesandte Beiträge sind grund-
                              sätzlich willkommen und werden von den Heraus-
                              gebern oder geeigneten Fachreferenten geprüft.

     Redaktion, Layout & Satz Christine Fraunhofer M. A.
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Inhaltsverzeichnis

5 ……………………….………………………….….…………………………………………………….……………….……....…………….... Editorial

6 …..………….…..……….………….…….. Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter
                                                   Werbung im Internet
                                                                  Silke Roesler-Keilholz

16 ….………………..….………….………….…….. Memorierungsstrategien im Audio-Branding
                                                                       Nadine Kronforst

 …………………………………………………….…………………….……….………….……….... Schwerpunkt: Out of Line
                                                   Zur Theorie und Geschichte
                                                 ungewöhnlicher Werbemittel

27 .…....…………….…………….………………………….…....……....……....……....…….....….……....………………... Programm

28 ……………………………...………………………...... Über Zusammenhänge von Literatur und
                                   Werbung in der klassischen Moderne
                                                                     Thomas Wegmann

41 …………………….....….…..…………….... Die Schallplatte als interaktives Werbemittel
                                                    Solveig Ottmann & Sandra Reimann
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
54 …….……...………………... Aufstieg und Fall der Himmelsschreiber von Henkel
                                                                                                                    Dirk Schindelbeck

62 ……………………..... Das Erbe von „Carosello“ in der italienischen Werbung
                                                                                                                   Sabine Heinemann

79 …..……………...………...………...………...………...………....…………….…………... Das Tattoo als Werbung
                                                                                                                               Oliver Bidlo

87 ………………….………….….………....…………….... Über die Flugblätter der Kommune I als
                                      Exemplum für die Werbeforschung
                                                                                                                   Bernhard J. Dotzler

97 ........................................................................................................................................ Notizen
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Editorial
                                                                                         Bernhard J. Dotzler
                                                                                           Sandra Reimann

Dass Werbung uns auf Schritt und Tritt durch un-                    dieser Stelle oder eben in dieser Form
ser Leben begleitet, ja uns im „elektronischen                      nicht erwartet hätte oder bisher einfach
Zeitalter“ nachgerade verfolgt, ist kaum noch als                   weniger beachtet hat;
Neuigkeit zu bezeichnen – kein Spaziergang ohne                3. aktuell sich herausbildende Machen-
Reklameplakat, keine Fernsehserie ohne Werbe-                     schaften der Produktinformation, die
unterbrechung und keine Google-Suche ohne An-                     aufgrund ihrer Neuheit noch kaum er-
zeige.                                                            forscht sind.
   Gleichzeitig wird immer unabweisbarer, dass
                                                            Thema wurden so etwa Werbeschallplatten und
die „klassische“ Werbung, wie sie sich von der
                                                            Sportbekleidung, Postkarten und Sammelbilder,
Litfaßsäule bis zum TV-Spot entfaltet hat, in die
                                                            Tattoos und Graffiti, die Postwurfsendung als
Krise geraten ist, wo nicht ihrem Ende entgegen-
                                                            „Vorschein“ personalisierter Werbung, das Caro-
sieht. Immer häufiger trifft man auf Werbeflä -
                                                            sello, Streuartikel und in den Himmel geschriebe-
chen, die – à la „Hier könnte Ihre Werbung ste-
                                                            ne Werbebotschaften. Gleichsam als Propädeuti-
hen“ – für nichts anderes als sich selber Werbung
                                                            kum diente ein Überblick über Reklame im litera-
machen. So scheint sich das, was man die „Epo-
                                                            rischen Feld der klassischen Moderne.
che der Werbung“ nennen könnte, auf ihre
                                                                Ergänzt um einen nachträglich erst geschrie-
Schließung zuzubewegen. Die Kunst der Wer-
                                                            benen Versuch über die Flugblätter der Kommune
bung ist dabei, nach der Seite ihrer höchsten Be-
                                                            I, dokumentiert der Themenschwerpunkt dieser
stimmung ein Vergangenes zu werden.
                                                            „Mitteilungen“ einen Teil dieser Vortragsreihe,
   Vor diesem Hintergrund – das heißt: um den
                                                            wie üblich gerahmt von Notizen am Ende, freien
aktuell zu beobachtenden Wandel weniger im
                                                            Beiträgen zu Beginn: diesmal zum Bereich des
Sinne der Ursachenforschung als vielmehr ange-
                                                            Audio-Branding und zur Gefahr personalisierter
reicherter Perspektivierung zu begreifen – konzi-
                                                            Werbung, zu deren Archäologie die hier beige-
pierte der RVW seine lecture series 20171 unter dem
                                                            fügte Abbildung einen Hinweis liefern mag.
Titel Out of line – Zur Theorie und Geschichte unge-
wöhnlicher Werbemittel. Sie lud zu Vorträgen ver-
schiedenster Fachrichtungen ein, die sich mit im
weitesten Sinne ungewöhnlichen bzw. in der For-
schung wie in der öffentlichen Wahrnehmung
noch eher wenig reflektierten Werbeformen be-
fassten, als da wären:
    1.   Formen der Werbung, die vormals bereits
         „ein Vergangenes“ geworden sind;
    2. Werbeauftritte, die im ersten Moment
       überraschen, weil man sie vielleicht an

1 Der RVW dankt auch an dieser Stelle noch einmal für
  großzügige Unterstützung und erfolgreiche Kooperati-       Abbildung 1: Werbeplakat auf Verteilerkasten, Berlin,
  on: der andré media AG, der Ludwig-Delp-Stiftung, der      Elisabethkirchstraße, 19.7.2016. Quelle: Dotzler (Photo).
  Stiftung Medien und Zeitgeschichte sowie dem PresseClub
  Regensburg.

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                      Seite 5
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Perfect match!
                                                               Eine Stellungnahme zur Gefahr
                                                          personalisierter Werbung im Internet
                                                                                     Silke Roesler-Keilholz

Das Internet informiert. Das Internet (ist) ver-            zont des Verbrauchers, sondern auch die Werbe-
netzt. Wer das Netz nutzt, um Informationen ab-             treibenden in der ursprünglichen Breite ihres
zufragen oder zu kommunizieren, kann dies                   Handwerks. Kreativität, Originalität und Vielfalt
nicht tun, ohne von Werbung überhäuft zu wer -              weichen rein technischer Berechnung. Die Ma-
den. Zumindest nicht seit das Internet 1991 für             schine ‚kennt‘ den Verbraucher besser als er sich
kommerzielle Zwecke freigegeben wurde. Nicht                selbst. Somit beschneidet und bereinigt das ‚Netz‘
nur ist nahezu jede Website von Werbung ge-                 sowohl die Komplexität des Kunden als auch das
spickt, die dort angebotenen Produkte sind zu-              kreative Schaffen des Werbers. In letzter Instanz
dem meist personalisiert, das heißt auf den Ver-            wird das Subjekt (sowohl den Konsumenten als
braucher und sein virtuelles Handeln zugeschnit-            auch den Werber meinend) im Rahmen persona-
ten. Auf der Basis von Überwachungsmechanis-                lisierter Werbung zum Objekt. Im Fluchtpunkt
men suggeriert die Werbeanzeige in diesem Mo-               der digitalen Werbung, und damit grundsätzlich
ment, den Adressaten individuell, als Einzelnen,            in einer im 21. Jahrhundert virulenten Gesell-
anzusprechen. Indem die jeweilige Werbung die               schaft der Überwachung, verschwindet das Sub -
(angenommenen) Interessen und den Geschmack                 jekt.

