Seide, Sand, Papier Ein Basler Sommerpalais und seine globalen Bezüge - CHRISTOPH MERIAN
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Seide, Sand, Papier Ein Basler Sommerpalais und seine globalen Bezüge CHRISTOPH Susanna Burghartz MERIAN Madeleine Herren VERLAG
Seide, Sand, Papier Ein Basler Sommerpalais und seine globalen Bezüge CHRISTOPH Susanna Burghartz MERIAN Madeleine Herren VERLAG
Inhalt 01 Global vernetzt 9 Die Sandgrube als Brennpunkt einer Basler Globalgeschichte 02 Die Leisler in Basel 27 Eine kosmopolitische Migrantenfamilie, 1658–1795 03 Der grosse Umbau 77 Wirtschaft, Gesellschaft und städtischer Raum, 1670–1800 04 Konsum global — das Chinazimmer 123 Die Entstehung eines globalen Stils, 1700–2021 05 Lokal verwandt — global vernetzt 161 Arkadien in einer pulsierenden Stadt, 1790–1931 06 Verloren in Transformationen 201 Vom privaten Sommerhaus zum öffentlichen Gebäude, 1931–2021 Dank 235
Global vernetzt Die Sandgrube als Brennpunkt einer Basler Globalgeschichte 01
Ein Garten im Haus, ein verborgenes Paradies oder ein verbotenes Zimmer? Das Chinazimmer in der «Sandgrube», dem barocken Sommerhaus der Familie Leisler in Basel, gibt Rätsel auf. Im heutigen Sitz des Europainstituts der Universi- tät Basel liegt hinter verschlossenen Türen und Fensterläden ein Zimmer, das ganz mit original chinesischen Papiertapeten aus dem 18. Jahr hundert ausgekleidet ist. Sie wurden dort in der Mitte des 18. Jahrhunderts angebracht und sind bis heute vollständig erhalten geblieben. Das Chinazimmer ist der zentrale Aus- dert bis in die Gegenwart in globaler Per- gangspunkt für das vorliegende Buch. In spektive. Das Sommerhaus der Leislers diesem aussergewöhnlichen Raum wird erzählt von grenzübergreifenden familiä- die Globalgeschichte Basels sichtbar. ren Beziehungen und global vernetzten Das Haus und seine Interieurs berichten Biografien, von materiellen Spuren des über Generationen von Bewohnern und Globalen und von Häusern, deren lokale Bewohnerinnen, deren lokale Bedeutung Vorstellung von Weltoffenheit zeitwei- von der Teilnahme in globalen Netzwer- se glänzend in den Vordergrund trat und ken geprägt war und deren Tätigkeiten sich manchmal in ein verträumtes Arka- von der wachsenden Bedeutung Basels dien zurückzog. als Drehscheibe des globalen Marktes Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich erzählen. Die «Sandgrube» bietet einen das junge Seidenfabrikanten-Ehepaar geradezu idealtypischen Brennpunkt für Achilles und Marie Leisler-Hoffmann vor eine Stadtgeschichte vom 17. Jahrhun- den Toren der Stadt ein grosszügiges Hôtel entre Cour et Jardin bauen lassen. Abb. 1 — Sandgrube, Chinazimmer im 1. Stock. Auf insgesamt Im ersten Stock statteten sie den pri- vierzehn Paneelen sind original chinesische Tapeten aus vaten Rückzugsort der Hausherrin mit Maulbeerbaum montiert. — Foto: Kantonale Denkmalpflege Basel-Stadt, Erik Schmidt, 1989. einer spektakulären chinesischen Ta- Global vernetzt | 11
Abb. 2 — Sandgrube, Chinazimmer im 1. Stock. Links ein Paneel mit Fasan im stark vergilbten heutigen Zustand. Daneben ein digitaler Rekonstruktionsvorschlag. Er gibt einen Eindruck von den ursprünglich brillanten Farben, welche die Päonienblüten ebenso wie die Vogelfedern zum Leuchten bringen. Die digitale Technologie ermöglicht eine Annäherung an das ursprüngliche Erscheinungsbild des Raumes. Zwar lassen sich die ursprünglichen Farben der Paneele nicht durch eine einfache digitale Umko- dierung der Farbtöne erreichen. Einzelne Charakteristika können allerdings mit Hilfe von Software identifiziert werden, selbst wenn die Farbtöne stark ausgebleicht und nur noch schwer zu unterscheiden sind. Die Anwendung einer in der Filmindustrie entwickelten Kombination aus Automatisierung und manuellen Techniken ermöglicht einen Farbabgleich mit anderen zeitge- nössischen Beispielen. Das Chinazimmer wird derzeit in einer digitalen Rekonstruktion bearbeitet, die allerdings noch weitere Vergleichsbeispiele von noch vorhandenen chinesischen Tapeten benötigt. — Foto links: Kantonale Denkmalpflege Basel-Stadt, Erik Schmidt, 1989; Foto rechts: Europainstitut Basel, https://chinaroom.europa.unibas.ch. 12 | Global vernetzt
Abb. 3 — Louis Carrogis de Carmontelle (1717–1806), Mme. Brissard, ca. 1760er Jahre (Ausschnitt). Das Porträt von Mme. Brissard zeigt eine Tapete im chinesischen Stil. Der Raum ist durch das grosse Fenster mit dem Park eng verbunden. Das Porträt dokumentiert die globale Übernahme chinesischer Stilelemente und deren Integration in das Ensemble eines Hauses. Mit Dank an Emile de Bruijn für den Hinweis. — Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2021, RCIN 913117. Global vernetzt | 13
