Sinfoniekonzert Ingo Metzmacher Dirigent | Marlis Petersen Sopran - A3
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SINFONIEKONZERT DO 12.01.2023 A3 FR 13.01.2023 20 UHR NDR Ingo Metzmacher Dirigent Anton Plate | *1950 GR.SENDESAAL Marlis Petersen Sopran „Libération“ Sinfonie in sechs Sätzen für Sopran NDR Radiophilharmonie und großes Orchester (1999-2018) (Erläuterungen zu den einzelnen Sätzen finden Sie ab S. 10) I. You must finish your journey alone II. Passing Richard Strauss | 1864 – 1949 III. At the river „Metamorphosen“ IV. Leaving Studie für 23 Solostreicher (1945) V. Abschied (mit Sopran-Solo) Adagio ma non troppo - Agitato - Più allegro - (Texte und Übersetzungen auf S. 13) Adagio, tempo primo VI. Limbo (mit Sopran-Solo) - Uraufführung (Texte und Übersetzungen ab S.13) SPIELDAUER: CA. 28 MINUTEN SPIELDAUER: CA. 70 MINUTEN PAUSE Vor diesem Konzert: Das Gelbe Sofa 19 UHR | NDR | GR. SENDESAAL Am 12. + 13.01.23 zu Gast: der Dirigent Ingo Metzmacher. Moderation: am 12.01. Raliza Nikolov (NDR Kultur), am 13.01. Friederike Westerhaus (NDR Kultur). Das Konzert am 12.01.23 wird live auf NDR Kultur übertragen. (Hannover: 98,7 MHz)
BIOGRAFIE In Kürze Er ist ein weltweit geschätzter Dirigent, gebürtiger Hannoveraner und Intendant der KunstFestSpiele Herrenhausen: Ingo Metzmacher gastiert im heutigen Konzert am Pult der NDR Radiophilharmonie. Und wenn er ein Programm zusammenstellt, ist das immer spannend, innovativ und wirft Perspektiven in unsere Gegenwart. An diesem Abend kommt in der zweiten Konzerthälfte Anton Plates Sinfonie „Libération“ zur Aufführung. Plate, geboren 1950 in Hildesheim, ist mit Metzmacher und Hannover musikalisch tief verbunden. „Anton Plate hat mich damals überhaupt erst zum Dirigieren gebracht“, so Metzmacher. „Damals“ – das war die Zeit, als der junge Metzmacher im Jugendsinfonieor- chester Hannover an der Pauke saß und der Dirigent des Orchesters, Anton Plate, ihn auch an sein Pult ließ und zum Dirigieren motivierte. Darüber hinaus war Plate viele Jahre Pro- fessor für Musiktheorie an der hannoverschen Musikhochschule und Metzmacher gehör- te zu seinen Studenten. Als Komponist eines facettenreichen Œuvres geht Plate bis heute Ingo Metzmacher seinen ganz eigenen Weg, in kritischer Distanz zur Avantgarde. „Libération“ entstand von 1999 bis 2018 als groß angelegtes Opus mit reichhaltiger Besetzung. Es nimmt die Dirigent Zuhörer*innen mit auf eine bewegende und spannungsreiche Reise der Seele: „Das große Thema dieser Sinfonie könnte lauten: ,Das Leben ist ein immerwährendes Abschiedneh- Der gebürtige Hannoveraner Ingo Metzmacher studierte u. a. an der hiesigen Mu- men, ein immerwährendes Loslassen‘“, schreibt der Komponist. Die einzelnen Sätze set- sikhochschule Klavier, Musiktheorie (bei Anton Plate) und Dirigieren. Seine erste zen sich mit dem Leben, dem Abschiednehmen davon, dem Tod und dem Ankommen in der künstlerische Wirkungsstätte wurde Frankfurt, wo er das Ensemble Modern leitete jenseitigen Welt auseinander. Ein schonungsloser wie befreiender Prozess, der Assoziati- und an der Frankfurter Oper arbeitete. Am Brüsseler Opernhaus begann 1988 sei- ne internationale Karriere. Metzmacher war Generalmusikdirektor der Hamburgi- onen, persönliche Erinnerungen und Emotionen freisetzt und reflektiert. In den letzten schen Staatsoper, Chefdirigent an der Niederländischen Nationaloper sowie Chef- beiden Sätzen („Abschied“, „Limbo“) tritt der Solosopran hinzu – „die einsame Seele wird dirigent und künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. präsent“, so