CI. JAHRGANG FEBRUAR 2020 - VERLAG MAGISCHE BLÄTTER, RONNENBERG

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CI. JAHRGANG FEBRUAR 2020 - VERLAG MAGISCHE BLÄTTER, RONNENBERG
CI. JAHRGANG FEBRUAR 2020

VERLAG MAGISCHE BLÄTTER, RONNENBERG
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
CI. Jahrgang                        Februar 2020    Heft 1

100 Jahre Jakob-Böhme-Bund und Magische Blätter		       7
Kann die Filmkunst zur Menschwerdung beitragen?        10
von Organisation zur Umwandlung des Kinos
The Shape of Films to Come                             17
von Ronald Steckel
Weltraumkino                                           29
von Otto Maag
Aus dem Film Geistzeit                                 33
frei zitiert nach Shri Ramana Maharshi
Vorwort zur Nachlese                                   38
von Organisation zur Umwandlung des Kinos
Nachlese
Rede zu der Gruppenausstellung des Kunstvereins        39
1920 im Bankettsaal der Görlitzer Stadthalle
von Joseph Schneider-Franken
Der Mensch ist ein Doppelagent                         43
Fragen von Marcelle De Michiel an Ronald Steckel
Morgenröte in Görlitz                                  56
Erste Plakat-Aktion des Jacob-Böhme-Bundes
Buch der Freunde                                       59
Novalis
Buchbesprechung                                        60
Heiko Krämer - Jacob-Böhme-Lexikon
Unmögliche Erinnerung                                  62
von Gerhard Midding
Schluß mit Maag                                        62
Theologie
Anmerkungen und Quellen                                63
Hauke Johanna Gerdes, Verschneiter Wald, 2019, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Herausgeber: Verlag Magische Blätter, Ronnenberg
Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos

CI. Jahrgang            Februar 2020                  Heft 1

  100 Jahre Jakob-Böhme-Bund und Magische Blätter

       In einer künstlerischen Aktion der Organisation zur
Umwandlung des Kinos soll ab dem Frühjahr 2020, hundert
Jahre nach der Entstehung der Monatszeitschrift „Magische
Blätter“, der redaktionelle, organisatorische und finanzielle
Rahmen für eine Wiederauferstehung der „Magischen Blät-
ter“ geschaffen werden – als Grundlage für ein Gesamtkunst-
werk. Diese Aktion ist ein Aspekt der Arbeit des neuen, 2020
begründeten Jacob-Böhme-Bundes.
       1920 gründete der deutsche Maler und Schriftsteller
Joseph Schneiderfranken gemeinsam mit dem Maler Fritz
Neumann-Hegenberg in Görlitz den „Jakob-Böhme-Bund“
als eine Vereinigung bildender Künstler – mit der erklärten
Intention, sich dem hohen Geist des Görlitzer Visionärs
Jacob Böhme künstlerisch und menschlich zu verbinden.
Durch diesen Impuls entstand im gleichen Jahr der Verlag
Magische Blätter, der von dem Verleger Richard Hummel
in Leipzig ins Leben gerufen wurde. Bô Yin Râ widmet in
seinem Lehrwerk HORTUS CONCLUSUS der Person und
der außergewöhnlichen Bewusstseinslage des schlesischen
Sehers in dem Buch „Wegweiser“ ein eigenes Kapitel.
       Die über zwei Jahrzehnte in Deutschland vom Ver-
lag veröffentlichte Zeitschrift für geistige Lebensgestaltung
                                                           7
„Magische Blätter“ war das Forum eines intensiven geistigen
Austausch zu Jacob Böhme, der deutschen Mystik und der
sakralen Kunst, mit dem Ziel, in der Gegenwart auf künst-
lerischen Wegen ewige, geistige Erkenntnisse zu vermitteln.
        Die erste Ausgabe von „Magische Blätter“ (1920 bis
1927) erschien im Februar 1920, genau vor 100 Jahren, und
wurde später mit dem Titel „Die Säule der Magischen Blät-
ter“ (1928 bis 1941) unter Beibehaltung der Jahrgangszählung
weitergeführt. Die letzte Ausgabe erschien im Februar 1941.
Bereits damals war die periodische Schrift „Magische Blätter“
ein verlagstechnisches Himmelfahrtskommando. 70 Jahre
nach dem Tod von Bô Yin Râ ist nun das Urheberrecht an
die Allgemeinheit übergegangen – der erstmalige Zeitpunkt
überhaupt, an dem die Bedingungen für einen rechtlich legiti-
mierten Austausch gegeben sind.
        Wir wollen Prozesse abbilden, die aus den Impulsen
der Werke von Bô Yin Râ und Böhme in die heutige Gegen-
wart hineinwirken und sich auch in die Zukunft auswirken
werden. Dabei wollen wir eine Brücke zu den kommenden
Generationen bauen. Die Monatsschrift darf eine Entwick-
lungszeit durchlaufen, wobei wir zu Beginn mehr auf den
Wiedererkennungswert von „Magische Blätter“ setzen, uns
also an das Originallayout anlehnen werden. An den Verände-
rungsprozessen sollen die Leser*innen aktiv teilnehmen.
        Die für vier Jahre vorgesehene Aktion sieht die kos-
tenlose Verfügung von „Magische Blätter“ im Netz-Format
vor, denn wir finden, dass dieser Exkurs und Austausch nicht
in Abhängigkeit zu den finanziellen Mitteln der Leser*innen
stehen sollte.
        Die angebotenen Druckausgaben sind sicherlich ein
Luxus für unsere Verlagsleitung, den wir jedoch als Bestand-
teil dieser künstlerischen Aktion für unbedingt notwendig er-
achten. Jeweils drei Ausgaben werden zu einer Quartalsaus-
gabe zusammengefasst und als Buch veröffentlicht. Quellen
und Anmerkungen zu den verwendeten Quellen finden sich
am Ende der Monatsschrift. Die Gesamtidee ist, alle 100 Jahre
8
den Böhme-Bund für die Dauer von vier Jahren auferstehen
zu lassen. Dabei soll „Magische Blätter“ als Publikationsorgan
unterstützend dienlich sein.

