Seite 5-7 "Wohnen zur Miete" Die grosse Umfrage - Mieterverband
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 www.mieterverband.ch «Wohnen zur Miete» Die grosse Umfrage Seite 5–7
Editorial Inhaltsverzeichnis Liebe Leser*innen Aktuell Basel setzt beim Wohn- schutz neue Massstäbe 3 Umfrage «Wohnen zur Miete»: Die wichtigsten Ergebnisse 5 Zürich Reichen die Forderungen der Stadt im Bergacker? 8 Falls Sie zu den 18 000 Personen gehören, die sich an unserer Umfrage beteiligt haben – herzlichen Dank! Interview Stadtforscher In dieser Ausgabe präsentieren wir Ihnen nun die Philippe Koch im Gespräch 12 Resultate. Was auffällt: Fast drei Viertel aller Befragten hatten bei der letzten Wohnungssuche Mietverträge Diese Klauseln Mühe, etwas Bezahlbares zu finden. Das ist einer- seits unglaublich viel. Anderseits zeigt es nur, was wir können Sie vergessen 15 schon lange wissen: Es gibt in der Schweiz viel zu Verlosung Gewinnen Sie das wenig bezahlbaren Wohnraum. Dabei wären die Mietenden eigentlich durch Verfassung und Gesetz neue Buch von Elif Shafak 17 vor zu hohen Mieten geschützt. Solange das aber niemand kontrolliert, können renditeorientierte Miettipp Hilfe, das Haus wird Immobilienbesitzende auf Verfassung und Gesetz verkauft 18 pfeifen und dank Renditen von 6, 7 oder noch mehr Prozent Milliarden zu viel einstreichen. Hotline Darf ich eine Lichter- Es gibt aber eine erfreuliche Entwicklung in dieser Sache: Das Bewusstsein der Mietenden dafür, kette aufhängen? 21 was zu tun wäre, scheint zu wachsen. Das zeigt sich in unserer Umfrage – aber nicht nur dort. In Basel haben die Stimmberechtigten Ende November die Wohnschutzinitiative angenommen, dank der die Mietzinse nach Sanierungen künftig nur noch gering erhöht werden dürfen. Mehr dazu im Text auf den kommenden Seiten. Zum Schluss noch ein Anliegen in eigener Sache: Sie lesen grad das Editorial des M+W, unserer Mit- gliederzeitschrift, die sechsmal jährlich an alle Mit- glieder verschickt wird. Beim Versand profitieren wir von der indirekten Presseförderung, die einen Teil Herausgeber Druck der Portokosten übernimmt. Die Idee hinter dieser Mieterinnen- und Mieterverband Stämpfli AG, Bern Förderung ist, die Presse- und Meinungsvielfalt in Deutschschweiz Beglaubigte Auflage 127 679 Exemplare der Schweiz zu erhalten. Viele Publikationen wären Redaktion Erscheinen ohne diese Förderung wohl längst weggespart Andrea Bauer 6-mal pro Jahr worden, denn die Porti gehören zu den grössten m+w@mieterverband.ch Abonnementspreis www.mietenundwohnen.ch Fr. 40.–/Jahr Posten im Budget einer Mitgliederzeitschrift. Am Administration und Adressverwaltung Inserate und Beilagen 13. Februar 2022 stimmen die Schweizer Stimmbe- Mieterinnen- und Mieterverband Katanja Schwander rechtigten über das «Massnahmenpaket zugunsten Deutschschweiz katanja.schwander@mieterverband.ch Bäckerstrasse 52, 8004 Zürich T 043 243 40 40 der Medien» ab, das eine Aufstockung der indirekten T 043 243 40 40 Presseförderung beinhaltet. Ich freue mich, wenn info@mieterverband.ch Sie zu dieser Vorlage Ja stimmen und damit aner- www.mieterverband.ch Mitarbeit kennen, dass die Verbandspresse wichtig ist für die Walter Angst, Esther Banz, Ernst Feurer, öffentliche Meinungsbildung in der Schweiz. Urs Geiser, Fabian Gloor, Natalie Imboden, Beat Leuthardt, Patric Sandri, Reto Schlatter, Carlo Sommaruga Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre und einen Gestaltungskonzept erholsamen Jahreswechsel. Bleiben Sie gesund! Hubertus Design GmbH, Zürich www.facebook.com/Mieterverband Andrea Bauer Layout Atelier Bläuer, Joel Kaiser, Bern Titelbild Patric Sandri Gedruckt in der Schweiz Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 2
Aktuell Text von Andrea Bauer Sie liessen sich nicht «verseggle» Foto: zVg Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 3
Als erster Kanton in der Die Liegenschaft leerkündigen, ein wenig sanieren und die Wohnungen dann viel teurer vermieten? – Khasch Deutschschweiz schiebt vergässe. Der Traum von der Renditesanierung gehört in Basel-Stadt Rendite Basel-Stadt schon bald der Vergangenheit an. Denn am 28. November haben die Stimmberechtigten mit über sanierungen einen Riegel. 53 Prozent die vom Mieterinnen- und Mieterverband Die Annahme der Wohn- Basel-Stadt lancierte Initiative «Ja zum echten Wohn- schutzinitiative ist ein schutz!» angenommen. 80 Prozent der Basler Wohnun- gen sind damit künftig vor Renditesanierungen ge- Signal für die ganze schützt. Konkret dürfen die Mietzinse nach Sanierungen Schweiz. oder Umbauten nur noch moderat erhöht werden – eine 4-Zimmer-Wohnung etwa darf nicht mehr als 160 Fran- ken teurer werden. Ausserdem gilt eine Bewilligungs- pflicht. Alte Liegenschaften dürfen nur noch in Aus nahmefällen abgerissen und ersetzt werden. Steiniger Weg Basel ist der erste Kanton in der Deutschschweiz, der Bestimmungen einführt, um Renditesanierungen zu verunmöglichen. Ähnliche Regelungen gab es in den letzten Jahrzehnten nur in den Kantonen Genf und Waadt. Der Weg zu einem «echten Wohnschutz» für Basel war allerdings steinig. Dabei hatte eigentlich alles so gut begonnen: Am 10. Juni 2018 nahmen die Stimm- berechtigten gleich vier Miet-Initiativen an der Urne an. Darunter mit 61 Prozent Ja-Stimmen die Wohnschutz initiative, die eine Verankerung des Wohnschutzes in die Verfassung schrieb. Nach der ersten Euphorie wurde schon bald klar, dass die Umsetzung der Initiative hart erkämpft werden musste. Hauptsächlicher Streit- punkt war die Definition von «bezahlbarem Wohnraum»: Wie viele Wohnungen sollten unter dieses Label fallen und damit vor Renditesanierungen geschützt werden? Die Regierung arbeitete ein Gesetz aus, das nicht einmal einen Drittel aller Wohnungen einschliessen wollte. Der MV ergriff das Referendum dagegen und lancierte gleichzeitig eine Initiative, mit der vier Fünftel der Wohnungen geschützt sind: die «Initiative für echten Wohnschutz». Den Stimmberechtigten riet er im Abstimmungskampf, sich von der Regierung nicht «verseggle» zu lassen – mit Erfolg, wie wir mittler- weile wissen. Basel setzt mit seinem Wohnschutzgesetz neue Massstäbe beim Schutz der Mietenden und dient als Vorbild für den Rest der Schweiz. Der Mieterinnen- und Mieterverband eruiert gemeinsam mit den Kantonal sektionen, wie in weiteren Kantonen und Städten ähnli- che Mietpreiskontrollen verankert werden können. Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 4