Plate – und bildet eine weitere Klang- und Reflexionsebene u. a. mit italieni- Seit 2016 ist er Intendant der KunstFestSpiele Herrenhausen und arbeitet bei die- schen Texten von Plate, aus der Bach-Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ und Melvilles sem Festival auch eng mit der NDR Radiophilharmonie zusammen - im kommenden „Moby Dick“. Gedanken des Abschieds, Schmerzes und Verlusts formen auch die Tonspra- Mai bei der Aufführung von Mahlers Sinfonie Nr. 8 im Kuppelsaal. Er ist ein gefrag- che des ersten Werkes des Abends: Strauss‘ „Metamorphosen“, komponiert 1945 in den ter Gastdirigent z. B. bei den Berliner Philharmonikern, beim Concertgebouw Or- chester, beim Chicago Symphony Orchestra, bei der Wiener Staatsoper, der Pariser letzten Kriegswochen als Ausdruck der Trauer über die Zerstörung der deutschen Musik- Oper und der Mailänder Scala. Als eine der innovativsten und inspirierendsten Mu- stätten, an denen Strauss als Komponist und Dirigent jahrzehntelang künstlerisch tätig sikerpersönlichkeiten unserer Zeit setzt er sich konsequent für die Musik des 20. war. 23 Solostreicher bilden das Orchester, aus dem dieser Klagegesang als ständiges und 21. Jahrhunderts ein, sowohl als Dirigent und Festivalleiter wie auch als Buch- motivisches Sich-Fortspinnen erwächst. Am Ende zitiert Strauss den Trauermarsch aus autor etwa von „Keine Angst vor neuen Tönen: Eine Reise in die Welt der Musik“. Beethovens „Eroica“ – „In memoriam“ notierte der 80-Jährige unter diese Schlusstakte. 5
BIOGRAFIE Ein vollendeter Abgesang „Metamorphosen“ für 23 Solostreicher von Richard Strauss Als Mann der klangprächtigen und effektvollen Töne wurde Richard Strauss zu ei- nem der bedeutendsten deutschen Komponisten und auch als Dirigent und Opern- direktor zur Berühmtheit. Mit seinen opulenten wie fein gezeichneten Sinfonischen Dichtungen von „Don Juan“ (1888) über „Till Eulenspiegels lustige Streicher“ (1895) bis „Ein Heldenleben“ (1898) ging er auf Erfolgskurs und steuerte mit musikalisch frischem Wind ins 20. Jahrhundert. Rückblickend meinte er 1943, dass seine Sinfo- nischen Dichtungen allesamt „nur Vorbereitungen“ zu seiner Oper „Salome“ gewe- sen seien, deren Uraufführung 1905 Skandal und Sensation zugleich war. Kühn und neuartig hatte Strauss das Werk kompositorisch angelegt und darüber hinaus mit dem Salome-Dramenstoff (nach Oscar Wilde) die Opernbühne für starke, selbstbe- Marlis Petersen wusste wie verletzliche und auch - wie im Falle von Salome - sich grausam rächen- de weibliche Hauptfiguren demonstrativ geöffnet. Mit seiner „Salome“ schrieb Sopran Strauss Musiktheatergeschichte und konnte für sich zudem einen beträchtlichen finanziellen Erfolg verbuchen. Die Einnahmen flossen 1908 in den Bau der stattli- chen Strauss-Villa in Garmisch. In dieser Villa saß Strauss auch in den letzten Mo- naten des Zweiten Weltkriegs und stellte am 12. April 1945 seine „Metamorphosen“ Marlis Petersen gehört zu den charismatischsten Sängerinnen der Gegenwart. Sie fertig, ein Werk der Trauer über die Zer- fasziniert durch ihre Stimmqualität wie durch ihre Bühnenpräsenz. Nach dem störung seiner Heimatstadt München Schulmusikstudium und der Gesangsausbildung bei Sylvia Geszty in Stuttgart be- und der Kulturstätten in ganz Deutsch- gann ihre Laufbahn als Opernsängerin am Staatstheater Nürnberg und nachfol- land. Und das Werk eines resignierten München, Foto um 1946. gend an der Deutschen Oper am Rhein. Seit 2003 ist die gebürtige Sindelfingerin 80-jährigen Komponisten, der