             Verlag und Schriftleitung der Magischen Blätter

       Otto Engelhardt Kyffhäuser, Hinterhaus von Böhmes erstem Wohbhaus

       						                                                              9
Kann die Filmkunst zur Menschwerdung beitragen?
         von Organisation zur Umwandlung des Kinos

        Es ist ein Problem des Bewusstseins und der Sprache,
dass wir mit dem Begriff Umweltverschmutzung nicht auch
gleichzeitig die Verschmutzung unserer Innenwelten ausdrü-
cken. Es wünscht sich wohl niemand das Kino als moralische
Anstalt. In der gegenwärtigen Zeit beobachten wir jedoch
weitgehend das Gegenteil, ein Kino als unmoralische Anstalt
und das kann auch nicht die Lösung sein. Mit der Antholo-
gie „Texte zum Geistigen im Film“ hat die „Organisation zur
Umwandlung des Kinos“ den ersten Band ihrer fortlaufenden
Publikationsreihe veröffentlicht und versucht dort, produkti-
ve Ansätze zu finden.
        Wir glauben, dass unsere geistig-seelische Verbunden-
heit, die Verbundenheit unserer innersten Welten, so stark ist,
dass wir alle ununterbrochen, ob wir es wissen oder nicht,
innigst aufeinander einwirken. Und man empfindet das sehr
stark in seinen helleren Momenten, dass wir in den audio-
visuellen Medien mit Dingen konfrontiert werden, die nicht
legitim sind, die uns verwüsten, vergiften und seelisch lähmen.
Es scheint, als wäre in unserer Kultur in dieser Hinsicht Vieles
weit über die Ufer getreten.
        Die Technik des Films ist in unseren Augen dabei
erst einmal als neutral zu betrachten. Es ist das Medium mit
10
der größten Verbreitung und dem höchsten Wirkungsgrad.
Die filmische „Wirklichkeit“ ist so kompakt, dass sie von der
Menge der psychischen Energie, die sie freisetzt, sich mit
der Realität messen kann. Wir empfinden das filmische Ge-
schehen in der Regel als wahr und logisch, obwohl es doch
in einem absolut künstlichen Raum stattfindet. Oft wird die
akustische Wirkung des Mediums unterschätzt. Mittels Film
wird Wirklichkeit in Fiktion verwandelt und diese verwandelt
sich wieder in Wirklichkeit zurück. Das Fernsehen führt uns
diese unheimliche Umkehrung täglich vor Augen. Während
die Jugendlichen durch bestimmte, die Gewalt verherrlichen-
de Fernseh- und Computerspiele programmiert werden, be-
kommen ihre Eltern durch Medien für Erwachsene eine Art
Gehirnwäsche, in der es um Zerstreuung und besonders um
die Einschränkung unserer Empfindungsfähigkeit geht. Und
zunehmend sollen möglichst alle Filme zwanzig-Uhr-fünf-
zehn-tauglich sein. Was hat das alles zur Folge? Es ist uns z.B.
allen klar, dass der materielle Fortschritt dem Menschen kein
Glück bringen wird, dennoch preisen wir wie Besessene seine
„Errungenschaften“.
        Der Amoklauf von Aurora war ein Gewaltverbrechen,
bei dem am 20. Juli 2012 in einem Kino in Aurora in Colo-
rado während der mitternächtlichen Premiere des Films The
Dark Knight Rises, die auf die von Bob Kane erschaffenen
Batman- Comicserie basiert, zwölf Menschen erschossen und
58 weitere zum Teil schwer durch einen Attentäter mit auf-
gemalten Clownsgesicht verletzt wurden. Das Attentat ging
auch als das Batman-Attentat in die Geschichte ein. Die Wer-
bestrategie des im letzten Jahr erschienenen Films „Joker“
von Todd Phillips, auf den gleichen Comics basierend, spielte
ganz bewusst auf dieses Momentum an und setzte neue fil-
mische Maßstäbe für Erniedrigung, Schmerz, Wut und Hass.
Der Film feierte am 31. August 2019 im Rahmen der Film-
festspiele von Venedig seine Weltpremiere, wo der Film auch
gleich mit dem Goldenen Löwen, dem Hauptpreis dieses
renommierten Festivals, ausgezeichnet wurde. „Die Durch-
       						                                              11
schnittsnormen des Kommerzfilmes und die gängige Fern-
sehproduktion verderben das Publikum auf geradezu unver-
zeihliche Weise, da sie es aller Kontaktmöglichkeit wirklicher
Kunst berauben. Der entscheidende, ja tragische Unterschied
liegt darin, dass ein künstlerischer Film bei seinem Publikum
Emotionen und Gedanken weckt, während das Massenki-
no mit seiner besonders eingängigen und unwiderstehlichen
Wirkung auch noch die restlichen Gedanken und Gefühle
seines Publikums endgültig und unwiederbringlich erlöschen
lässt.“1 schreibt der russische Filmemacher Andrej Tarkow-
skij. Sein komplettes Filmwerk, seine Schriften, überhaupt
seine ganze Haltung dem Leben gegenüber schätzen wir sehr.