Umfrage Text von Andrea Bauer So geht es den Mietenden Wie schwierig war es bei Ihrer letzten Wohnungs- suche, ein geeignetes und be- zahlbares Objekt zu finden? Haben Sie Probleme mit Ihrer Vermieterschaft (und wenn ja, welche)? Haben Sie bei der letzten Senkung des Referenz- zinssatzes eine Mietreduktion erhalten? Worauf soll der Miete- rinnen- und Mieterverband seine Arbeit künftig fokussieren? Diese und weitere Fragen stellte die Forschungsstelle Sotomo im Herbst unseren Mitgliedern. Rund 18 000 Personen aus allen Landesteilen der Schweiz haben geantwortet, entstanden ist die erste grosse Mieter*innen- Umfrage der Schweiz. M+W hat die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst. Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 5
Schwierige Wohnungssuche der Hausordnung, Nachbarschaftskonflikten oder mit Sanie- rungen. Die Schweiz ist mit einem Anteil von rund 60 Prozent ein Land Am meisten belastet die Mietenden jedoch die Angst vor der Mietenden. Das macht die Wohnungssuche aber nicht ein- einer Kündigung. Danach gefragt, ob sie innerhalb der nächsten facher. Für rund drei Viertel der Befragten gestaltete sich die zwei Jahre eine Kündigung befürchten, antworteten 17 Prozent letzte Suche nach einer bezahlbaren und geeigneten Wohnung der Befragten mit Ja. Hauptgrund für die Befürchtungen sind schwierig (siehe Abbildung links). Sanierungen (41 Prozent). Besonders schwierig war die Suche nach einem neuen Zuhause in den grossen Städten. Aber auch unter den Befrag- Beziehung zur Vermieterschaft ten, die auf dem Land wohnen, gaben noch fast zwei Drittel Für über vier Fünftel der Befragten ist eine gute Beziehung an, die letzte Wohnungssuche habe sich «eher schwierig» oder zur Vermieterschaft wichtig. Knapp die Hälfte bezeichnete «sehr schwierig» gestaltet. diesen Aspekt sogar als sehr wichtig. Je älter eine Person Grössere Mühe als andere, eine passende Wohnung zu ist, desto wichtiger ist ihr ein gutes Verhältnis zu ihrer Ver- finden, hatten Familien mit minderjährigen Kindern sowie mieterschaft: So bezeichneten 55 % der über 65-Jährigen dies Personen, bei denen die Miete mehr als einen Drittel des als sehr wichtig, während es bei den 18- bis 35-Jährigen mit Budgets ausmacht. 34 Prozent deutlich weniger sind. Mehr zu dieser Zahl im Kommentar von Carlo Sommaruga (rechts). Ungelöste Probleme Auf die Frage, ob sie Probleme mit der Vermieterschaft hatten Erfolg bei Anfechtungen oder haben, antworteten 71 Prozent mit Ja. Die Top Five der Probleme sind: Reparaturen/Unterhalt, Anspruch auf Mietzins- Wenn der Referenzzinssatz sinkt – und das tut er seit 2008 senkung, Beanstandung von Mängeln (z. B. Schimmel), Haus- unablässig –, haben die Mietenden einen Anspruch auf eine ordnung/Probleme mit der Nachbarschaft und Nebenkosten Reduktion ihres Mietzinses. Die meisten Vermieter*innen (-abrechnung). Ein grosser Teil der Probleme waren zum Zeit- senken den Mietzins allerdings nicht unaufgefordert, wie die punkt der Befragung ungelöst. Zahlen dazu zeigen. Es zeigt sich, dass nicht alle diese Probleme von den Lediglich 6 Prozent der Befragten gaben nämlich an, Befragten als gleichermassen belastend angesehen werden. ihre Vermieterschaft habe die letzte Senkung des Referenz- Überdurchschnittlich oft genannt und gleichzeitig als zinses im März 2020 von sich aus weitergegeben. 39 Prozent überdurchschnittlich belastend angesehen wurden Probleme der Befragten forderten die Mietzinsreduktion ein, 42 Prozent in Zusammenhang mit der Beanstandung von Mängeln, nicht (siehe Abbildung rechts). Schwierigkeiten bei Wohnungssuche Senkung Referenzzinssatz «Wie schwierig war es bei Ihrer letzten Wohnungssuche, ein «Wie haben Sie auf die letzte Senkung des Referenzzinssatzes bezahlbares Mietobjekt zu finden?» (vom März 2020) reagiert?» Gesamt Anderes 34 38 21 7 Weiss es nicht mehr 10 Nach Haushaltszusammensetzung Einpersonenhaushalt 33 37 22 8 39 Reaktion Paarhaushalt 25 38 27 10 Familienhaushalt mit Minderjährigen 43 38 14 4 Familienhaushalt ohne Minderjährige 36 38 20 6 Keine 42 Reaktion 6 Nach Stadt/Land Automatische Weitergabe Grosse Stadt 39 36 18 6 durch Vermieterschaft Kleine Stadt 31 38 23 8 Agglomeration 31 39 22 8 Senkung bei Vermieterschaft eingefordert und bekommen 57 Land 26 38 26 10 Senkung bei Vermieterschaft eingefordert und nicht bekommen 17 Sehr schwierig Nach Anteil Mietzins am Einkommen Senkung bei Schlichtungsstelle 6 eingefordert und bekommen Eher schwierig < 20% 23 38 27 11 Senkung bei Schlichtungsstelle Eher nicht schwierig 20–30% 31 39 23 7 eingefordert und nicht bekommen Überhaupt nicht > 30% 43 36 15 6 Andere Reaktion 20 schwierig 0% 25% 50% 75% 100% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 6
Kommentar Dabei lohnt sich die Einforderung der Mietzinsreduktion, wie die Zahlen zeigen: Von den 39 Prozent der Befragten, die angaben, die Senkung eingefordert zu haben, waren 63 Prozent Unser Auftrag erfolgreich. Interessant ist die Begründung derjenigen Befragten, welche ist klar die Senkung nicht einforderten: Rund die Hälfte gab an, die Beziehung zur Vermieterschaft nicht belasten zu wollen. Gut ein Fünftel antwortete, nicht über den Anspruch Bescheid gewusst zu haben. Eine noch grössere Erfolgsquote als beim Referenzzinssatz zeigt sich beim Anfangsmietzins: Von denjenigen, die einen zu hohen Anfangsmietzins anfochten, waren mehr als drei Viertel zumindest teilweise erfolgreich. Ich freue mich sehr darüber, dass wir hier die Resultate unserer grossen Umfrage Das wünschen sich die Mietenden präsentieren können. Dank ihr haben wir nun zum ersten Mal einen Überblick Mit Blick auf die künftige politische Arbeit des Mieterinnen- darüber, welches die Probleme der Mie- und Mieterverbands wurden die Teilnehmenden gefragt, für tenden in der Schweiz sind. Zusammen- welche Anliegen sich der Verband vorrangig einsetzen solle. gefasst zeigen die Resultate vor allem Am meisten Zuspruch erhielt mit 90 Prozent der Vorschlag eins: wie stark die Abhängigkeit der Mie- einer automatischen Weitergabe der Mietzinssenkung bei einer tenden von der Vermieterschaft hierzu- Senkung des Referenzzinssatzes. Dies deckt sich mit den An- lande ist. Wenn vier von fünf Befragten gaben zum Referenzzinssatz, wonach nur ganz wenige Vermie- angeben, ein gutes Verhältnis zu ihrer ter*innen bei einer Senkung den Mietzins von sich aus gegen Vermieterschaft sei ihnen wichtig, dann unten anpassen. Mit 80 oder mehr Prozent ebenfalls grossen heisst dies, dass sie sich bewusst sind, Zuspruch erhielten die Förderung von preisgünstigem Wohn- im Mietverhältnis am kürzeren Hebel zu raum, die Einschränkung von Spekulation und ein besserer sitzen. Noch deutlicher zeigt sich das Kündigungsschutz (z. B. bei Renovationen oder Sanierungen). Machtgefälle an anderer Stelle: Nur Generell wünschen sich die Befragten rechtliche Verbesse- wenige Befragte gaben nämlich an, nach rungen, durch die die Pflicht wegfallen würde, selber aktiv zu einer Senkung des Referenzzinssatzes werden und damit potenziell das Verhältnis zur Vermieterschaft oder bei einem zu hohen Anfangsmiet- zu gefährden. Dazu gehören die bereits genannte automatische zins eine Mietzinsreduktion eingefordert Weitergabe der Mietzinssenkung, die Offenlegung des Miet- zu haben. Obschon sie das Recht dazu zinses der Vormieterschaft oder eine Kontrolle der Rendite der hätten – und die Erfolgsaussichten gut Vermieterschaft. sind, wie unsere Umfrage zeigt. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass die Befragten offensichtlich wissen, wie ihre Situation verbessert werden kann. So wünscht sich eine riesige Mehrheit eine Die Umfrage in Kürze automatische Weitergabe geschuldeter • Rund drei Viertel der Befragten hatten bei der Mietzinssenkungen oder eine Kontrolle Wohnungssuche Probleme, eine bezahlbare oder der Renditen. Beide Instrumente würden geeignete Wohnung zu finden. die Mietenden davon befreien, bei Miss- • Über 70 Prozent der Mieter*innen hatten oder ständen selber aktiv werden zu müssen haben Probleme im Mietverhältnis. und so das gute Verhältnis mit der Ver- • Für Mieter*innen hat ein gutes Verhältnis zur mieterschaft aufs Spiel zu setzen. Vermieterschaft einen hohen Stellenwert. Für uns als Verband ist dieser Wunsch • Die Sorge um die Wohnsicherheit zeigt sich der Mietenden ein Auftrag. Denn wir be- deutlich in der Angst vor einer Kündigung, die gnügen uns nicht damit, uns ein Bild ihrer als sehr belastend wahrgenommen wird. Situation zu machen. Wir wollen ihre Be- • Mieter*innen wehren sich oft nicht, auch wenn dingungen verbessern. Dafür sind wir da! sie rechtlich die Möglichkeit dazu hätten. • Vermieter*innen reagieren selten «von selbst» Carlo Sommaruga, im Sinne der Mieterschaft. Präsident MV Schweiz • Mieter*innen wünschen sich mehr Kontrollen und Automatismen. Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 7
Zürich Text von Esther Banz Über 400 Wohnungen sollen im Bergacker in Zürich-Affoltern abgerissen und ersetzt werden. Eigentümerinnen sind die gemeinnützige AG Habitat 8000 und die Swiss Life. Die Stadt fordert soziale Massnahmen. Aber reicht das? Wird alles gut? Die Siedlung Bergacker in Zürich-Affoltern (vorne im Bild) gehört je etwa zur Hälfte der gemeinnützigen AG Habitat 8000 und der Swiss Life. Foto: Reto Schlatter Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 8
Wie Legosteine stehen sie am Hang: Stadt mit 100 000 Bewohner*innen mehr Der Haken: Es wird abgerissen 17 Mehrfamilienhäuser der gemeinnüt- als heute – 520 000 würden es dann Es gibt aber einen Haken: Lange bevor zigen AG Habitat 8000 und 15 Mehr schätzungsweise sein. Der jetzt angenom- die Stadt Zürich in die Planung involviert familienhäuser des landesweit grössten mene Siedlungs-Richtplan macht den worden war, hatten Swiss Life und Ha- Immobilienkonzerns Swiss Life, mit ins- Weg frei für eine grossflächige Erneue- bitat 8000 bereits entschieden, die ganze gesamt über 400 Wohnungen. Dazwi- rung der Bausubstanz, insbesondere in Siedlung mit ihren 32 Mehrfamilien schen viel Rasengrün und wenige Bäume. den Gebieten Altstetten und Zürich- häusern abzureissen. Und dies – trotz Einen zeitgemässen Spielplatz gönnen Nord – zu Letzterem gehört Affoltern. Etappierung – in einem kurzen Zeitraum die Eigentümer den Familien hier nicht – Beide Gebiete sind ausgerechnet auch von nur fünf Jahren. Eine kontinuierliche das einzige Spielgerät für kleine Kinder solche, in denen besonders viele beson- Erneuerung mit Erhalt eines Teils der ist eine Schaukel, die aus der Anfangszeit ders verletzliche Menschen leben, in Bestandesbauten über einen viel längeren der Siedlung zu stammen scheint, den kleinen, aber heute noch günstigen Woh- Zeitraum hinweg, wie es die Baugenos- 1950er-Jahren. Erstaunlich, denn seit ein nungen, die in den 1950er- und 1960er- senschaften machen, war nie ein Thema. paar Jahren steigt die Zahl der Kinder, Jahren gebaut worden sind. Wer nach dem Grund fragte, habe sehr die in der Siedlung wohnen. Dass nicht allgemein gehaltene Antworten erhalten, in die Infrastruktur investiert wird, hat Wendepunkt in der Stadtentwicklung? sagt Walter Angst, der auch AL-Gemein- aber einen Grund: Der Bergacker, ein Für den Bergacker gab es eine soge- derat ist: «Die knappen Grundrisse der 4,5 Hektaren grosses Areal, soll abgerissen nannte Testplanung, an der die Stadt mit Wohnungen seien nicht mehr zeitgemäss und durch neue Häuser ersetzt werden. dem Amt für Städtebau – es untersteht und die Häuser böten nur wenig Abstell- Wer konnte, zog bereits weg. Wer nichts dem Hochbauvorsteher André Odermatt plätze für Autos und Velos. Und auch auf findet, bleibt und wartet. Zu ihnen (SP) – beteiligt war. Das Amt hatte seine Nachfrage gab es nur vage Ergänzungen: stossen Menschen, die froh sind, über- Mitwirkung an die Bedingung geknüpft, Man habe unterschiedliche Varianten haupt irgendwo wohnen zu können, dass Swiss Life und Habitat 8000 bei geprüft. Oder: Die Investitionen in den wenigstens für ein paar Jahre – bevor der Planung auch soziale Aspekte berück- Bestand hätten zu entsprechenden An- sie wieder gehen müssen. Viele mit Kin- sichtigen. Larissa Plüss, Projektleiterin für passungen der Mietzinse geführt, ohne dern. Von diesen Veränderungen über sozialverträgliche Innenentwicklung im einen substanziellen Mehrwert für die die letzten paar Jahre erzählte uns ein der Stadtpräsidentin Corine Mauch unter- Mieter*innen zu schaffen – und so Mann, der im Quartier lebt und schon stellten Stadtentwicklungs-Amt, erklärte weiter. Zahlen, Fakten, CO2-Bilanzen? bei vielen Umzügen mitgeholfen hat. den Testplanern am 9. Mai 2019, was die Nichts davon ist öffentlich zugänglich.» Stadt von ihnen erwartet: Habitat 8000 Er vermutet dahinter auch zeitliche Heikles Projekt und Swiss Life sollten bei der Bergacker- Gründe: «Die von den Grundeigentü- Es wird früh dunkel in diesen Tagen. Siedlung erstens den Bau klar etappieren, mern im Alleingang durchgeführte Mach- Ein bisschen weiter unten an der Strasse zweitens einen substanziellen Anteil an barkeitsstudie, die der Testplanung vor- putzt eine Frau noch rasch das Küchen- preisgünstigen Wohnungen vorsehen und ausging, wurde 2016 abgeschlossen – zu fenster. Sie bittet die Fremden herein – drittens die neuen Wohnungsgrössen einem Zeitpunkt also, als in Zürich noch in ihre Wohnung, die sie zusammen mit und den neuen Wohnungsmix an der heu- niemand über die CO2-Bilanz eines Ab- den beiden Kindern bewohnt, sie ist tigen Situation ausrichten. Ausserdem bruchs sprach.» alleinerziehend. Die Küche ist alt, es sei brauche es einen angemessenen Anteil Im September dieses Jahres reichte halt nie etwas gemacht worden. Wie wir altersgerechter Wohnungen. Die Kommu- Gemeinderat Andreas Kirstein (ebenfalls wieder auf die Strasse treten, nähert sich nikation zum ganzen Projekt solle früh- AL) eine dringliche Interpellation zum ein Auto, hinter dem Steuerrad ein älterer zeitig erfolgen und es müssten