pete aus Maulbeerbaumpapier aus. Sol- duell unterschiedlich intensiv koloriert.1 che Tapeten waren seit der Mitte des 18. Der heutige Zustand der Tapeten lässt Jahrhunderts zunächst im alten chinesi- nur noch ansatzweise erahnen, wie far- schen Druckerzentrum Suzhou und dann benfroh der Raum ursprünglich aus- in Kanton (Guangzhou) hergestellt wor- sah. Vergleichsbeispiele lassen darauf den. Diese für den europäischen Markt schliessen, dass wir uns als Hintergrund hergestellten, kostbaren chinesischen ein gebrochenes Weiss vorzustellen ha- Exportartikel kamen als Rollen in ganzen ben, auf dem die Grün- und Blautöne so- Bündeln auf den Schiffen der Britischen, wie kräftiges Rot umso leuchtender her- Niederländischen, Französischen, Däni- vortraten. schen, Schwedischen und zuletzt auch Preussischen Ostindien-Kompanien Das Chinazimmer in der Sandgrube nach Europa. In London, Amsterdam, Lo- In Basel wurden die Tapetenbahnen auf rient, Hamburg, Kopenhagen oder auch insgesamt vierzehn Paneele aufgezo- Paris wurden die Schiffsladungen in Auk- gen, mit denen das Leislersche Boudoir tionen verkauft und neben Porzellanen, bis heute ausgekleidet ist. Auf jedem Gewürzen und Farben auch Tapeten an- dieser Paneele windet sich ein Ast oder geboten. Diese wurden von Händlern für Baum mit Blüten und Früchten empor. die reichen europäischen Konsumenten Wir sehen exotische Pflanzen und Vögel, erworben und dann vor Ort in den Häu- die Glück bringen sollen: Päonien stehen sern von fachkundigen Tapezierern an für Reichtum und Schönheit, Magno- die Räume angepasst und montiert. Vor lien für Schönheit und Tugend, Hibiskus allem die englische Forschung hat in den für Ruhm und Reichtum, Kiefern für ein letzten Jahren solche Tapeten als globa- langes Leben, Bambus für Fröhlichkeit le Waren entdeckt und am Beispiel eng- und Litschis für Kindersegen. Die Vogel- lischer und irischer Landhäuser, die sich paare, die fast immer im unteren Teil der heute im Besitz des National Trust be- Paneele stehen oder sitzen, evozieren finden, neue Erkenntnisse über Details chinesische Vorstellungen eines glück- der chinesischen Produktion ebenso wie lichen Lebens und rufen Assoziationen über die Verwendung der Tapeten in Eng- zu Darstellungen europäischer Paradies- land und Irland und deren Montage durch gärtlein auf: Mandarinenten stehen für englische Tapisseure herausgearbeitet. Eheglück, Pfauen für Würde und Krani- Die chinesischen Kunsthandwerker hat- che für ein langes Leben. Die stilisier- ten für die Herstellung der Tapeten ein ten Steine und Felsen unterstreichen ganzes Arsenal von Druckstöcken zur diese Bedeutung. Die Kombination von Auswahl, die einer festgelegten Gram- Blumen oder Früchten mit spezifischen matik guter Wünsche folgten. Nach dem Vögeln lassen sich als Segenswünsche Druck wurden die Tapeten von Hand mit lesen: So bedeutet die Verbindung von leuchtenden, zum Teil kostbaren Farben Lotusblume und Reiher etwa «auf dem ganz unterschiedlicher Herkunft indivi- Lebensweg immer höher steigen», wäh- 14 | Global vernetzt
rend die Kombination von Päonie und Wildapfel den Wunsch zum Ausdruck bringt «Möge dein Haus in Ansehen und Reichtum stehen.»2 Im Umgang mit dem fragilen und kostbaren Material erwiesen sich die Basler Tapezierer als geschickte Handwerker. Sie passten die aus China gelieferten Bahnen auf die (Raum-)Be- dürfnisse ihrer Kundschaft an, ergänzten und rekombinierten Motive und schnitten Blumen und Vögel aus nicht montiertem Material aus, die sie kunstvoll in die be- stehenden Tapeten integrierten. Damit entstand ein auf den jeweiligen Ort spe- zifisch zugeschnittenes transkulturel- les Ensemble, das auf die Zeitgenossen einen spektakulären Eindruck gemacht haben muss. Ursprünglich erstrahlte das Zimmer in leuchtenden Farben, die Abb. 4 — Sandgrube, Chinazimmer im 1. Stock. Eines der mit dem aufwendig gestalteten Barock- vierzehn Paneele zeigt ein Pfauenpaar, dessen Federn mit kostbarem Malachitgrün ausgemalt wurden. Ein zweites garten korrespondierten, auf den das Paneel mit der gleichen Konfiguration wurde bei der Privatgemach der Hausherrin den Blick Montage von den Tapisseuren getrennt und die ursprüng- lichen Formate an den Raum angepasst. — Foto: Kantonale freigab. Eindrucksvoll unterstrichen sie Denkmalpflege Basel-Stadt, Erik Schmidt, 1989. damit zugleich den Charakter des Hau- ses als Sommerpalais. tionalstaat, Kriege und Weltkriege in Heutzutage sind die Tapeten aus grenznaher Lage und schliesslich sogar konservatorischen Gründen nicht mehr die massive Verdichtung der Stadt mit öffentlich zugänglich und der Raum ihrem stark wachsenden Bedarf nach darf derzeit nicht mehr benutzt wer- Wohnraum und Raum für öffentliche Ge- den. Umso bemerkenswerter ist es, wie bäude wie Schulen und den damit ein- lange die Drucke und Farben auf fragi- hergehenden Bodenpreissteigerungen. lem Papier die wechselvollen Zeitläufte Dieser Prozess führte zwischen 1930 bis in die Gegenwart überdauert haben. und 1970 in Basel zum Abbruch zahlrei- Im 18. Jahrhundert aus Guangzhou auf cher Barockpalais und Sommerhäuser. ein Schiff aus dem Westen verladen Die seit 1931 im öffentlichen Besitz be- und anschliessend in einem europäi- findliche Sandgrube entging der Zer- schen Hafen verkauft, überstanden die störung, indem das ehemalige Leisler- Tapeten die Französische Revolution sche Sommerpalais 1956 als Kantonales und ihre Folgen, den Umbau der Eidge- Lehrerseminar eröffnet und seine Ge- nossenschaft zu einem modernen Na- schichte als denkmalgeschützter öffent- Global vernetzt | 15