Da wird eine leidenschaftliche und liebevolle Spur gezogen,
die im filmischen Bereich zu den schönsten gehört, die es in
unserer Zeit überhaupt zu finden gibt. Seinen Film „Stalker“
bezeichnete die Neue Züricher Zeitung als „Jahrhundert-
film“. Bei einer geschlossenen Vorstellung in Los Angelos
vor der dortigen Filmprominenz erhielt der Film nicht enden
wollende stehende Ovationen und frenetischen Beifall. Tar-
kowskij spricht von der Verantwortung des Filmregisseurs für
die Seelen seiner Zuschauer. „Denn die schwierigste und zer-
mürbendste Aufgabe des Künstlers ist rein moralischer Natur:
Ihm werden Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sich selbst gegen-
über abverlangt, und das bedeutet Aufrichtigkeit und Verant-
wortung gegenüber dem Zuschauer. Es ist sehr viel leichter,
sich moralisch und ethisch gehen zu lassen, als sich auch nur
geringfügig von egozentrisch-pragmatischen Interessen frei-
zumachen.“
        Im öffentlichen Diskurs gibt es genügend Stimmen
und Mahner, die auf die schädigende Wirkung der Filmindus-
trie und die Mainstream-Medien hinweisen. Leider finden sich
dabei selten konstruktive Ansätze für ein anderes Kino, das
Ergänzung und Ausgleich, das eine Alternative zum vorherr-
schenden Überwältigungskino bieten könnte. Dieser Mangel
war Motivation und Auslöser für unserer Anthologie „Texte
zum Geistigen im Film“.
12
Das Geistige im Film ist ein noch unentdeckter Konti-
nent, ein Kapitel der Filmgeschichte, das noch nicht wirklich
aufgeschlagen wurde. Es sollte uns nicht genügen, immer wie-
der die gleiche Form des Kinos zu reproduzieren. Um etwas
in unserem Leben wahr werden zu lassen, müssen wir es vor-
her gesehen haben.
        In „Matrix“ erfährt ein Computerprogrammierer,
dass die Welt nur ein Computerprogramm ist. Wir sehen das
als ein Bild für die Ahnung unserer Zeit, in der wir als eigent-
lich auch geistige Wesen weitgehend in der materiellen Welt
verhaftet bleiben. Und das eigentlich Schockierende liegt in
dem Verlust unserer Empfindungsfähigkeit und der damit
verbundenen Unmöglichkeit zum Zugang zu unseren geisti-
gen Innenwelten.
        Es wäre verfehlt und unrealistisch, das derzeitige Film-
system angreifen oder gar abschaffen zu wollen, aber es bedarf
dringend der Ergänzung und des Ausgleichs. Was den meis-
ten Filmen fehlt, ist nicht das technische Vermögen, sondern
der emotionale und geistige Reichtum. Im Grunde wäre das
Fernsehen ein ideales Medium, den Zuschauer Erfahrungen
mit neuen Formen machen zu lassen, ihre Wahrnehmungs-
möglichkeiten zu erweitern. Bei einer so großen Anzahl von
Fernsehkanälen sollte es sich unsere Gesellschaft zur Aufgabe
stellen, zumindest einen „Leuchttum“ zum Brennen zu brin-
gen. Wenigstens einen Fernsehkanal zur Schutzzone zu er-
klären, auf dem sich der Zuschauer sicher fühlen könnte, weil
der Fernsehdirektor und die Gremien bei der Auswahl des
Programms die Verantwortung für die Seelen ihrer Zuschauer
im Blick hätten. Keine Zerstreuung, sondern Sammlung. Ge-
rade in Anbetracht der kollektiv erbrachten Rundfunkgebüh-
ren sollte ein solches Vorhaben umgesetzt werden. Lebendi-
ges Leben eingebettet in einem zeitlos, geistigen Organismus.
        Dort könnten die europäischen Pioniere Robert Bres-
son, Ingmar Bergman, Luis Buñuel geehrt werden, Pier Paolo
Pasolinis „Das Evangelium nach Matthäus“ (1964) und Carl
Theodor Dreyers „Das Wort“ (1955), „Der Himmel über
        						                                               13
Berlin“ (1987) von Wim Wenders oder der amerikanische
Filmklassiker „Lost Horizon“ (1937) von Frank Capra ge-
zeigt werden. Und aus dem asiatischen Kino bieten sich die
Filmwerke von Akira Kurosawa und Yasujiro Ozu. In „Ras-
homon“ (1954), einem Klassiker des japanischen Kinos, stellt
sich das Erleben eines scheinbar für alle Beteiligten gleichen
Geschehens als subjektiv sehr verschieden dar und zieht da-
mit die objektive ethische Urteilsfähigkeit des Menschen in
Zweifel. Ebenso ist der Film „Warum Bodhi Dharma in den
Orient aufbrach“(1989) von Young-kyon Bae zu erwähnen.
Und es sollten auf jeden Fall auch Filme aus der Bildenden
Kunst gezeigt werden wie „Variations Of A Cellophane
Wrapper“ (1970) von David Rimmer, „Pas des Deux“ (1968)
von Norman McLaren und „Lapis“ (1966) von James Whit-
ney, nicht zu vergessen die Arbeiten von Maya Deren und
Jordan Belson.
