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So schnell kann sich alles drehen. Über Freude am Wandel 18 Dezember 2020 Stadtentwicklungspolitik zu den Pilotprojekten der Nationalen M AGA ZI N Sich neu erfinden
Editorial 04 T R A N S FO R M AT I V E K R A F T Leipzig-Charta alt und neu – ein Interview mit zwei Männern, die dabei federführend waren 08 DIE VIERTELMENSCHEN Gemeinwohl statt Gentrifizierung: Die englische Formel »design or disaster« Ein Quartier in Münster gestaltet den Wandel lieber selbst bringt es auf den Punkt – wir können den Wan- 12 del gestalten, oder wir kriegen ein Problem. Die ES S AY Architekturkritiker Niklas Maak: großen Herausforderungen, vor denen Städte Die Grammatik der Innenstädte muss neu geschrieben werden Mit Streetart jenseits von Graffiti will das heute stehen, sind oft benannt. Städte müssen 14 Berliner Straßenkünst- lerkollektiv »Mental- sich in gewisser Weise sogar neu erfinden. Nun S TA D T, E N T FA LT E D I C H gassi« den öffentlichen kommt es darauf an, den Ideenreichtum und Steckt in der Lebenshilfeliteratur Raum zurückerobern. auch etwas für Städte, die sich So auch mit dieser den Gestaltungswillen ihrer Akteure zu fördern, verändern wollen? Ein Schaubild Aktion, die darauf an- spielt, dass sich viele um die Weichen hin zu einer gemeinwohlorien- 17 FLIEGEN LERNEN Berliner in der U-Bahn wie in ihrem eigenen tierten, integrierten Stadtentwicklung zu stellen. Mit sympathischer Selbstironie motiviert ein Pilotprojekt aus Wohnzimmer (dane- ben-)benehmen. Uns Darauf zielen die Pilotprojekte der Nationalen Altenburg zum Stadtmachen zeigt es, dass mit etwas Kreativität auch Stadtentwicklungspolitik ebenso wie die Leip- 19 in der Großstadt eine KOLUMNE heimelige Atmosphäre zig-Charta ab, die den europäischen Städten Stephan Willinger meint: Mehr entstehen kann seit 2007 Leitlinien bereitstellt. Mit Erfolg. Und Emotionen in der Planung wagen! 20 doch: Angesichts der dynamischen Entwick- Titel: Ina Fassbender / REUTERS / picture alliance | Foto: Mentalgassi IST DOCH UTOPISCH lung auf Feldern wie Klima, Migration und Mit neofuturistischen Visionen wollte »Archigram« in den 1960ern Digitalisierung war es nötig, auch diese Charta den Städtebau aufmischen einer Neuformulierung zu unterziehen. Dass 23 A K T I O N E N ZU R C H A R TA die »transformative Kraft der Städte« nun sogar So bringt die Neue Leipzig-Charta 2021 noch mehr in Bewegung im Titel steht, unterstreicht die Bedeutung städ- 24 tischen Engagements. Städte sind Labore und WEITERMACHEN Katalysatoren für eine lebenswerte Zukunft – Wo steht Hanau heute mit seinen Bemühungen um Integration? auch im größeren politischen Maßstab. Von der Dimension der anstehenden Aufgaben soll sich gleichwohl niemand einschüchtern lassen. Wie viel Freude es macht, den Ungewissheiten mit positiven Zukunftsbildern zu begegnen und Unser Titelbild zeigt ein Kettenkarussell, das sich im Kühl- turm des ehemaligen »Schnellen Veränderung kann auch ganz gemütlich sein Brüters« in Kalkar dreht. Diese sich des eigenen Potenzials bewusst zu werden, Atomanlage, die nie in Betrieb ging, hat sich bereits neu erfunden – lesen Sie in diesem Heft. als Freizeitpark 02
In Zeiten rasanter Veränderungen »Wir alle müssen sich Städte neu erfinden. den European Green Deal. Sprich: Das ganze po- Und das gilt in gewisser Weise litische Setting hat sich verändert. Auch darauf Interview muss die Leipzig-Charta eingehen, daran muss sie auch für die Leipzig-Charta, die den anknüpfen. verkörpern europäischen Städten gemeinsame Markus Eltges: Wenn Sie nach dem Funda- ment fragen: Ohne die erste Charta würde es in Leitlinien an die Hand gibt. Ein Deutschland keine Nationale Stadtentwicklungs- politik in der Form geben – und auch in manch an- Gespräch mit den beiden Männern, derem der EU-Mitgliedstaaten nicht. Wir wollten damals ein politisches Dokument schaffen, um diese die bei der ersten Charta und das Thema Stadt in der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu stärken und dafür zu sor- ihrer aktuellen Neuformulierung gen, dass es in allen Staaten stärker auf die natio- nale Agenda rückt. Es gab zu der Zeit in vielen Mit- federführend waren gliedstaaten nur die EU-Strukturfonds, verwaltet durch die Wirtschaftsministerien, die das Thema transformative Stadt adressiert haben. Aber es fehlte der gemein- Von Natascha Roshani same politische Überbau, der von allen Mitglied- & Oliver Geyer staaten getragen wurde. Ist die Struktur, mit der Deutschland in der Folge Die Leistungen der ersten Leipzig-Charta von 2007 seine Nationale Stadtentwicklungspolitik organisiert Kraft« sind unstrittig. Warum ist eine Neuformulierung nötig? hat, in anderen Staaten ähnlich aufgebaut worden? Oliver Weigel: Über die großen Herausforderungen, Markus Eltges: Eine Plattform, wie wir sie vor denen die europäischen Städte heute stehen, kann man in Deutschland geschaffen haben – mit Bundes- viel sagen. Ich beschränke es hier erst mal auf Stichworte regierung, Ländervertretern, kommunalen Ver- wie Klimawandel, Integration oder Resilienz. Diese The- tretern –, wurde so stringent in den anderen Mit- men waren in der alten Leipzig-Charta zwar auch schon gliedstaaten meines Wissens nach nicht umgesetzt. enthalten, jedoch nicht so explizit, wie es heute geboten Allerdings waren manche Länder aufgrund ihrer scheint. Wenn ich gefragt werde, warum es dringend eine anderen staatlichen Ordnung in puncto nationa- Neuformulierung geben muss, gibt es aber vor allem einen ler Stadtentwicklung schon ganz anders aufgestellt Satz, der die Sache meines Erachtens besonders gut auf als wir. Im zentralistischen Frankreich wurde und den Punkt bringt. Und der lautet: Ein halbes Jahr nachdem wird Stadtpolitik sehr stark von Paris aus gesteu- wir die erste Charta beschlossen haben, kam das erste ert. Hier gibt es traditionell einen massiven staat- iPhone auf den deutschen Markt. lichen Interventionsmechanismus in Bezug auf städtische Gebiete. Auch in Großbritannien hat Warum war das so ein »Gamechanger«? man aus Erfahrungen mit dem Strukturwandel Instrumente geschaffen, um ganze Quartiere von Oliver Weigel: Weil das Smartphone heute nicht nur London aus zu unterstützen. Alles Dinge, die im für die rasante Digitalisierung unseres Alltags und des föderalen Deutschland in dieser Form undenkbar urbanen Lebens steht, sondern auch allgemein für die be- wären. Deshalb hat man hier von Beginn an alle schleunigten Zyklen der gesellschaftlichen Veränderung. beteiligten Stellen von Bund, Ländern und Kom- Da es dabei zum Teil auch um krisenhafte Veränderungen munen mit ins Boot geholt und das Kuratorium geht, wirft das mit neuer Wucht die Frage der Resilienz der Nationalen Stadtentwicklungspolitik gegrün- von Städten auf. Es geht um die Frage, wie wir in Zeiten ab- det, um alle Stakeholder mit deren Wissen und Ins- nehmender Gewissheiten unsere gesellschaftliche Zukunft trumenten von Beginn an einzubinden. steuern wollen – wobei Städte bekanntlich eine entschei- dende Rolle spielen. Dazu kann die Neue Leipzig-Charta ei- Trotz