licher Raum neu erzählt wurde. In dieser dieser fragilen Gebrauchsartikel mit der Transformationsphase entstanden zwei Zeit verschwanden, ist deren Präsenz an bemerkenswerte Darstellungen zur Ge- so unterschiedlichen Orten wie Québec schichte der Sandgrube. Das Manuskript und St. Petersburg, London und Paris des Bandfabrikanten Emil Seiler-La Ro- bemerkenswert. che, Die Geschichte der Sandgrube und Nach wie vor müssen Fragen zum die Anwohner der Riehenstrasse, wurde Chinazimmer der Sandgrube offen- im Jahr 1925 abgeschlossen. Es erzählt bleiben: Bislang konnten wir nicht ab- die Geschichte der Sandgrube als priva- schliessend klären, auf welchem Schiff tes Wohnhaus und Treffpunkt der Basler genau die Tapeten nach Europa gelang- marchands-fabriquants in einem Mo- ten, auf welchen Wegen und zu welchem ment, als das Haus erstmals an Fremde Zeitpunkt genau Bauherr Achilles Leisler vermietet wurde. Der Basler Kunsthisto- in den Besitz der Tapeten kam und wer riker Paul Ganz publizierte 1961 die erste genau die Maulbeerbaumtapeten in der (und bislang einzige) wissenschaftlich Sandgrube auf die spezifischen Verhält- fundierte Geschichte der Sandgrube, nisse vor Ort anpasste und sie montierte. die in ihrer Breite und Präzision bis zum Ebenso schwierig ist die Klärung der Fra- heutigen Tag grundlegend bleibt.3 Ganz ge, ob die verschiedenen Betrachter und dokumentierte die Transformation der Betrachterinnen in der chinesischen Flo- Sandgrube vom Privatbesitz zum Denk- ra und Fauna lediglich eine schöne De- mal der Basler Barockarchitektur eben- koration sahen oder vielmehr glaubten, so wie den Übergang von Leislers Villa ein authentisches Stück China an den zum öffentlich genutzten Raum. In der Rhein geholt zu haben. Auch Seide, Sand, wechselvollen Geschichte des Hauses Papier wird diese Fragen nur teilweise ist das Überleben des Chinazimmers beantworten können. Der globalhisto- besonders hervorzuheben. Die Tapeten risch informierte Blick auf die Sandgrube wurden weder überstrichen noch über- und ihre Bewohner und Bewohnerinnen klebt, so dass das Chinazimmer heu- eröffnet am lokalhistorischen Beispiel te in seiner unterdessen verblichenen dennoch viele neue faszinierende Per- Schönheit zu den wenigen vollständigen spektiven. Ensembles aus dem 18. Jahrhundert ge- hört, die weltweit erhalten geblieben Zur Perspektivierung von materieller sind. Dass die chinesischen Tapeten im Kultur in der Mikroglobalgeschichte Verlauf der letzten gut zweihundertfünf- Die Globalgeschichte hat in den letzten zig Jahre trotz aller turbulenten Verän- Jahren neue Zugänge zum Verständnis derungen weiterhin auf Interesse sties- einer global vernetzten Welt ermöglicht sen, ist bemerkenswert und mag damit und grenzübergreifende Austausch- zusammenhängen, dass sie wie in der prozesse in den Blick genommen. Da- Sandgrube ein Stilmerkmal von globa- mit ist ein neues Interesse an den Din- ler Bedeutung aufnahmen. Obwohl viele gen erwacht, die seit den Anfängen der 16 | Global vernetzt
Globalisierung in wachsenden Mengen Historikerinnen zu neuen Überlegungen zwischen verschiedenen Kulturen und veranlasst und zur Verbindung von Glo- Kontinenten ausgetauscht und gehan- bal- und Mikrogeschichte geführt. Die delt wurden. In mikrohistorischer Per- Merkmale der Globalgeschichte — durch- spektive betrachtet, können globale lässige Grenzen, die Verbindung bislang Objekte Auskunft über ihre Herstellung getrennter Analyseebenen, neue For- ebenso wie über ihre Verwendung in men von connecting oder networking neuen kulturellen Zusammenhängen ge- power — verändern das Gefüge von Raum ben.4 Eine solche Globalgeschichte inte- und Zeit viel deutlicher, als wir bislang ressiert sich für Fragen der Produktion, angenommen haben. Welche Konse- des Konsums und der Zirkulation dieser quenzen dies vor Ort für die Akteure und Objekte. Sie fragt nach lokalen Ausprä- für deren Selbstverständnis hatte, gilt gungen des globalen Konsums und dem es an konkreten Beispielen darzustel- Zugang zu weltweiten Märkten und sie len. Bislang haben weder Basel noch die interessiert sich für den Wissenstrans- Schweiz für die mikroglobale Perspekti- fer und die Praktiken im Umgang mit ve und die Auswahl lokaler Fallbeispiele einzelnen Objekten und ganzen Waren- eine entscheidende Rolle gespielt. Zu gruppen. Sie bietet für ein Ensemble wie gering erschien der Beitrag im Vergleich das Chinazimmer in der Sandgrube auf- mit den europäischen Hauptstädten und schlussreiche neue Fragen und eröffnet den weltumspannenden Imperien, zu neue