        Der Versuch, vermeintlich absolute Maßstäbe für
geistige Kunst aufstellen zu wollen, wäre verfehlt. Jeder muss
selbst lernen, dies nach eigener Art und Färbung in seinem
Inneren für sich zu erspüren. Genau dazu wäre ein Kanal
dieser Art geradezu ideal. Die Filmkunst als Ausdruck und
Weg unseres geistigen und seelischen Erwachens. Und als
Mittel und Medium unserer Selbstgestaltung. Eine wirkliche
Gesundung könnte erst dann in gesellschaftlicher Breite ein-
treten, wenn Akzeptanz und Unterstützung aus Reihen der
verantwortlichen kulturellen Entscheidungsträger erfolgen
würde.
        Vielen Menschen offenbart sich die Tiefe ihres
Menschseins erst im Leid. „Das schnellste Pferd, das euch zur
Vollkommenheit trägt, ist Leiden, denn es genießt niemand
mehr der ewigen Seligkeit, als wer mit Christus in der größten
Bitternis steht“2, schrieb Meister Eckhart.
        Die abendländische Kultur scheint trotz der Frohen
Botschaft von dieser deprimierenden Erkenntnis tief ge-
prägt; wir scheinen verlernt zu haben, die Tiefe unseres Seins
auch in der Freude erleben zu können – oder wir begnügen
14
uns dabei schon mit dem Wenigen, was die Oberfläche her-
gibt.
        Die großen Filme unserer Zeit bilden die tragische
Verfassung des heutigen Menschen sehr genau ab, decken
Unmenschliches auf und stellen das Leid dieser Welt in allen
Facetten dar. Im Volksmund sagen wir, jemand sei „von Leid
entkräftet“. Wir glauben, unserer Gesellschaft eine ähnliche
Diagnose ausstellen zu können. Was sich an Schrecklichem
und Leidvollem unter uns abspielt und sich nicht nur in un-
zähligen Filmen reproduziert, beginnt, alles zu überschatten,
und es fehlen uns die Kraft und die Utopien, an diesen Um-
ständen etwas zu ändern. Der Berg des Leidens wächst. Der
Impuls zu einem wirklich anderen Blick auf den Menschen
steht nicht im Raum.
        Das gilt auch für gerade diejenigen Filmemacher, die
wir aufgrund ihrer eindrucksvollen filmischen Form schätzen
und verehren, wie etwa Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij
oder in jüngerer Zeit Béla Tarr; die von ihnen gefundene Bild-
sprache und die befreite entfesselte Kamera sind von apoka-
lyptischer Melancholie geprägt und zeigen fast ausschließlich
verzweifelte Menschen.
        Im antiken Griechenland, in Teilen der Kultur des
Mittelalters und besonders in der italienischen Renaissance
finden sich noch Spuren einer grundsätzlich anderen Kunst-
auffassung, in welcher die Künstler ihren Zeitgenossen ‚vor-
bildeten‘, was diese zu werden fähig wären:
        „Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten alle die-
se grossen Schaffenden das Ideal solchen Kulturwillenssicht-
barlich und in höchster Vollendung in ihren Werken dar. Sie
zeigten nicht, wie ihre Zeitgenossen wirklich waren, – denn
wahrlich gab es zu ihrer Zeit auch des Niedrigen und Ge-
meinen gerade genug, – sondern wie sich ihre Zeitgenossen
gesehen wissen wollten, durchdrungen von dem starken Wil-
len zur steten Erhöhung ihrer eigenwüchsigen Kultur! Nicht
ihr Fehlwertiges, nicht das, was erkannt war als ein zu Über-
windendes, stellten sie dar, – sondern das Göttliche, dessen
        						                                               15
die unsere Besten ahnen!’ So wirkte ihr Werk auf die Seelen
gleichsam als ‚Vor-Bild‘ dessen, was der Mensch aus sich ma-
chen könne, was er zu werden vermöge. So holte ihr Werk
in den Seelen Kräfte aus der Tiefe, die ohne solchen Erwe-
ckungsruf niemals schaffend und zeugend ins Leben einge-
wirkt hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt wussten
sehr wohl, was sie den grossen Bildnern ihrer Zeit zu danken
hatten.“3
        Als Künstler wurden in dieser Epoche die wenigen be-
zeichnet, die in der Lage waren, mit künstlerischen Mitteln
geistige Werte dazustellen, welche den Menschen seelisch er-
hoben und seinem Geist Nahrung boten. An diesem Punkt
möchte die Organisation zur Umwandlung des Kinos an-
knüpfen und in der Gegenwart neue Formen des filmischen
Ausdrucks finden. Film ist das Medium mit der grössten Ver-
breitung und dem höchsten Wirkungsgrad. Gleichzeitig ist
die Filmkunst wie kein anderes künstlerisches Medium fähig,
Geistiges sichtbar und erfahrbar zu machen. Das Kino hätte
das große Potential, ein Ort zu sein, an welchem dem Ewigen
wieder Raum gegeben werden könnte, im Sinne einer Wieder-
belebung unserer inneren seelischen Welten.

