CI. JAHRGANG FEBRUAR 2020 - VERLAG MAGISCHE BLÄTTER, RONNENBERG
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I N H A L T S V E R Z E I C H N I S CI. Jahrgang Februar 2020 Heft 1 100 Jahre Jakob-Böhme-Bund und Magische Blätter 7 Kann die Filmkunst zur Menschwerdung beitragen? 10 von Organisation zur Umwandlung des Kinos The Shape of Films to Come 17 von Ronald Steckel Weltraumkino 29 von Otto Maag Aus dem Film Geistzeit 33 frei zitiert nach Shri Ramana Maharshi Vorwort zur Nachlese 38 von Organisation zur Umwandlung des Kinos Nachlese Rede zu der Gruppenausstellung des Kunstvereins 39 1920 im Bankettsaal der Görlitzer Stadthalle von Joseph Schneider-Franken Der Mensch ist ein Doppelagent 43 Fragen von Marcelle De Michiel an Ronald Steckel Morgenröte in Görlitz 56 Erste Plakat-Aktion des Jacob-Böhme-Bundes Buch der Freunde 59 Novalis Buchbesprechung 60 Heiko Krämer - Jacob-Böhme-Lexikon Unmögliche Erinnerung 62 von Gerhard Midding Schluß mit Maag 62 Theologie Anmerkungen und Quellen 63
Hauke Johanna Gerdes, Verschneiter Wald, 2019, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Herausgeber: Verlag Magische Blätter, Ronnenberg Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos CI. Jahrgang Februar 2020 Heft 1 100 Jahre Jakob-Böhme-Bund und Magische Blätter In einer künstlerischen Aktion der Organisation zur Umwandlung des Kinos soll ab dem Frühjahr 2020, hundert Jahre nach der Entstehung der Monatszeitschrift „Magische Blätter“, der redaktionelle, organisatorische und finanzielle Rahmen für eine Wiederauferstehung der „Magischen Blät- ter“ geschaffen werden – als Grundlage für ein Gesamtkunst- werk. Diese Aktion ist ein Aspekt der Arbeit des neuen, 2020 begründeten Jacob-Böhme-Bundes. 1920 gründete der deutsche Maler und Schriftsteller Joseph Schneiderfranken gemeinsam mit dem Maler Fritz Neumann-Hegenberg in Görlitz den „Jakob-Böhme-Bund“ als eine Vereinigung bildender Künstler – mit der erklärten Intention, sich dem hohen Geist des Görlitzer Visionärs Jacob Böhme künstlerisch und menschlich zu verbinden. Durch diesen Impuls entstand im gleichen Jahr der Verlag Magische Blätter, der von dem Verleger Richard Hummel in Leipzig ins Leben gerufen wurde. Bô Yin Râ widmet in seinem Lehrwerk HORTUS CONCLUSUS der Person und der außergewöhnlichen Bewusstseinslage des schlesischen Sehers in dem Buch „Wegweiser“ ein eigenes Kapitel. Die über zwei Jahrzehnte in Deutschland vom Ver- lag veröffentlichte Zeitschrift für geistige Lebensgestaltung 7
„Magische Blätter“ war das Forum eines intensiven geistigen Austausch zu Jacob Böhme, der deutschen Mystik und der sakralen Kunst, mit dem Ziel, in der Gegenwart auf künst- lerischen Wegen ewige, geistige Erkenntnisse zu vermitteln. Die erste Ausgabe von „Magische Blätter“ (1920 bis 1927) erschien im Februar 1920, genau vor 100 Jahren, und wurde später mit dem Titel „Die Säule der Magischen Blät- ter“ (1928 bis 1941) unter Beibehaltung der Jahrgangszählung weitergeführt. Die letzte Ausgabe erschien im Februar 1941. Bereits damals war die periodische Schrift „Magische Blätter“ ein verlagstechnisches Himmelfahrtskommando. 70 Jahre nach dem Tod von Bô Yin Râ ist nun das Urheberrecht an die Allgemeinheit übergegangen – der erstmalige Zeitpunkt überhaupt, an dem die Bedingungen für einen rechtlich legiti- mierten Austausch gegeben sind. Wir wollen Prozesse abbilden, die aus den Impulsen der Werke von Bô Yin Râ und Böhme in die heutige Gegen- wart hineinwirken und sich auch in die Zukunft auswirken werden. Dabei wollen wir eine Brücke zu den kommenden Generationen bauen. Die Monatsschrift darf eine Entwick- lungszeit durchlaufen, wobei wir zu Beginn mehr auf den Wiedererkennungswert von „Magische Blätter“ setzen, uns also an das Originallayout anlehnen werden. An den Verände- rungsprozessen sollen die Leser*innen aktiv teilnehmen. Die für vier Jahre vorgesehene Aktion sieht die kos- tenlose Verfügung von „Magische Blätter“ im Netz-Format vor, denn wir finden, dass dieser Exkurs und Austausch nicht in Abhängigkeit zu den finanziellen Mitteln der Leser*innen stehen sollte. Die angebotenen Druckausgaben sind sicherlich ein Luxus für unsere Verlagsleitung, den wir jedoch als Bestand- teil dieser künstlerischen Aktion für unbedingt notwendig er- achten. Jeweils drei Ausgaben werden zu einer Quartalsaus- gabe zusammengefasst und als Buch veröffentlicht. Quellen und Anmerkungen zu den verwendeten Quellen finden sich am Ende der Monatsschrift. Die Gesamtidee ist, alle 100 Jahre 8
den Böhme-Bund für die Dauer von vier Jahren auferstehen zu lassen. Dabei soll „Magische Blätter“ als Publikationsorgan unterstützend dienlich sein. Verlag und Schriftleitung der Magischen Blätter Otto Engelhardt Kyffhäuser, Hinterhaus von Böhmes erstem Wohbhaus 9
Kann die Filmkunst zur Menschwerdung beitragen? von Organisation zur Umwandlung des Kinos Es ist ein Problem des Bewusstseins und der Sprache, dass wir mit dem Begriff Umweltverschmutzung nicht auch gleichzeitig die Verschmutzung unserer Innenwelten ausdrü- cken. Es wünscht sich wohl niemand das Kino als moralische Anstalt. In der gegenwärtigen Zeit beobachten wir jedoch weitgehend das Gegenteil, ein Kino als unmoralische Anstalt und das kann auch nicht die Lösung sein. Mit der Antholo- gie „Texte zum Geistigen im Film“ hat die „Organisation zur Umwandlung des Kinos“ den ersten Band ihrer fortlaufenden Publikationsreihe veröffentlicht und versucht dort, produkti- ve Ansätze zu finden. Wir glauben, dass unsere geistig-seelische Verbunden- heit, die Verbundenheit unserer innersten Welten, so stark ist, dass wir alle ununterbrochen, ob wir es wissen oder nicht, innigst aufeinander einwirken. Und man empfindet das sehr stark in seinen helleren Momenten, dass wir in den audio- visuellen Medien mit Dingen konfrontiert werden, die nicht legitim sind, die uns verwüsten, vergiften und seelisch lähmen. Es scheint, als wäre in unserer Kultur in dieser Hinsicht Vieles weit über die Ufer getreten. Die Technik des Films ist in unseren Augen dabei erst einmal als neutral zu betrachten. Es ist das Medium mit 10