                                                                „
des Users ‚antizipiert‘ und diesen bedient, wird                Dass die Werbung einen Schlüssel für das Ver-
die Aufmerksamkeit des Nutzers gewonnen. Ich                ständnis sowie das Wirken von Kultur und Ge-
möchte die These vertreten, dass der Form perso-            sellschaft darstellt, macht bereits Marshall
nalisierter Werbung eine strukturelle Gefahr in-            McLuhan in Die Magischen Kanäle (1968) deutlich:
härent ist: Die dem Nutzer präsentierte Werbung
bestätigt diesen in seinem Konsumverhalten,                             Die Historiker und Archäologen werden eines
zeigt ihm nichts Neues oder Andersartiges und                           Tages entdecken, daß die Werbung unserer
                                                                Zeit die einfallsreichsten und tiefsten täglichen Be-
verhindert somit in der Konsequenz ein Über-                    trachtungen darstellt, die eine Kultur je über ihr gan-
denken eigener Standpunkte. Insofern sind die                   zes Tun und Lassen angestellt hat“.2
im Internet zu beobachtenden Werbeformen
stark politisch. Sie basieren auf neo-liberalen             So stelle jede annehmbare Reklame eine „aus-
Steuerungsmechanismen, die mit der Blendung                 drucksstarke Dramaturgisierung der Erfahrung
von Individuen arbeiten, um rein ökonomische                der Gemeinschaft dar“. 3 Werbung wird in diesem
Ziele zu erreichen. Der Konsument wird auf einer            Gefüge zu einem Indiz von „Wissen und Gesell-
semantischen Ebene mit Attributen von Freiheit,             schaft“4, indem sie ihre Themen verdichtet und
Offenheit und Individualität umgarnt,1 das Ge-              prägnant präsentiert. Die Werbung dient mit an-
genteil ist jedoch der Fall: Personalisierte Werbe-         deren Worten seit jeher als Seismograph der ge-
formen begrenzen nicht nur den geistigen Hori-              sellschaftlichen Situation; sie ist eine Bestands-
                                                            aufnahme des gesellschaftlichen Zustands, ein
1 Edmund Lysinski zählt bereits in den 1920er Jahren in
  Die Organisation der Reklame Werbung zu einem der
                                                            2 McLuhan (1968:253).
  wichtigsten Prozesse der Vereinheitlichung und
  spricht entsprechend von „Ausgleichs- und Vereinheit-     3 McLuhan (1968:248).
  lichungsvorgänge[n] der Gesellschaft“ (1924:14).          4 Bartz & Miggelbrink (2013:13).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                     Seite 6
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                      Roesler-Keilholz

Destillat. Dennoch formuliert wiederum ein Jean               eine Form von gerichteter Beobachtung mit ei-
Baudrillard in Das System der Dinge (1968) pole-              nem konkreten Vorhaben und dem Ziel eines Er-
misch, dass die Werbung en bloc eine überflüssi-              kenntnisgewinns. Meist bedingt oder evoziert die
ge und unwesentliche Welt darstelle,5 da sie                  Überwachung eine sich anschließende Handlung
„ebensoviel Zutrauen wie Mißtrauen“6 erwecke.                 (durch die überwachende Instanz). Funktionierte
Das Ambivalente, Zwiespältige, Täuschende und                 die Überwachung von Individuen einst durch das
Manipulative, das auf eklatante Weise heutzuta-               Einsperren und Züchtigen9 von menschlichen
ge digitale Werbestrategien durchzieht, wird in               Körpern, also über räumliche Mechanismen (das
den Ausführungen des französischen Theoreti-                  Gefängnis, das Krankenhaus etc.), ist aktuell die
kers bereits antizipiert. Wie eng Geist, Manipula-            Generierung von (immer mehr) Wissen das Ziel

    „
tion und Werbung zusammenhängen, steht be-                    von Überwachungssystemen. Das ‚Netz‘ beobach-
merkenswerterweise nochmals früher, nämlich                   tet das Nutzungsverhalten des Menschen, spei-
bereits 1909, in einem Handbuch für Werber ge-                chert die gesammelten Informationen und wertet
schrieben:                                                    sie aus. Die Kenntnis der Wirtschaft über das In-
                                                              dividuum ist immens und wird zur Profitmaxi-
            Unser Verstand verfährt mechanisch, viel          mierung instrumentalisiert. Die gesammelten In-
            mehr noch als bisher gedacht worden war.
                                                              formationen lassen eine Macht entstehen, die
    Die Art und Weise, wie uns Dinge beeindrucken,
    kann mit ziemlicher Sicherheit ermittelt werden. […]      den Nutzer ‚dem Fischer ständig ins Netz gehen‘
    Das ist Psychologie. Dies ist ein schwieriges Wort,       lassen (siehe Amazon, Google, Zalando etc.). Topo-
    doch für den Werber öffnet es die Tore der Möglich-       graphische Strukturen weichen im 21. Jahrhun-
    keiten. Damit zusammen hängt das Studium des              dert offensichtlich topologischen Mechanismen.
    Menschen, der wiederum das Instrument ist, auf
                                                              Die Rechenmaschine Internet produziert ein
    dem wir spielen müssen, wenn wir Werbung ma-
    chen.“7                                                   Wissen von Raum, welches sich als Topologie be-
                                                              zeichnen lässt. Diese Topologie ist zweifach co-
Angedeutet wird in diesem Zitat, dass der Kunde               diert: Zum einen impliziert sie ein Wissen über
genutzt, gebraucht, verfügbar gemacht wird, ja                den Raum, den es zu überwachen gilt. Zum ande-
sein Geist bzw. das „Instrument“ Mensch beein-                ren erzeugt sie ein Gefühl des Überwacht-Wer-
flusst und verführt werden soll.                              dens beim Beobachtungsobjekt; ein Empfinden,
   Zwischen diesen beiden Themenfeldern, der                  welches in der Vernetzung der Welt, der Verwe-
                                                              bung sämtlicher Daten und Fakten, begründet

                                                                  „
gesellschaftlichen Seismographie (McLuhan) so-
wie der Manipulation des Menschen (Baudril-                   liegt. Von der Werbeindustrie soll dieses Gefühl
lard), oszilliert das medienkulturwissenschaftli-             bei dem Konsumenten möglichst verschleiert be-
che Nachdenken über Werbung. Der vorliegende                  ziehungsweise in den Hintergrund gedrängt wer-
Beitrag möchte beide Ansätze unter dem Brenn-                 den. Mit Zygmunt Bauman heißt es:
glas der Überwachung zusammenführen. Tech-
                                                                          Einerseits nähert sich die alte panoptische
no-logisch verankert ist die digitale Form der
                                                                          Strategie (‚Nie sollst du wissen, wann wir dich
Werbung im Internet als einem Überwachungs-                       beobachten, damit du dich nie unbeobachtet fühlen
medium.8 Dabei begreife ich Überwachung als                       kannst‘) langsam, aber offenbar unaufhaltsam ihrer
                                                                  nahezu universellen Anwendung.“10
5 Vgl. Baudrillard (1968/1991:203).
6 Baudrillard (1968/1991:204).
7 French (1909:28 f.).                                          löschung des Menschen beziehungsweise seiner Indi-
                                                                vidualität und Fähigkeiten führen. Explizit wird dieser
8 Die hier vorgestellten Gedanken sind Teil der aktuell
                                                                Prozess auch im Kontext der personalisierten Wer-
  im Entstehen befindlichen Habilitationsschrift der Au-
                                                                bung.
  torin. Die Schrift unter dem Arbeitstitel Überwachungs-
  Architekturen. Der topographische Raum zwischen Sichtbar-   9 Vgl. dazu Michel Foucaults Ausführungen in Foucault
  keit und Unsichtbarkeit basiert u. a. auf der Annahme,        (1975/1994).
  dass Überwachungsmedien in letzter Instanz zur Aus-         10 Bauman & Lyon (2013:37).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                       Seite 7
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                        Roesler-Keilholz

Die Werbung ist Teil einer räumlichen Anord-                 auch das Individuum, die Vielen als auch den Ein-
nung, die Bauman in letzter Konsequenz als                   zelnen erreichen zu wollen. Am Beispiel einer ka-
„post-panoptisch“11 bezeichnet, indem sie – so               lifornischen Orangensaft-Kampagne von Sunkist
meine These – nicht mehr topographisch, son-                 analysiert Leo Spitzer die Komplexität von Wer-
dern topologisch funktioniert.                               bung. Wenn die Obstware als „fresh for you“15 be-
                                                             schrieben wird, beobachtet der Theoretiker eine

                                                                 “
                                                             Ambivalenz in der Adressierung. Er erläutert:

 You and the Internet                                                     If we would ask ourselves what is involved in
                                                                          the use of this advertising ‘you’, we must first
                                                                 inquire, superfluous and far-fetched as the procedure
Bereits Ende der 1960er Jahre beobachtet                         may seem, into the meaning of this second personal
                                                                 pronoun, according to the philosophy of grammar,
McLuhan im öffentlichen Raum einen „Wald von
                                                                 ‘You’ is a startling word: it calls up the dormant ego in
Inseraten“12, den es zu lesen und zu entziffern                  every human being: ‘you’ is in fact nothing but the
gälte.13 Dass die Digitalisierung förmlich zu ei-                ego seen by another; it addresses itself to our feeling
nem Labyrinth von Inseraten führen würde, ließ                   that we are a unified person recognizable from the
sich offenbar am Horizont bereits erahnen. Das                   outside; it also suggests someone outside of us who is
                                                                 able to say ‘you’ and who feels akin to ‘us’ as a fellow
Internet ist heute die Werbeplattform per se: Bil-
                                                                 man. Now, in English, the pronoun ‘you’ enjoys an
der jeglicher Funktion und Nicht-Funktion domi-                  ambiguity to a degree unknown in the main Euro-
nieren das Netz. Wir werben für uns selbst durch                 pean languages, which are characterized by greater
das Hochladen von Profilfotos14 und scannen si-                  infection; it is equally applicable to a singular or a
multan Werbeanzeigen durch unser persönliches                    plural audience, and in advertising, this double refe-
                                                                 rence is fully exploited: the advertiser, while prepa-
Raster. Der User ist sowohl Produzent als auch
                                                                 ring his copy for the general public, thinks the ‘you’
Rezipient von Werbemaßnahmen. Der Medien-                        as an ‘all of you’ – but intends it to be interpreted as a
nutzer beginnt allerdings erst, eine (unbedingt                  ‘you personally’, applicable to the individual A, B, or
nötige!) digitale Medienkompetenz zu entwi-                      C. In the case of our advertisement A translates the
ckeln und die gebotenen Informationen richtig zu                 algebraic X of the ‘you’ as ‘fresh for me has the orange
                                                                 been brought here from California’; and B and C do
lesen und zu deuten. Inhalte werden bisher nicht
                                                                 the same. Though he is only one of millions, every
konsequent geprüft oder durch ein persönliches                   single individual is individually addressed and flatte-
Raster von Wissen gescannt. Das von Baudrillard                  red.”16
erwähnte „Mißtrauen“ ist aufgrund einer omni-
präsenten Unwissenheit bezüglich der Black Box               Dem englischen you ist also eine Doppelfunktion,
Internet wichtiger denn je. Ein durch dieses                 sowohl die Vielen als auch den Einzelnen adres-
‚Scannen‘ möglich werdendes Stärken des Sub-                 sieren zu können, inhärent. Man könnte sagen,
jektstatus‘ könnte dem Objektwerden des Men-                 ein ‚genialer‘ grammatikalischer Clou. Spitzer
schen entgegenwirken.                                        beobachtet ferner das der US-amerikanischen
   Während der Objektstatus das Individuum als               Kultur eigene Paradoxon, im kulturellen und
Teil der Masse begreift, ist der Subjektstatus an            zwischenmenschlichen Miteinander sowohl For-
den Einzelnen gekoppelt. Seit jeher befindet sich            men von Standardisierung perfektioniert zu ha-
Werbung in dem Zwiespalt, sowohl die Masse als               ben als auch gleichzeitig den Wert von Individua-
                                                             lität und deren Wahrnehmung auszustellen. In
11 Bauman (2003:18).                                         diesem Zwiespalt entwickelt sich eine ganz eige-
12 McLuhan (1968:25).                                        ne Form von Werbung und Adressierung, die den
13 Wenn Marshall McLuhan in Die mechanische Braut Wer-       Gemeinschaftssinn ebenso wie das Persönliche
   beanzeigen in Form von Einzelstudien analysiert, prä-     erreichen soll. Jean Baudrillard kommentiert ei-
   sentiert sich seine Medienwissenschaft als Werbefor-
   schung; vgl. Dotzler (2010:61).                           15 Spitzer (1949/1975:122).
14 Vgl. Bernard (2017:7 ff.).                                16 Spitzer (1949/1975:123 f.).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                        Seite 8
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                           Roesler-Keilholz

nige Jahre später, dass dieses Nebeneinander der               mus als ‚content marketing‘ bezeichnet und er
beiden Parolen gar nicht so widerspruchsvoll sei,              durchzieht aktuell zahlreiche Bereiche der Be-
denn jeder fühle sich als Einzigartiger, obwohl                werbung19: “Content marketing is about stories,
(SRK: ohnehin) alle gleichartig seien.17 Er erklärt            not selling. Finally, marketers are looking to evo-
ferner, dass diese Doppelsinnigkeit genuin in der              ke an emotion so they can make a connection.”20
persönlichen Anrede, im Sie, You oder Vous – der               Der Kunde soll nicht nur nach einem konkreten
Anrede eines Kollektivs, die eine Höflichkeits-                Artikel suchen, sondern sich durch eine Narrati-
form ebenso in der Einzahl wie in der Mehrzahl                 on beeinflussen lassen und Neuentdeckungen
meinen kann – begründet liege.                                 machen. Er soll durch das virtuelle Angebot fla-
   Aktuell macht sich das Online-Verkaufsportal                nieren, sich umgucken und (vordergründig) Be-
About You (ein 2013 gegründetes Tochterunter-                  sonderes entdecken und dabei einen gewissen
nehmen der Otto-Gruppe) die von den beiden                     ‚spirit‘ fühlen. Die emotionale Ebene des Käufers
Theoretikern beschriebene Doppelstruktur zu ei-                soll mit Slogans wie „Fühl dich fit/gut/verzau-
gen. Schon der Name der Marke suggeriert, dass                 bert“21 erreicht und ein Lebensgefühl evoziert
man als Individuum im Fokus des Interesses                     werden. In der grundsätzlich auf Partizipation
stünde. Der Konsument soll vermuten, es gehe                   und Teilhabe angelegten digitalen Welt gilt es fer-
um ihn selbst. Sobald man sich als Kunde über                  ner, nicht mehr nur Kunden zu verführen oder zu
die Login-Funktion angemeldet hat, wird der ei-                manipulieren, sondern einen Dialog zwischen
gene Rufname in die virtuelle Maske eingefügt                  Unternehmen und Konsument entstehen zu las-
und prangt wie ein Motto über jeder Seite: „About              sen. Die angestrebte Kommunikationssituation
Ava“ [Abb. 1],                                                 soll einem Austausch gleichkommen und der
                                                               Kunde dahingehend beeinflusst werden, dass er
                                                               sich ernstgenommen fühlt und mit dem Werbe-
                                                               treibenden auf Augenhöhe kommuniziert.22 Das
                                                               Werben über Inhalte und ‚stories‘ kann dabei als
                                                               eine Fortentwicklung des sogenannten Retarge-
                                                               ting betrachtet werden, welches wiederum auf
                                                               dem klassischen Targeting aufbaut. Unter Targe-
                                                               ting versteht man „das zielgenaue Ausspielen von
                                                               Werbung an besonders vielversprechende Ziel-
  Abbildung 1: About Ava. Quelle: Screenshot auf About You –
  Zugriff: 4.1.2019.
                                                               19 So auch das Zeitungswesen; Einstein (2017:193): “Al-
                                                                  most every major newspaper uses custom content, no-
„About Otis“, die persönliche Ansprache des Ver-                  tably in the New York Times, the Washington Post, and the
brauchers soll so sichergestellt werden. Doch                     Wall Street Journal. The Times’s first native ad was a piece
auch ohne Anmeldung kann man durch die Sei-                       about women in prison. It looked like any other article
ten des Portals ‚surfen‘. Stärker noch als die gro-               that might appear in the paper. There was a headline,
                                                                  ‘Women Inmates: Why the Male Model Doesn’t Work,’
ßen Konkurrenten Zalando, Amazon & Co. gibt
                                                                  and a byline of the ‘reporter’. There was a graphic of
About You vor zu inspirieren. Während die übri-                   women entering a prison and there were a number of
gen Online-Modeportale von den About You-Ma-                      videos. But this wasn’t unbiased Times journalism. It
chern als „digitale Lagerhallen“18 bezeichnet wer-                was an ad paid for by Netflix as a promotion for its
den (Aufbewahrungssysteme für immer gleiche                       series Orange is the New Black”.
Ware), meint About You sogenannte ‚stories‘ zu                 20 Einstein (2017:202).
liefern. Im Werbejargon wird dieser Mechanis-                  21 Vgl. hierzu beispielsweise die #fühldichgut-Kampagne
                                                                  von La Roche-Posay (2018), https://www.laroche-
                                                                  posay.de/Artikel/f%C3%BChldichgut/a33913.aspx
17 Vgl. Baudrillard (1968/1991:227).                              – Zugriff: 30.12.2018.
18 Schwär (2018).                                              22 Vgl. Scharrer (2016:14 f.).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                            Seite 9
Schwerpunkt: Out of Line Zur Theorie und Geschichte ungewöhnlicher Werbemittel - Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung - RVW ...
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                       Roesler-Keilholz