               Filmbild aus dem Film „Geistzeit“, 2012

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The Shape of Films to Come
                          von Ronald Steckel

            Das derzeitige Kino bietet nur die SCHATTEN Platons.
                  Die SONNE steht darüber, aber außerhalb.
                            Nun muss sie darin sein.
                   Das derzeitige Kino ist die Dunkelkammer.
             Das künftige Kino wird die strahlend helle Kammer sein.
                 Der brennende Dornbusch, der zu uns spricht,
                      dem die Gesetze der Welt entspringen.
                                Saint-Pol-Roux 1

1
         Ich möchte zunächst das Wort betrachten, dessen
Strahlungen sich in den Texten und Essays dieser Antho-
logie widerspiegeln: das Wort “Geist“. Es ist eines der viel-
deutigsten Wörter der deutschen Sprache; in ihm fließen Vor-
stellungen nichtchristlicher Religionen mit Erkenntnissen der
biblischen Offenbarung zusammen, dazu vielfältigste Formen
des Aberglaubens, des Okkultismus und des philosophischen
Denkens.
         “Geist“ leitet sich aus der germanischen Wurzel *gaista
und der indogermanischen Wurzel *gheis- für erschaudern, er-
griffen und aufgeregt sein ab, die auch “antreiben, lebhaft bewegen oder
bewegt sein“ bedeutet. In seiner Grundbedeutung meint das
Wort etwas Bewegendes, etwas Lebendiges und Belebendes.2
         In der abendländischen, christlichen Überlieferung er-
hält das Wort durch das Logion “Gott ist Geist“ 3 höchste
Bedeutung. Entsprechungen dieser Sicht finden sich z.B. in
der deutschen idealistischen Philosophie und in der Vedanta-
Lehre: Atman, der göttliche Funken im Menschen, ist Ema-
nation des Brahman, des göttlichen Allgeistes und entspricht
Meister Eckharts “Fünklein“, Jacob Böhmes “Perle“ und
Kants “transzendentalem Ich“.
         In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhun-
derts hat der Philosoph Martin Heidegger die Entwertung
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dieses Wortes konstatiert. Er hat den Verlust in seiner ganzen
Tragik wahrgenommen, denn das Wort „Geist“ hat über Jahr-
hunderte – vor allem durch die Aufklärung, die Revolution
des Materialismus und der materialistischen Weltanschauung
im 19. Jahrhundert und dann endgültig durch die vielfachen
Erschütterungen der Bewusstseinsmutationen des 20. Jahr-
hunderts – seine grundlegende Bedeutung, seine Lebendigkeit
und seine Resonanz im Bewusstsein der Gegenwart allmählich
verloren, es ist undeutlich geworden, sprachliches Kleingeld...
man kann sich einiges darunter vorstellen, aber weiß eigentlich
nicht mehr genau, was gemeint ist.
        Wenn wir heutzutage „Geist“ sagen, ist vor allem das
gemeint, was man in der modernen Welt das Mentale nennt:
das ist eine Übernahme der englischen Begriffe „mind“ und
„mental“. Gemeint sind die durchaus mysteriösen neocor-
tikalen Prozesse des bewussten Denkens, Imaginierens, Re-
flektierens und Rechnens, die uns durch ihre Intensitäten und
Auswirkungen offensichtlich von anderen Kreaturen dieser
Erde unterscheiden.
        Der Philosoph Jean Gebser hat dieses „Mentale“ und
die mentale Bewusstseinsstruktur, die unsere Weltwirklich-
keit und Weltwahrnehmung seit drei Jahrtausenden formt,
in ihrem gegenwärtigen Stadium als „defizient“ und „er-
schöpft“ erkannt: die weltbeherrschenwollende, messende,
rechnende, wägende, materieverschlingende Intelligenz der
westlichen Zivilisation hat eine nicht mehr kontrollierbare
permanente technische Revolution ausgelöst und verhäng-
nisvolle Kräfte entfesselt, die vor unseren Augen ganze Kul-
turen, Landschaften und Menschenseelen verbrennen und
auslöschen. 4
        Gehen wir also davon aus, dass in den hier versam-
melten Texten dem Wort „Geist“ seine ursprüngliche hohe
Bedeutung zurückgegeben wird und dass nicht das gegen-