der größten Verbreitung und dem höchsten Wirkungsgrad. Die filmische „Wirklichkeit“ ist so kompakt, dass sie von der Menge der psychischen Energie, die sie freisetzt, sich mit der Realität messen kann. Wir empfinden das filmische Ge- schehen in der Regel als wahr und logisch, obwohl es doch in einem absolut künstlichen Raum stattfindet. Oft wird die akustische Wirkung des Mediums unterschätzt. Mittels Film wird Wirklichkeit in Fiktion verwandelt und diese verwandelt sich wieder in Wirklichkeit zurück. Das Fernsehen führt uns diese unheimliche Umkehrung täglich vor Augen. Während die Jugendlichen durch bestimmte, die Gewalt verherrlichen- de Fernseh- und Computerspiele programmiert werden, be- kommen ihre Eltern durch Medien für Erwachsene eine Art Gehirnwäsche, in der es um Zerstreuung und besonders um die Einschränkung unserer Empfindungsfähigkeit geht. Und zunehmend sollen möglichst alle Filme zwanzig-Uhr-fünf- zehn-tauglich sein. Was hat das alles zur Folge? Es ist uns z.B. allen klar, dass der materielle Fortschritt dem Menschen kein Glück bringen wird, dennoch preisen wir wie Besessene seine „Errungenschaften“. Der Amoklauf von Aurora war ein Gewaltverbrechen, bei dem am 20. Juli 2012 in einem Kino in Aurora in Colo- rado während der mitternächtlichen Premiere des Films The Dark Knight Rises, die auf die von Bob Kane erschaffenen Batman- Comicserie basiert, zwölf Menschen erschossen und 58 weitere zum Teil schwer durch einen Attentäter mit auf- gemalten Clownsgesicht verletzt wurden. Das Attentat ging auch als das Batman-Attentat in die Geschichte ein. Die Wer- bestrategie des im letzten Jahr erschienenen Films „Joker“ von Todd Phillips, auf den gleichen Comics basierend, spielte ganz bewusst auf dieses Momentum an und setzte neue fil- mische Maßstäbe für Erniedrigung, Schmerz, Wut und Hass. Der Film feierte am 31. August 2019 im Rahmen der Film- festspiele von Venedig seine Weltpremiere, wo der Film auch gleich mit dem Goldenen Löwen, dem Hauptpreis dieses renommierten Festivals, ausgezeichnet wurde. „Die Durch- 11
schnittsnormen des Kommerzfilmes und die gängige Fern- sehproduktion verderben das Publikum auf geradezu unver- zeihliche Weise, da sie es aller Kontaktmöglichkeit wirklicher Kunst berauben. Der entscheidende, ja tragische Unterschied liegt darin, dass ein künstlerischer Film bei seinem Publikum Emotionen und Gedanken weckt, während das Massenki- no mit seiner besonders eingängigen und unwiderstehlichen Wirkung auch noch die restlichen Gedanken und Gefühle seines Publikums endgültig und unwiederbringlich erlöschen lässt.“1 schreibt der russische Filmemacher Andrej Tarkow- skij. Sein komplettes Filmwerk, seine Schriften, überhaupt seine ganze Haltung dem Leben gegenüber schätzen wir sehr. Da wird eine leidenschaftliche und liebevolle Spur gezogen, die im filmischen Bereich zu den schönsten gehört, die es in unserer Zeit überhaupt zu finden gibt. Seinen Film „Stalker“ bezeichnete die Neue Züricher Zeitung als „Jahrhundert- film“. Bei einer geschlossenen Vorstellung in Los Angelos vor der dortigen Filmprominenz erhielt der Film nicht enden wollende stehende Ovationen und frenetischen Beifall. Tar- kowskij spricht von der Verantwortung des Filmregisseurs für die Seelen seiner Zuschauer. „Denn die schwierigste und zer- mürbendste Aufgabe des Künstlers ist rein moralischer Natur: Ihm werden Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegen- über abverlangt, und das bedeutet Aufrichtigkeit und Verant- wortung gegenüber dem Zuschauer. Es ist sehr viel leichter, sich moralisch und ethisch gehen zu lassen, als sich auch nur geringfügig von egozentrisch-pragmatischen Interessen frei- zumachen.“ Im öffentlichen Diskurs gibt es genügend Stimmen und Mahner, die auf die schädigende Wirkung der Filmindus- trie und die Mainstream-Medien hinweisen. Leider finden sich dabei selten konstruktive Ansätze für ein anderes Kino, das Ergänzung und Ausgleich, das eine Alternative zum vorherr- schenden Überwältigungskino bieten könnte. Dieser Mangel war Motivation und Auslöser für unserer Anthologie „Texte zum Geistigen im Film“. 12
Das Geistige im Film ist ein noch unentdeckter Konti- nent, ein Kapitel der Filmgeschichte, das noch nicht wirklich aufgeschlagen wurde. Es sollte uns nicht genügen, immer wie- der die gleiche Form des Kinos zu reproduzieren. Um etwas in unserem Leben wahr werden zu lassen, müssen wir es vor- her gesehen haben. In „Matrix“ erfährt ein Computerprogrammierer, dass die Welt nur ein Computerprogramm ist. Wir sehen das als ein Bild für die Ahnung unserer Zeit, in der wir als eigent- lich auch geistige Wesen weitgehend in der materiellen Welt verhaftet bleiben. Und das eigentlich Schockierende liegt in dem Verlust unserer Empfindungsfähigkeit und der damit verbundenen Unmöglichkeit zum Zugang zu unseren geisti- gen Innenwelten. Es wäre verfehlt und unrealistisch, das derzeitige Film- system angreifen oder gar abschaffen zu wollen, aber es bedarf dringend der Ergänzung und des Ausgleichs. Was den meis- ten Filmen fehlt, ist nicht das technische Vermögen, sondern der emotionale und geistige Reichtum. Im Grunde wäre das Fernsehen ein ideales Medium, den Zuschauer Erfahrungen mit neuen Formen machen zu lassen, ihre Wahrnehmungs- möglichkeiten zu erweitern. Bei einer so großen Anzahl von Fernsehkanälen sollte es sich unsere Gesellschaft zur Aufgabe stellen, zumindest einen „Leuchttum“ zum Brennen zu brin- gen. Wenigstens einen Fernsehkanal zur Schutzzone zu er- klären, auf dem sich der Zuschauer sicher fühlen könnte, weil der Fernsehdirektor und die Gremien bei der Auswahl des Programms die Verantwortung für die Seelen ihrer Zuschauer im Blick hätten. Keine Zerstreuung, sondern Sammlung. Ge- rade in Anbetracht der kollektiv erbrachten Rundfunkgebüh- ren sollte ein solches Vorhaben umgesetzt werden. Lebendi- ges Leben eingebettet in einem zeitlos, geistigen Organismus. Dort könnten die europäischen Pioniere Robert Bres- son, Ingmar Bergman, Luis Buñuel geehrt werden, Pier Paolo Pasolinis „Das Evangelium nach Matthäus“ (1964) und Carl Theodor Dreyers „Das Wort“ (1955), „Der Himmel über 13