Partizipati- Bergacker ein – um der Öffentlichkeit Herr. Nachdem er eigenhändig die Gara- onsmöglichkeiten für die Siedlung und endlich Einblick zu verschaffen in wich- gentüre hochgezogen, das Auto versorgt das Quartier geschaffen werden. Zu guter tige Fragen dieses Giga-Bauprojekts mit und die Garagentür wieder herunterge- Letzt solle eine individuelle Betreuung den nahezu tausend betroffenen Mie- zogen hat, erzählt er: «Ich wohne seit 1956 bei der Wohnungssuche mittels Mie ter*innen. Die Antworten der Stadtregie- hier. Jetzt bin ich über 90 Jahre alt. Wenn ter*innen-Büro gewährleistet sein. rung sollten Licht ins Dunkel bringen. wir hier raus müssen, bin ich wohl 95.» Das klingt vielversprechend. Walter Aber die Stadtregierung beantwortete Aber dazu will er sich jetzt noch keine Angst vom Mieterinnen- und Mieterver- nur, was ihr für das riesige Bauprojekt als Gedanken machen. Der Mann hat ein Be- band Zürich spricht sogar von einem «zielführend» erschien. Unbeantwortet rufsleben lang für die Stadt gearbeitet. Wendepunkt der Zürcher Stadtentwick- blieben im Parlament weitgehend und Die Erneuerung des Bergackers ist ein lung, «falls die Empfehlungen in klare ausgerechnet die Fragen nach den Mass- heikles Projekt. Mit ihm muss die Stadt- Vorgaben für die weitere Entwicklung nahmen, die sicherstellen sollen, dass die regierung nach der Abstimmung über den des Areals münden». Menschen nicht aus ihrer Siedlung und Richtplan beweisen, dass sie ihr Verspre- Tatsächlich stimmt nun auch das, was ihren sozialen Strukturen vertrieben chen einlöst, die Verdichtung nach innen die beiden Eigentümerinnen der Woh- werden. Das Amt für Städtebau und die sozialverträglich zu gestalten. Die Innen- nungen zum Projekt kommunizieren, Grundeigentümer stünden zurzeit in verdichtung soll jetzt zügig voran- optimistisch – sie wollen sich an den Vor- einer Dialogphase über das weitere Vor- schreiten, denn bis 2040 rechnet die stelllungen der Stadt orientieren. gehen. Aufgrund des konstruktiven Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 9
Dialogs könne «zu gewissen Verfahrens- Umfrage. Sie werde erste Anhaltspunkte Seiten.» Im Folgenden erläuterten die fragen keine Antwort gegeben werden». liefern und eine Handhabe für die indi Verantwortlichen von Swiss Life und So bleibt für die Mieter*innen und das viduelle Beratung und Unterstützung Habitat 8000, was geplant ist. Hörbare Quartier weiterhin völlig unklar, was die bieten. Und dann noch dieser Satz: Erleichterung unter den Zuhörenden, als Stadt zum Umgang der Grundeigentümer «Es wäre gegenüber den Mieter*innen schon früh am Abend gesagt wird, der mit den bisherigen Mietenden verein- eher bevormundend, heute eine Quote zu Rückbau verzögere sich um zwei Jahre baren kann. definieren, wie viele in der erneuerten und beginne erst 2026. Für Zuversicht Siedlung bleiben sollen.» sorgte auch die Ankündigung, dass der Können die Menschen bleiben? Die Perspektive bietende Zusiche- Bau in mehreren Etappen erfolgen werde. Man ist geneigt zu denken: Alles wird rung, bleiben zu können, soll bevormun- Und eine weitere erst mal richtig gut klin- gut, immerhin beziehen sich Habitat dend sein? Eine interessante Interpreta- gende Nachricht: Der Quadratmeterpreis 8000 und Swiss Life ja auf die Sozialver- tion. Nach dieser Antwort ist klar: Die der Habitat-8000-Wohnungen solle träglichkeits-Ziele der Stadt (wie sie Stadt muss Verbindlichkeit einfordern, gleich bleiben, vielleicht sogar günstiger ebenfalls im Richtplan stehen), indem sie wenn sie es ernst meint mit ihrer Forde- werden. Habitat-8000-Geschäftsführer beispielsweise versprechen, für eine «gute rung, dass die anstehenden flächende- Philipp Blum: «Wir schaffen mehr güns- Durchmischung» zu sorgen. Die Gemein- ckenden Erneuerungsprozesse im Berg- tigen Wohnraum.» Die Zuhörenden nützige von beiden – Habitat 8000 – acker sozialverträglich vonstatten gehen schienen zufrieden, es wurde geklatscht. werde zu diesem Zweck auch jene Mie- werden. Denn in den nächsten Jahren ter*innen von Swiss Life übernehmen, werden viele weitere Quartiere mit Wenig Zuversicht bei den Mietenden die sich den Mietzins in den künftig am Bewohner*innen wie im Bergacker um- Beim anschliessenden Apéro war die Markt ausgerichteten Swiss-Life-Woh- gestaltet. Dieser Prozess muss nicht Stimmung trotz grosszügigen Angebotes nungen nicht werden leisten können (was zwingend zu einem Austausch der Bevöl- an Alkohol und Delikatessen etwas ge- auf die meisten zutreffen dürfte). Zuver- kerung führen – aber genau das wird dämpfter. Ein Paar, das in einer Habitat- sichtlich stimmten Walter Angst die passieren, wenn die Stadt bei geplanten Wohnung lebt, sagte: «Wir sind froh, dass im Sommer geführten Gespräche mit den Wohnbau-Erneuerungen von Privaten wir noch etwas mehr Zeit haben. Die zu- Grundeigentümern. Wie es nun weiter- weiterhin einfach auf ihren Leitfaden ver- künftige Wohnung darf ein klein wenig geht, bleibt aber völlig unklar. 2022 soll weist, der sensibilisieren soll, in dem mehr kosten, aber mehr als 1500 können das Programm für den Architektur aber noch nicht einmal ein einziger Satz wir uns nicht leisten.» Ein 62-Jähriger wettbewerb definiert werden. Dann zu den Wohn-Grundrechten steht, die meinte, er sei schon seit eineinhalb Jahren werden die Weichen gestellt. Offen ist vor Mieter*innen im Fall von Erneuerungen bei der Stiftung Alterswohnungen ange- allem, ob die neuen Wohnungen zu haben. Und schon gar nicht zielführend meldet. Er mache sich keine Sorgen, denn Bruttomieten angeboten werden, die sich ist es, wenn die Stadt einfach den guten, bis abgerissen werde, sei er ohnehin an den heutigen Mietzinsen orientieren. aber unverbindlichen Absichten von schon längstens weg. Eine Frau, die mit Walter Angst: «Die Grundeigentümer Bauherren vertraut, wie es in der Antwort ihrem Mann seit den 1970er-Jahren im müssten jetzt ein Bekenntnis dazu ab- des Stadtrates an die Adresse des Inter- Bergacker in einer Wohnung von Swiss geben, dass die Menschen, die heute dort pellanten den Anschein macht. Dort Life wohnt, gab zu Protokoll: «Ich sehe leben und zumindest hinsichtlich Alter steht, dass die konkrete Ausgestaltung für uns keine grosse Zukunft hier. Wir und Sprachen bereits für eine grosse eines sozialverträglichen Erneuerungs- ziehen weg.» Und dann waren da noch Vielfalt im Quartier sorgen, bleiben prozesses mit entsprechenden Mass- Herr und Frau Moser, die seit 66 Jahren können. Sonst haben wir es hier mit Ab- nahmen «gemäss Auskunft der Grund im Bergacker wohnen. Er erzählte: «1955 sichtserklärungen ohne jede Verbindlich- eigentümerinnen» Thema sei an der mussten wir bei der Rentenanstalt (heute keit zu tun – mit Versprechen, die im Informationsveranstaltung für die Mie- Swiss Life – Anm. d. Red.) eine