wärtig amtierende verheerende Mentale, sondern das „alte
Wahre“ angesprochen ist, „das, was nicht vergeht“: das Le-
bendige, das Belebende, das Bewegende.
18
Um deutlich zu machen, wie eine in diesem Sinn
„geistige“ Erfahrung sich anfühlt, möchte ich einen Text
von Friedrich Nietzsche zitieren. 1888 schreibt er über In-
spiration:
        „Hat jemand, Ende des 19. Jahrhunderts, einen Begriff
davon, was die Dichter starker Zeiten Inspiration nannten? Im
andern Fall will ichs beschreiben. Der Begriff Offenbarung in
dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Fein-
heit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten
erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand.
Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da
gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit,
in der Form ohne zu zögern – ich habe nie eine Wahl gehabt.
        Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich
mitunter in einem Tränenstrom auflöst, bei der der Schritt
unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkom-
menes Außer-sich-Sein mit dem distinktesten Bewusstsein
einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in
die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und
Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als he-
rausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines sol-
chen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse,
der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das
Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe
das Maß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich
für deren Druck und Spannung...
        Alles geschieht in höchstem Grade unfreiwillig, aber
wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtheit, von
Macht, von Göttlichkeit...
        Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses, ist das
Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was
Gleichnis ist; alles bietet sich als der nächste, der richtigste,
der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort
Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankä-
men und sich zum Gleichnis anböten. Dies ist meine Erfah-
rung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausen-
								                                                       19
de zurückgehen muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen
darf: „Es ist auch die meine.“ 5
        In diesem letzten Punkt irrte der Autor, er war nicht so
allein, wie er dachte: nur zweieinhalb Jahrhunderte vor ihm, in
den Frühlingsmonaten des Jahres 1612, schrieb Jacob Böhme
in seiner “Vorrede“ zur “Morgenröte im Aufgang“:
       “Wenn aber die Seele vom Heiligen Geist angezündet
wird, so triumphieret sie in dem Leibe, wie ein gross Feuer
aufgehet, daß also Herz und Nieren für Freuden zittern.“ 6
        Es ist also von einer lebendigen Macht die Rede,
wenn man von diesem “Geist“ spricht. Und es gibt in dieser
Zeit, wie in jeder Zeit, viele unter den mit uns Lebenden, die
mit “Berührungen“ durch diese Macht, welcher Intensität
und Tiefe auch immer, aus eigenem Erleben vertraut sind.
Es ist “das alte Wahre“, Creator Spiritus, der Geist, der Welten
schafft, trägt und durchdringt und der auch uns trägt und
berührt – wenn er uns berührt – als “das zarte Wirken“ im
innersten Innen, von dem Novalis spricht.
         “Er ist nicht nur so ‚wirklich‘, wie ein Baum, ein Stein,
ein Berg, — ein Blitz, der aus der Wolke niederfährt, sondern
in ihm allein kann unser irdischer Begriff der ‚Wirklichkeit‘ erst
seine irdisch nicht zu findende vollkommene Entsprechung fassen.
Geist ist nichts Erdachtes.
Geist ist nicht die Kraft des Denkens.
Geist ist substantielles, aus sich selber seiendes, lebendiges Licht.“ 7
         Ist es nicht das, was wir von Filmen wollen: lebendiges
Licht?