gruppen“.23 Die Usability-Forscher sehen die Vor-                halten und Funktionen in der Wissenschaft re -
teile des Targeting in der Minimierung von Streu-                flektiert. Beschrieben wird also ein omnipräsen-
verlusten durch Werbung, die auf die Nutzer zu-                  ter Zugriff auf das Subjekt, ein Netz aus Werbe-
geschnitten ist.24 Die Erfolgswerte (der Kauf von                mechanismen, das sich wie eine Schlinge zuzu-

                                                                     „
Produkten) können optimiert und die Effizienz                    ziehen scheint.
der Werbekampagne maximiert werden, da weni-                        Targeting und Retargeting haben das im Rah-
ger Budget für irrelevante Werbung ausgegeben                    men der About You-Struktur vorgestellte ‚Pro-
werden muss. Die Hoffnung ist ferner, dass mit                   grammatic content marketing‘ hervorgebracht:
‚guten Targeting-Methoden‘ generell eine größere
Akzeptanz gegenüber der Werbung erzielt wer-                                Wenn die Leute keine manipulative (und stö-
den könne, da diese nicht mehr als lästig emp-                              rende) Unterbrecherwerbung mehr wollen
                                                                     (zumindest nicht im digitalen Raum), dann geben wir
funden werde. Die zielgenaue Adressierung ba-

                                                                     „
                                                                     ihnen eben Inhalte und ‚echte Mehrwerte‘“,28
siert auf einem ausgeklügelten ‚tracking‘-System,
dem der Nutzer durch das Akzeptieren von Coo-                    heißt es von Tina Beuchler, der Verbandschefin
kies seine Zustimmung gibt (“Every click is tra-                 der Organisation Werbungtreibende im Markenver-
cked. Every post is noted”).25                                   band (OWM). Sie erläutert weiter:
    Beim sogenannten Retargeting werden Nut-
zer, die bereits auf einer Website waren und diese                           Für mich geht es bei Programmatic nicht nur
wieder verlassen haben, zur Rückkehr aufgefor-                               um Einkaufsvorteile, sondern vor allem um
                                                                     den qualitativen Aspekt, zum richtigen Zeitpunkt die
dert.26 Gerade in diesem ‚Rückholmoment‘ mani-
                                                                     richtigen Menschen mit den richtigen Botschaften zu
festiert sich die vorgegaukelte Subjektivierung                      adressieren.“
des Konsumenten. Spezielle Werbeanzeigen
scheinen uns aktuell quer durch das Internet über                Programmatic Advertising werde das Zeitalter

    “
verschiedene Seiten zu ‚verfolgen‘:                              des Retargeting, bei dem wir die Menschen zu oft
                                                                 mit Werbung „zugeballert“ haben, schrittweise
             If you put an item into the cart – say, a pair of   ablösen. Digitale Werbung könne durch Pro-
             jeans or the latest bestseller – and then decide
    you don’t have time to buy it right away, an ad for that
                                                                 grammatic nicht nur kostengünstiger, sondern
    product will begin to follow you around the internet.        auch relevanter und interessanter werden.
    And it will go from your computer to your cellphone             About You sieht sich nun als Vorreiter des „digi-
    to your iPad or other tablet. The same holds true if         talen Online-Bummels“. In Bilderstrecken wer-
    you are doing research for something to buy. You be-
                                                                 den komplette ‚looks‘ oder ‚outfits‘ präsentiert, so
    gin looking into vacations on Cape Cod or a bicycle
    trio to Ireland and you can be sure that competitive         dass der Kunde zum Kauf animiert werden soll.
    advertising will follow – even after you book your           Ästhetisch ähneln die Bilderstrecken Hochglanz-
    trip”.27                                                     Modemagazinen und der Filter-Ästhetik von Ins-
                                                                 tagram, zum Teil werden Bewegtbilder eingefügt.
Mara Einstein beschreibt in dem geschilderten                    Dabei stehen nicht (nur) die Modeartikel im Fo-
Anwendungsszenario nicht nur den Mechanis-                       kus, sondern vielmehr auch die sie präsentieren-
mus des Retargeting, sondern bestätigt bereits                   den Personen. Bei diesen handelt es sich häufig
die über verschiedene Endgeräte stattfindende                    um die der angesprochenen Zielgruppe bekann-
Bewerbung. Unter dem Schlagwort der Medien-                      ten Influencer [Abb. 2]. Sie verlinken die About
konvergenz wird die Kopplung von medialen In-                    You-Werbung mit ihren privaten Social-Media-
                                                                 Accounts und steigern so die Reichweite sowie
23 Keßler, Rabsch & Mandić (2015:45).                            den Absatz der Produkte. Circa 80 Influencer ste-
24 Vgl. Keßler, Rabsch & Mandić (2015:45).                       hen bei About You unter Vertrag.29 Sie sind ver-
25 Keßler, Rabsch & Mandić (2015:184).
26 Vgl. Keßler, Rabsch & Mandić (2015:50).                       28 Scharrer (2016:14).
27 Einstein (2017:181).                                          29 Vgl. Schwär (2018).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                      Seite 10
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                  Roesler-Keilholz

traglich verpflichtet, Produkte des Online-Han-              Die Überwachung der Daten des Kunden (‚Big
dels auf ihren Privataccounts zu präsentieren                Data Marketing‘) bedeutet also nicht (mehr) nur
und zu bewerben. Auf Grund der engen Verknüp-                individualisiertes Marketing, sondern auch zeit-
fung zwischen Influencer und Follower, einer Art             genaues Werben.
virtuelles Band30, ist die Wirkung beachtlich.                   Trotz der technisch fortgeschrittenen Ent-
                                                             wicklung von Retargeting sind dessen rechtliche
                                                             Rahmenbedingungen bislang nicht klar definiert
                                                             und äußerst umstritten.33 Zugelassen ist Retarge-
                                                             ting nur mit der Einwilligung des Nutzers, welche
                                                             aktuell über sogenannte Cookie-Banner funktio-
                                                             niert. Allerdings scheint dies keine absolut zu-
                                                             friedenstellende Lösung zu sein, da je nach Im-
                                                             plementierung die Mindestanforderungen an
                                                             eine informierte und ausdrückliche Einwilligung
                                                             nicht eingehalten werden.34 Außerdem stellen
                                                             sich die Möglichkeiten, nicht einzuwilligen, be-
  Abbildung 2: Elena Carrière. Quelle: Screenshot auf        grenzt dar und auch der Widerruf kann in der
  Instagram – Zugriff: 4.1.2019.
                                                             Praxis nur sehr schwer umgesetzt werden.
                                                             Grundsätzlich ist daher auf einer gesellschafts-
Andere Unternehmen kopieren bereits die Idee                 politischen Ebene weniger in der allgemeinen
des Influencer-Marketings, so dass die Erfolge               Existenz der Daten das zentrale Problem zu se-
von About You zurückgehen. Die Buchung von In-               hen als vielmehr in der Auswertung 35 und der
fluencern wird immer teurer, außerdem wird von               Nutzung jener Daten; vornehmlich für kommer-
den Konsumenten auf Grund der Fülle von Wer-                 zielle Zwecke.
bung diese immer stärker ausgeblendet und die                    Der Konflikt, durch Werbung sowohl den Ein-
Kaufbereitschaft minimiert. Zukünftig müssen                 zelnen als auch die Vielen adressieren zu wollen,
also abermals neue Strategien zur Steigerung des             findet in Form der personalisierten Werbung im
Absatzes angewendet werden. Seit jeher gilt, dass            Internet einen Höhepunkt und seine vordergrün-
sich Werbemechanismen stetig weiterentwickeln                dige ‚Erfüllung‘. Die digitale Marketingstrategie
müssen, um funktionieren zu können.31 Eine Op-               gibt vor, das Individuum und seine ganz speziel-