Berlin“ (1987) von Wim Wenders oder der amerikanische Filmklassiker „Lost Horizon“ (1937) von Frank Capra ge- zeigt werden. Und aus dem asiatischen Kino bieten sich die Filmwerke von Akira Kurosawa und Yasujiro Ozu. In „Ras- homon“ (1954), einem Klassiker des japanischen Kinos, stellt sich das Erleben eines scheinbar für alle Beteiligten gleichen Geschehens als subjektiv sehr verschieden dar und zieht da- mit die objektive ethische Urteilsfähigkeit des Menschen in Zweifel. Ebenso ist der Film „Warum Bodhi Dharma in den Orient aufbrach“(1989) von Young-kyon Bae zu erwähnen. Und es sollten auf jeden Fall auch Filme aus der Bildenden Kunst gezeigt werden wie „Variations Of A Cellophane Wrapper“ (1970) von David Rimmer, „Pas des Deux“ (1968) von Norman McLaren und „Lapis“ (1966) von James Whit- ney, nicht zu vergessen die Arbeiten von Maya Deren und Jordan Belson. Der Versuch, vermeintlich absolute Maßstäbe für geistige Kunst aufstellen zu wollen, wäre verfehlt. Jeder muss selbst lernen, dies nach eigener Art und Färbung in seinem Inneren für sich zu erspüren. Genau dazu wäre ein Kanal dieser Art geradezu ideal. Die Filmkunst als Ausdruck und Weg unseres geistigen und seelischen Erwachens. Und als Mittel und Medium unserer Selbstgestaltung. Eine wirkliche Gesundung könnte erst dann in gesellschaftlicher Breite ein- treten, wenn Akzeptanz und Unterstützung aus Reihen der verantwortlichen kulturellen Entscheidungsträger erfolgen würde. Vielen Menschen offenbart sich die Tiefe ihres Menschseins erst im Leid. „Das schnellste Pferd, das euch zur Vollkommenheit trägt, ist Leiden, denn es genießt niemand mehr der ewigen Seligkeit, als wer mit Christus in der größten Bitternis steht“2, schrieb Meister Eckhart. Die abendländische Kultur scheint trotz der Frohen Botschaft von dieser deprimierenden Erkenntnis tief ge- prägt; wir scheinen verlernt zu haben, die Tiefe unseres Seins auch in der Freude erleben zu können – oder wir begnügen 14
uns dabei schon mit dem Wenigen, was die Oberfläche her- gibt. Die großen Filme unserer Zeit bilden die tragische Verfassung des heutigen Menschen sehr genau ab, decken Unmenschliches auf und stellen das Leid dieser Welt in allen Facetten dar. Im Volksmund sagen wir, jemand sei „von Leid entkräftet“. Wir glauben, unserer Gesellschaft eine ähnliche Diagnose ausstellen zu können. Was sich an Schrecklichem und Leidvollem unter uns abspielt und sich nicht nur in un- zähligen Filmen reproduziert, beginnt, alles zu überschatten, und es fehlen uns die Kraft und die Utopien, an diesen Um- ständen etwas zu ändern. Der Berg des Leidens wächst. Der Impuls zu einem wirklich anderen Blick auf den Menschen steht nicht im Raum. Das gilt auch für gerade diejenigen Filmemacher, die wir aufgrund ihrer eindrucksvollen filmischen Form schätzen und verehren, wie etwa Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij oder in jüngerer Zeit Béla Tarr; die von ihnen gefundene Bild- sprache und die befreite entfesselte Kamera sind von apoka- lyptischer Melancholie geprägt und zeigen fast ausschließlich verzweifelte Menschen. Im antiken Griechenland, in Teilen der Kultur des Mittelalters und besonders in der italienischen Renaissance finden sich noch Spuren einer grundsätzlich anderen Kunst- auffassung, in welcher die Künstler ihren Zeitgenossen ‚vor- bildeten‘, was diese zu werden fähig wären: „Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten alle die- se grossen Schaffenden das Ideal solchen Kulturwillenssicht- barlich und in höchster Vollendung in ihren Werken dar. Sie zeigten nicht, wie ihre Zeitgenossen wirklich waren, – denn wahrlich gab es zu ihrer Zeit auch des Niedrigen und Ge- meinen gerade genug, – sondern wie sich ihre Zeitgenossen gesehen wissen wollten, durchdrungen von dem starken Wil- len zur steten Erhöhung ihrer eigenwüchsigen Kultur! Nicht ihr Fehlwertiges, nicht das, was erkannt war als ein zu Über- windendes, stellten sie dar, – sondern das Göttliche, dessen 15
die unsere Besten ahnen!’ So wirkte ihr Werk auf die Seelen gleichsam als ‚Vor-Bild‘ dessen, was der Mensch aus sich ma- chen könne, was er zu werden vermöge. So holte ihr Werk in den Seelen Kräfte aus der Tiefe, die ohne solchen Erwe- ckungsruf niemals schaffend und zeugend ins Leben einge- wirkt hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt wussten sehr wohl, was sie den grossen Bildnern ihrer Zeit zu danken hatten.“3 Als Künstler wurden in dieser Epoche die wenigen be- zeichnet, die in der Lage waren, mit künstlerischen Mitteln geistige Werte dazustellen, welche den Menschen seelisch er- hoben und seinem Geist Nahrung boten. An diesem Punkt möchte die Organisation zur Umwandlung des Kinos an- knüpfen und in der Gegenwart neue Formen des filmischen Ausdrucks finden. Film ist das Medium mit der grössten Ver- breitung und dem höchsten Wirkungsgrad. Gleichzeitig ist die Filmkunst wie kein anderes künstlerisches Medium fähig, Geistiges sichtbar und erfahrbar zu machen. Das Kino hätte das große Potential, ein Ort zu sein, an welchem dem Ewigen wieder Raum gegeben werden könnte, im Sinne einer Wieder- belebung unserer inneren seelischen Welten. Filmbild aus dem Film „Geistzeit“, 2012 16
The Shape of Films to Come von Ronald Steckel Das derzeitige Kino bietet nur die SCHATTEN Platons. Die SONNE steht darüber, aber außerhalb. Nun muss sie darin sein. Das derzeitige Kino ist die Dunkelkammer. Das künftige Kino wird die strahlend helle Kammer sein. Der brennende Dornbusch, der zu uns spricht, dem die Gesetze der Welt entspringen. Saint-Pol-Roux 1 1 Ich möchte zunächst das Wort betrachten, dessen Strahlungen sich in den Texten und Essays dieser Antho- logie widerspiegeln: das Wort “Geist“. Es ist eines der viel- deutigsten Wörter der deutschen Sprache; in ihm fließen Vor- stellungen nichtchristlicher Religionen mit Erkenntnissen der biblischen Offenbarung zusammen, dazu vielfältigste Formen des Aberglaubens, des Okkultismus und des philosophischen Denkens. “Geist“ leitet sich aus der germanischen Wurzel *gaista und der indogermanischen Wurzel *gheis- für erschaudern, er- griffen und aufgeregt sein ab, die auch “antreiben, lebhaft bewegen oder bewegt sein“ bedeutet. In seiner Grundbedeutung meint das Wort etwas Bewegendes, etwas Lebendiges und Belebendes.2 In der abendländischen, christlichen Überlieferung er- hält das Wort durch das Logion “Gott ist Geist“ 3 höchste Bedeutung. Entsprechungen dieser Sicht finden sich z.B. in der deutschen idealistischen Philosophie und in der Vedanta- Lehre: Atman, der göttliche Funken im Menschen, ist Ema- nation des Brahman, des göttlichen Allgeistes und entspricht Meister Eckharts “Fünklein“, Jacob Böhmes “Perle“ und Kants “transzendentalem Ich“. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhun- derts hat der Philosoph Martin Heidegger die Entwertung 17