Lebens- weiteren Prozess per äxgüsi auch unter ter*innen des Bergackers. versicherung abschliessen, sonst hätten den Tisch fallen können.» wir die Wohnung gar nicht erhalten.» Sie Rückbau beginnt erst 2026 seien jetzt bei den Alterswohnungen an- Stadt muss Verbindlichkeit einfordern Diese Informationsveranstaltung, zu gemeldet, «aber die haben schon 4000 Diese Frage an die Grundeigentümer der Habitat 8000 und Swiss Life einge- Anmeldungen». Auch bei vier Genossen- ist also dringlich: Welchen Anteil, in Pro- laden haben, fand am 22. November in schaften habe er sich und seine Frau an- zenten ausgedrückt, sollen in der erneu- der Kirche Glaubten in Zürich-Affoltern gemeldet, «aber sie sagen alle, sie hätten erten Siedlung Bergacker jene Menschen statt. Von den insgesamt rund 900 be- nichts». Um einen Bistrotisch herum haben, die schon jetzt dort leben? Die troffenen Mieter*innen im Bergacker stehen fünf Familienväter. Ihre Kinder Frage geht an Mike Weibel, Sprecher für kamen etwa 150. Das Jüngste ein Klein- gehen zusammen in die Krippe respektive das Projekt. Er antwortet: «Die Eigen kind, die ältesten ein Paar, beide über in den Kindergarten. Zwei haben eine tümerinnen können heute keine Prog- 90 Jahre alt. Begrüsst wurden die Anwe- Wohnung bei Habitat, drei bei Swiss Life. nose machen, wie viele der Bestandes- senden von Mike Weibel. Er eröffnete den Werden sie bleiben, wenn sie können? Mieter*innen den Wunsch äussern, in Abend mit einem Plädoyer, sich Verände- Die Männer schauen skeptisch. Einer eine der neuen Wohnungen auf dem rungen gegenüber offen zu zeigen, denn: sagt: «Ich möchte gerne. Aber wir wissen Bergacker zu ziehen.» Geplant sei eine «Veränderungen haben auch positive ja nicht, wie teuer die Wohnungen sein Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 10
werden. Ein tiefer Quadratmeterpreis Wissen abschöpfen, das dem Planungs- Besonders vulnerable Bewohner*innen tönt gut, aber jetzt sind unsere Woh- prozess dienlich sein soll, ohne ihnen eine Die tiefgreifenden Veränderungen nungen klein. Was, wenn die neuen Perspektive zu bieten, bleiben zu können? im Verdichtungsgebiet Zürich-Affoltern grösser sind?» Nicht eine der im Nach- Mike Weibel: « Es wäre zu diesem Zeit- sind längst im Gang, Wohnen sei dort gang der Veranstaltung befragten Per- punkt unredlich, die Erfüllung aller Wün- bereits in den letzten Jahren teurer ge- sonen äusserte sich zuversichtlich zu sche der Mieter*innen in Aussicht zu worden, berichtet die Präsidentin des einer Zukunft im Quartier. stellen.» Aller Wünsche? Es ginge um eine Quartiervereins, Pia Meier, im An- grundsätzliche Zusicherung, nicht mehr schluss an die Informationsveranstal- Quartier-Wissen abschöpfen und nicht weniger. Für den Mieterinnen- tung – nicht zuletzt auch wegen der Mit der Umfrage, die Habitat 8000 und Mieterverband Zürich ist dieses neuen Genossenschaftswohnungen, die und Swiss Life 2022 unter den jetzigen Bekenntnis zentral. Walter Angst: «Echter nicht per se günstig sind. Zum Berg- Mieter*innen durchführen werden, wolle Einbezug beinhaltet zwingend, diese acker sagt sie: «Wir haben die Dimen- man die Bedürfnisse erheben, geben die Perspektive zu geben: Dass die Menschen sion des Projekts etwas unterschätzt. beiden Unternehmen an – Ziel sei es, bei dort, wo sie wohnen, eine Zukunft haben. Erst vor einigen Monaten realisierten der Wohnungssuche Unterstützung zu Unabhängig davon, ob sie in der Siedlung wir, wie viele Menschen betroffen sind bieten. Gleichzeitig möchten die Eigentü- schon lange verwurzelt sind oder dort – und dass einige von ihnen nicht in merinnen auch herausfinden, «wie sich endlich einen Ort gefunden haben, wo einer privilegierten Situation sind.» Das die heutigen Bewohner*innen den Berg- sie – und, falls sie Familie haben, auch weiss – schon etwas länger – auch die acker in Zukunft vorstellen. Da sie teil- ihre Kinder – ein soziales Netz, ein Stadt: Die Bewohner*innen des Berg- weise lange da gewohnt haben, sind sie Zuhause aufbauen können. Dieses Be- ackers gehören hinsichtlich sozioöko- Expert*innen für den Nahraum und das kenntnis ist ganz einfach die Basis, auf nomischer und demographischer Krite- Quartier und können wertvolle Inputs der man die Menschen, die man mit rien zu den «besonders vulnerablen»: für das Wettbewerbsprogramm geben», tiefgreifenden, unfreiwilligen Verän viele Ältere, viele Kinder, viele Spra- schreibt Sprecher Mike Weibel auf derungen konfrontiert, in die Planung chen, wenig Einkommen. Was diese Anfrage. Das macht Sinn. Aber ist das ihr und die Gestaltung der Zukunft mit Menschen brauchen, ist die Sicherheit, Ernst: Von den Mieter*innen Quartier- einbezieht.» hier bleiben zu können. Das einzige Spielgerät für kleine Kinder: eine Schaukel, wohl aus der Anfangszeit der Siedlung. Foto: Reto Schlatter Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 11
Stadtforschung Interview von Esther Banz und Andrea Bauer «Wohnen ist nicht privat» Immer mehr Wohnungen sind im Besitz von renditeorientierten Unternehmen. Es wird en masse abgerissen, neu gebaut, luxussaniert. Die Mietpreise steigen. Was bedeutet das für die Städte? Wie wehren sie sich? Ein Gespräch mit Philippe Koch, Professor für urbane Prozesse an der ZHAW. Philippe Koch ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Stadt- und Agglomerationspoli- tik. Seit fünf Jahren lehrt und forscht er an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen- schaften (ZHAW) im Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen. Als Sozial- wissenschaftler interessieren ihn die politi- schen und sozialen Ursachen und Wirkungen räumlicher Transformationen und wie diese sichtbar oder unsichtbar gemacht werden. Aktuell untersucht er gemeinsam mit For- schenden des ETH Wohnforums die Rolle der Genossenschaften in der Schweiz und in Uruguay beim Bereitstellen von gemeinnützi- gem, bezahlbarem Wohnraum. Gemeinsam mit Hanna Hilbrandt, Lindsay Blair Howe und David Kaufmann hat er «urban publics Zurich» (upZ) gegründet, um den Austausch zwischen Stadtforschung und der Praxis der Stadt produktion zu fördern. Foto: Reto Schlatter Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 12