des guten Fundaments: Was unterscheidet nen wertvollen Beitrag leisten. die neue Charta von der alten? Inwiefern bietet die alte Charta dafür ein wichtiges Markus Eltges: Jedes politische Dokument Fundament? ist immer auch ein Produkt seiner Zeit. Die ers- »Parkour« erfreut sich bei te Charta war sehr stark geprägt von dem Ein- jungen Menschen großer Oliver Weigel: Die Leipzig-Charta aus dem Jahr 2007 druck, dass es in einigen westeuropäischen Staa- Beliebtheit. Akrobatisch ist nach wie vor von großem Wert. Sie hat das Bewusstsein ten damals soziale Unruhen in Vorstädten gab bewegen sie sich über immer der Akteure geschärft, weil sie damals ein erstes Doku- – vor allem in Frankreich und Großbritannien. neue Mauern, Treppen und ment war, das sich in dieser Form mit Fragen der Stadtent- Um der Vernachlässigung bestimmter Quartie- Foto: Scott Bass Geländer. Ein schönes wicklung beschäftigt hat. Inzwischen gibt es noch andere re entgegenzuwirken, empfahl die Charta daher Bild für urbane Resilienz: internationale Dokumente, etwa die Sustainable Develop- zunächst einmal, sich um die sozial benachtei- Aus Hindernissen werden ment Goals der Vereinten Nationen, ebenso auf UN-Ebene ligten Gebiete in den Städten zu kümmern. Dies Sprungbretter die New Urban Agenda, das Pariser Klimaabkommen und war auch Ausdruck einer europäischen Werte- 04
»Dass eine solche Verein- barung unter den geänderten Immune besprechen und die unterschiedlichen Positionen Handeln damit begründet. Das hat etwas bewirkt. Inzwi- politischen Rahmenbedingungen diskutieren. Nur so war es möglich, das Prinzip Gemeinwohlorientierung im Rahmen eines kon schen diskutiert man auch auf internationalen Konferenzen über den Stand der Leipzig-Charta. Zudem sorgt diesmal nun geklappt hat, kann man nicht hoch genug schätzen« struktiven Dialogs in die Charta zu integrieren, sogar in die Überschrift. ein eigenes »Implementation Document« dafür, dass es in den kommenden Ratspräsidentschaften noch mehr Konti- nuität gibt und mit thematischen Partnerschaften bestimm- Kommune Es gibt heute beträchtliche politische Kontroversen te stadtpolitische Themen gezielt weiterentwickelt werden. zwischen den Staaten West- und Osteuropas. Wie wirkte sich das auf den Prozess der Neuformu- Eine zentrale Formel der Charta, die auch in ihrem Titel lierung aus? steht, ist die »transformative Kraft der Städte«. Was kann der gemeinschaft. Dann hatten wir zu der Zeit gerade die Ost- einzelne Bürger dazu beitragen? erweiterung hinter uns, und die neuen Mitgliedsländer Oliver Weigel: 2007 war es so, dass die Bei- Mit dem aktuellen stellten Fragen: Wo könnt ihr uns bei unserem Transfor- trittsstaaten sehr stark auf die Prinzipien eingin- Oliver Weigel: Wir alle verkörpern diese transforma- Projektaufruf »Post- mationsprozess in den Städten, insbesondere beim Woh- gen, die die stadtentwicklungspolitische Realität tive Kraft. Denn jeder Bürger und jede Bürgerin macht täg- Corona-Stadt« nungsbau, unterstützen? Aus diesen Gründen hat die in den westeuropäischen Staaten widerspiegelten. lich Stadtentwicklung. Zum Beispiel, wenn wir entschei- sollen Ideen und alte Leipzig-Charta die integrierte Stadtentwicklung mit Heute sind die politischen Rahmenbedingungen den, ob wir den neuen Monitor für unseren Computer on- Konzepte für eine einer Handlungsanleitung definiert. Zudem ist die alte ganz anders und wir haben es dort mit sehr selbst- line bestellen oder ob wir in die Stadt fahren, um ihn dort resiliente Stadt- Leipzig-Charta in ihrer ganzen Begrifflichkeit noch viel bewussten politischen Akteuren zu tun. Und des- zu kaufen. Damit geht es los. Weiter geht es damit, dass entwicklung geför- Foto: Orbon Alija / Getty Images mehr städtebaulich orientiert. Die neue Charta hinge- wegen, das sage ich ganz offen, war ich sehr un wir alle eingeladen sind, aus der Zivilgesellschaft heraus dert werden. Wie gen ist in deutlich höherem Maße gesellschaftspolitisch sicher, ob wir vor dem Hintergrund der komplexen an Stadtentwicklung zu partizipieren. Wir nennen das Co- wirkt sich die Covid- orientiert – mit Blick auf die urbanen Auswirkungen. Herausforderungen und unterschiedlicher politi Creation, also Miteigentümerschaft an Projekten und Pro- 19-Pandemie auf scher Ansätze 27 bzw. 30 Minister dazu bekom- zessen durch Akteure, die nicht zu den politischen Zirkeln unser Zusammen- Was sind denn die wichtigsten gesellschaftspolitischen men, am 30.11.2020 in Leipzig einstimmig ein Do- gehören. Darauf sind ja alle Maßnahmen der Nationalen leben und auf die Aussagen der neuen Charta? kument zu verabschieden. Durch die konstruktive Stadtentwicklungspolitik ausgerichtet, und um das auszu- Zukunft unserer Einstellung unserer Partner wird uns dies, so wie probieren, haben wir eine ganz neue, viel kleinteiligere Städte aus? Welche Oliver Weigel: Gefordert ist heute die »just«, »green« es momentan aussieht, gelingen. Dies ist das Ver- Förderstruktur entwickelt. Dabei lassen wir den einzelnen mittel- und langfris- und »productive« City – als die drei Säulen der Nachhaltig- dienst aller Mitgliedstaaten. Initiativen bewusst große Freiräume. Wir wollen wissen, tigen Veränderungen in Nachbarschaften, keit für städtische Politikansätze. Und als Querschnittsthe- was in den städtischen Quartieren gerade passiert. Innenstädten, in Wirtschaft und Verkehr ma darunter liegt die Digitalisierung. Weil alles, was wir Markus Eltges: Dass eine solche Vereinba- müssen Kommunen jetzt initiieren, um re- in der just, green und productive City tun, damit verknüpft rung unter diesen geänderten politischen Rahmen- Inwiefern ist die Corona-Pandemie in den letzten Projektaufruf silienter gegenüber solchen Krisen zu wer- ist. Nachhaltige Mobilität etwa können wir ohne Digitali- bedingungen nun geklappt hat, kann man nicht Monaten noch als Thema in den Prozess der Neuformu- den? Mit dem 8. Projektaufruf der Natio- sierung gar nicht denken. Es kann ja nicht darum gehen, hoch genung schätzen. Wobei ich hinzufügen lierung eingeflossen? nalen Stadtentwicklungspolitik unter dem die unökologischen Verbrenner einfach nur durch ähnlich muss: Auch 2007 war es nicht selbstverständlich, Motto »Post-Corona-Stadt« wurden Pro- unökologische Elektroautos zu ersetzen, die ebenso viel dass die osteuropäischen Kolleginnen und Kolle- Oliver Weigel: Die Resilienz von Städten war auch jekte gesucht, die zu den Themenfeldern öffentlichen Raum fressen und zusätzlich noch durch die gen die erste Charta mitgetragen haben. Nicht nur, vor Corona schon zentral und wir haben eine eigene the- »Solidarische Nachbarschaft und Wirt- Ladeinfrastruktur »Fixpunkte« schaffen. Da braucht es in- weil sie damals noch ganz andere Sorgen hatten, matische Linie, die sich nur mit dem Thema Stadt und schaften im Quartier«, »Öffentlicher Raum, telligentere, digital gestützte Lösungen. Zudem schreibt sie hatten auch noch einen völlig anderen Blick- Gesundheit beschäftigt. Durch Corona ist das Resilienz- Mobilität und Stadtstruktur« sowie »Inte die neue Charta einige Grundprinzipien und Dimensionen