dieses Wortes konstatiert. Er hat den Verlust in seiner ganzen Tragik wahrgenommen, denn das Wort „Geist“ hat über Jahr- hunderte – vor allem durch die Aufklärung, die Revolution des Materialismus und der materialistischen Weltanschauung im 19. Jahrhundert und dann endgültig durch die vielfachen Erschütterungen der Bewusstseinsmutationen des 20. Jahr- hunderts – seine grundlegende Bedeutung, seine Lebendigkeit und seine Resonanz im Bewusstsein der Gegenwart allmählich verloren, es ist undeutlich geworden, sprachliches Kleingeld... man kann sich einiges darunter vorstellen, aber weiß eigentlich nicht mehr genau, was gemeint ist. Wenn wir heutzutage „Geist“ sagen, ist vor allem das gemeint, was man in der modernen Welt das Mentale nennt: das ist eine Übernahme der englischen Begriffe „mind“ und „mental“. Gemeint sind die durchaus mysteriösen neocor- tikalen Prozesse des bewussten Denkens, Imaginierens, Re- flektierens und Rechnens, die uns durch ihre Intensitäten und Auswirkungen offensichtlich von anderen Kreaturen dieser Erde unterscheiden. Der Philosoph Jean Gebser hat dieses „Mentale“ und die mentale Bewusstseinsstruktur, die unsere Weltwirklich- keit und Weltwahrnehmung seit drei Jahrtausenden formt, in ihrem gegenwärtigen Stadium als „defizient“ und „er- schöpft“ erkannt: die weltbeherrschenwollende, messende, rechnende, wägende, materieverschlingende Intelligenz der westlichen Zivilisation hat eine nicht mehr kontrollierbare permanente technische Revolution ausgelöst und verhäng- nisvolle Kräfte entfesselt, die vor unseren Augen ganze Kul- turen, Landschaften und Menschenseelen verbrennen und auslöschen. 4 Gehen wir also davon aus, dass in den hier versam- melten Texten dem Wort „Geist“ seine ursprüngliche hohe Bedeutung zurückgegeben wird und dass nicht das gegen- wärtig amtierende verheerende Mentale, sondern das „alte Wahre“ angesprochen ist, „das, was nicht vergeht“: das Le- bendige, das Belebende, das Bewegende. 18
Um deutlich zu machen, wie eine in diesem Sinn „geistige“ Erfahrung sich anfühlt, möchte ich einen Text von Friedrich Nietzsche zitieren. 1888 schreibt er über In- spiration: „Hat jemand, Ende des 19. Jahrhunderts, einen Begriff davon, was die Dichter starker Zeiten Inspiration nannten? Im andern Fall will ichs beschreiben. Der Begriff Offenbarung in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Fein- heit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne zu zögern – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einem Tränenstrom auflöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkom- menes Außer-sich-Sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als he- rausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines sol- chen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich für deren Druck und Spannung... Alles geschieht in höchstem Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtheit, von Macht, von Göttlichkeit... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses, ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist; alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankä- men und sich zum Gleichnis anböten. Dies ist meine Erfah- rung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausen- 19
de zurückgehen muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf: „Es ist auch die meine.“ 5 In diesem letzten Punkt irrte der Autor, er war nicht so allein, wie er dachte: nur zweieinhalb Jahrhunderte vor ihm, in den Frühlingsmonaten des Jahres 1612, schrieb Jacob Böhme in seiner “Vorrede“ zur “Morgenröte im Aufgang“: “Wenn aber die Seele vom Heiligen Geist angezündet wird, so triumphieret sie in dem Leibe, wie ein gross Feuer aufgehet, daß also Herz und Nieren für Freuden zittern.“ 6 Es ist also von einer lebendigen Macht die Rede, wenn man von diesem “Geist“ spricht. Und es gibt in dieser Zeit, wie in jeder Zeit, viele unter den mit uns Lebenden, die mit “Berührungen“ durch diese Macht, welcher Intensität und Tiefe auch immer, aus eigenem Erleben vertraut sind. Es ist “das alte Wahre“, Creator Spiritus, der Geist, der Welten schafft, trägt und durchdringt und der auch uns trägt und berührt – wenn er uns berührt – als “das zarte Wirken“ im innersten Innen, von dem Novalis spricht. “Er ist nicht nur so ‚wirklich‘, wie ein Baum, ein Stein, ein Berg, — ein Blitz, der aus der Wolke niederfährt, sondern in ihm allein kann unser irdischer Begriff der ‚Wirklichkeit‘ erst seine irdisch nicht zu findende vollkommene Entsprechung fassen. Geist ist nichts Erdachtes. Geist ist nicht die Kraft des Denkens. Geist ist substantielles, aus sich selber seiendes, lebendiges Licht.“ 7 Ist es nicht das, was wir von Filmen wollen: lebendiges Licht? 2 Der Überlieferung nach ist die Erde einer der Exil-Pla- neten des Alls, ein Auffanglager, eine von unendlich vielen “Schalen“, in welchen die aus dem Herzen des geistigen Kos- mos stürzenden, fallenden oder heranstürmenden Geist-Men- schen in der Dichte und Materialität der “äußeren Welt“ge- sammelt und aufgefangen werden, für eine Ewigkeitssekunde von der Materie umarmt, in ihre Träume eingesponnen und 20
einverleibt: inkarniert, eingefleischt in die Körper aufrecht ge- hender, sterblicher Säugetiere, aus Urmeeren evolutionär heraufgeblüht in Zeiträumen von Jahrmillionen, Leiber aus Licht in Leibern aus Fleisch, Geistwesen in Tierkörpern: eine märchenhafte Metamorphose, eine chymische Hochzeit, ein Zauber, eine unerklärliche phantastische transmutative Liason dangereuse in den äußeren Bezirken des Alls, wie aus einem Roman von Philip K. Dick – und ein Trauma: das Leben des Menschen auf der Erde als posttraumatische Be- lastungsstörung. Wie Empedokles schrieb: “Ich weinte und jammerte, als ich den ungewohnten Ort erblickte... den freudlosen Ort, wo Mord und Groll und Scharen anderer Unheilsgötter, ausdörrende Krankheiten und Werke der Verwesung auf der Wiese des Unglücks im Dunkel umherschweifen. ... Aus welchen Ehren und welcher Fülle der Seligkeit gestürzt, weile ich nun auf Erden... mit fremdartigem Gewande von Fleisch bekleidet“. 8 Die Rede ist von der Urquelle aller Dramen und Erzählungen, die man bis ans Ende aller Tage – und noch weit darüber hinaus – verfilmen könnte: die Tragödie des Menschen, jedes Menschen, auf dieser Erde, die zweifache Natur: ein unschuldiges, sterbliches Tier und gleichzeitig et- was ganz anderes zu sein, ein bewusstes, selbstreflektierendes ewiges Geistwesen aus einer tieferen, anderen Dimension des Alls: der “äußere“ und der “innere“ Mensch. “Wie nun Gott in der Welt wohnet, und alles erfüllet, und doch nichts besitzet; und das Feuer im Wasser wohnet und das nicht besitzt; und wie das Licht in der Finsternis wohnet und die Finsternis doch nicht besitzet; der Tag in der Nacht und die Nacht im Tage; die Zeit in der Ewigkeit und die Ewigkeit in der Zeit: Also ist auch der Mensch ge- schaffen. Er ist nach der äußern Menschheit die Zeit, und in der Zeit; und die Zeit ist die äußere Welt, das ist auch der äußere Mensch. Und der innere Mensch ist die Ewigkeit, und die geistliche Zeit und Welt; welche auch stehet in Licht und Finsternis, als in Gottes Liebe, nach dem ewigen Licht; 21