2
       Der Überlieferung nach ist die Erde einer der Exil-Pla-
neten des Alls, ein Auffanglager, eine von unendlich vielen
“Schalen“, in welchen die aus dem Herzen des geistigen Kos-
mos stürzenden, fallenden oder heranstürmenden Geist-Men-
schen in der Dichte und Materialität der “äußeren Welt“ge-
sammelt und aufgefangen werden, für eine Ewigkeitssekunde
von der Materie umarmt, in ihre Träume eingesponnen und
20
einverleibt: inkarniert, eingefleischt in die Körper aufrecht ge-
hender, sterblicher Säugetiere, aus Urmeeren evolutionär
heraufgeblüht in Zeiträumen von Jahrmillionen, Leiber aus
Licht in Leibern aus Fleisch, Geistwesen in Tierkörpern:
eine märchenhafte Metamorphose, eine chymische Hochzeit,
ein Zauber, eine unerklärliche phantastische transmutative
Liason dangereuse in den äußeren Bezirken des Alls, wie aus
einem Roman von Philip K. Dick – und ein Trauma: das
Leben des Menschen auf der Erde als posttraumatische Be-
lastungsstörung. Wie Empedokles schrieb:
       “Ich weinte und jammerte, als ich den ungewohnten
Ort erblickte... den freudlosen Ort, wo Mord und Groll und
Scharen anderer Unheilsgötter, ausdörrende Krankheiten
und Werke der Verwesung auf der Wiese des Unglücks im
Dunkel umherschweifen. ... Aus welchen Ehren und welcher
Fülle der Seligkeit gestürzt, weile ich nun auf Erden... mit
fremdartigem Gewande von Fleisch bekleidet“. 8
       Die Rede ist von der Urquelle aller Dramen und
Erzählungen, die man bis ans Ende aller Tage – und noch
weit darüber hinaus – verfilmen könnte: die Tragödie des
Menschen, jedes Menschen, auf dieser Erde, die zweifache
Natur: ein unschuldiges, sterbliches Tier und gleichzeitig et-
was ganz anderes zu sein, ein bewusstes, selbstreflektierendes
ewiges Geistwesen aus einer tieferen, anderen Dimension des
Alls: der “äußere“ und der “innere“ Mensch.
       “Wie nun Gott in der Welt wohnet, und alles erfüllet,
und doch nichts besitzet; und das Feuer im Wasser wohnet
und das nicht besitzt; und wie das Licht in der Finsternis
wohnet und die Finsternis doch nicht besitzet; der Tag in
der Nacht und die Nacht im Tage; die Zeit in der Ewigkeit
und die Ewigkeit in der Zeit: Also ist auch der Mensch ge-
schaffen. Er ist nach der äußern Menschheit die Zeit, und
in der Zeit; und die Zeit ist die äußere Welt, das ist auch der
äußere Mensch. Und der innere Mensch ist die Ewigkeit,
und die geistliche Zeit und Welt; welche auch stehet in Licht
und Finsternis, als in Gottes Liebe, nach dem ewigen Licht;
								                                                      21
und in Gottes Zorn, nach der ewigen Finsternis: welches in
ihm offenbar ist, darinnen wohnet sein Geist, entweder in
der Finsternis, oder im Lichte.“ 9
       Zeit und Ewigkeit in einem Leib. Könnten wir sein
wie andere Kreaturen des Planeten, wie Albatrosse oder Sa-
lamander: es wäre eine unvorstellbare existentielle Erleich-
terung, nichts anderes zu kennen als gelassenen Gehorsam
gegen die Gesetze des Daseins, fraglos zu blühen und zu
vergehen. Aber diese Gelassenheit fehlt. Wir sind im Wort-
sinn “verrückt“ und, will man der Überlieferung vertrauen,
kosmische Migranten, Vertriebene aus freiem Willen, ge-
heimnisvolle Flüchtlinge, innen wie außen im Exil: Outside
the Gates of Eden. Etwas fehlt. Und wir leiden, bis auf die Se-
her und Propheten, unter Amnesie. Wie der amerikanische
Dramatiker Thornton Wilder schreibt:
      “Wir kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche
Maßstäbe der Vollkommenheit gekannt haben und erinnern
uns undeutlich der Schönheiten, die wir nie festzuhalten
vermochten, und kehren wieder in jene Welt zurück.“ 10