    „
tion kann das Real-Time-Marketing darstellen.                len Wünsche zu kennen und befriedigen zu kön-
Ferner schleicht sich die Dimension der Zeit ak-             nen. Ein Subjekt-Status wird suggeriert, obwohl
tuell in den Werbemechanismus ein. Wenn etwas                der Mensch eigentlich als Objekt, als Teil der
im Digitalen nicht                                           Masse, adressiert wird. Dabei handelt es sich bei
                                                             dem dem Konsumenten angebotenen Produkt le-
            performt, wird es geändert, sowohl was seine     diglich um das Ergebnis einer Berechnung, wel-
            Platzierung betrifft als auch die Kreation.      che wiederum einem massentauglichen Ge-
    Was nicht passt, wird passend gemacht, und das so        schmack entspricht. So steht also weder das Wohl
    schnell wie möglich.“32
                                                             des Individuums noch das der Werbung selbst im
30 In der Fernsehtheorie der 1950er Jahre wurde dieses       Fokus. Die Individualität des Konsumenten wird
   „Band der Intimität“ zwischen Showmaster und Zu-          ebenso obsolet, wie sich die Werbetreibenden in
   schauer von Donald Horton und Richard R. Wohl (1956)      der reglementierten Präsentation ihrer Produkte
   als Teil der parasozialen Interaktion thematisiert.       selbst beschneiden. Auch wenn der Slogan von
31 Ein Beispiel ist der im TV ausgestrahlte About You-
   Award, eine im Mai 2018 über ProSieben ausgestrahlte
   Dauerwerbesendung, bei der die Influencer umsonst         33 Vgl. Venzke-Caprarese (2017:578).
   für diverse Marken warben.                                34 Vgl. Venzke-Caprarese (2017:582).
32 Schwär (2018).                                            35 Vgl. Baumann (2003:187).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                  Seite 11
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                   Roesler-Keilholz

About You mit „Jedes Teil Dein Style“ ein Verspre-           ter Umgang in Bezug auf die semantische Diffe-
chen gibt, werden dem Konsumenten de facto auf               renz beider Begriffe wichtig. Während Werbung
Algorithmen basierende Standardwaren angebo-                 überzeugen will, geht mit einer Empfehlung ein
ten.                                                         Rat einher. Eine Empfehlung will dem Adressa-
                                                             ten etwas Gutes tun, die Werbung hat häufig öko-
                                                             nomische Interessen. Problematischerweise prä-
                                                             sentiert sich die Werbung oft als ‚Wolf im Schaf-
 Vom Werben zum                                              pelz‘, nämlich als wohl gemeinter Rat.
 Empfehlen                                                      Damit diese Empfehlungssysteme computer-
                                                             basierter Medien funktionieren, muss der Werbe-
                                                             treibende „seine Zielperson gut genug kennen,
Auf einer medienhistorischen sowie medienkul-                um mit der Werbung deren Bedürfnisse anzu-
turellen Ebene vollzieht sich ein bedeutender                sprechen.“38 Einerseits sollen bereits vorhandene
shift: Waren Medien einst als (Hilfs-)Mittel und             Bedürfnisse befriedigt werden, andererseits aber
Werkzeuge zur Optimierung der menschlichen                   auch neue Bedürfnisse durch eine bestimmte An-
Kommunikation konzipiert,36 kippt im Überwa-                 sprache des Kunden hervorgerufen werden.
chungszeitalter ihre ursprüngliche Funktion ins                 Um ein möglichst genaues Bild des Verbrau-
Destruktive. Der Mensch ist im digitalen Werbe-              chers zeichnen und ihn möglichst präzise adres-

                                                                 „
kontext nur noch Objekt und ‚Opfer‘ von Berech-              sieren zu können, greifen verschiedene Kontroll-
nungen sowie Adressat von standardisierten An-               maßnahmen. Bemerkenswerterweise ist das Ziel
geboten, die seine Individualität zu karikieren              dieser Mechanismen wie beim traditionellen
scheinen. In der ‚bubble‘ personalisierter Wer-              Werben immer noch,
bung gibt es keinen Raum für Fremdes, Anders-
artiges oder Neues. Zu groß scheint die Sorge, ei-                       klassische zielgruppenspezifische (Massen-)
nen User zu überraschen und dadurch verärgern                            Kampagnen zu starten, die jeweiligen Werbe-
                                                                 mittel aber möglichst nur noch jenen zu kommuni-
zu können. Bestätigen statt Irritieren ist offenbar
                                                                 zieren, denen ein (mögliches) Bedürfnis nach dem
die proklamierte Devise. Dabei ignorieren die                    beworbenen Produkt unterstellt wird.“39
Werbetreibenden aktuell, wie stark sie selbst ihre
Chancen und ihr Potential beschränken. Neue                  Die Profilierung erfolgt dabei technisch über die
Adressatengruppen können durch die Entschei-                 Aufzeichnung von Kauf- und Surfverhalten mit-

                                                                 „
dung für ‚passende‘ Werbung kaum erreicht wer-               tels Cookies oder Accounts.40 Virulente Konzepte
den; grundsätzlich neue Produkte kaum einge-                 versuchen zudem, auch die von den Nutzern
führt, geschweige denn etabliert werden. Das                 selbst angelegten Profile in sozialen Netzwerken
Versprechen von Individualität durch den Kauf                zu diesem Zweck auszuwerten, da sie
personalisierter Werbung führt offensichtlich in
eine gesellschaftliche Sackgasse.                                        in ihren Profilen ihre Interessen sehr genau
                                                                         an[geben] – man kann also den Nutzer identi-
    Julius Othmer und Andreas Weich beobachten
                                                                 fizieren und über moderne Technologien Zielgruppen
eine Verschiebung von dem Konzept des Werbens                    zuordnen“.41
zu dem des Empfehlens.37 Vor allem aus sprach-
wissenschaftlicher Perspektive ist ein reflektier-
36 Im allgemeinen Sprachgebrauch verweist die vielfälti-     37 Vgl. Othmer & Weich (2013:43).
   ge Bedeutung des Wortes Medium als Mittel bezie-          38 Kloss (2012:8).
   hungsweise Vermittlung laut Alexander Roesler und
                                                             39 Othmer & Weich (2013:45).
   Bernd Stiegler auf eine genuin instrumentelle Dimen-
   sion des Mittel-Zweck-Verständnisses von Medien und       40Vgl. zu den verschiedenen technischen und konzeptu-
   Medientechnologien. Diese war für die medienwissen-         ellen Umsetzungen exemplarisch Othmer & Weich
   schaftliche Theoriebildung maßgebend. Vgl. Roesler &        (2013:3–21).
   Stiegler (2005:150).                                      41 Altendorf (2011:79).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                  Seite 12
„
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                     Roesler-Keilholz

Es heißt weiter:                                                 fern Machtbeziehungen und ist in ihrer Implemen-
                                                                 tierung immer auf Medientechnologien angewiesen
            Neu ist hier, dass es sich um reale Daten han-       (beispielsweise in Form von Tabellen, Vektoren, Da-
            delt, was eine völlig neue Dimension des Tar-        tenbanken, Interfaces), die ihrerseits diskursive Ein-
    geting ermöglicht und Streuverluste quasi völlig eli-        schreibungen aufweisen.“45
    miniert, da die Nutzer selbst angeben, was ihre
    Interessen sind oder wo sie sich gerade befinden.“       Auf die Typisierung des Subjekts folgt sein Obso-
                                                             let-Werden.
Laut Othmer und Weich wird ein Bemühen um                        Zunächst werden die Menschen auf sich selbst
potentielle Kunden überflüssig, wenn jede und                aufmerksam gemacht, indem sie ein Profil ein-