und in Gottes Zorn, nach der ewigen Finsternis: welches in ihm offenbar ist, darinnen wohnet sein Geist, entweder in der Finsternis, oder im Lichte.“ 9 Zeit und Ewigkeit in einem Leib. Könnten wir sein wie andere Kreaturen des Planeten, wie Albatrosse oder Sa- lamander: es wäre eine unvorstellbare existentielle Erleich- terung, nichts anderes zu kennen als gelassenen Gehorsam gegen die Gesetze des Daseins, fraglos zu blühen und zu vergehen. Aber diese Gelassenheit fehlt. Wir sind im Wort- sinn “verrückt“ und, will man der Überlieferung vertrauen, kosmische Migranten, Vertriebene aus freiem Willen, ge- heimnisvolle Flüchtlinge, innen wie außen im Exil: Outside the Gates of Eden. Etwas fehlt. Und wir leiden, bis auf die Se- her und Propheten, unter Amnesie. Wie der amerikanische Dramatiker Thornton Wilder schreibt: “Wir kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche Maßstäbe der Vollkommenheit gekannt haben und erinnern uns undeutlich der Schönheiten, die wir nie festzuhalten vermochten, und kehren wieder in jene Welt zurück.“ 10 3 Aber bleiben wir in dieser Welt und bei dem The- ma der “Texte zum Geistigen im Film“. Wenn man für einen Augenblick die Tatsache außer Acht lässt, dass die immer noch sehr junge Filmkunst, diese dem intensiv- sten Traumerleben so überaus nahe Licht-, Raum- und Klang-Magie, in unserer Epoche des ökonomisch-finan- ziellen Totalitarismus durch die Machinationen der Film- industrie mit ihren lügenhaften Szenarien und inhären- ten Zensuren im Großen und Ganzen zu einer weltweiten dämonischen Bedrohung menschlicher Seelen mutiert ist: was wären die Möglichkeiten einer nicht kommerziell gedachten Filmkunst in dieser Zeit? Ich vermute, dass in dieser Frage ein Kapitel der Filmgeschichte angesprochen wird, das bis auf verschwin- dend wenige Ausnahmen noch nicht wirklich eröffnet ist: der 22
“postapokalyptische Film“ (F. Kelemen). Die Filmkunst als Ausdruck und Weg unseres geistigen und seelischen Erwa- chens und als Medium der Selbstgestaltung. Während der Produktion des Films Morgenröte im Aufgang – hommage à Jacob Böhme tauchte diese Frage tatsächlich auf: “Kann die Filmkunst zu unserer Menschwerdung beitragen?“ Was können wir uns vorstellen? Filmische Mysterienspiele, Meditationsfilme, Cinéasti- sche Rites de Passage, Filme der geistigen Suche, Heiligenle- genden, Sagen, Mythen. Filme, in denen “das lebendige Wort“ zu seiner magischen Macht kommt und sie entfaltet. Filme, in denen die Größe und Schönheit des Menschen und der menschlichen Seele erscheinen. Liturgische Filme. Stille Filme. Erhebende, erbauende, bestärkende Filme. Filme, in denen die Welt erkannt wird als “das Tal, in dem die Seelen gemacht werden“, wie die Sufis sagen. Filme, in denen wir unsere un- ausweichliche innere Verbundenheit und Nähe empfinden. Filme, in denen wir das Licht als lebendiges Wesen erleben. Filme, in denen die Tiefe der Welt und die Tiefe des mensch- lichen Geistes sich öffnen. Filme, die eine Antwort auf die “Unanswered Question“ von Charles Ives geben. Filme, die ruhig machen. Filme, die es an Schönheit mit den herrlichs- ten Blüten der Flora dieser Welt aufnehmen können. Fil- me voller Gebete. Filme, die uns die Form der Anwesenheit des Gottesgeistes in den Menschen dieser Erde zeigen. Fil- me wie Jakobsleitern. Filme, die unvorhersehbare Bewegun- gen des Lichts und unerhörte Klänge verstrahlen. Filme der Fülle. Filme, in denen das Licht materielle Substanz ist wie in den Lichträumen von James Turrell. Filme, die von Klar- träumen nicht zu unterscheiden sind, die man fünfmal sieht und jedesmal ist es ein anderer Film, wie Andreij Tarkowski‘s “Spiegel“. Filme, die nicht lügen. Filme, in denen ein ande- res, überlegenes, gütiges Bewusstsein zu uns spricht. Filme, in denen wir weinen können vor aufrichtiger Scham. Filme, die uns lehren, die Erde zu lieben. Filme, die es wie J. S. Bach mit seinen Klängen “ernst meinen mit der recreatio, der Wieder- 23
erschaffung des Gemüts.“ Strahlende Filme. Filme, in denen der Blick auf den Menschen Novalis‘ Satz bewahrheitet: “Es gibt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper“. Filme, die klug machen. Filme, die weise machen. Kluge Filme. Weise Filme. Filme, die uns “reinigen vom Gift der Gegenwart“ (A. Pärt). Filme, in denen „die Farben sich selbst zurückgegeben werden“ (Maleviç). Filme, in denen wir unsere geistigen Schulden begleichen. Erleuchtende Filme. Besänftigende Filme. Geistige Lehrfilme, wie Pasolinis “Evan- gelium nach Matthäus“ oder Tarkowskis “Andrej Rubljow“ oder Bressons “Le Diable, probablement“. Stumme, ikonische Filme wie Peixotos “Limite“. Kathartische Filme. Filme, die in dem Feuer brennen, “das nicht verzehrt“. Sühnende Filme. Filme, die diese Welt und das All als “Leib Gottes“ (J. Böhme) sichtbar machen. Filme, die zeigen, dass es auf dieser Erde nur einen Menschen gibt, in unendlichfältiger Gestalt. Komische Filme. Lachmuskelschmerzfilme. Vertrauenerweckende Filme. Filme der heiligen Riten in allen Tempeln der Erde, die noch nicht ihre magische Kraft verloren haben. Erfrischende Filme. Ernüchternde Filme. Heilende Filme. Zärtliche Filme. Filme, die “das gefrorene Meer der Seele hinter der Stirn“ (F. Kafka) auftauen und uns endlich weinen machen. Filme, die nur aus leuchtenden und brennenden Tafeln bestehen, beschriftet mit unvergesslichen Worten. Filme, in denen der Tod als Tor er- scheint, nicht als Ende. Filme für Sterbende. Filme für Kran- ke. Filme, die “überwärts unterwegs“ sind. Unschuldige Filme. Filme, die in klaren, unmissverständlichen Formen die für uns auf dieser Erde gültigen Gesetze des Geistes darstellen. Filme, die zeigen, dass der Weltraum die Weltseele ist: ein lebendiges Meer endlosen Bewusstseins. Filme, in denen der mensch- liche Körper als Urlandschaft erscheint, die alle Landschaf- ten, Ströme und Meere dieser Welt in sich trägt. Filme, die Brancusis Wort einlösen: “Alles wirklich Gesehene ist schön.“ Filme, in denen die Seelen der Völker miteinander sprechen, lautlos, wie Blüten, die sich anblicken. Geheimnisvolle Filme. Filme, die dankbar machen. Filme, in denen wir erfahren, 24