Zugänge zu bislang nicht verfügba- einladend war die Annahme, dass eine ren Informationen. Gleichzeitig schafft transnationale Schweiz letztendlich die sie die Möglichkeit, die Netzwerke der Schaffung des modernen Bundesstaates Erbauer, Eigentümer und Bewohner und voraussetzte. Im Blick auf die Sandgrube Bewohnerinnen der Sandgrube und ihrer und Basel kristallisiert sich allerdings zu- Familien auf ihre überregionalen, bis- sehends ein mikroglobales Fallbeispiel weilen sogar globalen Zusammenhän- heraus, mit dem sich Raum und Zeit auf ge hin zu befragen. Das Chinazimmer in faszinierende Weise neu zueinander in der Sandgrube mit seiner chinesischen Beziehung setzen lassen. Maulbeerbaumtapete und vor allem die Geschichte seiner Bewohner und Be- In einer solchen Forschungsper- wohnerinnen erlauben es, über mehr spektive materialisiert das Chinazimmer als zweihundertfünfzig Jahre eine Ge- den Erfolg einer weltweit tätigen Gruppe schichte intensiver Interaktionen zwi- von marchands-fabriquants, die als In- schen dem Lokalen und dem Globalen diennes- und Seidenbandhändler nicht für Basel zu recherchieren. nur glänzende Geschäfte machten, son- Die Annahme, dass globale Objekte dern in einer die new history of capitalism und Netzwerke notwendigerweise in der zusehends interessierenden Weise vom jeweiligen lokalen Umgebung ihre Spu- Weltmarkt profitierte und diesen mitge- ren hinterlassen, haben Historiker und staltete. Global vernetzt | 17
Abb. 5 — Sandgrube. Das 1752/53 fertiggestellte Sommer- haus des Seidenbandfabrikanten Achilles Leisler und seiner dert keineswegs. Die globale Perspektive Frau Marie Leisler-Hoffmann. — Foto: Europainstitut Basel. kann vielmehr auf der lokalen Ebene ei- nen komplexen Transformationsprozess Eine mikroglobale Perspektive ver- offenlegen, der zeigt, wie vormoderne leiht auch jenen Akteuren Gesicht und Netzwerke in die Institutionen des Natio- Stimme, die, wie der Erbauer der Sand- nalstaates übersetzt wurden, auch wenn grube, Achilles Leisler, für lange Zeit aus die protestantische Internationale des dem Blickfeld der Geschichtsschreibung 18. Jahrhunderts und die transnationalen verschwunden sind. Mehr noch lässt der Missionsgesellschaften des 19. und 20. Blick auf globale Netzwerke ein Bild des Jahrhunderts einer unterschiedlichen 18. Jahrhunderts entstehen, bei dem institutionellen Logik folgten, und auch Basel über die europäische Vernetzung das Direktorium der Kaufmannschaft der Banque protestante hinaus zu einem aus dem 18. Jahrhundert mit einer mo- Knotenpunkt im Netz der zunehmend dernen Handelskammer auf den ersten global agierenden protestantischen In- Blick wenig zu tun hat. Der mikroglobale ternationale avancierte. Die damit ent- Zugang erlaubt so auf neue Weise Konti- standenen, grundlegenden Strukturen nuitäten zu thematisieren und diese mit verschwanden im 19. und 20. Jahrhun- der gängigen Periodisierung gegenzu- 18 | Global vernetzt
prüfen. So korrigiert die Geschichte der innenpolitisch eine Schwächung globa- Sandgrube die Annahme, dass erst das ler Kompetenzen nach sich, zumal Welt- 19. Jahrhundert mit Dampfkraft und Te- markt und Imperialismus in der zweiten legrafie Distanzen schrumpfen liess und Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Wei- damit «a world connecting» ermöglich- se amalgamierten, die dem republikani- te. In einer mikroglobal ausgerichteten schen Kleinstaat scheinbar nur geringe Globalgeschichte sind Periodisierungen Bedeutung attestierte? Oder lassen sich anders getaktet und Grenzziehungen die weitreichenden globalen Verknüp- zwischen Epochen folgen nicht notwen- fungen Basels als Beispiel dafür nutzen, digerweise einer modernisierungsorien- dass eine neue Geschichte des Kapitalis- tierten Entwicklungsgeschichte. Dieser mus neben der Betonung des Güterkon- unterschiedliche Blick bringt bislang sel- sums auch zusehends das Merkmal des ten berücksichtigte, lokale Akteure (und Transithandels und des Ausbaus weitrei- Kleinstaaten) in den Vordergrund. Er chender Transitkorridore diskutiert und hebt weniger die territoriale Expansion dabei auch die dunklen Seiten des Sys- hervor, sondern interessiert sich mehr tems berücksichtigt hat?5 Die neueste für das historisch unterschiedlich aus- Literatur zur Globalgeschichte erzählt geprägte Potenzial, Netzwerke zu knüp- die Formen globalen Wirtschaftens zu- fen und connecting power zu entwickeln. nehmend aus einer personen- und fa- Für das 19. und 20. Jahrhundert bleibt milienbezogenen Perspektive.6 Zur Ge- der moderne Nationalstaat ohne Zweifel schichte der Objekte gehören jene, die ein wichtiger Akteur. Aber aus einer mi- diese brauchen, nachfragen, herstellen kroglobalen Perspektive rücken bereits und schliesslich auch beschaffen. Mit bestehende, weitreichende, aber infor- Leislers Sommerhaus lässt sich doku- melle Netzwerke stärker in den Blick, die mentieren, wie sich kosmopolitische bei der Etablierung moderner