                                                                 „
jeder ausschließlich jene Produkte präsentiert               richten, sich selbst beschreiben und ihre inners-
bekommt, die laut des Profils zu ihr oder ihm

    „
                                                             ten Interessen angeben sollen. In der Folge wer-
passen. Genau dies führt zu einer Logik der Emp-             den sie im wahrsten Sinne des Wortes ‚ausge-
fehlung als profilbasierter Praktik des matching,            zählt‘:
die auf ein Werben im klassischen Sinne verzich-
ten kann.42                                                              Die Anbieterinnen sind permanent in der
                                                                         Situation, sich selbst im Angesicht von Ver-
            Es geht also nicht mehr so sehr darum, die           kaufsrankings und Produktbewertungen einem Mo-
            Aufmerksamkeit der Kund*Innen durch aus-             nitoring-Prozess aussetzen, sich reflektieren und
    geklügelte Werbemittel mit zielgruppenspezifischen           managen zu müssen. Die Kundinnen werden grund-
    Slogans, Designs und Images auf ein bestimmtes               sätzlich und seit jeher durch Werbung auch mit dem
    Produkt zu lenken (‚Push‘), sondern darum, dass die          eigenen Selbst konfrontiert. Doch erst durch die per-
    Profile der Kund*Innen selbst signalisieren, welchen         sönliche Empfehlung wird die oder der Einzelne sehr
    Produkten sie wahrscheinlich ohnehin ihre Auf-               konkret auf ihr oder sein Profil und auf sich selbst
    merksamkeit schenken werden (‚Pull‘).“43                     zurückgeworfen und in eine Position des individuel-
                                                                 len Monitorings versetzt.“46
Amazon vollzieht dieses Empfehlungssystem kon-
sequent.                                                     Die hier zu beobachtende Rückwärtsgewandtheit
                                                             der Werbestruktur führt zu einer „Logik des
   Als Folge dieser funktionalen Verschiebung
von Werbung beobachten die Autoren eine Ver-                 ‚more of the same‘“.47 ‚Überraschende‘ Empfeh-
                                                             lungen und Irritationen sind Fehler im System.48
änderung in der Rhetorik der Werbeindustrie. Da
das Produkt nicht mehr besonders hochwertig
oder positiv überhöht dargestellt werde, sondern
einfach nur ‚passen‘ müsse, könne auf Slogans
und aufwändige Kampagnen verzichtet werden.44

    „
Die medienkulturelle Implikation ist extrem: So-
wohl für die Profilierten als auch für die Profilie-
renden gerät bis zu einem gewissen Grad die Tat-
                                                             45 Othmer & Weich (2013:50).
sache aus dem Blick,
                                                             46 Vgl. Othmer & Weich (2013:50).
                                                             47 Othmer & Weich (2013:51).
             dass es sich bei Profilen grundsätzlich um
             eine sehr spezifische und ‚gemachte‘ Forma-     48 Vgl. dazu Eli Parisers Konzept der „Filter Bubbles“ in
    tierung von Wissen handelt. Sie impliziert die Ver-         Pariser (2011). Das Konzept beschreibt ähnliche Phäno-
    messbarkeit ihrer Objekte (die in den genannten Fäl-        mene. Ein Projekt, das dieser Entwicklung nach eige-
    len gleichzeitig einen Subjekt-Status beanspruchen),        nen Angaben entgegenzuwirken versucht, ist das Por-
    ist in der Wahl ihrer Merkmale, Parameter und Vari-         tal http://stumble-upon.com. Durch den Begriff des
    ablen stets diskursiv durchwirkt, reproduziert inso-        Stolperns im Titel der Website werden ein Zufallsmo-
                                                                ment und damit die Möglichkeit neuer Erfahrungen
                                                                suggeriert. Letztendlich handelt es sich hierbei jedoch
42 Vgl. Othmer & Weich (2013:47).
                                                                ebenfalls um ein profilbasiertes Empfehlungssystem,
43 Othmer & Weich (2013:47).                                    das nach einer gewissen Nutzungsdauer die gleiche
44Vgl. Othmer & Weich (2013:48).                                „more of the same“-Problematik aufweist.

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                    Seite 13
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                         Roesler-Keilholz

                                                                 angedeuteten und im Bereich der Werbung so wichti-
 And beyond …                                                    gen Prinzip des ‚Neue-Bedürfnisse-Schaffens‘ entge-
                                                                 genzulaufen.“51

                                                             Mit Baudrillard denkend sind sämtliche Marken
Die vorausgehenden Ausführungen haben deut-                  und Artikel als Alibi für eine grundsätzliche
lich gemacht, dass es sinnvoll ist, digitales Wer-           Funktion der Gesellschaft zu betrachten. 52 Am
ben aus Perspektive der Surveillance Studies zu              Horizont der personalisierten Werbung steht die
betrachten. So steht der ‚Auflösung‘ des topogra-            Auflösung der eigenen Disziplin.
phischen Raumes die Generierung von Daten
gegenüber, die wiederum zu einer Auslöschung
des Subjekts zu führen scheinen. Das Sammeln
von Informationen wird daher von Beginn an von                 Literatur
einer destruktiven Spur begleitet. Die unbemerk-
te Überwachung verunmöglicht zunehmend ein
Leben im Verborgenen. Sukzessive vollzieht sich              Altendorf, Michael (2011). Social Media Targeting. In:
                                                                Bauer, Christoph; Greve, Goetz & Hopf, Gregor (Hg.).
eine Verschiebung von der vertikalen Überwa-
                                                                Online Targeting und Controlling. Grundlagen – Anwen-
chung, wie sie noch im Panoptikum und auch bei                  dungsfehler – Praxisbeispiele. Wiesbaden: Gabler. S. 67–92.
der Drohnenaufnahme funktioniert, zur rhizo-                 Bartz, Christina & Miggelbrink, Monique (2013). Wer-
matischen Überwachung im Internet. Wie Gilles                  bung. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für
Deleuze in seinem Postskriptum über die Kontrollge-            Medienwissenschaft, 5(2). S. 10–19.
sellschaften zeigt, wächst Überwachung in „Kon-              Baudrillard, Jean (1968/1991). Das System der Dinge. Über
trollgesellschaften“ nicht baumartig – also verti-             unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frank-
kal und geordnet wie im Panoptikum –, sondern                  furt/M.: Campus.
breitet sich eher wie ein Bodendecker, also rhizo-           Baumann, Zygmunt (2003). Flüchtige Moderne.
martig, aus.49 In der Konsequenz bezeichnet Zyg-               Frankfurt/M.: Suhrkamp.
munt Baumann die heutigen Machtverhältnisse                  Bauman, Zygmunt & Lyon, David (2013). Daten, Drohnen,
als „post-panoptisch“.50 Topologisches Knowhow                 Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Frank-
                                                               furt/M.: Suhrkamp.
gewinnt gegenüber topographischer Anordnung
(dem Überwachungsdispositiv Raum) an Rele-                   Bernard, Andreas (2017). Komplizen des Erkennungsdienstes.
                                                               Das Selbst in der digitalen Kultur. Frankfurt/M.: S. Fischer.
vanz und kann den ‚Referenten‘, das Subjekt, de-
                                                             Deleuze, Gilles (1993). Unterhandlungen. 1972–1990. Frank-
codieren.
                                                               furt/M.: Suhrkamp.
    Dass sich die Werbeindustrie durch eine aus-
                                                             Dotzler, Bernhard (2010). Die mechanische Braut. Werbe-
geflaggte Form personalisierter Werbung selbst                 forschung als Anfang von Medienwissenschaft. In: Rei-
beschneidet, darf nicht ignoriert werden. Neue,                mann, Sandra & Sauerland, Martin (Hg.). Wissen
spezielle, andersartige Produkte können durch                  schaf(f)t Werbung. Regensburg: Universitätsverlag Re-
Retargeting-Maßnahmen nur schwer platziert                     gensburg. S. 44–72.