winkel auf Stadtentwicklung. Sie kamen aus einer Thema dann noch mehr in den Mittelpunkt gerückt. Denn grierte Stadtentwicklungsstrategien« in- guter städtischer Regierungsführung fest – womit sie weit Zeit des zentralisierten Staatswesens und waren es ist ja noch mal sehr deutlich geworden, dass benachtei- novative Lösungsansätze erproben. über die alte Charta hinausgeht. erst mal nicht so begeistert über ein Dokument, ligte Quartiere von einer Pandemie und einem Lockdown Die Resonanz war groß: Mehr als das auch wieder von übergeordneter Ebene kam besonders hart getroffen werden. Wir müssen uns also 200 Kommunen, zivilgesellschaftliche Welche wären das? und der Planung das Wort redete. Von Planung weiterhin gut um sie kümmern. Organisationen, Wohlfahrtsverbände und hatten diese Länder erst einmal genug. Auch da Forschungseinrichtungen haben Bewer- Oliver Weigel: Es geht um Grundprinzipien, die allge- waren wir gefordert, die dahinterstehende Inten- bungen mit Ideen auf Quartiersebene, für mein klingen mögen, in der Praxis aber entscheidend sind: tion zu erläutern. die Gesamtstadt, aber auch für interkom- Dr. Markus Eltges ist heute den integrierten Ansatz als Garant für eine effektive, res- munale Kooperationen eingereicht. Viele Leiter des Bundesinstituts für Bau-, sourcenschonende Stadtentwicklung. Oder, vor allem, die Wie entfaltet so eine Charta ihre Wirkkraft? Projekte haben einen experimentellen Stadt- und Raumforschung. 2007 Forderung nach mehr Gemeinwohlorientierung und Parti- Besteht nicht immer die Gefahr, dass es bei schönen Charakter, wollen in kooperativen Orga war er wichtiger Impulsgeber für zipation als Basis lokaler Demokratie – also Konzepte, die Worten bleibt? nisationsstrukturen oder lokalen Partner- die erste Leipzig-Charta und feder- bei weitem nicht in allen Staaten selbstverständlich sind. schaften Stadtentwicklung als Gemein- Foto: Schafgans DGPh führend bei dem Prozess ihrer Dies sind Punkte, die die Neue Leipzig-Charta sehr viel po- Oliver Weigel: Die Leipzig-Charta ist eine schaftsaufgabe erproben. Erarbeitung. Die aktuelle Neufor- litischer machen. Selbstverpflichtung, und die gewinnt ihre Bedeu- Noch in diesem Jahr sollen die Pilot- mulierung der Charta begleitete tung durch politisches Handeln. Man hat bewusst projekte ausgewählt werden und ab dem er als Berater. Wie schafft man es angesichts dieser komplexen Herausfor- auf verpflichtende Übersetzungsinstrumente oder ersten Quartal 2021 mit der Umsetzung derungen, wirklich alle Mitgliedstaaten mitzunehmen kontrollierbare Indikatoren verzichtet. Das ist starten. Dann wird sich auch zeigen, und nicht beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu landen? zugleich der Charme dieser Charta: Sie überschätzt Dr. Oliver Weigel hat 2007, welche Wechselwirkungen es zwischen sich nicht, aber entfaltet ihre Wirkung dennoch nach seinem Eintritt ins Bundes- den neuen Herausforderungen durch die Oliver Weigel: Wir haben die Neuformulierung von – und zwar dadurch, dass man sich heute bis in die bauministerium, auch schon an Corona-Pandemie und anderen aktuellen vornherein als Multi-Stakeholder-Prozess angelegt. Hilf- Kommunen hinein auf sie berufen kann. Das war der Erarbeitung der ersten Leipzig- Themen der Stadtentwicklung gibt: der reich war auch, dass wir sehr früh begonnen haben. Insbe- nicht von Anfang an so. Als »Hüter der Charta« Charta mitgewirkt. Bei ihrer aktu- digitalen Transformation, dem Klimawan- sondere in den Gesprächen mit den Mitgliedstaaten konn- mussten wir immer wieder auf ihre Bedeutung hin- ellen Neuformulierung ist er der del oder der Verkehrswende, aber auch der Foto: Milena Schlösser ten wir, bevor mit Corona das große Videoconferencing weisen, hatten sie bei allen internationalen Ko- zuständige Referatsleiter, der integ rierten Entwicklung ländlicher Räum e Einzug hielt, im persönlichen Austausch die großen Linien operationen in den Memoranden und haben unser den Prozess leitet und moderiert. und strukturschwacher Regionen. 06
Leonie Niehaus ar- beitet als Projektlotsin. Was sie die Menschen immer wieder fragt: Fördert deine Idee das Gemeinwohl? Dieses Ladenlokal, Reportage genannt »Hansabude«, ist so etwas wie die Schaltzentrale des Hansaforums Ein Quartier in Münster will sich nicht der Gentrifizierung hingeben und den Wandel Die selbst gestalten. Um das Gemeinwohl zu stärken und eine eigene Vision zu entwickeln, setzt man dort auf: einen Index, gemeinsame Spaziergänge und… den Zufall Viertelmenschen Von Wiebke Harms Fotos: Patrick Pollmeier 08
Ein gutes Dutzend Frauen und Männer schlängelt sich auf Der Gruppenspa- würden. Oder die von Kiki selbst einem Gehweg zwischen Hauswänden, Fahrrädern und ziergang heute gebauten Nistkästen für Vögel, die Laternen hindurch. Die meisten tragen Regenjacken, man- dient dazu, sich inzwischen überall im Viertel hän- che halten Mehrweg-Kaffeebecher in den Händen. Und alle über konkrete gen. Ebenfalls gut für die Natur im sperren die Augen und Ohren weit auf, denn sie sind zu Kriterien zu ver- Hansaviertel: die »Wassertanken« diesem Spaziergang aufgebrochen, um ihr Quartier »mit ständigen, mit von Henning. Das sind Regentonnen, allen Sinnen« zu erkunden. Die Gruppe quert eine Straße, denen sich Klima- aus denen ein jeder Wasser entneh- biegt nach links ab und bleibt auf einem kleinen Platz unter positivität und die men darf, beispielsweise um die Bäumen ein erstes Mal stehen. Verkehrssituation Bäume vor der Dürre zu retten. Ein im Viertel messen Werkstatt-Lastenrad für kleinere »Und, was ist euch aufgefallen?«, lassen. Den Teil- Reparaturen im Haushalt oder an fragt eine der Spaziergängerinnen in die Runde. nehmern kommt Fahrrädern hat das Hansa-Gremi- »Hier parken viel zu viele Autos«, sagt der Erste. da auch gleich eine um auch schon bewilligt, das wird »Für Fahrräder mit Anhänger ist es zu eng«, ganze Reihe von Ideen: vom Zählen der Solaranlagen auf den bald schon durchs Viertel rollen. sagt jemand anderes. Dächern bis zur konkreten Erfassung der Breite der Geh- Wenn es darum geht, in den »Wenn Autos vorbeifahren, müssen wir ganz wege. Deren Enge sorgt für Verärgerung, mehr Platz zum Sitzungen über solche Projekte zu schön laut sprechen, um uns zu verständigen«, Flanieren wäre schön und würde das Viertel lebenswerter beratschlagen, hat jedes Mitglied merkt eine Teilnehmerin an. machen. Quartiersentwicklung ganz nah dran am Leben. des Gremiums gleich viel zu sagen, »Wir müssen die Niedrigschwelligkeit des QGI ver- egal ob jemand aus dem Viertel Diese Spaziergängergruppe ist eine Expertenkommission, bessern«, findet Sascha Kullak. »Man muss in 30 Sekunden oder aus der Politik kommt. Da- die sich nicht durch Zertifikate und Doktortitel qualifiziert, erzählen können, worum es geht.