M+W: Kürzlich diskutierten Sie an einem Eine Wohnungs-Garantie? Welchen Stellenwert hat das Wohnen Podiumsgespräch in Zürich mit einer Nein, ich meine nicht ein lebenslanges eigentlich in der Stadtforschung? Aktivistin aus Berlin darüber, wie dort – Recht, in einer bestimmten Wohnung zu Einen zentralen. Man kann auch gerade eben – eine Initiative angenommen bleiben. Aber eine Garantie, im vertrauten sagen: Ein Ursprung der Stadtforschung wurde, die renditeorientierte Immobilien- Umfeld, im Quartier bleiben zu können, war die Beschäftigung mit dem Wohnen konzerne enteignen will. Hätte eine solche so etwas müsste etabliert werden können. als ökonomischem, kulturellem, aber Initiative auch hierzulande eine Chance? Denn die sozialen Netzwerke sind auch politischem Phänomen. Friedrich Philippe Koch: Nein. Die Voraus wichtig fürs Quartier, da wird viel Wissen Engels’ Texte über die Wohnsituation der setzungen sind ganz andere. In Berlin weitergegeben und soziales Kapital auf- Arbeiter im Norden von England sind verkaufte die hoch verschuldete Stadt gebaut. Dazu gibt es etliche Studien. hier zentral. Engels war der Erste, der das ausgerechnet ihre eigenen Sozialwoh- Wohnen auch unter dem Aspekt der Aus- nungsbauten, um an Geld zu kommen. Was bedeuten diese nachbarschaftlichen beutung anschaute. Später war das lange So etwas hat es hierzulande nie gegeben. Verbindungen zwischen Menschen? Zeit kein Thema mehr. In der Nachkriegs- In Zürich etwa gibt es eine starke Vor Man fühlt sich zugehörig, ohne dass zeit gab es Wohnraum für mehr oder stellung, dass der Staat zusammen mit man sich zwingend als gleich wahrnimmt. weniger alle. Genossenschaften das Wohnproblem Es geht nicht um Identität und Homo lösen kann – und gemeinnützige Wohn- genität, sondern um Vertrautheit, die Und die Stadtforschung zum Wohnen baugenossenschaften mit ihrer teils über über alltägliche Begegnungen zwischen wurde folglich weniger dringlich. Wann hundertjährigen Geschichte garantieren Fremden geschaffen wird – so können so- änderte sich das wieder? bis heute Wohnsicherheit auch an zent- genannte «Communities of Strangers» Eine ganz neue Bedeutung für die ralen Lagen. Der Genossenschaftsanteil entstehen. Das ist meiner Meinung nach Stadtforschung erhielt das Thema ist allerdings nur in Zürich so hoch. das Ideal einer städtischen Gesellschaft: Wohnen nach der Finanzkrise 2008. Da eine grosse Vielfalt an Menschen, die sich zeigte sich – in England und vor allem Wo sehen Sie heute die Brennpunkte im gegenseitig respektieren, ohne dass sie auch in den USA – wieder in aller Deut- Zusammenhang mit dem Wohnen, räum- sich vergemeinschaften müssen. Das ist lichkeit, dass angemessenes oder men- lich-geografisch und sozialpolitisch? das eine, das extrem wichtig ist. schenwürdiges Wohnen keine Selbstver- Ganz klar: Je länger, je mehr an den ständlichkeit ist und vom Markt allein Rändern der Stadt, in räumlichen Ge- Und das andere? nicht bereitgestellt werden kann. Und es bieten, von denen man wenig weiss, im Dass diese Leute, die unfreiwillig die zeigte sich sogar auch, dass die Politik «Nowhereland». Dort leben die Leute, die Stadt verlassen, nicht «nur» ihre Woh- und die Entscheidungsträger durchaus am meisten unter den räumlichen Verän- nung verlieren, sondern auch ganz vieles, bereit sind zu akzeptieren und zu tole- derungen leiden. Es sind jene, die kein das die Stadt gewährleistet. Subventio- rieren, dass massenweise Leute ihre Woh- Stimm- und Wahlrecht haben und die nierte ausserschulische Kinderbetreuung nungen respektive Häuser verlassen und Sprache nicht beherrschen. Für die politi- etwa. Oder Gemeinschaftszentren, auf der Strasse leben müssen. Dass in schen Parteien sind sie elektoral uninter- Schwimmbäder – all diese Angebote, die einem kapitalistisch-demokratischen essant, weil sie nicht wählen können. in der Stadt selbstverständlich sind, gibt Staat Leute in Zelte flüchten müssen, es in Agglomerationsgemeinden deutlich hatte man zuvor lange Zeit nicht mehr Die Siedlung Bergacker in Zürich ist weniger. Man muss sich überlegen, gesehen. Kam dazu, dass Investoren so ein Beispiel am Rand der Stadt. Über was das für all die Kinder bedeutet, die unzählige dieser Häuser aufkauften und 400 bezahlbare Wohnungen wollen die ohnehin nicht die gleichen Vorausset- sie seither selber vermieten. Als Folge Eigentümer Swiss Life und Habitat 8000 zungen haben, rein vom ökonomischen dieser Entwicklungen entstand eine neue, abreissen (vgl. S. 8). Die Folge solcher Leer- und sozialen Kapital her, das die Eltern urbane Wohnforschung, die sich ver- kündigungen ist oft, dass die Mieter*innen mitbringen. Und dann haben sie nicht mehrt als aktivistisch versteht. das Quartier oder sogar die Stadt verlassen einmal mehr das, was man in der Stadt müssen, weil sie nichts mehr finden, das mit den öffentlichen Angeboten zu Auch in der Schweiz ist immer mehr sie sich leisten könnten. Was bedeutet es für kompensieren versucht. Darüber wird viel Wohnraum im Besitz von institutionellen die Struktur der Stadt, wenn im grossen zu wenig gesprochen. Man weiss auch Eigentümerschaften. Was ist die Folge Stil Nachbarschaften kaputt gemacht wenig darüber, wohin diese Leute über- davon für die Städte? werden? haupt gehen. Und auch noch einen Das ist bislang schwierig zu sagen. Das Dieser Punkt wird politisch tatsächlich dritten Punkt gilt es zu bedenken: Eine Gute hierzulande ist, die Lex Koller ver- viel zu wenig thematisiert – in der For- Stadt, die sich nicht verändert, die nicht hindert, dass ausländische Kapitalströme schung wird er aber vermehrt hervorge- weiter baut und wächst, sich nicht öffnet ungehindert in den Schweizer Immobili- hoben. Es geht um die soziale Bedeutung für Leute, die zuziehen möchten, läuft enmarkt fliessen und in grossen Mengen des Wohnens, um die soziale Infrastruktur, Gefahr, zur geschlossenen Stadt zu und anonym Wohnraum gekauft werden die an das Wohnen gebunden ist und die werden. Zu einer Stadt der Privilegierten, kann. Gleichzeitig ist innerhalb der vom Wohnen ausgeht. Diese Infrastruktur wo es plötzlich selbstverständlich ist, Schweiz viel Kapital vorhanden, das diese kann nur bestehen, wenn die Leute eine dass Wohnungen 4000 Franken kosten Rolle ebenfalls übernehmen kann. Und gewisse Bestandesgarantie haben. dürfen. die Käufer wollen Rendite abschöpfen … Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 13