    „
werden, ohne beim Käufer für Irritation zu sor-              Einstein, Mara (2017). Advertising. What Everyone Needs to
gen. Nur selten tauchen Vorschläge (z. B. bei Ama-              Know. New York: Oxford University Press.
zon) auf, die nicht zum Profil passen. Othmer &              French, George (1909). The Art and Science of Advertising.
Weich konstatieren daher:                                       Boston: Sherman, French, and Company. URL:
                                                                https://archive.org/details/artandsciencead00frengoog
          Die Iteration von Gewohnheit scheint der              /page/n19 – Zugriff: 31.10.2018.
          neoliberal geforderten Flexibilität und per-       Foucault, Michel (1975/1994). Überwachen und Strafen.
    manenten Weiterentwicklung und gerade auch dem             Frankfurt/M.: Suhrkamp.

49 Deleuze (1993:254–262).                                   51 Othmer & Weich (2013:51).
50 Bauman (2003:18).                                         52 Vgl. Baudrillard (1968/1991:205).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                         Seite 14
Eine Stellungnahme zur Gefahr personalisierter Werbung im Internet                                               Roesler-Keilholz

Horton, Donald & Wohl, Richard R. (1956/2002). Massen-             Roesler, Alexander & Stiegler, Bernd (2005). Grundbegriffe
  kommunikation und parasoziale Interaktion. Beob-                   der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink.
  achtungen zur Intimität über Distanz. In: Adelmann,              Scharrer, Jürgen (2016). Programmatic statt Retargeting
  Ralf; Hesse, Jan O. & Keilbach, Judith (Hg.). Grundlagen-          OWM: Die Verbandschefin Tina Beuchler über Milleni-
  texte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse.     als, Agenturmodelle – und was man von Zalando ler-
  Konstanz: UVK. S. 74–104.                                          nen kann. In: Horizont, 25(45). S. 14 f. URL: http://wiso-
Keßler, Esther; Rabsch, Stefan & Mandić, Mirko (2015).               net.de/document/HOR_20161110383050%7CAHOR_20
  Erfolgreiche Websites. SEO, SEM, Online-Marketing, Usabili-        16110383050 – Zugriff: 31.10.2018.
  ty. Bonn: Rheinwerk.                                             Schwär, Anna (2018). Mit diesen Tricks luchst About You der
Kloss, Ingomar (2012). Werbung. Handbuch für Studium und              Konkurrenz die Kunden ab. URL: https://www.welt.de-
   Praxis. München: Verlag Franz Vahlen.                              /wirtschaft/article179387650/Onlinehandel-Der-
McLuhan, Marshall (1968). Die magischen Kanäle. Understan-            Modeshop-About-You-behauptet-sich-gegen-
  ding Media. Düsseldorf/Wien: Econ.                                  Zalando-und-Amazon.html – Zugriff: 31.10.2018.

Lysinski, Edmund (1924). Die Organisation der Reklame. Ber-        Spitzer, Leo (1949/1975). Eine Methode Literatur zu interpretie-
   lin: Industrieverlag Spaeth Linde.                                ren. Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein.

Othmer, Julius & Weich, Andreas (2013). „Wirbst du noch            Venzke-Caprarese, Sven (2017). Retargeting in der
  oder empfiehlst du schon?“ Überlegungen zu einer                   Onlinewerbung. Rechtliche Rahmenbedingungen für
  Transformation der Wissensproduktion von Werbung.                  zielgenaue Werbung. In: Datenschutz und Datensicherheit
  In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 5(2). S. 43–52.            – DuD, 41(9). S. 577–582. URL: https://www.daten-
                                                                     schutz-notizen.de/wp-content/uploads/2017/07/ -
Pariser, Eli (2011). The Filter Bubble. What the Internet Is Hi-     Retargeting_in_der_Onlinewerbung.pdf – Zugriff:
  ding from You. London et al.: Penguin.                             31.10.2018.

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                                Seite 15
Memorierungsstrategien im Audio-Branding
                                                       Eine interdisziplinäre Analyse am Beispiel
                                                                       des Möbelhauses Segmüller
                                                                                            Nadine Kronforst

                                                                Dieses Thema kann und darf nicht allein aus lin-
 Abstract1                                                      guistischer Perspektive heraus betrachtet wer-
                                                                den, sondern muss sich mithilfe von gedächtnis-
                                                                psychologischen und wirtschaftswissenschaftli-
Radio. Geht ins Ohr. Bleibt im Kopf. – Mit diesem Slo-          chen Überlegungen einer interdisziplinären Her-
gan wirbt eine groß angelegte Kampagne der Ra-                  angehensweise unterziehen.
diozentrale für die Werbeplattform Radio.2 Anders
als bei den meisten Werbungen richtet sich der
Appell hier nicht an den Endverbraucher, son-
dern an werbende Unternehmen. Das beworbene                      Einführung: Forschungs-
Produkt ist kein Produkt, sondern das Mittel, wo-
mit ein Produkt an den Mann gebracht werden
                                                                 gegenstand Audio-Bran-
soll – Radiowerbung. Metawerbung existiert auch                  ding zwischen Wirtschaft
bei Printanzeigen: Hier könnte Ihre Werbung stehen.
TV-Metawerbung wäre hingegen unvorstellbar.
                                                                 und Wissenschaft
Es scheint, als ob Fernsehwerbung nicht zwin-
gend beworben werden müsse, weil die werbliche                  Interdisziplinarität ist die Basis einer linguisti-
Effizienz im Gegensatz zu anderen Medien nicht                  schen Untersuchung, die hinsichtlich ihrer Ziel-
angezweifelt wird. Fernsehen hat das Prestige er-               gruppenausrichtung neben dem sprachwissen-
reicht, das schon Ende der 70er Jahre von der                   schaftlichen Publikum ausdrücklich auch die
Band The Buggles vorhergesehen wurde: Video Kil-

    „
                                                                Werbepraxis ansprechen will: Wirksamkeit in
led the Radio Star.                                             sprachwissenschaftlichen Untersuchungen ist ein
    In meiner Arbeit wird entgegen dieser Annah-                Forschungsdesiderat. Nicht viele Linguisten wa-
me bewusst und ausschließlich mit Radiower-                     gen sich aufgrund der Nicht-Quantifizierbarkeit
bung gearbeitet, denn                                           unserer oftmals subjektiven Forschungsgebiete
                                                                an die Aufgabe, selbst Bewertung und Tipps für
            [k]aum ein anderes Medium bietet so viele
                                                                die wirtschaftliche Praxis liefern zu können. Der
            kreative Möglichkeiten und wird gleichzeitig
    in der Wahrnehmung immer noch so unterschätzt.“3
                                                                Schlüssel, auch als Sprachwissenschaftlerin dazu
                                                                einen Beitrag leisten zu können, ist die Interdis-
                                                                ziplinarität in Methodik und Forschungsinhal-
1 Der Beitrag geht auf eine Masterarbeit, die an der Ka-        ten. So setzt sich die Arbeit das Ziel, eine Antwort
  tholischen Universität Eichstätt verfasst wurde, zu-          auf folgende Fragen zu finden:
  rück.
2 Vgl. Kampagne pro Radio. Radio. Geht ins Ohr. Bleibt im
                                                                   -    Hält die aktuelle Hörfunkwerbung das,
  Kopf. – Zugriff: 11.12.2018.
                                                                        was der Slogan „Geht ins Ohr. Bleibt im
3 Kampagne pro Radio. Radio. Geht ins Ohr. Bleibt im Kop f. –
  Zugriff: 11.12.2018.                                                  Kopf.“ verspricht?