« Schließlich möchte das für sorgen ein paar klare Regeln. sondern durch Alltagserfahrung. Sie wohnen oder arbei- Hansaforum auch diejenigen für die Mitgestaltung des Vier- Debattiert wird soziokratisch: ten hier, andere kommen regelmäßig her, um Freunde zu tels gewinnen, die normalerweise Beim Meinungsagen geht es immer besuchen. Die Beobachtungen, die diese Leute sammeln, nie zu einer Bürgerversammlung Ohne Floß nichts los: des- reihum, und abgestimmt wird sollen helfen, das Hansaviertel in Münster lebenswerter zu gehen würden, die sich gewöhnlich halb die Initiative, den grundsätzlich im Konsensverfah- machen. Für alle. Der Spaziergang ist eine von vielen Aktio- auch nicht ehrenamtlich engagieren. Freizeitwert des Hafens ren. Dabei interessiert nen, die die Initiative »Hansaforum« erdacht hat, um das Wie aber erreicht man die und des Kanals mit einem nicht nur die Anzahl von Gemeinwohl in den Straßen zwischen Bahnhof und Hafen am besten? Indem man die Sache Gemeinschaftsfloß Zustimmung und Ableh- zu stärken. Als Pilotquartier der Nationalen Stadtentwick- besser dem Zufall überlässt, sagen zu erhöhen nung, sondern das Stim- lungspolitik erfindet sich das Münsteraner Viertel seit 2019 die Leute vom Hansaforum – und mungsbild wird ganzheit- von innen heraus neu. meinen damit eine intelligente, ge- Ferian Kallies und lich erfasst – anhand von Begonnen hat alles schon früher und ebenfalls mit steuerte Form von Zufall. Wenn es Paula Reichert sind beim Körperhaltungen: Arme einem Spaziergang: 2015 hatte die Initiative »B-Side« dazu etwa darum geht, Bürgerinnen und Floßprojekt mit im Boot. runter heißt »Ich stimme eingeladen, über die Zukunft des Quartiers nachzuden- Bürger persönlich zu den großen 20.000 Euro Förderung aber doch über 80 Menschen. Es ka- zu«. Ein erhobener Arm ken. »Wir wollten näher an das Viertel heran«, sagt Sascha Entscheidungsrunden des Hansa- gab es, ein Modell wurde men mehr Frauen als Männer und deutet leichten Wider- Kullak, einer der Initiatoren. B-Side veranstaltet unter Konvents einzuladen, zählen sie auch schon gebaut tatsächlich: Zwei Drittel von ihnen stand an. Wer beide Arme anderem ein Festival und sitzt in einem Speichergebäude auf dem Stadtplan erst Straßen und waren vorher noch nie bei einer hebt, macht damit deut- am Mittelhafen, etwas außerhalb des angesagten Hansa- dann Häuser ab. Und dann klingeln sie in dem zufällig er- Bürgerversammlung gewesen. Mit lich: »Mir passt hier et- viertels. Mit einer Befragung von rund 600 Anwohnern und mittelten Abschnitt bei allen Bewohnern, um den »Zufalls- diesem Teilerfolg geben sich die Ini- was ganz und gar nicht.« einer Ausstellung der Ergebnisse in den Straßen tasteten bürgern« den Hansa-Konvent nahezubringen: Sie vermit- tiatoren gleichwohl nicht zufrieden. Welche Vorteile sich Kullak und seine Mitstreiter buchstäblich an das Han- teln ihnen, dass das sozusagen das demokratische Herz des »Was uns noch fehlt, ist die Gruppe es mit sich bringt, wenn saviertel heran. Daraus entstand das Hansaforum. Projekts ist und die Durchmischung des Viertels abbilden 70 plus und die unter 18-Jährigen. Laien, Politiker und Ex- Dessen Schaltzentrale ist inzwischen die sogenannte soll. Dass diese Versammlung zweimal im Jahr stattfindet Außerdem würden wir gern noch perten so gezielt zusam- »Hansa-Bude«, ein Ladengeschäft mitten im Viertel. Hinter und dort gemeinsam evaluiert und geplant wird, wie es im mehr Menschen mit Migrationshin- mengewürfelt werden, den Schaufensterscheiben sitzen »Projektlotsen« und be- Hansaviertel weitergehen soll. Und dass sie deshalb doch tergrund erreichen«, sagt Kullak. zeigte sich in dem Gre- raten jeden, der hier mit einer Idee vorstellig wird. 250.000 bitte teilnehmen sollen. Auf den gesteuerten Zufall mium einmal schon sehr Euro sind im Topf, die im Rahmen der staatlichen Förde- Wer sich auf diese Form von gemeinwohlorientiertem wurde denn auch gesetzt, als es deutlich. Die bislang auf- rung bis Ende 2021 verteilt werden können für ganz kleine Klinkenputzen einlässt, kann einiges erleben und dazu- darum ging, den kleineren Teil- wendigste Projektidee des Projekte, aber auch für größere Würfe. lernen, wie Sascha Kullak zu berichten weiß. »Ich hatte an- nehmerkreis des Hansa-Gremiums Hansaforums soll dazu »Hast du das Gefühl, dass deine Idee das Gemein- fangs noch ein iPad dabei, um das Hansaforum vorzustellen. zusammenzustellen. Dort kommen in kürzerer Taktung alle beitragen, den Freizeitwert des Dortmund-Ems-Kanals wohl fördert?« Diese Frage stelle sie den Viertelmenschen Das habe ich nach ein zwei Monate »Viertelmenschen«, Abgeordnete der Rats- zu erhöhen, der das Viertel im Osten begrenzt: mit einem – so werden die Leute aus dem Hansaviertel im Projekt- paar Versuchen zu Hau- fraktionen und Vertreter von Behörden zusammen, um über großen Floß, das für Veranstaltungen ausgeliehen werden jargon genannt –, wenn sie mit einem Vorschlag zu ihr se gelassen. Die Leute kleinere Projektanträge von bis zu 2.500 Euro Finanzierung kann. Nicht kommerziell, sondern als ein Treffpunkt für kommen, erzählt Projektlotsin Leonie Nienhaus. Doch dachten, ich will ihnen zu entscheiden. Wer von den »Normalos« aus dem Hansafo- alle. »Als die Idee vorgetragen wurde, waren alle sofort Gemeinwohl ist ein großes Wort und weites Feld. Um es Stromverträge verkau- rum in dieses Gremium entsandt werden sollte, entschied begeistert«, erinnert sich Katrin Oberg. Jedoch gab es ein händel- und messbar zu machen, haben die Hansaforum- fen«, sagt er, lacht und das Los. So wurde etwa Katrin Oberg gezogen, die das sehr Problem: Liegeplätze sind knapp und teuer in Münster. Das Macher mit den Viertelmenschen zusammen einen Index fügt hinzu: »Ich bin ein gefreut hat. »Superspannend« seien die Sitzungen immer, Projekt Gemeinschaftsfloß drohte unterzugehen. entwickelt: den Quartier-Gemeinwohl-Index (QGI). Der Zweimetermann mit sagt sie. »Ich bin traurig, wenn meine Amtszeit vorüber ist.« Doch dann hat es klingeling gemacht. Im direkten bricht in zehn Oberthemen herunter, was gut fürs Viertel langen Haaren. Da ma- Mehr als 50 Projekte konnten insgesamt schon geför- Austausch mit den Viertelmenschen ging einem Ratsvertre- wäre, von Gemeinschaft über Wohnen und Verkehr bis chen nicht alle auf.« dert werden. Da wären zum Beispiel die abendlichen Tisch- ter nach dem anderen auf, wie wichtig den Bürgern dieses Inklusion, Kultur oder »Klimapositivität« – also dem Ver- Zum ersten tennisrunden, die Simon und Sören mit Leuchtstrahlern Floß war. Und sie begannen, sich für die Idee einzusetzen. such, das Klima nicht nur zu schonen, sondern es positiv Hansa-Konvent im Juni und einer mobilen Platte veranstalten, an der Menschen Inzwischen gibt es einen Liegeplatz, das Projektteam feilt Foto: Lennart Wolf zu beeinflussen. 2019 erschienen dann zusammenkommen sollen, die sich sonst nicht treffen an den Bauplänen und will bald zu werkeln beginnen. 11