… vor allem mit den Mieten? man einfach umzont oder aufzont, gibt ist das, was der französische Soziologe Nicht nur. Viele Unternehmen kaufen man viel Verhandlungsmacht aus den und Philosoph Henri Lefebvre mit «Recht jetzt vor allem wegen des Buchwerts Händen. Eine Stadt, die möglichst viel auf Stadt» meinte: Als eine Form und ein Liegenschaften. Sie müssen das Geld Einfluss nehmen möchte, muss schauen, Instrument zum Organisieren, Mobili- irgendwo deponieren. Das hat in den dass sie auf der planerischen Ebene sieren, um Fragen anders zu stellen und letzten zehn Jahren unter anderem auf- möglichst viel Verhandlungsmacht und neu zu beantworten. Das Recht auf ange- grund der Tiefzinspolitik angefangen. Eingriffsmöglichkeiten behält. messenes Wohnen ist, wie die Menschen- rechte überhaupt, eines der Rechte, Mit welchen Konsequenzen? Wie sichert sie sich die Verhandlungsmacht auf die wir am meisten angewiesen sind. Was man in der Stadt Zürich jetzt – ganz konkret? Und lassen sich die Instru- Man kann sie zwar nicht per Gerichts schon sieht, ist, dass immer mehr natür- mente aufzählen? entscheid unmittelbar realisieren, inso- liche Personen ihre Häuser verkaufen. Zunächst einmal: Auf Wohnhäuser, fern hat Corine Mauch Recht. Aber man Das andere ist, dass viele Pensionskassen die der Stadt gehören oder die auf städti- kann das Recht auf Wohnen auch als oder andere institutionelle Anleger ab- schem Grund stehen, kann die Stadt di- Versprechen oder politischen Horizont reissen und neu bauen wollen, um mög- rekt Einfluss nehmen. Hier könnte die verstehen und sagen: «Dafür müssen lichst viel Geld zu binden. Die Erträge aus Stadt – und mit ihr die Genossenschaften wir kämpfen! Und immer, wenn jemand den Mieten wären vermutlich höher, – auf Abriss und Neubau im Grundsatz dieses Recht brechen will, kämpfen wenn man sanieren oder weiterbauen verzichten und das Weiterbauen im Be- wir dafür, dass es eingehalten wird!» würde. Aber wenn man hundert Mil stand zum Normalfall erklären. Beim pri- Diese Haltung kann auch eine Stadtregie- lionen hat und nicht weiss, wo anlegen, vaten Wohnraum ist der Handlungs rung einnehmen, wenn sie will. Vielleicht dann lohnt sich Abriss und Neubau spielraum weniger offen. Aber es gibt ihn. würde es sich tatsächlich lohnen, vor immer. In München hat sich die Regierung in Gericht zu gehen und diese fundamen- Gebieten mit «Milieuschutz» ein Vor- talen Ziele – wie das Recht auf eine ange- Ist für die Grossen der Mietertrag nur noch kaufsrecht auf Grundstücke gesichert, um messene Wohnung in Artikel 41 der Peanuts im Vergleich zur Wertsteigerung Verdrängungsprozesse zu verhindern. Bundesverfassung – oder die zahlreichen einer Immobilie? Das stärkt die Verhandlungsposition der Ziele in der Gemeindeordnung einzu Durchaus. Das Perfide ist: Der Wert Stadt. In Basel wurde eben erst eine fordern. Der Rechtsweg ist ja immer auch von Häusern nahm in den letzten dreissig Wohnschutzinitiative angenommen, die ein politischer Weg. Jahren stetig zu, jedes Jahr. Ich nehme die Position der Stadt auch bei Sanie- an, dass die grossen institutionellen An- rungen und Umbauten stärkt. Sie kann Könnten auch die Genossenschaften eine leger wie Black Rock heute so funktio- nun die Bewilligung an Mietbedingungen politischere Rolle spielen? nieren, dass sie sagen: Wir haben zwar knüpfen. Die Verhandlungsmacht der Unbedingt. Sie bieten alle Voraus laufende Erträge aus Mieten, das ist gut; Stadt wird immer dann geschwächt, wenn setzungen, um politische Organisationen aber vor allem bauen wir ein Portfolio auf, Entwicklungspotenzial bedingungslos zu sein – solche also, die die Auseinan- das wir gegebenenfalls neu schnüren festgesetzt wird. Dann wird es für die dersetzung und das Austragen politischer und weiterverkaufen können – und dann Stadt schwierig, im nachhinein noch Konflikte als ihre Aufgabe sehen und wird richtig Gewinn gemacht. Das etwas einzufordern. Vergangenheit und nicht nur das Anbieten von Wohnungen. funktioniert natürlich nur mit einem Gegenwart zeigen, dass die Politik, wenn In der Geschichte und auch in anderen grossen Portfolio. Ziel und Hartnäckigkeit vorhanden sind, Ländern, wie zum Beispiel in Uruguay, viel erreichen kann. Ein erster Schritt haben Genossenschaften oftmals eine Was heisst es für die Planbarkeit einer wäre, menschenwürdiges Wohnen und sehr politische Rolle eingenommen und Stadt, wenn massenhaft Investoren einen gewissen Bestandsschutz – ähnlich sich für Ziele eingesetzt, die über die kommen und Immobilien kaufen? Hat die dem Lärmschutz – zum öffentlichen unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder Stadtregierung überhaupt noch Einfluss Interesse zu erheben. hinausgingen. Daher finde ich es sogar darauf, was die mit denen machen? sehr wichtig, dass sich Wohnbaugenos- Man kann als Stadtregierung immer Nachdem die UNO-Sonderbeauftragte für senschaften – aber auch andere beste- Einfluss nehmen. das Recht auf angemessenes Wohnen, hende wohnpolitische Verbände – als ge- Leilani Farha, in Zürich gewesen war und nuin politische Organisationen verstehen Das klingt bisweilen anders vonseiten der die Credit Suisse für ihr Brunau-Abriss- und entsprechend handeln. Die Mie- Verantwortlichen ... Ist ihr Einfluss denn Projekt kritisiert hatte, sagte die Zürcher ter*innen können sich schlecht organi- gar nicht so beschränkt, wie sie selber gerne Stadtpräsidentin Corine Mauch: sieren und der MV braucht Verbündete. behaupten? Das Recht auf Wohnen können wir nicht Wohnen wird heute allzu oft als eine Art Der Stadt und auch anderen politi- durchsetzen, das ist rechtlich nicht privates Konsumgut betrachtet – man schen Gemeinwesen steht eine Kaskade bindend. leistet sich ein Auto und eine tolle Woh- von Instrumenten zur Verfügung. Und es Da kommen wir zum Kern des Prob- nung. Wohnen ist vermeintlich privat. können – wie der Zürcher Stadtpräsident lems: Recht kann man als statisch ge- Dass es das nicht ist, muss immer wieder Emil Klöti in den 1930er-Jahren zeigte – geben behandeln oder als ein politisches und von verschiedenen Seiten artikuliert bei Bedarf neue geschaffen werden. Wenn Instrument, um etwas zu fordern. Das werden. Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 14
Standardmietverträge Text von Fabian Gloor Wo wird überall getrickst? Viele Standardmietverträge des Hauseigentümerverbands weisen ungültige Bestimmungen auf. M+W verrät Ihnen, auf welche Klauseln Sie getrost pfeifen können. Schliessen Sie einen Mietvertrag ab, ver- muliert mit dem Ziel, dass sie für eine vertragliche Vereinbarung. Verstossen pflichtet sich die Vermieterschaft, Ihnen Vielzahl von Verträgen mit der jeweils an- Vertragsklauseln gegen zwingendes als Mieter*in ein Mietobjekt zum deren Partei übernommen werden Recht, gelten sie als nicht vereinbart. Gebrauch zu überlassen. Im Gegenzug können, spricht man von «Allgemeinen versprechen Sie, dafür einen Mietzins zu Geschäftsbedingungen» oder «AGB». Reparaturen von Geräten bezahlen. Es gibt knapp gehaltene Miet- Der Einsatz solcher AGB ist für beide Der Unterhalt eines Mietobjekts ist verträge und solche, die mehrere Seiten Seiten praktisch. Dank der Vorbereitunglaut Art. 256 OR Sache der Vermieter- umfassen. Ein Mietvertrag muss nicht der einen Partei als «Expertin» kann schaft. Folglich muss diese grundsätzlich unbedingt schriftlich abgeschlossen ein komplexes Geschäft wie beispiels- für Reparaturen aufkommen. Eine Aus- werden, Sie können ihn auch per Hand- weise ein Mietvertrag ohne grossen Auf-nahme gilt für kleine Reparaturen. Diese schlag oder sogar stillschweigend ein- wand abgeschlossen werden. Die ein gehen gemäss Art. 259 OR zulasten der gehen. In der Praxis sind mündliche Mieterschaft. Im Fachjargon spricht man seitige Vorbereitung birgt allerdings auch