sich ganz weltweit unterwegs. Eine ihrer Paraderollen ist Bergs Lulu, in der sie u. a. an der persönlich tief getroffen fühlte: „Mein Le- New Yorker Met und der Bayerischen Staatsoper gefeiert wurde. Ebenso beein- benswerk ist zerstört, die deutsche Oper druckt sie als Strauss‘ Salome, Marschallin im „Rosenkavalier“ oder Marietta in kaputtgeschlagen, die deutsche Musik in Korngolds „Die tote Stadt“. Bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen gibt das Inferno der Maschine verbannt, wo sie ihr Debüt als Elisabeth in „Tannhäuser“. Besonderes Renommee genießt sie zu- ihre gequälte Seele ein armseliges Jam- dem als Interpretin zeitgenössischer Musik. So sang z. B. bei der Uraufführung von merdasein fristet. […] Meine Werke werde Jörg Widmanns „Arche“ zur Elbphilharmonie-Eröffnung. Mit großer Leidenschaft ich auf dieser Welt nicht mehr hören und widmet sie sich auch der Gattung Lied und tritt mit individuell kreierten Program- sehen“, notierte er bereits 1944. Anzu- men u. a. in der Londoner Wigmore Hall und im Konzerthaus Wien auf. Vier Mal wur- merken ist, dass Strauss, seit jeher mit ei- de sie von der Zeitschrift Opernwelt zur „Sängerin des Jahres“ gekürt. 2020 erhielt nem großen Ego ausgestattet, sich selbst sie den Opus Klassik. 2021 wurde sie zur Bayerischen Kammersängerin ernannt. zunächst von den Nationalsozialisten ins- 6 7
trumentalisieren ließ und zum Präsidenten der Reichsmusikkammer ernannt wur- neralpause. Nach der plötzlichen Stille folgt nochmals eine deutliche Reminiszenz den. 1935 entließ man ihn allerdings wieder – wegen seines Festhaltens an seiner an die allerersten Takte, nun aber mit größtem Nachdruck, im zweifachen Forte und Zusammenarbeit mit dem jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig. mit der Stärke des ganzen (Streich)orchesters gespielt. Aus der Klagemotivik der Anfangstakte der „Metamorphosen“ erwächst schließlich ganz am Ende noch ein Mit seinen „Metamorphosen“ schrieb Strauss am Ende seines Lebens sein außer- anderes und doch bekanntes Motiv: Der Trauermarsch, „Marcia funebre“, aus Beet- gewöhnlichstes Instrumentalstück. Die aus der emotionalen Gedankenwelt der hovens Sinfonie Nr. 3 „Eroica“ (2. Satz) klingt an und wird hier quasi wie ein gehei- Trauer, der Klage und des Abschieds geformte Tonsprache des Werkes ist ebenso mes Urgewächs und kompositorische Wurzel des Ganzen tief unten in den Kontra- effektvoll wie in Strauss‘ vorangegangenen sinfonischen Kompositionen - und doch bässen ausgegraben. „In memoriam!“ notiert Strauss unter diese Takte, bevor er ist es ein gänzlich anderer Strauss, der hier erschütternd tönt. Effekte werden nicht alle Streicherstimmen in der tragisch-schicksalhaften Tonart c-Moll zusammen- durch extrovertierte Klänge erzeugt, sondern durch eine introvertierte und kon- führt und das Werk im Pianissimo zum Ende, zur Ruhe kommen lässt. templative, aber umso intensivere Klanglichkeit. Die das Orchester bildenden 23 Solostreicher sind zu einem vielstimmigen, doch homogen zusammenklingenden ANDREA HECHTENBERG Chor zusammengefügt, der mit feinstem Gespür und in differenziertesten Schattie- rungen diesen Klagegesang vorträgt. Strauss inszeniert das gesamte Geschehen in weiten Klangbögen und mit meisterhafter Kontrapunktik. Gleich in den ersten lei- „Das Leben ist ein immerwährendes Ab- sen Takten (e-Moll) sind die jahrhundertealten musikalischen Chiffren des Bösen und der Trauer eingearbeitet: die übermäßige Quarte, der „Teufel in der Musik“ (Tri- schiednehmen“ tonus), kontrapunktiert