Das wird uns eine oder schräg angeschnittene Dächer oder Musterungen sondern auch, wie wir uns fühlen, wenn wir kommuni- Leere sein aufweist. Man findet heute kaum noch ein Hochhaus, zieren und im öffentlichen Raum oder im Internet sind. das nicht eine Volte schlägt, zu kippen scheint oder ein Wobei sich auch die Frage nach der Dichotomie von schräges Hütchen aus Solarkollektoren trägt. Anders war privat und öffentlich neu stellt. Denn wenn man heute das in den Sechzigerjahren, als das Rasterhafte und Ra- all das, was man früher in einem Büro oder Geschäft, tionale, das schnörkellos Gradlinige der Büroarchitektur auf dem Feld oder dem Marktplatz tat, bequem von sei- quasi als Ausweis der Kompetenz ihrer Insassen galt. nem Sofa oder Bett aus erledigt, wie privat ist dieser Ort dann überhaupt noch? Und begibt man sich, wenn man Downtown als Museum abends ausgeht und durch eine leere Straße spaziert, der Privilegierten tatsächlich aus dem Privaten ins Öffentliche? Die Stadt, wie man sie heute kennt, wurde quasi um mehr für den Transport »von zu Hause zur Arbeit« be- Doch nicht nur Arbeit, auch technologischer Eine der grundlegenden stadttheoretischen die Arbeit herumgebaut. Erst die Konzentration von stehen könnte, wird nicht mal als Hypothese erwähnt. Fortschritt prägt die Form der Städte und das Leben in Fragen lautet also: Was macht ein Stadtzentrum aus, Produktionsmitteln und Arbeitern an einem Ort führte Dabei wird genau diese Veränderung den größten Wan- ihnen. Das alles verändernde Objekt für die Stadt des wenn sich das, was dort heute vor allem passiert, also zum Wachstum der modernen Metropole. Sie war das del der Stadtzentren mit sich bringen. 20. Jahrhunderts war das Automobil; das alles verän- Arbeiten, Ins-Kino-Gehen oder Einkaufen, woanders- Ergebnis der Anpassung des Lebens an die Bedürfnisse dernde Objekt für die Stadt des 21. Jahrhunderts ist das hin verlagert? Wird es zu einem scheinidyllischen der Fabrik. Doch durch immer weiter fortschreitende Wohntürme als Mobiltelefon. So wie bis in die Achtzigerjahre alles auf Museum für Touristen und Eliten, die »wie früher« den Technologisierung verändert sich die Organisation von begehbare Anlagedepots die Bedürfnisse des Autos abgestimmt wurde, wird jetzt Abend im Theater oder in der Oper mit einem Dinner Arbeit und damit auch die Stadt. Lange hat man nur die alles um das Smartphone herumgebaut. Das Ideal in der in einem attraktiven Restaurant abrunden? Wird das Verdrängung des Wohnens gesehen, wenn man über Dass es in den Innenstädten überhaupt noch Städteplanung des 20. Jahrhunderts war die autogerech- Stadtzentrum noch mehr als heute zu einer bürgerli- die Verödung der Innenstädte gesprochen hat. Doch Spuren von Leben gibt, liegt an den Angestellten in den te Stadt; das Ideal des 21. Jahrhunderts ist die datenge- chen Privilegiertenfantasie, einer Zone, die zu genießen auch der Impuls, die Arbeit auf Homeoffice umzustel- Bürobauten, mit Sicherheit nicht an der attraktiven rechte Stadt. Statt mit Verkehrsströmen hat man es nun man sich leisten können muss? Wie viele Arbeiter und len, um teure innerstädtische Büromieten zu sparen, Architektur: Der in der Stadt arbeitende Angestellte, der mit Datenströmen zu tun, von denen derzeit vor allem Angestellte, die in den Supermärkten der Vorstädte oder fegt die Zentren leer. Corona ist dabei der endgültige mittags die Restaurants und nach Dienstschluss die private Konzerne (Google, Facebook, Amazon) oder au- Amazon-Auslieferungshallen schuften, haben Zeit, in Beschleuniger eines Prozesses, der das klassische Büro Läden und Bars bevölkert, ist fast ein Fall für urba- toritäre Regime wie China profitieren. Corona wird zum einem Park im Zentrum am Springbrunnen zu sitzen? zum Auslaufmodell macht, und sorgt so für den welt- nistischen Artenschutz. In Midtown Manhattan wird Anlass genommen, die Umwandlung von Städten in Sie sind aus dem Leben in der Stadt ausgeschlossen, an weit größten Feldversuch zu den Auswirkungen des man bald mit Rührung die letzten von ihnen zwischen Smart Cities voranzutreiben – also in Systeme, in denen ihre geografischen Ränder verbannt, die auch ökono- Arbeitens von zu Hause. all den leeren Luxuswohnimmobilien zum mische Ränder sind. Für die meisten ist das aktuelle Mittagessen schleichen sehen. Denn Wohnen Großstadtleben kein Versprechen, sondern eine bittere Die wirtschaftstheoretischen Spekulationen zur ist momentan nicht mehr als eine Zombie- Notwendigkeit, weil nur dort Arbeit zu finden ist. Wenn Digitalisierung reichen von systemischem Optimis- funktion innerhalb der Stadt. In New York ist die Digitalisierung auch dezentrales Arbeiten und Pro- mus, dem Glauben, dass einige Formen von Arbeit zu beobachten, dass 200 Meter hohe Geschäfts- duzieren möglich macht, dann ist das eine Chance für verschwinden, aber die Digitalisierung am Ende doch türme aus den Sechzigerjahren, damals als diejenigen, die zum Beispiel lieber an einem Bach als hinreichend viele höherqualifizierte neue Arbeitsplätze Stadtzerstörung wahrgenommen, abgerissen an einer Schnellstraße leben wollen. schaffen werde, bis zur totalen Job-Apokalypse mit ei- und durch lukrativere 400 Meter hohe Luxus- Essay ner ungekannten Welle von Massenarbeitslosigkeit. Der wohntürme ersetzt werden. Wie man an diesen Vom Büroturm zum Bericht der Stanford University »Künstliche Intelligenz Luxuswohntürmen, aber auch an hochprei- Ort der Liebe und Leben im Jahr 2030« prognostiziert, dass »Stadt- sigen Wohnimmobilien im Zentrum Berlins bewohner weiter von der Arbeit entfernt leben und Zeit sehen kann, die ambitionierte Namen wie Die Büroruinen, die die technologische Revolu- anders verbringen« werden, das werde zu einer »völlig »Kronprinzengärten« (am Werderschen Markt, tion hinterlässt, aber auch Straßen und Parkplätze, die neuen städtischen Organisation« führen. Die Möglich- laut Bauträger »eines der edelsten Bauvorha- hauptsächlich für die Organisation des individuellen keit, dass Fabrikarbeit und Verwaltungsjobs aus den ben Berlins im Herzen der historischen Mitte«) Verkehrs von zu Hause zum Büro und zurück bestimmt Städten großflächig verschwinden und gar kein Bedarf oder »Yoo« tragen, werden diese Wohnungen sind, könnten in diesem Sinn neu gestaltet werden; als primär als Geldanlage erworben und selten öffentliche Parks mit Pools, Tischtennisplatten und wirklich bewohnt. So sehen unsere Innenstäd- Theatern. In ehemaligen Bürobauten können, wie die te mittlerweile leider oft auch aus: wie begeh- Umnutzung des Berliner »Hauses der Statistik« schon Das Renditedenken der bare Anlagedepots. Sogar das klassische Bür- heute zeigt, kleine lokale Produktionen, dazu Orte für gertum, die Anwälte und Ärzte, die immer im Bildung, Forschung und Pflege entstehen. Man wird all Investoren hat unsere Gentrifizierungsverdacht stehen, können sich diese leeren Flächen neu definieren können und Frei- die Zentren kaum noch leisten und begeben räume haben, die andere Arten fördern, Zeit miteinan- Innenstädte verändert, die Foto: Daniel Stier sich in die Vororte. der zu verbringen, Kinder großzuziehen und mit Freun- Die luxuriösen Wohntürme sind meist den außerhalb der Grenzen der Kernfamilie zu leben. von Corona beschleunigte gleichförmige Kisten mit flachen Decken und Ein Leben, nicht mehr auf einen Nine-to-five-Rhythmus lieblosen Details: Die Immobilienentwickler beschränkt, könnte in großen, offenen, bewohnbaren Veränderung der Arbeit geben sich nicht einmal mehr die