Mietverträge allerdings selten. Wegen der vom «kleinen Unterhalt». Darunter fallen die Gefahr, dass in den AGB die vertrag Schwierigkeit, mündlich «Abgemachtes» lichen Rechte und Pflichten respektive zum Beispiel das Ölen von Türschar- im Nachhinein zu beweisen, ist ein Risiken und Chancen asymmetrisch ver- nieren, das Entstopfen des Syphons beim schriftlicher Mietvertrag eindeutig vor- teilt werden. Lavabo, der Ersatz eines Backblechs, teilhafter. eines Duschschlauchs, eines Backofen gitters, eines Dampfabzugsfilters oder Take it or leave it Verstossen Vertrags von Dichtungen bei Wasserhahnen. Dass Mieterschaft und Vermieter- schaft den Mietvertrag respektive dessen klauseln gegen zwingen- tonsImBern Standardvertrag des HEV des Kan- steht allerdings: «Alle kleinen, Inhalt gemeinsam aushandeln, ist des Recht, gelten sie als für den gewöhnlichen Gebrauch der Wunschdenken. Meistens wird den Mie- nicht vereinbart. Mietsache erforderlichen Reinigungs tenden ein Standardmietvertrag der ört arbeiten und Ausbesserungen hat der lichen Sektion des Hauseigentümerver- Mieter auf eigene Kosten fachmännisch bands vorgelegt. Getreu nach dem Motto Auch Standardmietverträge enthalten ausführen zu lassen». Was darunter kon- «Take it or leave it» haben Mietende dann AGB. Nicht alles, was in einem Stan kret zu verstehen ist, wird auch gleich de- die Wahl, die von der Vermieterschaft dik- dardmietvertrag steht, ist jedoch verbind- finiert: «Als kleine Ausbesserung gelten tierten Vertragsbedingungen zu akzep- lich. Denn bei vielen Gesetzesbestim- unabhängig vom Rechnungsbetrag insbe- tieren oder auf den Vertragsabschluss zu mungen zum Mietrecht handelt es sich sondere (…) die Instandhaltung der elekt- verzichten. um sogenannt zwingendes Recht. Das rischen Schalter, Steckdosen, Telefon und Werden Vertragsbestimmungen von bedeutet: Die Parteien können nicht Fernsehanschlüsse, der Glasscheiben einer Vertragspartei allgemein vorfor davon abweichen, auch nicht durch eine (…)». Ähnliche Klauseln finden sich in Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 15
den Standardmietverträgen der HEV der überholt. Die Kostengrenze gilt nur noch sind Sie vertraglich nur so lange ge- Kantone Solothurn, Thurgau, Oberwallis beim Ersatz von Bestandteilen wie z. B. bunden, bis Sie der Vermieterschaft eine und Zürich. einem fehlenden Backblech oder einer zumutbare und zahlungsfähige Person Der HEV Zürich geht sogar noch defekten Kühlschrankschublade. Rech- vorschlagen, die an Ihrer Stelle die Woh- weiter und verdonnert die Mieterschaft nungen von Handwerker*innen dagegen nung mietet. Das muss nicht am Ende neben dem «Ersetzen von elektrischen können nicht auf dieser Basis beurteilt oder in der Mitte eines Monats sein. Es ist Schaltern» gar zur Instandhaltung von werden, denn sobald eine Fachperson jederzeit erlaubt. «Spülkästen, Geschirrspüler, Backofen, hinzugezogen werden muss, liegt per se Kühlschränken, Keramikkochfeldern, kein kleiner Unterhalt mehr vor und Keine Pflicht zur Unterschrift Kochplatten und Brennern bei Gas- die Kosten müssen sowieso von der Ver- Noch eine weitere haarsträubende mieterschaft übernommen werden. Klausel enthält der Standardmietvertrag Nicht verbindlich ist auch die Klausel des HEV Bern. Gemäss Ziffer 16 «Rück- Zum kleinen Unterhalt im Standardvertrag des HEV Zürich, die gabe der Mietsache» sei «ein Zustands- gehören nur Reparaturen, von den Mietenden die Übernahme aller protokoll aufzunehmen, das von den Ver- «weiteren kleineren Reparaturen und tragsparteien oder deren Vertreter zu die eine handwerklich Instandstellungen, welche im Einzelfall unterzeichnen ist». Und weiter: «Werden normal begabte Mieter- 1 % des Jahres-Netto-Mietzinses nicht nachträglich schriftlich anerkannte übersteigen» fordert. Gemäss Schlich- Mängel vom Mieter nicht innert 10 Tagen schaft ohne Fachwissen tungsbehörden und Mietgerichten des seit Erhalt der Mitteilung schriftlich be- ausführen kann. stritten, gelten sie als anerkannt». Auch der Standardmietvertrag des HEV Zürich Sollte Ihr Geschirrspüler enthält diesbezüglich eine sonderbare herden». Besonderen Wert auf Sauberkeit den Geist aufgeben, Regelung. So müsse die Mieterschaft, legen die HEV-Sektionen der Kantone welche die Mitwirkung am Rückgabepro- Aargau, Solothurn, Zürich und Bern. müssen Sie die Repara- tokoll verweigere, «sich dieses als richtig In ihren Standardmietverträgen turkosten nicht berappen, entgegenhalten lassen». Auch diese Ver- schreiben sie ausziehenden Mietenden tragsbestimmungen sind nicht ver vor, «sämtliche textilen Bodenbeläge selbst wenn Sie sich bindlich. Als Mieter*in sind Sie nicht ver- durch einen Fachmann» reinigen zu mietvertraglich dazu pflichtet, an der Erstellung des lassen. verpflichtet haben. Normale handwerkliche Fähigkeiten Als Mieter*in sind Sie Solche Klauseln sind nicht verbind- Kantons Zürich ist die Obergrenze für nicht verpflichtet, an der lich. Denn gemäss neuer Rechtsprechung Ersatzteile, die von der Mieterschaft be- gehören nur Reparaturen zum kleinen zahlt werden müssen, 150 Franken. Und Erstellung des Abgabe- Unterhalt, die eine handwerklich normal dies unabhängig von der Höhe des protokolls mitzuwirken begabte Mieterschaft ohne spezielles Mietzinses. Fachwissen selber ausführen kann. oder dieses gar zu Mietvertraglich lässt sich die Grenze Ausserterminliche Kündigung unterschreiben. des kleinen Unterhalts nicht beliebig aus- Auch beim Recht der Mietenden, ein weiten, sonst würde die grundsätzliche Mietverhältnis vorzeitig zu kündigen, Unterhaltspflicht der Vermieterschaft wird getrickst. Laut Mietvertrag des HEV Abgabeprotokolls mitzuwirken oder ausgehebelt. Das ist gemäss Artikel 256 Bern kann «die vorzeitige Auflösung nur dieses gar zu unterschreiben. Von einer Abs. 2 OR unzulässig. Die Vermieter- auf ein Monatsende erfolgen». Diese Unterschrift des Abgabeprotokolls ist so- schaft kann von der Mieterschaft nur ver- wieso dringend abzuraten. Denn mit langen, für die Kosten von Eigenrepara- Ihrer Unterschrift anerkennen Sie unter turen aufzukommen, nicht jedoch für den Das Gesetz schränkt den Umständen Schäden, für welche Sie gar Beizug einer Fachperson. Konkret heisst Zeitpunkt für eine ausser- nicht haftbar sind. das: Sollte Ihr Geschirrspüler den Geist aufgeben, so müssen Sie die Reparatur- terminliche Kündigung kosten nicht berappen, selbst wenn nicht ein. Sie sich mietvertraglich dazu verpflichtet haben. Bis vor einigen Jahren galt, dass Regelung ist gesetzeswidrig. Das Gesetz Mieter*innen sämtliche Reparaturen schränkt nämlich den Zeitpunkt für bezahlen müssen, die nicht mehr als eine ausserterminliche Kündigung nicht 150 Franken kosten. Diese Faustregel ist ein. Wenn Sie ausserterminlich kündigen, Mieten + Wohnen Nr. 6, Dezember 2021 16
Sie können auch lesen