von schmerzvoller Klagemotivik (Lamentobass in abstei- genden kleinen Sekunden). Sie gehören zu den prägenden Elementen des Stückes, das sich jedoch insgesamt aus dem dichten Wechselspiel ganz unterschiedlicher „Libération“ – Sinfonie für Sopran und großes Orchester von Anton Plate Klanggesten und motiv-thematischer Linien entwickelt, die auseinander entste- hen, sich durchkreuzen oder sich auch kontrastierend auffächern. Ein ständiges or- ganisches Sich-Fortspinnen, ein Anspannen und Entspannen – ein Keimen und Blü- Bei der Uraufführung der „Metamorphosen“ 1946 in Zürich saß auch der mit hen, das verstehen lässt, warum der Goe- Strauss befreundete Schweizer Komponist Heinrich Sutermeister im Publikum. Ab the-Verehrer Strauss für dieses Werk den 1963 wurde Sutermeister Leiter der Kompositions- Titel „Metamorphosen“ wählte. „Werdend klasse an der Musikhochschule Hannover – einer Strauss (l.) mit Paul Sacher, Dirigent der Urauffüh- betrachte sie nun, wie, nach und nach seiner Studenten war Anton Plate. Als Professor für rung der „Metamorphosen“ 1946 in Zürich. sich die Pflanze, stufenweise geführt, bil- Musiktheorie an der heutigen HMTMH und Dirigent Anton Plate det zu Blüthen und Frucht. […] Und hier des Jugendsinfonieorchesters Hannover (heute schließt die Natur den Ring der ewigen Junges Sinfonieorchester Hannover) wurde der ge- Kräfte, doch ein neuer sogleich fasset bürtige Hildesheimer Plate später dann selbst zur den vorigen an; daß die Kette sich fort prägenden Persönlichkeit für viele junge Musike- durch alle Zeiten verlänge, und das Ganze rinnen und Musiker – nicht zuletzt für Ingo Metzma- belebt so wie das Einzelne sey“, schrieb cher, der bei Plate sowohl Musiktheorie studierte Goethe in seiner Elegie „Metamorphose als auch im Jugendsinfonieorchester als Pauker der Pflanzen“. Nach 431 Takten des wo- spielte und von ihm zum Dirigieren animiert wurde: genden Fortschreitens ein abrupter Ab- „Anton Plate hat mich damals überhaupt erst zum bruch der gesamten Musik durch eine Ge- Dirigieren gebracht“ (VAN Magazin, 2015), so Metz- 8 9
macher. Als Komponist eines sehr facettenreichen Œuvres ist Plate stets seinen die Reise des Lebens nähert sich ihrem Ende. Unzählige Erinnerungen tauchen auf ganz eigenen Weg gegangen, in Distanz zu avantgardistischen Strömungen. „Libé- an Erlebnisse, die seinerzeit die Endlichkeit des Lebens vergessen ließen, Erinne- ration“ entstand - durch Krankheit wurde der Kompositionsprozess mehrmals un- rungen an glückliche, unbeschwerte Zeiten, an ein Gefühl von Freiheit. Am Ende ein terbrochen - von 1999 bis 2018 und war nicht von Beginn an als sechssätzige Sinfo- trauriger Wunsch: „Viel Glück, denken Sie mal an uns!“ nie geplant. „You must finish your journey alone“ (1. Satz) etwa wurde als Einzel- VI. Limbo (Vorhölle, Fegefeuer): Der letzte Satz: Die verzweifelte Seele ist ange- stück bereits im Jahr 2000 in der Hamburger Konzertreihe „Who Is Afraid Of 20th kommen in der jenseitigen Welt. Der Sopran singt Texte aus Grimms Märchen („Das Century Music?“ von Ingo Metzmacher uraufgeführt. Mit „Passing“ (2. Satz) entwi- Hirtenbüblein“), von Johann Rist aus Bachs Kantate „O Ewigkeit ...