Mühe, ästhetisch zu alle Geräte miteinander kommunizieren und alle Daten Landschaften stattfinden, in denen Bildung, Liebe, Kom- verschleiern, dass es bei diesen Bauten vor allem darum für einen effizienteren Betrieb ausgewertet werden. Wer munikation, Arbeit, Wissensproduktion und Zusam- besorgt den Rest. Darin geht, so viel Geld wie möglich zu machen und alles weg- Zugriff auf diese Daten hat, ist im Zweifel entscheiden- mensein anders organisiert werden. So gesehen kom- zulassen, was die Gewinne verkleinert. So sieht man der als jedes Detail eines urbanistischen Green New men auf Architekten großartige Zeiten zu: Sie können liegt aber auch die Chance, in den urbanen Zentren den immer gleichen Gebäu- Deal. Denn wenn es gelänge, dass die Bürger die Kon die gesamte Grammatik der Stadt neu schreiben. detypus aus dem Boden schießen – ob zur Büro- oder trolle über den unermesslichen Schatz ihrer kollektiven die Grammatik der Stadt Wohnnutzung. Da gibt es den mit grünlich bis bläulich Daten behalten, könnte Europa einen Weg entwerfen, Der Architekturkritiker Niklas Maak ist Autor schimmernden Fassaden verkleideten Büroturm, der, durch den sich alles ändern würde. Nicht nur, wie Ent- der »FAZ« und lehrt als Gastprofessor an der Städelschule neu zu schreiben Von Niklas Maak um etwas Ikonisches zu bekommen, leicht verdreht ist scheidungen getroffen werden und wie regiert wird, in Frankfurt am Main und in Harvard. 12
Fliegen lernen Pilotprojekt Eine Stadt kann sich nur neu Der »Günther« ver- erfinden, wenn das auch ihre körpert den typischen Altenburger, der sich Bürger tun. Ein sympathisch selbst- zukünftig mit Leichtig- Foto: Jörg Neumerkel keit engagieren soll Man hat den Altenburger Bahnhof noch nicht ganz verlassen, da begegnet er ironisches Pilotprojekt in Altenburg einem auch schon auf Schritt und Tritt: der Günther. Er kommt aus der Glück-Auf- hat ein paar kreative Methoden Apotheke neben dem Bahnhof und hat graue Haare, braun-bequeme Schuhe und entwickelt, um manch mürrischen trägt die Maske unter der Nase. Er schiebt in Freizeitkleidung sein Fahrrad über die Ostthüringer zu mehr Engagement Straße. Er fährt im blauen VW-Bus an einem vorbei. Es ist Freitagmorgen um zu bewegen Von Annette Kammerer halb zehn. Altenburg, eine Kleinstadt in Thüringen, ist voll von Günthers. So sehen das jedenfalls vier junge Aktive, die sich wenige Kilometer weiter um einen langen weißen Tisch herum ther ein Macher-Günther werden kann. typische Kleinstadt im Osten«, sagt Valen- wärts rollt, dämpfen Susann und Valentin versammelt haben. Durch die Decke des Deshalb trägt er einen silbernen Glitzer- tin. Mit den typischen, sich vielfach selbst jedoch erst mal die Erwartungen. Von den renovierten Altbaus in der Altenburger In- anzug und fliegt. verstärkenden Problemen von Leerstand, Günthers sind natürlich keine spontanen nenstadt bricht die Herbstsonne, auf dem Denn in gewisser Weise wollen die Abwanderung und Perspektivlosigkeit. Freudensprünge zu erwarten. Susann Fenster zur Straße steht in Schreibschrift: vier von Stadtmensch den Altenburgern 700.000 Euro hat Stadtmensch als erzählt, wie sie ein Dartpfeil mal auf eine »Wir sind Stadtmensch.« »Stadtmensch«, das Fliegen beibringen. Sie wollen ihre Pilotprojekt bekommen, und es hat eine Mülldeponie führte. Als Erstes trafen sie das sind an diesem Morgen Anja und Su- Heimatstadt nicht von oben verändern, besondere Methode entwickelt, wie die auf einen Arbeiter, der sagte: »Sprecht mit sann, die beide schon Kinder haben, Valen- sondern von unten. Nicht die Politik soll Altenburger zu mehr Engagement bewegt meinem Chef.« Der Chef meinte: »Sprecht tin, der unter der Woche in Jena studiert, hier Projekte für zivilgesellschaftliches werden sollen. Anja bringt sie auf eine mit der Pressesprecherin.« Und die wiede- und Wolfram, der als Bufdi arbeitet. Die Engagement auflegen, sondern die Alten- Schmucke historische Bau- Formel: »Wenn die Bürger nicht zur Burg rum meinte: »Sprecht mit dem Landrat.« vier gebürtigen Altenburger sind, wenn burger selbst. Dabei will Stadtmensch ten, aber auch Schrumpfung gehen, dann muss die Burg eben zum Bür- »Typisch Altenburg«, sagt Susann, die es Foto: Annette Kammerer man so will, die Erfinder des Günthers. Sie insbesondere das »unsichtbare Drittel« und Leerstand prägen das ger kommen.« Aber wie funktioniert das aber mit Humor nimmt und gleich noch haben recherchiert, Statistiken gewälzt erreichen, also Menschen, die sich allein- Stadtbild von Altenburg. in einer Stadt, in der tatsächlich eine alt- ein paar Dart-Anekdoten erzählt. Etwa wie und Menschen auf der Straße befragt: Was gelassen fühlen, von der Politik ebenso Und natürlich die »Günthers«, ehrwürdige Burg hoch über allem steht? sie mal eine Dreiviertelstunde lang mit macht den typischen Altenburger aus? Wer wie von ihren Mitbürgern. die überall herumlaufen Mit Dartpfeilen. Drei bunte Dart- einer älteren Dame vor ihrer Kleingarten- ist das? Das Ergebnis der kleinen Studie ha- Es gibt da dringenden Handlungsbe- pfeile fliegen einmal im Monat quer durch parzelle standen und versuchten, Über- ben sie zu einer Figur aus Ton geknetet: ein darf. Durch den Niedergang der Industrie das Büro von Stadtmensch und landen auf zeugungsarbeit zu leisten: Wenn sie mehr dicklicher Mann mit einem kleinen Kopf, schrumpft die Kleinstadt seit der Wende einem Stadtplan von Altenburg. Die drei Hundetoiletten von der Politik fordere, der ungefähr Ende 50 ist. unaufhaltsam. Zu DDR-Zeiten lebten hier Erst fliegen Pfeile, dann Orte, wo sie stecken bleiben, werden dann könne sie mit den 1.000 Euro doch schon Susann stellt den Günther vorsichtig noch 56.000 Menschen, bald könnten es sollen auch die Altenburg er von den Stadtmensch-Machern aufgesucht mal anfangen und selbst welche aufstel- auf den Tisch und schenkt ihm ein wohl- nur noch halb so viele sein. Nicht wenige fliegen lernen. Im Sinne von: – um die erste Person, auf die sie dort tref- len lassen. Oder die junge Familie auf wollendes Lächeln. »Die Figur ist so dick«, der schmucken historischen Bauten ste- frei denken, sich einbringen fen, mit einer scheinbar verrückten Idee einem Spielplatz, die sich mehr Spielgeräte erklärt sie, »weil sie darstellen soll, dass hen leer und verkommen, Plattenbauten zu »überfallen«: »Du bekommst 1.000 Euro wünschte, das Angebot zur finanzierten der typische Altenburger schwer zu bewe- am Stadtrand werden zurückgebaut. »Bei – einfach so, wenn du hier irgendwas für Eigeninitiative aber prompt ablehnte. So gen und schwer zu begeistern ist.« Und Va- manchen Häusern in der Innenstadt ist nur die Gemeinschaft tust.« gehe es oft. Die Idee, vom Fordern zum Tun Foto: Annette Kammerer lentin fügt hinzu: »Er findet generell alles die Fassade neu«, erzählt Susann, »innen Auch heute werden wieder Pfeile ge- überzugehen, ist vielen noch fremd. eher doof.« Veränderungen mag er nicht sind die hohl.« Dabei wird die ehemalige worfen, und einer ist in einem Plattenbau- Und doch kommt hier etwas in Be- so, meckern dagegen tut er gern. Gleich- Residenzstadt nicht nur immer leerer, sie viertel im Außenbezirk stecken geblieben. wegung. Zuerst im Kopf: Die ältere Dame wohl soll mit dieser Figur auch die Vision wird auch immer älter. Das Durchschnitts- Gemeinsam machen sie sich auf den Weg aus der Kleingartenkolonie zum Beispiel Gestalt annehmen, dass aus Mecker-Gün- alter dürfte bald bei Ende 50 liegen. »Eine dorthin. Während der alte Ford stadtauf- tauchte ein paar Tage nach dem »Überfall« 17