Staatlich- Netzwerke verschoben und veränderten keit und Institutionen in ein neues Regel- — und wer dabei in Vergessenheit geriet. werk «übersetzt» wurden. Vom Verschwinden der Leisler und Der Umbau der Eidgenossenschaft dem Durchhalten der Sandgrube zur modernen Schweiz kann aus der Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Sicht regional bestehender Netzwer- die Sandgrube als verstecktes Arkadien ke mit globaler Reichweite neu gedacht beinahe aus dem Blickfeld der Öffent- werden: Gerieten die Basler marchands- lichkeit verschwunden. Noch schlech- fabriquants beim schweizerischen Na- ter erging es ihrem Erbauer, dem Bas- tion Building ins Hintertreffen, nachdem ler Oberstzunftmeister Achilles Leisler. sie sich zuvor noch so erfolgreich der Ohne Nachkommen verstorben, traf Marginalisierung im napoleonischen ihn das Verdikt von Daniel Burckhardt- Kontinentaleuropa entzogen hatten? Werthemann, der als letzter Bewohner Zieht moderne Staatsbildung zumindest des von Leislers Schwager zum Barock- Global vernetzt | 19
palais ausgebauten Württembergerho- nen Barockbau, den Markus Weiss, der fes 1938 über die Basler Leisler urteil- Schwager und Geschäftspartner von te: «Kaltherzige Geldmenschen neigen Achilles Leisler, erst zu dem gemacht fast immer zur Prachtliebe, die sich zum hatte, was Burckhardt-Werthemann Protzentum zu steigern pflegt, wenn nach dessen Abriss und dem Neubau keine ererbte Geisteskultur vorhanden des heutigen Kunstmuseums schmerz- ist. Die Basler Leisler männlichen und lich vermisste. Ein ähnlich negatives weiblichen Geschlechts sind dafür Be- Bild hatte schon der Kleinbasler Chro- leg: Wer eine der reichen Leisslerinnen nist Lindner, ein Zeitgenosse von Achil- heiratete, mußte im Laufe des achtzehn- les und Mitarbeiter von Emanuel Ryhi- ten Jahrhunderts wohl oder übel zum ner beim Tod des Oberstzunftmeisters Bauherrn modernen Geschmacks wer- gezeichnet, als er erklärte, Achilles sei den, so Markus Weis, Emanuel Ryhiner «wenig betrauert» gestorben. Ganz an- und Johannes Faesch. Den Vogel ab- ders die Würdigung eines anderen Zeit- geschossen hat wohl Achilles Leissler- genossen, Peter Ochs, Ratschreiber und Hoffmann, der letzte männliche Ver- Anführer der bürgerlichen Revolution in treter des monumental gesinnten, erst Basel. Er hielt in seiner achtbändigen Ge- zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts schichte der Stadt und Landschaft Basel, (1675) ins Bürgerrecht aufgenommenen deren ersten Band Ochs 1786 übrigens Geschlechts. […] Beim jungen Leissler der Fürstin Friederike Auguste Sophie ging alles im Schnellposttempo. Im Alter von Anhalt-Zerbst widmete, fest: «Isak von 22 Jahren heiratete er; im Alter von Iselin, mein Vorfahr, mein Freund und noch nicht 30 Jahren verführte ihn sein mein Lehrer, schrieb die Geschichte der Geltungstrieb, durch den gleich ihm noch Menschheit; sein Nachfolger, sein Ver- jugendlichen Architekten J.J. Fechter ehrer, sein Schüler liefert die Geschichte den Wunderbau eines Landhauses, der des kleinsten Theils derselben.»8 Als er ‘Sandgrube’, hinstellen zu lassen. Es etwas später die Leser und Leserinnen hat ihn offenbar gejuckt, mit seiner aus über seine Quellen informierte, nannte er dem öden Rebgelände wie durch einen explizit die «Leißlerische[n] Manuskrip- Zauber entstandenen Schöpfung mög- ten. Der unlängst verstorbene Oberst- lichst rasch vor die erstaunten Mitbür- zunftmeister hatte aus verschiedenen ger zu treten; sonst hats der alte Basler Standesbüchern Auszüge und Register nicht geliebt, im Scheinwerferlicht zu gemacht. Als ein Denkmal seiner Ach- stehen.»7 tung sind sie mir verehrt worden.»9 Dieses insgesamt doch sehr negati- Damit wurde Achilles Leisler, der Sei- ve Urteil über die Leisler erstaunt umso denbandfabrikant, Deputat und Oberst- mehr, als Burckhardt-Werthemann weh- zunftmeister, über das von ihm zusam- mütig auf seine Kindheit und Jugend im mengestellte Material Teil der Basler Württembergerhof zurückschaute, je- Geschichtsschreibung. Umso auffälliger 20 | Global vernetzt
ist, dass es heute weder von Achilles zugehörigen Landbesitzes und den wei- noch von seiner Frau, Marie Leisler, Por- ten Blick auf die Höhenzüge jenseits des träts gibt, deren Verbleib aktuell bekannt Rheins gebracht, gehört das Leislersche wäre. Wie noch dargestellt wird, ist von Sommerhaus mittlerweile zum Kanon Achilles immerhin die Fotografie eines der barocken Basler Architektur, zusam- Porträtmedaillons im Staatsarchiv und men mit weiteren Highlights wie dem in verschiedenen Publikationen über- Ramsteinerhof, dem Holsteinerhof, dem liefert. Es handelt sich wohl um jenes Wildtschen Haus oder dem Weissen und Miniaturporträt an einem Armband, das Blauen Haus. seine Frau in ihrem Testament explizit erwähnte.10 Ein Bild von Marie Leisler Lokal-global — die Sandgrube und ihre hingegen fehlt bislang. Und dies obwohl Bewohner und Bewohnerinnen gemäss lokaler Überlieferung