“, von John Keats, ckelte sich dann der Gedanke einer mehrsätzigen Sinfonie, in deren letzten beiden von Herman Melville (aus „Moby Dick“, in der Übersetzung von Thesi Mutzenbecher), Sätzen „Abschied“ und „Limbo“ der Solosopran mit verschiedenen Texten hinzu- und von mir (die italienischen Texte). Wir erleben die verwirrte Seele eines Men- tritt - u. a. mit von Plate selbst verfassten italienischen Texten (das Jahr 1976 ver- schen nach dem Tod, die sich nun in einer ihr völlig fremden, unheimlichen Welt fin- brachte er als Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom). Der 2018 det. Sie erinnert sich an das, was sie vor dem Tod über die jenseitige Welt erfahren fertiggestellte Finalsatz „Limbo“ erlebt im heutigen Konzert seine Uraufführung. hat und merkt, dass es ihr in ihrer gegenwärtigen Lage nicht hilft. Ja, sie ist vollkom- men hilflos und klammert sich nun an das Wenige, an das sie sich aus ihrem Erden- Abschiedsgedanken und das Gefühl des schmerzvollen Verlusts sind in Strauss‘ leben erinnert: Was weiß sie von der Ewigkeit? Was weiß sie vom Rätsel des Lebens „Metamorphosen“ prägend. In Plates „Libération“ werden die Auseinandersetzung und des unvermeidlichen Todes? Was weiß sie vom Zusammenhang von Liebe und mit dem Leben, der Prozess des Abschiednehmens davon, der Tod und das Ankom- Tod, von Liebe, die den Tod besiegt? Sie versucht sich zu erinnern: An Nacht und Lie- men in einer jenseitigen Welt zu wesentlichen Themen, als vielfältige Assoziationen be, an die Bitterkeit der Abschiede und Enttäuschungen. Immer wieder die Suche und Reflexionen, persönliche Erinnerungen und Emotionen auslösende Momente. nach Zuflucht, immer wieder: „Love me as I love you!“ Keine Antwort! Die ewige Der Komponist schreibt: „Das große Thema dieser Sinfonie könnte lauten: ,Das Le- Nacht schenkt ihr keine Beachtung. Sie sucht Trost in einem zarten Wiegenlied, ben ist ein immerwährendes Abschiednehmen, ein immerwährendes Loslassen‘.“ doch der flehende, freilich unerfüllte Wunsch nach Aufklärung und Hilfe in diesem Chaos des Unbekannten lässt sie nicht los: „Sprich, lös mir das Rätsel ...“ Die Frage Anton Plate über die einzelnen Sätze von „Libération“: des „Wohin?“ wird immer dringlicher, immer dramatischer, immer verzweifelter: „Dove devo andare?“, Wut und Aggression werden immer schlimmer: „È questo il re- I. You must finish your journey alone: Im ersten Satz richtet sich der Blick in die gno celeste? Non è possibile!“ In ihrer Not schreckt sie nicht zurück vor gröbsten Zukunft: Du wirst deine Reise allein beenden müssen - eine bittere Erkenntnis! Beleidigungen der Gottheit, ist schließlich fast außer sich vor verzweifelter Wut. Ein II. Passing: Der zweite Satz zeigt die Seele als Zuschauer: Sie steht am Straßen- Chaos sondergleichen tut sich auf. Die zerstörte Seele bricht schließlich zusam- rand und plötzlich zieht etwas vorbei, mit Getöse. Sie bleibt ratlos zurück, die Er- men. Wie Asche, wie Staub bleiben wenige Erinnerungen übrig: „Vows of my slave- fahrungen des Lebens hinterlassen Spuren. ry, my giving up, my sudden adoration, my great love!“ III. At the river: Der dritte Satz beginnt hymnisch: „Shall we gather at the river ...“ Die Seele schöpft Hoffnung: Ist das der Weg ins Reich Gottes? Sie scheint lange Ein kurzer Ausflug für musiktheoretisch Interessierte: Treppen hinaufzustolpern, außer Atem. Die Umgebung verändert sich, mal wähnt sie sich auf hoher See, mal in grausiger Unterwelt. Am Ende ein fragender, mär- In meiner Sinfonie spielen zwei zwölftönige Klänge oder Reihen, in Gänze oder in chenhafter Ausblick: „Es war einmal ...“ Ausschnitten, eine herausragende Rolle: Beide sind nur aus großen und kleinen Ter- IV. Leaving: Im vierten Satz verharrt die gepeinigte Seele in Gedanken an das Ver- zen aufgebaut, von c aufwärts folgendermaßen (aus praktischem Grund gelegent- lassen dieser Welt. Sie trauert tief und hoffnungslos. Die unbeantwortbaren Fragen lich enharmonisch verwechselt): wollen nicht weichen. 1. c e g b d f gis h dis fis a cis | 2. c e g b d fis a cis eis gis h dis V. Abschied: Fünfter Satz: Jetzt tritt ein Sopran zum Orchester, die einsame Seele Arnold Schönberg beschreibt in seiner Harmonielehre (S. 487/488) die zwei folgen- wird präsent. Die Gedanken an den Abschied lassen sich nicht mehr verdrängen, den zwölftönigen Terzen-Klänge oder auch Terzen-Reihen: 10 11