Städte urbane Räume? Zu Wort kommen diejeni- gen, die in Deutschland Stadtentwicklung vorantreiben, erforschen und beobachten. Die Journalistin Marietta Schwarz über- ins Gespräch nimmt die Moderation und beleuchtet das Thema mit jeweils zwei Gästen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirt- schaft, Medien und Zivilgesellschaft. bringen Im Frühjahr 2021 startet die digi- tale Webinar-Reihe »stadt: impuls«. In praxisorientierten Live-Impulsvorträgen Foto: Annette Kammerer doch noch in der Stadtmensch-Zentrale und anschließenden Fragerunden teilen auf. Sie wolle das mit dem Geld und den Projektmacherinnen und -macher ihre Hundetoiletten noch mal bereden. praktischen Erfahrungen in der Um- Foto: Anja Fehre Susann grüßt drei Jugendliche an setzung integrierter Stadtentwicklungs- einer Ampel, die sie noch von einem Graf- projekte. So entsteht neben den Fach- fiti-Workshop kennt. Der nigelnagelneu tagungen und dem Bundeskongress der hergerichtete Platz dahinter ist leer, etwas Nationalen Stadtentwicklungspolitik ein verloren steht ein Eisstand vor einer lee- weiteres offenes Forum für den Wissens- ren Ladenzeile. Der erste Mensch, dem Wie lässt sich die Neue Leipzig-Charta und Erfahrungsaustausch. Vor allem die Neue Leipzig-Charta die beiden hier ihr fragendes »Entschul im Alltag umsetzen? Ein vielfältiges Infor- in Pilotprojekten gewonnenen Erkennt- digung?« entgegenrufen, macht direkt eine mations- und Dialogangebot gibt Antwor- nisse werden so einem erweiterten Kreis Biege. Mehr Glück haben sie bei einer jun- ten, Hilfestellung und Inspiration. von Interessierten zugänglich und in- gen Frau, die in einem gelben Regenman- spirieren dazu, die Neue Leipzig-Charta Foto: Annette Kammerer tel des Weges kommt: »Entschuldigung, Seit mehr als einem Jahrzehnt fördert die praktisch umzusetzen. wir hätten 1.000 Euro für dich«, rattern die Nationale Stadtentwicklungspolitik in- beiden los. »Hättest du Lust …?« Die jun- novative Projekte für integrierte und ge- Geplant ist außerdem ab Mai 2021 ge Frau schaut verdutzt, überlegt kurz und meinwohlorientierte Stadtentwicklung, eine Info-Tour, bei der die Nationale sagt »Ja«. Sie mache hier gerade ein Prakti- bündelt Wissen und Erfahrungen, regt Stadtentwicklungspolitik mit einem kum an einer Schule für Kinder mit Behin- zum fachlichen Austausch an und ver- »stadt:mobil« in verschiedenen Städten derung und hätte da tatsächlich eine Idee: netzt Akteure aus Verwaltung, Politik und mit umfangreichen Informationsangebo- Wie es der Zufall so will: Spielgeräte für den Park, in dem viel zu Gesellschaft. Mit einem breit angelegten ten zur Neuen Leipzig-Charta, zu Förder- Wo der Dartpfeil im Stadtplan wenig los sei. Valentin lädt sie zur weiteren zu kommen. Kinder, die Erwachsenen die Angebot werden diese Ressourcen rund programmen und Wissensressourcen zu stecken bleibt, fahren die Besprechung ihrer Initiative für die kom- Haare schneiden, tanzende Menschen, um die Neue Leipzig-Charta jetzt für noch Gast sein wird. Das »stadt:mobil«, ein Las- Projektmacher hin – und fragen mende Woche in die Stadtmensch-Zentra- eine Kinder-Uni, grüne Klassenzimmer mehr Menschen nutzbar. Was diese auf tenfahrrad mit mobilem Infostand, kann Bürger nach ihren Ideen. Die le ein und freut sich: »Das war ja leicht.« und bemalte Häuser. Alles Projekte, die gesamteuropäischer Ebene thematisiert, auch von den Pilotprojekten für eigene junge Frau im gelben Mantel Heute allerdings stehen für die Leu- Altenburger für Altenburger ins Leben ge- soll mit lokaler Expertise anschaulich ge- Kommunikationsaktivitäten in ihren hätte da tatsächlich eine Idee. te von Stadtmensch erst mal noch andere rufen haben. Und einiges mehr. macht und praxisnah diskutiert werden. Städten genutzt werden. Aufgaben an. Für den Nachmittag wird Ganz so behäbig ist der Günther Begonnen wurde bereits im letzten hoher Besuch erwartet, und in den Räu- also offenbar schon gar nicht mehr. Wenn Unter der Überschrift Herbst mit dem neuen Internetauftritt und Alle Informationen zu diesen und men der Zentrale kommt es allmählich zu man ihn erst mal für etwas Eigeninitia- »macht Stadt gemein- einem regelmäßig erscheinenden News- weiteren neuen Kommunikationsangeboten Immer wieder kommen rang- hektischem Treiben. Die Vizepräsidentin tive gewonnen hat, kann da eine Menge sam« regt ein vielfältiges letter rund um Themen der integrierten sind direkt erreichbar über machtstadtge- hohe Politiker zu Besuch – des Bundestages, Petra Pau, nutzt einen passieren. Wobei der urdeutsche Name Informations- und Dialog g- Stadtentwicklung. Auf www.nationale- meinsam.de. Weitere Veranstaltungsforma- wie neulich Bundestagsvize- Termin in der Nähe, um der Initiative der Symbolfigur auch nicht falsch ver- angg ebot zum gemein- stadtentwicklungspolitik.de wird auch ein te sind für die nächsten Jahre vorgesehen. präsidentin Petra Pau. Dass einen Besuch abzustatten. Sie ist nicht die standen werden soll: Wirklich jeder und samen Nachdenken über eigener Bereich mit Informationsmateria- »Stadtmensch« eine Art Vorzei- erste ranghohe Politikerin, die sich vor jede, alt, jung, mit Migrationshintergrund die europäische Stadt der lien und Erklärfilmen zur Neuen Leipzig- geprojekt geworden ist, macht Ort selbst ein Bild von diesem Pilotprojekt oder ohne, ist eingeladen, sich bei Stadt- Zukunft an Charta bereitgestellt. die Akteure sichtlich stolz machen will, und die Akteure macht das mensch einzubringen – ein Stadtmensch sichtlich stolz: Stadtmensch sei offenbar zu werden. Im Winter startet der Podcast »stadt:ra- nicht nur Pilot-, sondern auch Vorzeige- Nächstes Jahr soll der geknete- dar«, ein digitales Debattenformat rund projekt, sagen sie. te Günther übrigens als Preis vergeben ums Stadtmachen, Stadtdenken und Stadt- Für die Parlamentspräsidentin wur- werden. Für eine Person, die auf be- entwickeln, das ab dem 3. Dezember 2020 de eine PowerPoint-Präsentation vorbe- sonders beeindruckende Weise »fliegen einmal im Monat erscheint. Im Mittel- reitet. Anja scrollt durch eine erkleckliche gelernt« hat. Begleitet werden soll das punkt jeder Folge steht ein aktuelles Stadt- Anzahl von Slides mit je einem Projekt von einer kleinen interaktiven Videoserie entwicklungsthema aus dem fachlichen pro Seite: der Kunstgarten, eine Initia- auf YouTube, die mit einem Schauspieler Diskurs rund um die Neue Leipzig-Charta. tive, die aus leer stehenden Kleingärten vom Altenburger Theater produziert wird. Was ist und was braucht gute Stadtent- eine Begegnungsstätte macht. Ein Bild mit Darin dürfen die Zuschauer den Günther wicklungspolitik, um die »transformative Foto: Anja Fehre »Mensch ärgere dich nicht« spielenden Al- ein bisschen durch seinen Alltag begleiten Kraft der Städte« im Sinne des Gemein- tenburgern – das mobile Spielecafé, das in und nach jeder Episode selbst entscheiden, wohls zu entfalten? Mit welchen Ideen und die umliegenden Dörfer fährt, um mit den wie es weitergehen soll. Ob Günther vom Lösungen aus großen wie kleinen Städten Menschen übers Brettspiel ins Gespräch Meckern zum Machen übergeht. schaffen wir lebens- und liebenswerte 19