die Über- Ausgehend von einem Zimmer und sei- sendung aller Familienbildnisse nach nen Bewohnern und Bewohnerinnen Hanau an die Leislerschen Verwandten erzählt Seide, Sand, Papier in den fol- in männlicher Linie, die Marie in ihrem genden Kapiteln die Geschichte eines Testament vorgesehen hatte, von ihrer Ortes und seiner globalen Vernetzungen Schwägerin, Elisabeth Ryhiner-Leisler, und Verstrickungen über mehr als 350 verhindert worden sein soll.11 Jahre. Es ist eine Geschichte, die von ebenso erstaunlichen Kontinuitäten wie Mit dem Transfer der Sandgrube in dramatischen Brüchen und schleichend den Besitz der Öffentlichkeit änderte eingetretenen Strukturwandlungen han- sich die Rolle des ehemaligen Landhau- delt. Es ist zugleich eine Geschichte, in ses nochmals grundlegend. Das gab An- der Familien, Netzwerke und Dinge eine lass, seine historische Bedeutung neu wichtige Rolle spielen, aber auch Weltof- zu reflektieren. In den Jahren zwischen fenheit, Traditionsbewusstsein und Dis- 1930 und 1950, als in Basel immer mehr tinktionswille. Das zweite Kapitel verfolgt Barockbauten dem Abriss zum Opfer fie- die Geschichte der zur «calvinistischen len, wurde ausgerechnet Leislers Villa Internationale» gehörenden Immigran- zur «schönsten Barockanlage Basels» tenfamilie Leisler und ihren wirtschaft- und dokumentierte in vielfacher Weise, lich und gesellschaftlich erfolgreichen was ein Rezensent treffend als «grundle- Aufstieg in Basel am Ende des 17. und gende Umschichtung historischer Werte im 18. Jahrhundert. Ihre Integration in und menschlicher Lebensformen» be- die Basler Elite führte schliesslich Mitte zeichnete, indem er die Rolle des Staa- des 18. Jahrhunderts zum Bau der Sand- tes als «sozialer Hüter kultureller Über- grube, die ganz im Zeichen modischen lieferung» würdigte.12 In den 1950er Luxuskonsums mit einem exotischen Jahren in einer Reinvention of Tradition Chinazimmer ausgestattet wurde. Das von seinen Anbauten aus dem 19. Jahr- dritte Kapitel erzählt mit Blick auf die Fa- hundert befreit und um grosse Teile des milie Leisler und deren Schwiegerfami- Global vernetzt | 21
lien Weiss und Ryhiner von der grossen bauten und der von ihnen umschlosse- Transformation der Basler Wirtschaft ne Garten sorgsam renoviert und das im Zeichen technischer Innovation, Ensemble Teil der Kunstdenkmäler der wachsender Bedeutung der Seiden- Schweiz. An einem Ort der Vermittlung bandverlage und dem Aufkommen der europäischer Bildung schien die Histo- Indienneindustrie. Es stellt den Bau der rizität des Globalen zu verblassen wie Sandgrube in den Kontext des barocken die Tapeten im Chinazimmer, das nun Umbaus von Basel und thematisiert das als Büro des Direktors benutzt wurde. Aufkommen einer eigentlichen China- Doch in einer zusehends digital vernetz- und Chinoiserienbegeisterung in einigen ten Welt bietet Leislers Sommerhaus mit führenden Handels- und Fabrikantenfa- seiner wechselvollen Geschichte glo- milien. Das vierte Kapitel diskutiert am baler Vernetzung einen nahezu idealen Beispiel der chinesischen Tapeten, wie Denkraum für jene, die mit den globalen globale Konsumgüter einen neuen Stil Herausforderungen des 21. Jahrhun- prägten, der in Europa kopiert und ad- derts konfrontiert sind. aptiert wurde, und wie Leisler und sein Schwager Weiss-Leisler in unterschied- licher Weise französische Interieurs mit chinesischen Tapeten und Chinoiserien kombinierten. Das fünfte Kapitel stellt die Sandgrube als Familiensitz der Me- rians und Treffpunkt einer Grossfamilie vor und zeigt, wie der Landsitz mit der Verwandlung Kleinbasels zum modernen Verkehrsknotenpunkt als idyllisches Ar- kadien aus der Zeit zu fallen drohte, wäh- rend sich gleichzeitig die Basler Museen mit Objekten aus Asien füllten und eine neue Generation von Unternehmern aus Basel nach Asien aufbrach. Mit dem Ver- kauf der Sandgrube an den Staat im Jahr 1931 setzte ein grundlegender Transfor- mationsprozess ein. Im sechsten Kapi- tel wird dargelegt, wie die Sandgrube vom privaten Landsitz zum öffentlichen Raum umdefiniert wurde und fortan zum Abb. 6 — Tapeten mit Vögeln und blühenden Bäumen, 18. Jahr- ausführlich dokumentierten13 kulturellen hundert. Die chinesischen Tapeten waren im 18. Jahrhundert als kostbares Interieur weit verbreitet. Sie prägten einen glo- Erbe Basels gehörte. Als die Sandgrube balen Stil, der mehrfach adaptiert und transformiert wurde im Jahr 1956 als Kantonales Lehrersemi- und auch im 21. Jahrhundert seine Spuren hinterlässt. — G. Broudic, Musée de la Compagnie des Indes, Ville de nar eröffnet wurde, waren die Barock- Lorient, ML-181-E. 22 | Global vernetzt