3. c e gis / h es g / b d fis / a cis f | 4. c es ges a / cis e g b / d f as ces Gesangstexte Er teilt sie ein in geschichtete übermäßige Dreiklänge bzw. verminderte Septakkor- de, freilich jeweils im Abstand einer kleinen bzw. einer großen Terz. Da es ihm um den Beweis geht, dass Terzen und Zwölftonreihen unter „atonalen Bedingungen“ V. Abschied nicht miteinander vereinbar sind (aufgrund der gewagten These, dass die einen Bausteine der Tonalität, die anderen die der Atonalität sind), kommt er nun zu dem Che bella Roma, che bella Italia, Was für ein schönes Rom, was für ein ebenso überraschenden wie abwegigen, ja sogar etwas irrsinnigen Schluss, sowohl nel mondo altre gioia schönes Italien, auf der Welt gibt es übermäßige Dreiklänge als auch verminderte Septakkorde seien „zweifellos Kunst- come te non v‘è. keine andere Freude als dich. produkte des Systems“ - da könnte man hinter jedes Wort ein fragendes Ausru- Tu m‘incanti, è così. Du verzauberst mich, es ist so. fungszeichen setzen. Einmal davon Mi stai a cuore, oh più bella, Du liegst mir am Herzen, oh du abgesehen, dass sich an den „Schnitt- è così. Schönste, es ist so. Was für ein schö- stellen“ sehr wohl Dur- und Molldrei- Che bella Roma, che bella Italia, ... nes Rom, was für ein schönes Italien, Partiturseite mit dem Beginn von „Libération“. klänge und natürlich auch verschie- purtroppo, purtroppo: ... leider, leider: nochmals herzlichen dene Septakkorde finden, die Schön- Ancora complimenti! Baci! Abbracci! Glückwunsch! Küsschen! Umar- berg selbstverständlich geflissent- Benissimo! mung! Sehr gut! Luftsprünge, los lich übersehen hat, hat er die von mir Capriole, avanti con le capriole! geht‘s mit den Luftsprüngen! genutzten Reihen überhaupt nicht entdeckt! Übrigens bedarf es keiner Così fosse vero! Also war es wahr! besonderen mathematischen Bega- E poi? Oh, ti amo, si, per sempre, Und dann? Oh, ich liebe dich, ja, für bung, um zu beweisen, dass es wirk- è così. Sei divina! ... e amore immor- immer, es ist so. Du bist göttlich! ... lich nur genau diese vier aus Groß- tale, ... tale! und unsterbliche Liebe, ... gewiss! und Kleinterzen aufgebauten Zwölf- Dolce vita: Biondina, questa mora, Süßes Leben: Blondine, diese Brünet- tonreihen gibt. Jede Theorie sollte morettina ...; te, Brünette ...; es ist so; es ist so; es doch möglichst widerspruchsfrei è così; è così; è così. ist so. und lückenlos sein, um eklatante Mängel auszuschließen, aber davon Senza di te devo morire! Ohne dich muss ich sterben! wollte Schönberg nichts wissen, er Per te potrei morire! Für dich könnte ich sterben! stand über den Dingen. Con te voglio morire! Mit dir will ich sterben! La cosa sta così! So ist das nun mal! Ob ich nun die Reihen 1. und 2. „ent- deckt“ habe oder nicht, ist mir ziem- Buona fortuna! Si ricordi di noi! Viel Glück! Denken Sie mal an uns! lich schnuppe. Ich habe sie jeden- falls für mich entdeckt und sie sind (Text: Anton Plate) für mich ein fast unerschöpflicher Brunnen wunderbarer Klänge, es VI. Limbo wird noch eine Weile dauern, bis ich damit fertig bin. „In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in 12 13