Das ist doch Die erste inter- nationale Ausgabe des Magazins im Jahr 1964 war ein Foto: Cover illustration, Archigram 4. Warren Chalk © Archigram 1964 ziemlicher BAAANG ... Visionen utopisch Damit das auch wirklich klar wird, schreibt Archigram es groß drauf: Sie wollen mehr Glamour in der Stadtplanung Geht es um Zukunfts planung für Städte, lohnt auch ein Blick in die Vergangenheit. Da fallen etwa die Entwürfe von »Archigram« direkt ins Auge, einem avant- gardistischen Architektenkollektiv aus London, das mit einem gleichnamigen Magazin das städtebauliche Establishment der 1960er-Jahre Visionen aufgemischt hat. Die Gruppe um den Architekten Peter Cook kritisierte den Modernismus als steril und setzte unter dem Schlagwort »Living City« neofuturistische Visionen dagegen – eine eigen- tümlich lebenslustige Mischung aus Hightech, Poesie, Science-Fiction und Popkultur. Archi- gram vermengte seine utopischen Entwürfe, in denen es vor experimentellen Hüllen, Röhren, Ballons nur so wimmelt, mit Comic-Elementen, Gedichten und bunten Collagen. In Form von mo- bilen Wohnkapseln und transportablen Städten ist die Raumfahrtbegeisterung jener Zeit stets zugegen. Stadt wirkt hier immer wie ein lebendi- ger Organismus, ist weit mehr als eine Ansamm- lung von Gebäuden. Welche Erkenntnisse dieser Rückblick in die Sechziger bringt? Wer Menschen für die städtische Zukunft gewinnen will, muss sie auch inspirieren und das Denken befreien. Instant City, A Typical Night Time Scene, Peter Cook, © Archigram 1968 Mit seiner technisch-glamourösen Bilderwelt hat Archigram einige bekannte Architekten be- einflusst. Aber es gab auch Kritik. Für Umwelt- fragen war bei all der Technikeuphorie kein Platz – obwohl sie sich damals bereits stellten. Die urbanen Utopien der Vergangenheit können für heutige Planer also anregend sein, sie aber auch davor bewahren, ihre visionären Fähigkeiten zu überschätzen. Es kommt immer noch anders…
Städte aus Wünschen und Zweifeln Kolumne den Improvisationen, aus Idealbildern und Protestbannern. Welche Rolle könnten Planer in solchen Prozessen einnehmen? Es wäre zu einfach, diese Frage nur aus dem Baugesetzbuch heraus zu beant- Fotos: City Interchange, study of a multi-transport mode-node zone, Elevation. Warren Chalk + Ron Herron © 1963 Archigram, VG Bild-Kunst, Bonn 2020; Instant City at Bournemouth Peter Cook © Archigram 1969 nen, aus Entschiedenheit worten. Planer sind dann nur ein unbe- und Zweifel. Es war ein Feh- deutendes Rad im Getriebe. Die großen ler, dies so lange aus unse- Bilder werden von Architekten gemalt, rer Praxis und unserer For- die großen Versprechen von Investo- schung auszuklammern. In ren gegeben. Wer also ist der Planer gewisser Weise muss sich und, wenn ja, wie viele? Immer noch ist der Planer deshalb neu er- er ein bisschen Ingenieur, meist aber finden. Zur Utopie mit bunten In »Instant Cities« Moderator oder Koordinator, ein Ma- Vor langer Zeit, als Ballons und Wohnkapseln ging es um die nager der Stadt eben, der organisiert, ich selbst noch ein Prakti- kam bei »Archigram« eine Möglichkeit, Städte was die Politik ihm ins Pflichtenheft ker war und nicht Beobach- große Technikeuphorie transportabel zu schreibt. Doch das schöpft die Viel- ter, da stellte ich Bürgern Foto: Victoria Jung und ein Desinteresse machen und sie an falt an möglichen Formen bei weitem einmal meinen Plan vor. Bei an Umweltfragen. Dafür anderen, schöneren nicht aus. Diese Rollen sind zu passiv seiner Erwiderung kam der wurde das Projekt auch Orten aufzubauen – und konservativ. Nötig sind auch Inspi- Vorsitzende der Bürger- kritisiert etwa an der Küste ratoren und Motivatoren. Gleichzeitig initiative zu mir nach vorne sollten Planer Lernende sein, Üben- und fuchtelte so zornig mit de, Fehlermachende, aber auch Lotsen den Armen herum, dass der durch das Meer der Mehrdeutigkeit. Plan in der Mitte zerriss. Erste Beispiele zeigen, wie sie sich als Stadtplaner verstehen sich als Fach- Wochen später saßen wir dann wieder Orchestratoren und Ermöglicher von leute, die viel auf ihre Ratio geben. zusammen, und ich zeigte ihm beiläufig Stadtzukünften neu erfinden können, Stephan Willinger aber hat die Erfah- den 100-seitigen Abwägungsbericht, in emotionalen Rollen, die Impulse für rung gemacht, dass Planung immer in dem alle Anregungen und Bedenken Veränderung erzeugen. auch ein gemeinsamer emotionaler Pro- aufgeführt und von der Verwaltung Denken Sie also ruhig mit Gefühl! zess ist – und dass gerade darin ein gro- bewertet worden waren. Fassungslos Dann werden Sie sich auch besser in ßes Potenzial steckt. In seiner Kolumne schaute er mich an – und entschuldigte andere hineinversetzen können, um wagt er sich diesmal in dieses »Meer sich aus tiefstem Herzen. Niemals habe ihre Interessen und Motive kennenzu- der Mehrdeutigkeit«. er gedacht, dass dieser Plan das Ergeb- lernen. nis so vieler Wünsche und Sorgen war, nicht nur seiner und meiner. Nein, ich Im Sommer beobachtete ich, wie war ihm nicht böse, vielmehr entstand während einer selbstorganisierten ein zauberhafter, ein wahrer Moment, Bürgerversammlung in Münster ein- in dem sich vieles klärte, das zwischen zelne Teilnehmer zwischendurch mit uns gestanden hatte. einem warmen Lächeln in die Ferne Planer haben sich seit jeher als Literaturtipps und eine schauten. Ein paar Wochen später sah Fachleute verstanden, deren Aufgabe Playlist zum Thema ich bei einer Preisverleihung, während nicht emotional, sondern rational ist. der Kolumne finden sich die meisten dem Sieger applaudierten, Doch in Wahrheit ist jede Planung auch unter: www.nationale- eine kleine Träne aus dem Augenwinkel ein gemeinsamer emotionaler Prozess! stadtentwicklungspolitik.de des Zweitplatzierten rollen. Möglich, Wir sollten Emotionen daher als ver- dass unsere zarten Seelen durch die bindende Kraft in Planungsprozessen Anstrengungen dieses Jahres noch ein begreifen. Stattdessen werden sie wenig zarter besaitet sind als sonst. zumeist als Störfaktor abgetan, gelten Stephan Willing g er Doch jenseits davon empfand ich die als rein irrational. Doch positiver Wan- Stimmigkeit dieser Situationen: Pla- del entsteht nicht nur aus Tugenden ist Projektleiter der Nationalen nung ist ein zutiefst emotionaler Pro- und sauberen Abwägungen, sondern Stadtentwicklungspolitik im Bundes zess. Ein Wust aus Hoffnungen und auch aus Chaos und Leidenschaft, aus institut für Bau-, Stadt- und Raum Ängsten, aus Visionen und Aggressio- überraschenden Emergenzen und wil- forschung (BBSR). 23
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