13 Thomas Lutz, Die Altstadt von Kleinbasel. Anmerkungen Profanbauten, Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 6, Basel 2004; Martin Möhle, Die Altstadt von 1 Helen Clifford, «Chinese Wallpaper. From Grossbasel II. Profanbauten, Die Kunstdenkmä- Canton to Country House», in: The East India ler der Schweiz, Bd. 8, Basel 2016; Hans-Rudolf Company at Home 1757–1857, hg. von Margot Finn Heyer, Der Bezirk Arlesheim, Kunstdenkmäler des und Kate Smith, London 2018, 39–67; Emile de Kantons Basel-Landschaft, Bd. 1, Basel 1969. Bruijn, Chinese Wallpaper in Britain and Irland, London 2017; Friederike Gabriele Wappen- schmidt, Chinesische Tapeten für Europa. Vom Rollbild zur Bildtapete, Berlin 1989. 2 Zit. nach Uta Feldges, Alfred Wyss, Erwin Oberholzer, «Zur Restaurierung einer Chinesi- schen Tapete im Haus 'Sandgrube' in Basel: das Haus 'Sandgrube' und die Herkunft der Chinesi- schen Tapete aus dem 18. Jahrhundert», in: Zeit- schrift für Kunsttechnologie und Konservierung 15, Nr.1 (2001), 34–46, hier 35. 3 Emil-Rudolf Seiler-La Roche, Die Geschichte der Sandgrube und die Anwohner der Riehenstras- se, Typoscript, Basel 1926; Paul Leonhard Ganz, Die Sandgrube. Von einem Basler Landsitz zum Kantonalen Lehrerseminar, Basel 1961. 4 Anne Gerritsen und Giorgio Riello, «The global lives of things: material culture in the first global age», in: The Global Lives of Things. The Material Culture of Connections in the Early Modern World, hg. von Anne Gerritsen und Gior- gio Riello, London, New York 2016, 1–29; Maxine Berg, «Introduction», in: Goods from the East, 1600–1800: Trading Eurasia, hg. von Maxine Berg u.a., Basingstoke 2015, 1–6, hier 4. 5 Lea Haller, Transithandel: Geld- und Waren- ströme im globalen Kapitalismus, Berlin 2019. 6 Als neuestes Beispiel siehe Emma Roth- schild, An Infinite History: The Story of a Family in France over Three Centuries, Princeton, Oxford 2021. 7 Daniel Burckhardt-Werthemann, Blätter der Erinnerung an Baslerische Landsitze, Basel 1938, 1. 8 Peter Ochs, Geschichte der Stadt und Land- schaft Basel, Bd. 1, Basel 1786, I. 9 Ebd., XIII. 10 Vgl. Kap. 02, Abb. 19, S. 60. 11 Ganz, Sandgrube (wie Anm. 3), 21–22. 12 Ernst Murbach, «Die schönste barocke An- lage in Basel. Der Herrschaftssitz ‘Die Sandgrube’ ist wiederhergestellt», in: Unsere Kunstdenk- mäler. Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Ge- sellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 11 (1960), 8–11, hier 8. 24 | Global vernetzt
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Die Leisler in Basel Eine kosmopolitische Migrantenfamilie, 1658–1795 02
Drei Generationen Leisler prägten von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Ent- wicklung Basels im Zeitalter der Verlagsindustrie entscheidend mit. Aus einer Familie von Juristen und Theologen gebürtig, brachte Franz, der erste Leisler in Basel, ebenso internationale wie kosmo- politische Beziehungen mit. Er integrierte sich schnell in die lokale Elite und wurde zum Inbegriff des neuen Typus des marchand-fabriquant-banquier. Sein Sohn Achilles I stieg zum bedeutendsten Seiden- bandverleger in Basel auf. Der Enkel, Achilles II, unterhielt florierende internationale Handelsbezie- hungen, stiess in die politische Spitze der Stadt vor und erbaute mit der Sandgrube ein Barockpalais, das mit seinem Interieur den global orientierten Konsum der Eliten exemplarisch zur Schau stellte. Zehn Jahre nach dem Ende des Dreissig- sin-Burckhardt an. Bis Ende des 17. Jahr- jährigen Krieges und fünf Jahre nach der hunderts stieg der erste Leisler in Basel Niederschlagung des Schweizerischen vom Kaufmannslehrling zum Mitglied im Bauernkriegs, die in Basel unter Bürger- Direktorium der Kaufmannschaft und meister Wettstein besonders grausam Financier für den Württembergischen ausfiel, traf im Jahr 1658 Franz Leisler Hof auf. Sein Sohn, Achilles I, baute die aus Frankfurt im Haus zum Kardinal an Firma weiter aus und wurde als Zunft- der Freien Strasse im wirtschaftlichen vorstand der Hausgenossen, zu denen Zentrum von Basel ein.1 Der vierzehn- u.a. die Wechsler, Münzer, Goldschmie- jährige Halbwaise trat hier seine Lehre de und Büchsenmacher gehörten, Mit- im Geschäft des Kaufmanns Peter Sara- glied des Grossen Rats. Dessen Sohn, Abb. 1 — Anonym, Porträt von Franz Leisler-Werthemann Achilles II, der einzige Grosssohn des Fir- (1644–1712), 1685. Das Bild zeigt den erfolgreichen Verleger- Kaufmann mit dunkler Kleidung, schwarzer Allongeperücke mengründers in männlicher Linie, stieg, und einer geränderten Krawatte, wie sie in Paris in den 1670er wirtschaftlich ebenfalls sehr erfolgreich, Jahren modisch waren. In der rechten Hand hält er als deut- lichen Hinweis auf seine überregionalen Handelsnetzwerke zum Oberstzunftmeister in Basel auf. einen an «Monsieur François Leisler, Marchand à Basle» adressierten Brief. — HMB 1983.657. © Historisches Museum Alle drei Generationen Leisler — Männer Basel, Foto: A. Niemz. wie Frauen — waren intensiv am Aufbau Die Leisler in Basel | 29