die Höhe, eine Stunde Manchmal denk‘ ich, es in die Breite und eine Stunde in die ist nichts dahinter, aber dann, Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahr dann weiß ich! Es setzt mir zu, ein Vöglein und wetzt sein Schnäbe- es nimmt mir den Atem.“ lein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Se- (aus Herman Melville: „Moby Dick“, kunde von der Ewigkeit vorbei.“ Übersetzung Thesi Mutzenbecher) (aus Grimms Märchen: „Das Hirten- Amare la vita amara? Liebst du das bittere Leben? büblein“) |: Love me as I love you!:| |: Liebe mich, wie ich dich liebe!:| Ewigkeit, du machst mir bange, Oh love me as I love you! Oh, liebe mich, wie ich dich liebe! ewig, ewig ist zu lange! Love me as I love you! Liebe mich, wie ich dich liebe! Flammen, die auf ewig brennen, ist kein Feuer gleich zu nennen; „Sprich, lös mir das Rätsel: Innig um- es erschrickt und bebt mein Herz, schlungen sahst du Liebende hinun- wenn ich diese Pein bedenke terspringen von brennenden Schif- und den Sinn zur Höllen lenke. fen, Herz an Herz in den Wogen ver- sinken. Sie verließen sich nicht, als O Ewigkeit, du Donnerwort, der Himmel sie verließ.“ o Schmerz, der durch die Seele bohrt, (aus Herman Melville: „Moby Dick“, o Anfang sonder Ende! Übersetzung Thesi Mutzenbecher) Zeit ohne Zeit, ich weiß vor großer Traurigkeit „... quando il cielo ha lasciato.“ „... als der Himmel verschwand“ nicht, wo ich hin mich wende. Che debbo fare? Was sollte ich tun? (aus der Bach-Kantate „O Ewigkeit, Che posso fare? Was kann ich tun? du Donnerwort“ BWV 20 Piangere per la delusione, per Weinen aus Enttäuschung, Bitterkeit Text: Johann Rist) l‘amarezza, per il dolore? und Schmerz? Er sagt: Dice: „Dio non paga il sàbato.“ „Gott zahlt den Samstag nicht.“ „Überall der Schatten des Unbe- Questo è il mio posto? - „Non è il Ist das mein Platz? - „Nein, das ist kannten: Das denkt und sinnt. tuo posto!“ nicht dein Platz!“ Und wer zuschlagen will, muss die Larve in Stücke schlagen. Dove devo andare? Wohin soll ich gehen? Wie soll der Gefangene hinaus, wenn er die Mauer nicht niederreißt. Ci sarà pure un posto per me. Es muss einen Platz für mich geben. Tutti i posti esauriti? Alle Plätze ausverkauft? 14 15
Dove devo andare? Wohin soll ich gehen? Orfano e abbandonato? Verwaist und verlassen? Maltrattato? Malnato? Misshandelt? Gemein? C‘è un gran vento lassù in aria. Dort weht ein starker Wind in der Maleducato e malandato? Ungezogen und schäbig? Si aspetta e non si riceve, si cerca e Luft. Man wartet und erhält nicht, Trascurato e imbarbarito? Vernachlässigt und barbarisch? non si ottiene. man sucht und erhält nicht. Non mi riconosci? Erkennst du mich nicht? („Santa Barbara, ora pro nobis!“) („Heilige Barbara, bete für uns!“) Non ti ricordi di me? Erinnerst du sich nicht an mich? Tu sei la mia sola speranza! Du bist meine einzige Hoffnung! Isolato e impenitente? Isoliert und ohne Reue? Disperato? Verzweifelt? Dove devo andare? Wohin soll ich gehen? Desolato e perduto? Trostlos und verloren? Dove andiamo, dove mi conducete? Wohin gehen wir, wohin führst du Non è possibile! Nicht möglich! Dove mi porti, questo è lontano? mich? Wo bringst du mich hin, ist das Dove vuoi andare? Questo è lontano? weit? Wohin wollen sie gehen? Ist es Un Dio malèvolo e testardo! Ein bösartiger und sturer Gott! Mi risponda!! noch weit? Antworte mir!! Un Dio bugiardo! Ein lügender Gott! Un Dio malìgno e scellerato! Ein böser und verruchter Gott! Dove devo andare? Wohin soll ich