was der geistige “Fall“ des Menschen in Wirklichkeit bedeutet. Liebesfilme. Psychoaktive Filme. Nahrhafte Filme. Yogische Filme. Filme wie himmlisches Brot. Filme, die “nicht von dieser Welt“ sind. Ungegenständliche Filme. Ermutigende Filme. Filme, die den Betrachter fühlen lassen, dass er der Mit- telpunkt der Welt ist und dass dies für jeden Menschen gilt. Filme, die uns lehren, unser Schicksal zu beherrschen. Filme, in denen der Mensch als Ebenbild Gottes erscheint. Filme, die erzählen, dass die Gralsritter unter uns sind, dass sie nie fort waren und dass dem Heiligen Gefäß ohne Unterlass das Wasser des Lebens entquillt. Filme, die uns die Furcht nehmen. Filme, in denen wir uns erkennen als Blätter und Zweige am un- geheuren Baum des Menschengeschlechts, der das ganze All durchwächst. Filme, die uns die Liebe lehren. Filme, in denen die anderen Kreaturen der Erde uns ihre Sprachen und ihre Geheimnisse lehren. Filme, die uns erwecken. Filme, in denen wir unsere Daseinspflicht erkennen. Filme, die uns aus der Schuld der Unwissenheit erlösen und uns zu “Wissenden“ ma- chen. Friedensfilme. Filme “von der unvoreiligen Versöhnung“ (L. Hohl). Filme, hinter die man nicht zurückgehen kann. Filme, die unsere Geistesgegenwart stärken. Arglose Filme. Filme voller Freuden des Sehens. Belebende Filme. Filme wie Lichtungen. Beruhigende, lindernde Filme. Bewusstseinsblü- hende, weitende, vertiefende, transmutative Filme. Geduldige Filme. Neuroplastische Filme. Filme wie Jahreszeiten in den Gärten des Lichts. 4 In den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte ich bei einem Besuch in Los Angeles eine neue Filmzeitschrift, glänzend aufgemacht, eine Konkurrenz für “Variety“. Im Editorial las ich: „Im Westen der USA, in Cali- fornien, existiert eine kleine Gemeinde, welche die Kultur der westlichen Zivilisation tiefer geprägt hat als zweitausend Jahre Christentum. Diese Gemeinde heißt Hollywood.“ Ich war be- stürzt. Später am Tag, am pazifischen Strand, war ich immer 25
noch beschäftigt mit dem realen Albtraum der Kolonisierung einer unserer kostbarsten Begabungen: der Imagination, der geheimnisvollen Kraft, innere Bilder zu gestalten, die selbst das Unsichtbare erschließen. Dann wurde mir bewusst, dass ich an diesem Meeresufer den äußersten Punkt der westlichen Zivilisation erreicht hatte: die Dream Houses der Filmindust- rie im Rücken, blickte ich im Licht der sinkenden Sonne über das Meer nach Westen, wo jenseits des Wassers in der Ferne die japanischen Inseln lagen. Ein Spruch kam mir in den Sinn, den ich im Jahr zuvor in einem kleinen Kloster in der Nähe von Kyoto auf einer Tafel an einer hölzernen Giebelwand entdeckt hatte. Ich hatte ihn mir auf englisch übersetzen lassen: This world is transitory and all experience quickly passes. Each of us must wake up from his dream. There is no time to lose. Berlin, 5. - 10. Oktober 2017 Filmbild, Morgenröte im Aufgang, 2015 26
Film-Premiere-Plakat, Morgenröte im Aufgang, 2015
Hauke Johanna Gerdes, 303 Monde, 2017, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Weltraumkino von Otto Maag Die Phantasie scheint endgültig aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, der Dichtung und schönen Künste, in den Besitz der Technik und Naturwissenschaften überge- gangen zu sein. Keine Schöpfung dichterischer Einbildungs- kraft, die nicht von tatsächlicher Erfindung auf dem Gebiet der Chemie, Elektrizität, Radio, Kino, Tele- und sonstiger -graphie und -phonie und deren täglich sich erweiternden Möglichkeiten überboten und in den Schatten gestellt würde. Um so unbegreiflicher ist es, daß von der Phantastik der Tat- sachen, die wir, weil es eben Tatsachen geworden sind, mit so unbegreiflicher Selbstverständlichkeit hinnehmen, so we- nig ins Geistige übersetzt wird, daß man den Gleichnis- und Symbolcharakter, den all diese Erfindungen und Theorien ha- ben können, augenscheinlich so wenig wahrnimmt, benutzt und fruchtbar macht. Man stelle sich z.B. einen Savonarola im Besitz der technischen Kenntnisse eines heutigen Primaners vor, mit der Möglichkeit, alle diese Dinge ins Religiös-Metaphysische zu wenden, gewiß, all die Vorstellungsvoraussetzungen, die der heutige Mensch hat, bei seinen Zuhörern zu finden. Eindruck und Wirkung solcher müßte unausdenkbar sein. Denn wo die Phantastik der Tatsachen schon die Einbildungskraft der mit ihnen Rechnenden unendlich übertrifft, ist die Basis für Füh- rung und Verführung dieser Einbildungskraft gegeben, die noch keinem Prediger der Welt je zur Verfügung stand. Alle Begriffe und Bilder des religiösen Sprachgebrauchs, wie Allgegenwart Gottes, Weltgericht, Buch des Lebens, Fe- gefeuer usw., der früheren Vorstellungskraft fast unzugäng- lich, wie müssten sie einer Generation erschütternd lebendig gemacht werden können, der Fernhören, -sehen, -sprechen, Festhalten jedes Vorgangs, jeder Bewegung und Gebär- de und beliebiges Wiederlebendigmachen, Kino, Radio usw. 29
geläufige Dinge sind. Unsere technischen Möglichkeiten ins Vollkommene übersteigert und ins Kosmische übersetzt, also in der Hand eines Weltenlenkers und Weltenrichters ge- dacht, – man sollte meinen, mit diesem Vorstellungsmaterial müßte es auch dem einfachsten Landprediger gelingen, das Blut seiner Zuhörer in den Adern gefrieren zu machen. Sollte nicht, um nur eines von hundert Beispielen zu nennen, etwa die Ausmalung eines „Weltraumkinos“ durch einen wort- und bildmächtigen Bußprediger unserer Zeit genügen, um die Menschheit in Entsetzen und Zerknirschung zu peitschen. Wie, wenn im unendlichen Raum, von den Engeln Gottes bedient, ein unaufhörlich tätiger kosmischer Aufnah- meapparat vorhanden wäre, der alles was lebt und geschieht, festhielte für alle Ewigkeit, so daß der Herr dieser Weltlicht- spiele beliebig jede Vergangenheit einstellen könnte (eine Vorstellung, die bei der Lichtwellentheorie geradezu auf der Hand liegt), und nichts, was je geschehen, kein Gedanke und keine Regung und Gebärde ihm verborgen bleiben könnte. Wie wäre die Vorstellung zu ertragen, daß so das jüngste Ge- richt aussähe: In jenem kosmischen Lichtspielhaus wird das Buch des Lebens aufgeschlagen, d.h. läuft der überweltliche Filmstreifen unter den Augen des Weltenrichters der zittern- den Seele ab Tag und Nacht. Welch grauenvolle unentrinnba- re Lebendigkeit gewinnt so ein Wort wie das der Apokalypse, dieser mahnungsschweren Phantasie –: und die Toten stehen vor Gott und ein Buch ward aufgetan, welches ist des Le- bens und die Toten wurden gerichtet nach ihren Werken… und werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewig- keit…. und was du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht und wird wiederkommen aus dem Abgrund (!)… Was sind alle Ausmalungen von Höllenfeuer und kör- perlichen Qualen der Verdammnis gegen die Vorstellung, daß Du sitzen mußt und vor Dir rollt der Filmstreifen Deines Lebens ab, vom Beginn kindlicher Unschuld mit allen lichten Möglichkeiten bis zum bittern Ende, erbarmungslos getreu, 30