Abb. 2 — Ausschnitt aus dem Basler Stadtplan von Matthäus Merian, 1615. Gelb markiert das Haus zum Kardinal an der kanischen und indischen Kontinent ge- Freien Strasse. Der Firmensitz von Peter Sarasin-Burckhardt, bei dem der junge Franz Leisler die Kaufmannslehre absol- führt wurde und damit zugleich auch der vierte, lag neben dem Zunfthaus der Wechslerzunft und ganz in der Nähe des städtischen Kaufhauses, nicht weit entfernt erste globale Krieg war. Dabei stellten vom Marktplatz und Rathaus. — Staatsarchiv Basel-Stadt, sich für die Basler Kaufleute und Fabri- BILD 1, 293. kanten auf den internationalen Märkten immer wieder neue Herausforderungen. einer frühkapitalistischen Wirtschaft in Wer agil reagierte, wie die Basler Leis- Basel und deren Vernetzung in interna- ler, konnte mit etwas Glück unter diesen tionale und globale Bezüge beteiligt. Sie Umständen ein Vermögen machen. nutzten neue Organisationsformen wie den Verlag, neue Produktionstechniken Calvinistische Vorfahren und die wie die «Bändelmühle» und damit ein- protestantische Internationale hergehende gesellschaftliche Transfor- Franz und seine Brüder, Jacob und Jo- mationsprozesse ebenso geschickt wie hann Adam, waren die ersten Kaufleute in die in einer Grenzstadt wie Basel immer der Familie. Ihr Vater und ihre Grossväter wieder anfallenden «windfall profits» im waren Juristen, Theologen und Pfarrer Schatten der zahlreichen Kriege; vom gewesen. Grossvater Jacob Leisler, hat- Holländischen Krieg (1672–1679) über te nach einem Studium in Tübingen 1593 den Pfälzischen (1688–1697), den Spani- an der Basler Universität das Examen als schen (1701–1714) und den Österreichi- Doktor «utriusque iuris» abgelegt.2 Spä- schen Erbfolgekrieg (1740–1748) bis zum testens 1595 trat er in die Dienste des Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der als Grafen Gottfried von Oettingen. Inspiriert Kampf um die Kolonien auf dem ameri- von dessen zweiter Ehefrau, Gräfin Bar- 30 | Die Leisler in Basel
bara, wurde Leisler zum Anhänger Cal- mon Goulart, dem Nachfolger von Theo- vins. 1614 wechselte er als Rechtsberater dor Beza.4 Jacob Victorian war damit im und Zivilankläger nach Amberg in den Zentrum des internationalen Protestan- Dienst von Fürst Christian I. von Anhalt- tismus angekommen. In den folgenden Bernburg, um «seine geliebten Kinder Jahren wurde der junge Pfarrer für seine […] unter einem reformierten Fürsten Unterstützung verfolgter französischer aufwachsen» zu lassen.3 Christian I. war Glaubensgenossen bekannt. 1635 be- ein dezidierter Anhänger der reformier- rief ihn die französisch-reformierte Ge- ten Seite. Er hatte 1608 in der Oberpfalz meinde der spanisch besetzten Stadt als Statthalter die protestantische Union Frankenthal zu ihrem Pfarrer. Schon 1637 unter Führung Friedrichs V. von der Pfalz musste er die Stadt wegen Säuberun- gegründet. Grossvater Jacob verfügte gen durch die Spanier verlassen. Mög- demnach als Beamter nicht nur über Zu- licherweise dank verwandtschaftlicher gang zum höfischen Milieu, sondern über Beziehungen seiner Schwiegermutter seinen Dienstherrn auch über Kontakte erhielt er, «nachdem er sich gantz aus- in die Spitze der protestantischen Politik. gezehrt, eine geraume Zeit mit Weib und Kindt sich im Exilo aufgehalten», Jacob Victorian, der Vater von Franz, eine Anstellung als Pfarrer der französi- wurde 1606 in Oettingen als jüngster schen Gemeinde in Frankfurt.5 In seiner Sohn von Jacob Leisler geboren. Wie Frankfurter Zeit wurde Jacob Victorian schon sein Grossvater studierte Jacob Leisler in ganz Europa für seine Fund- Victorian Theologie und wurde refor- raising-Aktivitäten zugunsten bedürf- mierter Prediger. Er immatrikulierte sich tiger Flüchtlinge bekannt und konnte zunächst 1623 in Altdorf, bevor er 1625 dank seiner familiären Verbindungen die als Anhänger der Lehren von Theodor Interessen reformierter Gemeinden vor Beza zum Studium nach Genf ging. Dort dem Reichstag und dem Brandenbur- wurde er im folgenden Jahr, 1626, in der gischen Kurfürsten vertreten. Bei den deutschen reformierten Gemeinde or- Friedensverhandlungen von Münster und diniert und schliesslich 1632 als Pfarrer Osnabrück profilierte er sich mit Ver- angestellt. 1633 immatrikulierte er sich — mittler- und Botendiensten für Adlige.6 mitten im Dreissigjährigen Krieg — mit Es gelang ihm so, ein eigenes calvinisti- einem vergleichsweise hohen Betrag sches Netzwerk in ganz Europa und der von 1 Pfd. an der Universität Basel. Im atlantischen Welt aufzubauen. Mit Kol- folgenden Jahr heiratete er in Genf Su- legen und Glaubensbrüdern in London, sanna Adelheit Wissenbach, die Tochter Hamburg, Emden, Amsterdam, Nürnberg des Regenten des dortigen Collegiums, und Basel unterhielt er ein ausgedehn- Professor Heinrich Wissenbach. Dank tes Korrespondenznetzwerk.7 Für eine dieser Heirat bestanden nun über die intensive Vernetzung in die Verwaltungs- Mutter seiner Frau, Catharina Aubert, und Wirtschaftselite Frankfurts nutzte verwandtschaftliche Beziehungen zu Si- Pfarrer Leisler die Patenschaften seiner Die Leisler in Basel | 31
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