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                                  Seite 16
Memorierungsstrategien im Audio-Branding                                                       Kronforst

   -    Welche sprachlichen Mittel tragen wie        angesetzt, während Bayern 1 vom 6.11.2015 bis
        zur intendierten Werbewirkung, dem           zum 14.11.2015 aufgenommen wurde.
        Einprägen, bei und welche sind dahinge-          Der erste Kategorisierungsschritt ist die Fest-
        hend besonders erfolgversprechend?           stellung identischer Werbespots. Danach erfolgt
                                                     die Zusammenlegung aller Spots, die sich in ein
Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der    einziges werbendes Unternehmen fassen lassen.
Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen            In einem weiteren Selektionsschritt werden Mo-
aufmerksamkeitssteigernden Mitteln, der Me-          no- und Mixkampagnen voneinander unterschie-
morierung von Slogans und Produktnamen und           den, weil sich die Erinnerungsleistung der Pro-
schließlich dem Kauf des Produkts.                   banden allein auf das Medium Radio beziehen
    Das Fundament der zugrundeliegenden Theo-        soll. Im Verständnis dieser Untersuchung handelt
rie ist ein gedächtnispsychologisches und werbe-     es sich um Monokampagnen, wenn eine zusätzli-
theoretisches. Anhand eines eigens entworfenen       che Präsenz des Slogans und des Produktnamens
Analysemodells werden besonders auffällige           durch Fernsehwerbung ausgeschlossen werden
sprachliche Werbemittel vorgestellt. Beim Text       kann. Diese werden zudem nach Branchen kate-
beginnend verengt sich der Blickwinkel von der       gorisiert, um sowohl brancheninterne als auch
Syntax über das Wort zum einzelnen Laut. Mit-        branchenübergreifende Vergleiche zu gewähr-
hilfe eines breit angelegten Korpus werden           leisten.
sprachliche, aber auch außersprachliche Beson-           Danach folgt die sprachliche Analyse der
derheiten für 34 Mono-Radiowerbespots heraus-        Spots zunächst quantitativ, dann qualitativ:
gearbeitet. Diese Ergebnisse fungieren als Basis
für Memorierbarkeitsthesen. Hierbei gehe ich zu-     Außersprachliche Analyse:
nächst von der trivialen Annahme „viel hilft viel“     -   Grobe Skizzierung der Kontexte des wer-
aus, d. h., quantitativ und qualitativ „hochwerti-         benden Unternehmens
ge“ aufmerksamkeitssteigernde Mittel führen zu         -   Branchenzugehörigkeit und Produktin-
einer hohen Memorierungsrate. Als Prüfinstanz              formationen
wird ein halbstandardisierter Fragebogen ver-          -   Positionierung des Spots (Datum, Uhr-
wendet, der als Verbindung zum Konsumenten                 zeit, Werbeblock, Position im Werbe-
zur Beantwortung der zuvor formulierten Fragen             block)
beitragen soll. Natürlich kann im begrenzten           -   Länge des Spots
Rahmen dieser Arbeit nicht auf alle 34 Werbe-
                                                       -   Häufigkeit des Spots
spots eingegangen werden. Stattdessen wird eine
Radiowerbung gezielt als Beispiel herangezogen       Untersuchung der Textebene
und exemplarisch anhand der aufgestellten Me-          -    Textgrammatik (Form & Funktion)
thodik untersucht.                                     -    Sprachspielerische Stilelemente auf Text-
                                                            ebene
                                                       -    Inszenierung von Varietäten
                                                     Untersuchung der Satzebene
 Methodik der                                          -    Satzarten, Negation und Funktionen
 linguistischen Analyse                                -    Stilelemente auf Satzebene
                                                       -    Phraseologismen
Das Korpus setzt sich aus zwei chronologisch         Untersuchung der Wortebene
direkt aufeinanderfolgenden Daueraufnahmen             -    Wortwahl
zusammen, die insgesamt eine Anzahl von 2264           -    Wortbildung
Werbespots ergeben. Die Aufzeichnung von An-           -    Fremdwörter
tenne Bayern ist vom 28.10.2015 bis zum 6.11.2015      -    Stilelemente auf Wortebene

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                      Seite 17
Memorierungsstrategien im Audio-Branding                                                        Kronforst

Untersuchung der Lautebene                            wie beispielsweise die Stimme des Sprechers,
  -    Metrik                                         eine Melodie, Textteile aus dem Fließtext oder der
  -    Akustisch-auditive Ebene                       Headline, etc. Hiermit soll überprüft werden, ob
  -    Stilelemente auf Lautebene                     sich die Probanden überhaupt an den Spot erin-
                                                      nern können, d. h., ob er als Gesamtkonzept vom
Nachdem in jedem einzelnen Werbespot die auf-         sensorischen Register des Gehirns aus weiter
tretenden sprachlichen Phänomene kategorisiert        vorgedrungen ist.
und quantifiziert wurden, erfolgt anschließend           Eine abschließende Frage soll klären, inwie-
für jeden Spot eine tiefgehende qualitative, inter-   fern ein Zusammenhang zwischen der Memorie-
pretative Untersuchung.                               rung und dem Kauf oder Konsum der Produkte
    All diese Faktoren entfalten als Gesamtkom-       besteht. Die Durchführung der Befragung hat den
plex eine Wirkung auf den Rezipienten, wodurch        Anspruch hoher (lokaler) Repräsentativität und
im besten Fall Aufmerksamkeit und Memorie-            Aktualität. Sie erfolgt im Dezember 2015 und im
rung der Produktnamen und des Slogans erreicht        Januar 2016 an vier Stationen in den Landkreisen
werden. Nach dem oben genannten Grundsatz             Eichstätt, Neuburg-Schrobenhausen und Ingol-
„viel hilft viel“ wird eine These zur Memorierung     stadt.
aufgestellt, die anschließend durch die Ergebnis-
se eines Fragebogens entweder bestätigt oder fal-
sifiziert wird.
    Ein nächster Schritt stellt zusätzlich den Zu-     Forschungsstand
sammenhang zwischen der Einprägsamkeit des
Slogans und dem realen Kontakt des Kunden mit
                                                      Zur Werbeforschung wurde in der Linguistik ei-
dem Produkt dar. Dieser Zusammenhang lässt
                                                      niges an einschlägiger Fachliteratur veröffent-
sich ebenfalls aus den Auswertungen des Frage-
                                                      licht. Als besonders umfassend gelten Janichs Ti-
bogens entnehmen.
                                                      tel zur Werbekommunikation5, das Arbeitsbuch
    Der Fragebogen umfasst folgende Informatio-
                                                      zur Werbesprache6 und die Bibliographie7. Janich
nen: Zunächst sollen die Probanden einschätzen,
                                                      geht mit einem ganzheitlichen Anspruch an die
wie oft sie Radio hören. Diese Erkenntnis reiht
                                                      Thematik heran. Im Vergleich zu anderen Arbei-
sich ein in die außersprachlichen Einflüsse, die
                                                      ten fällt bei ihren neueren Titeln ein verstärkt
auf die Memorierung von Radiowerbung einwir-
                                                      medienübergreifender Ansatz auf. Hier deutet
ken. Denn wer nicht Radio hört, kann nach den
                                                      sich die allmähliche Ausweitung des wissen-
Regeln der Logik auch keine der gefragten Mono-
                                                      schaftlichen Horizonts an, die heute für die ge-
kampagnen kennen. Da durchschnittlich „95 Pro-
                                                      samte Forschungsgemeinschaft bezeichnend ist.
zent der Deutschen [...] regelmäßig Radio/Audio“ 4
                                                      Die meisten linguistischen Arbeiten zur Wer-
hört, ist eine schlechte Wiedergabeleistung nicht
                                                      besprache beziehen sich aber noch immer auf
dem Image oder der Frequentierung des Medi-
                                                      Printanzeigen. Römer8 und Baumgart9, die beide
ums, sondern möglicherweise der Quantität und
                                                      auch heute noch als Standardwerke gehandelt
sprachlichen Qualität der Radiowerbespots anzu-
                                                      werden, gehen z. B. ausschließlich auf geschrie-
lasten.
                                                      bene Sprache ein.
    Nach der allgemeinen Einführung wird zu-
                                                          Linguistische Arbeiten, die sich ausschließlich
nächst nach der Bekanntheit der einzelnen Un-
                                                      mit Hörfunkwerbung beschäftigen, sind rar. Da-
ternehmen und nach der spontanen Erinnerung
an den Slogan gefragt. Falls Letzteres nicht mög-     5 Vgl. Janich (Hg.) (2012).
lich ist, haben die Probanden die Möglichkeit, an-    6 Vgl. Janich (2013).
dere Bruchstücke der Werbung wiederzugeben,           7 Vgl. Greule & Janich (1997).
                                                      8 Vgl. Römer (2002).
4 Media-Analyse 2018 – Zugriff: 11.12.2018.           9 Vgl. Baumgart (1992).

Mitteilungen des RVW 6/2018                                                                       Seite 18
Sie können auch lesen