nichts auslassend, keine Tat, keine Gebärde, ja keinen Gedan- ken und siehst Dich und hörst im Weltraumlautsprecher Deine Worte mit Deiner Stimme dazu und siehst im bewegten Bild alle Folgen Deiner Taten und Worte, alle Wirkungen, siehst die Leiden, die durch Dich und um Deinetwillen geschehen, alles was versäumt und nie wieder gutzumachen ist, – und das immer und unaufhörlich, bis Du jeden Zug, jede Gebärde, jede Bewegung, auch das Längstvergessene auswendig weißt, Tag und Nacht, bis der Rauch Deiner Qual aufsteigt von Ewig- keit zu Ewigkeit und Du selbst zum unerbittlichsten Richter Deines eigenen Wesens wirst. Man sollte meinen, einer, dem die Gestalt des Wortes gegeben ist, müßte mit den Vorstellungsmitteln und -möglich- keiten, die ihm unsere Zeit liefert, falls glühenden, aber laute- ren Herzens wäre, diese Zeit aufregender bewegen und viel- leicht auch gestalten können, als es jemals bisher möglich war. Magische Blätter, Jahrgang 1926, S. 9-11 Hauke Johanna Gerdes, Sternenstaub, 2017, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug 31
Hauke Johanna Gerdes, Im Schilf (zu dem Film „Geistzeit“), 2011, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Aus dem Film Geistzeit frei zitiert nach Shri Ramana Maharshi „Du kannst Dir dieses Verhältnis nach Art eines Filmapparates vorstellen: das Selbst, oder das reine Inne-Sein, ist die Lampe, die Lichtquelle im Inneren. Das Gemüt, frei von leidenschaftlicher Bewegtheit und dumpfer Dunkelheit, im Stande lichter Klarheit und dem unsterblichen Selbst nahe, ist die Linse vor der Lichtquelle. Die Skala der ererbten Neigungen und Gewohnheiten im Gemüt, die in Gestalt äußerst feiner, ungreifbar hinhuschender Vorstellungen und Regungen folgen, ist der Filmstreifen mit seinen Bildern voll Gestalten, der an der Linse vorbeiläuft. Das Gemüt ist die Linse, sein belebter oder erhellter Zustand sind die Lichtstrahlen, die durch die Linse gehen: beide bilden zusammen mit dem Selbst das Einzel-Ich: die Lampe mit dem Licht, das die Linse versammelt und weiterwirft. Wie das Licht, das durch die Linse geht, als heller Schein auf die Leinwand gegenüber fällt, so erscheint das Licht des Selbst, vom Gemüt durch Sinnesorgane nach außen geströmt, als die Welt gegenständlicher Erscheinungen. 33
Das aus dem Brennpunkt der Linse strahlende Licht erhellt die Leinwand: so wird die leblose, fühllose Welt des Stoffs vom Gemüt angehellt, das die innere Helle des Selbst nach außen weiterleitet. Die Bilder des Films, die dank dem Licht aus der Linse sich auf der Leinwand folgen, sind die verschiedenen Gegenstände, die mit Namen und Gestalt als Sinneswahrnehmungen in der Erscheinungswelt auftauchen, dank dem Licht, das ihnen vom Gemüt her zuteil wird. Die Maschinerie, die den Film laufen läßt, entspräche dabei dem göttlichen Gesetz, kraft dessen die ererbten Gewohnheiten und Neigungen sich selber nacheinander dem Gemüt eingeben. Die Bilder erscheinen auf der Leinwand, solange der Film läuft und seine Schatten durch die Linse auf die Leinwand wirft: ebenso spielt die Erscheinungswelt sinnlicher Wahrnehmungen von Gegenständen als eine anscheinend eigenständige Wirklichkeit so lange, wie die ererbten Neigungen und Gewohnheiten im Gemüt ihr Spiel treiben, und das Einzel-Ich wird sie im Wachen und Traum gewahr. Weiter: wie die Linse die zahllosen winzigen Bilder des Filmstreifens vergrößert und in riesigem Ausmaß mit Augenblicksschnelle auf die Leinwand geworfen werden, so vergrößert das Gemüt die winzigen feinen Neigungen 34
und Gewohnheiten zu gewaltigen Maßen im Bruchteil eines Augenblickes und gibt ihnen Namen und Gestalt. Ist kein Film da, so scheint die Lampe, ohne Bilder auf die Leinwand zu werfen: ebenso scheint das Licht des Selbst allein ohne die Dreifalt von Seher, Sehen und Gesehenem, wenn keine Neigungen im Spiel sind, die sich in Vorstellungen und Regungen ausprägen: nämlich im traumlos tiefen Schlaf, in Zuständen der Bewußtlosigkeit oder der Versenkung. Der Lampe geschieht gar nichts, sie bleibt völlig unverändert, wandellos und unberührt, indes sie Linse, Film und Leinwand erhellt: so bleibt auch das Selbst, indes es das Gemüt, seine Neigungen und Gewohnheiten und die Sinnesorgane mit seinem Licht erhellt, immer wie es in sich selber ist: rein und wandellos. Das reine Inne-Sein des Selbst strahlt als Licht in sich selber. Es wirkt als der „bewirkende Leib“ in der inneren Kammer, die von Wänden aus Nichtwissen abgeschlossen ist. Durch die Tür des Schlafes, die im Rhythmus der Zeit und wie das Schicksal es will, von den Atem- und Lebenskräften bewegt wird, gelangt das Licht über die Schwelle und fällt auf den davor stehenden Spiegel des Ich. Mit dem Schein, den der Spiegel zurückstrahlt, gelangt das Licht in die mittlere Kammer der Träume. Von dort strömt es durch die Fenster der fünf Sinne in den offenen Raum des Wachseins hinaus. 35
Wenn die Tür des Schlafes durch die Kraft des Windes der Atem- und Lebenskräfte geschlossen ist, zieht es sich von den Sphären des Wachens und Träumens in tiefen Schlummer zurück und bleibt rein es selbst ohne Ichgefühl. Die erhaben-heitere Unberührbarkeit des Selbst ist vollkommen verschieden vom Ich und seinen drei Sphären: Schlaf, Traum und Wachen. Das Selbst ist Licht aus sich selbst im Herzen als reines Sich-selbst-Innesein, einig ohne ein anderes neben sich. Es offenbart sich weltweit als ein und dasselbe in allen Wesen und wird der Höchste Geist genannt. Rein und ungetrübt ist das Gemüt vollkommenes Gewahrsein, aber seines ursprünglichen Wesens vergessend, wird es von der Eigenschaft dumpfer Dunkelheit überwältigt und entfaltet sich als physische Welt. Das Selbst ist ewiges Licht in sich selber, ist eines und weltenweit. Ungeachtet der drei Sphären personenhafter Erfahrung: Wachen, Traum und traumloser Schlaf, bleibt das Selbst rein und wandellos. Es wird nicht von den drei „Leibern“ oder Gehäusen begrenzt: dem stofflich-dichten, dem sinnlich-geistigen und dem vital-vegetativen „bewirkenden“. Es ist jenseits der Dreispaltung in Sehenden, Sehen und Gesehenes. Das Auge gewahrt den Leib und andere äußere Dinge, das Sehzentrum gewahrt das Auge, 36