gehen? Un Dio atonale e deformato! Ein atonaler und deformierter Gott! Un Dio assurdo! Ein absurder Gott! Questa sarebbe la seconda vita, la Wäre dies das zweite Leben, vera vita? Questa la mira das wahre Leben? Ist dies das Ziel, (Text: Anton Plate) dove dovevamo arrivare dopo tanti wohin wir gehen mussten nach so anni di paure, vielen Jahren der Angst, der Einsam- O sleep a little while! O schlafe ein Weilchen! di solitudine, di male? keit, des Bösen? And let me kneel, and let me pray Und lass mich niederknien, und zu Una vita tanto magra e amara, tutto Ein so karges und bitteres Leben, nur to thee, dir beten, per arrivare a questa um zu diesem elenden Festmahl zu and let me call Heaven’s blessing on und lass mich den Segen des festa sciagurata? gelangen? thine eyes, Himmels auf deine Augen legen, È questo il regno celeste? Ist dies das himmlische Reich? and let me breathe into the happy und lass mich die reine Luft einat- air, men, Non è possibile! Nicht möglich! that doth enfold and touch thee all die dich umhüllt und dich überall about, berührt, È questo un Dio confuso? Ist das ein verwirrter Gott? vows of my slavery, my giving up, Gelübde meiner Sklaverei, meines Un Dio malconsigliato e fallibile? Ein irregeführter und fehlbarer Gott? my sudden adoration, Aufgebens, meine plötzliche Anbe- Un Dio stregato od impedito? Ein verhexter oder behinderter Gott? my great love! tung, meine große Liebe! Ammalato e pazzo? Krank und verrückt? Infestato? Ingrassato? Verseucht? Geschmiert? (aus einem Gedicht von John Keats: Stravecchio e turbato? Überaltert und gestört? „Asleep! O sleep a little while“) Rammolito, stupidito e incretinito? Dämlich, dumm und verblödet? „Senti mi un po‘!“ „Hört mir zu!“ 16 17
Foto: Irene Zandel Konzertvorschau 4. SINFONIEKONZERT A DO 09.02.2023 | FR 10.02.2023 20 UHR Wir sind online Informationen, Konzertvideos, einen Blick hinter die Kulissen, Programmhefte u. v. m. „ Musik muss NDR | GROSSER SENDESAAL finden Sie unter: ndr.de/radiophilharmonie Lionel Bringuier Dirigent ardmediathek.de/klassik Christina Landshamer Sopran youtube.com/ndrklassik Europa Chor Akademie Görlitz NDR Radiophilharmonie facebook.com/ndrradiophilharmonie auch schroff und kratzig sein. Francis Poulenc „Stabat Mater“ für Sopran, Chor und Orchester FP 148 Hector Berlioz “ Symphonie fantastique op. 14 „Episode aus dem Leben eines Künstlers“ IMPRESSUM Das Gelbe Sofa NILS MÖNKEMEYER Herausgegeben vom Norddeutschen Rundfunk 19 UHR | NDR | GR. SENDESAAL Programmdirektion Hörfunk Bereich Orchester, Chor und Konzerte Moderation: NDR Radiophilharmonie Friederike Westerhaus (NDR Kultur) Bereich Orchester, Chor und Konzerte Am 09. + 10.02.23 zu Gast: Leitung: Achim Dobschall die Sopranistin Christina Landshamer. NDR Radiophilharmonie (Eintritt frei) Manager: Matthias Ilkenhans Redaktion des Programmheftes: Andrea Hechtenberg Karten erhalten Sie beim NDR Ticketshop Der Einführungstext ist ein Originalbeitrag für den NDR. Nachdruck, auch auszugsweise, und online unter: ndr.de/radiophilharmonie nur mit Genehmigung des NDR gestattet. Fotos: Felix Broede (Titel, S. 5); Yiorgos Mavro- DIE KONZERTE DER NDR RADIOPHILHARMONIE poulos (S. 6); akg-images (S. 7); akg-images / Keystone / Peter Zimmermann (S. 8); privat (S. 9) HÖREN SIE AUF NDR KULTUR Druck: Warlich Druck Meckenheim GmbH Das verwendete Papier ist FSC-zertifiziert und chlorfrei gebleicht. Hören und genießen Die NDR Kultur App – jetzt kostenlos herunterladen 18 unter ndr.de/ndrkulturapp
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