das Gemüt gewahrt das Sehzentrum, das persönliche Selbst oder Ich gewahrt das Gemüt und das reine Innesein gewahrt das persönliche Selbst. Das wahre Selbst ist reines Innesein und wird alle Glieder dieser Reihe gewahr, die für einander jeweils „Seher“ sind und was er sieht. Das Selbst ist der letztliche Seher. Alles übrige: Ich, Gemüt usw. sind lediglich Gegenstände seines Innewerdens. Das Selbst kann nicht Gegenstand werden, denn es wird von nichts Anderem wahrgenommen, es ist der Seher, der alles Übrige gewahrt. Trotzdem besteht die Beziehung Subjekt-Objekt für das Selbst, besteht für sein anscheinendes Subjekt-Sein nur auf der vordergründlichen Ebene wechselseitiger Beziehungen und schwindet hin im Unbedingten, denn in Wirklichkeit ist nichts Anderes da, als das Selbst oder reines Innesein. In Wahrheit ist das Selbst nicht Seher noch Gesehenes. Das Selbst allein ist nicht verstrickt als Subjekt oder Objekt.“ Heinrich Zimmer, Der Weg zum Selbst, Lehre und Leben des Shrî Ramana Maharshi, S. 235-236, Zürich, 1944 * 37
Vorwort zur Nachlese von Organisation zur Umwandlung des Kinos Der zweite Band der Nachlese enthält u.a. einige Be- trachtungen über Kunst, die in den Jahren 1919 und 1920 in verschiedenen Görlitzer Tageszeitungen erschienen sind. Auch in den folgenden Jahren, bis in das Jahr 1924 hinein, ver- öffentlichte Bô Yin Râ dort weitere Aufsätze zur Kunst, die bislang nicht in die Nachlese-Reihe aufgenommen wurden. „Bô Yin Râ hat alle diese Arbeiten nicht in das geschlossene Werk seiner Lehre, den Hortus Conclusus, eingefügt, aber in jedem Wort und in jedem Satz ist die innigste Verbindung mit dem Lehrwerk fühlbar.“1 Anknüpfend an die Tradition der Nachlese-Bände wollen wir die Sammlung der Texte von Bô Yin Râ durch unsere Recherche in Görlitzer Archiven, dem „Ratsarchiv“, der „Oberlausitzischen Bibliothek der Wissen- schaften“ und dem „Archiv des Kulturhistorischen Muse- ums“, in dieser Kolumne erweitern. Zu der Veröffentlichung des zweiten Bandes der Reihe schreibt der Kober-Verlag: „Für den heutigen Leser, der sich die damalige Zeit vergegenwär- tigt, kann es wertvoll sein, sich ein Bild davon zu machen, wie Bô Yin Râ stets lehrend und hilfreich bestrebt war, einerseits das Positive hervorzuheben, andererseits aber auch gelegent- liche Fehlinterpretationen mit Nachdruck richtigzustellen.“2 Im Vorwort des ersten Bandes prophezeit der Verlag 1953, dass „die Jungen und neu Herzutretenden aber, denen ihr Ge- schick das Buch in die Hände bringt, werden manchen heili- gen Pfad darin entdecken, der sie sicher nach Innen leitet.“1 Ähnlich zu dem Inhalt der Ausgaben der „Nachlese“ gehören zu diesem Material auch „zahlreiche zeit- und situationsbe- dingte Aufsätze sowie einige Buchbesprechungen und persönliche Erinnerungen.“3 * 38
Nachlese Rede zu der Gruppenausstellung des Kunstvereins 1920 im Bankettsaal der Görlitzer Stadthalle von Joseph Schneider-Franken Ich möchte von zwei Dingen reden: einmal von der eigentlichen Bedeutung und der Aufgabe solcher Ausstellun- gen, und dann von den Grundsätzen, die uns bei der Ver- anstaltung dieser Ausstellung Richtschnur waren. Wer zur bildenden Kunst in ein lebendiges Verhältnis kommen will, der muß wohl oder übel Gelegenheit finden, das Schaffen der Künstler, auch noch während ihres Ringen um letzte Form, kennen zu lernen. In einem Museum kann er wohl Werte aus bestimmten Kunstperioden finden, aber er sieht den Künst- ler erst, nachdem er sein letztes Wort gesprochen hat, nicht mehr in seinem Streben, aus dem schließlich dieses „letzte Wort“ erklärbar wird. Ein Museum hat andere Aufgaben. Es will aus allen Kunstepochen, aber auch aus allen Schaffens- perioden eines einzelnen Künstlers, instruktive Beispiele brin- gen und sie für die Dauer verwahren. Der lebende Künstler aber braucht auch während der Zeit seines Ringens den steten Konnex mit dem Publikum, sonst wird er flügellahm und ver- liert nur zu leicht den frischen Elan zum Weiterstreben. - Wie ein Geiger oder ein Pianist den vollen Saal braucht, um sein Bestes geben zu können, so braucht auch der bildende Künst- ler die Menge der Beschauer, braucht das lebendige Interesse für seine Kunst, soll sie in ihm Höchstes erreichen. Diesen für beide Teilen wichtigen Konnex zwischen Künstler und Publikum herzustellen, dazu dienen die perio- dischen Ausstellungen und die Kunstvereine, deren erster, der Münchener Kunstverein, in drei Jahren sein hundertjäh- riges Jubiläum feiern kann, und seinerzeit zu dem Zweck be- gründet worden, solche Ausstellungen zu ermöglichen, um dadurch das Interesse an den Werken der bildenden Kunst 39
zu pflegen. – Jahrzehntelang haben sie äußerst segensreich gewirkt, bis sie nach und nach in ihrem künstlerischen Ni- veau immer tiefer herabsanken und schließlich zu richtigen Asylen der Mittelmäßigkeit und der künstlerisch „O b da ch - l o sen “ wurden. Erst in neuester Zeit ist man endlich auf- gewacht. Große Kunstvereine haben jetzt namhafte Kunst- gelehrte zu ihrer Leitung berufen (erst kürzlich gelang es wieder dem Leipziger Kunstverein, Hanfstaengel von der Münchener Pinakothek zu gewinnen ! ) und auch in kleineren und kleinsten Städten sah man ein, daß man sich sachkundi- ger, sicherer Leitung vertrauen müsse, wodurch denn heute schon manche Stadt, in der noch vor gar nicht langer Zeit nicht das geringste Kunstinteresse zu spüren war. Ich hof- fe, daß auch Görlitz bald zu diesen Städten gehören wird. Man hat mir hier die Leitung des Kunstvereins übertragen, aber als Leiter kann man immer nur in erster Linie der „sp ir itus r ecto r “ sein und braucht willige, be- geisterte Mitarbeiter, wenn man etwas erreichen will, Mit- arbeiter, deren volles Vertrauen man genießt, und die schon aus eigener Überzeugung die gleichen Wege gehen wollen. Ich hatte die große Freude, hier sofort solche tatkräftige Mitarbeiter zu finden, und möchte da besonders unserem neuernannten Ausstellungskommissar, Herrn Neumann- Hegenberg, sowie sämtlichen Herren der Jury meinen herzlichen Dank sagen. Mit dieser Ausstellung der Werke heimischer Künstler wollten wir nun vor allen Dingen ein- mal zeigen, was hier in Görlitz an guter Kunst geschaffen wird, und wir sind selbst überrascht, wieviel Gutes wir doch fanden... Natürlich konnten wir nicht alles ausstellen, wenn wir nicht auf das niedere Niveau wieder herabsinken woll- ten, auf dem auch dieser Kunstverein längst angelangt war. Trotzdem gingen wir in unserer Toleranz bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit, und Sie werden ein paar Werke äl- teren Stils hier finden, zu deren Ausstellung wir unser künst- lerischeres Gewissen nur schwer überreden konnten. Wenn 40
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