3
       Aber bleiben wir in dieser Welt und bei dem The-
ma der “Texte zum Geistigen im Film“. Wenn man für
einen Augenblick die Tatsache außer Acht lässt, dass die
immer noch sehr junge Filmkunst, diese dem intensiv-
sten Traumerleben so überaus nahe Licht-, Raum- und
Klang-Magie, in unserer Epoche des ökonomisch-finan-
ziellen Totalitarismus durch die Machinationen der Film-
industrie mit ihren lügenhaften Szenarien und inhären-
ten Zensuren im Großen und Ganzen zu einer weltweiten
dämonischen Bedrohung menschlicher Seelen mutiert
ist: was wären die Möglichkeiten einer nicht kommerziell
gedachten Filmkunst in dieser Zeit?
       Ich vermute, dass in dieser Frage ein Kapitel der
Filmgeschichte angesprochen wird, das bis auf verschwin-
dend wenige Ausnahmen noch nicht wirklich eröffnet ist: der
22
“postapokalyptische Film“ (F. Kelemen). Die Filmkunst als
Ausdruck und Weg unseres geistigen und seelischen Erwa-
chens und als Medium der Selbstgestaltung. Während der
Produktion des Films Morgenröte im Aufgang – hommage à
Jacob Böhme tauchte diese Frage tatsächlich auf: “Kann die
Filmkunst zu unserer Menschwerdung beitragen?“
       Was können wir uns vorstellen?
       Filmische Mysterienspiele, Meditationsfilme, Cinéasti-
sche Rites de Passage, Filme der geistigen Suche, Heiligenle-
genden, Sagen, Mythen. Filme, in denen “das lebendige Wort“
zu seiner magischen Macht kommt und sie entfaltet. Filme,
in denen die Größe und Schönheit des Menschen und der
menschlichen Seele erscheinen. Liturgische Filme. Stille Filme.
Erhebende, erbauende, bestärkende Filme. Filme, in denen
die Welt erkannt wird als “das Tal, in dem die Seelen gemacht
werden“, wie die Sufis sagen. Filme, in denen wir unsere un-
ausweichliche innere Verbundenheit und Nähe empfinden.
Filme, in denen wir das Licht als lebendiges Wesen erleben.
Filme, in denen die Tiefe der Welt und die Tiefe des mensch-
lichen Geistes sich öffnen. Filme, die eine Antwort auf die
“Unanswered Question“ von Charles Ives geben. Filme, die
ruhig machen. Filme, die es an Schönheit mit den herrlichs-
ten Blüten der Flora dieser Welt aufnehmen können. Fil-
me voller Gebete. Filme, die uns die Form der Anwesenheit
des Gottesgeistes in den Menschen dieser Erde zeigen. Fil-
me wie Jakobsleitern. Filme, die unvorhersehbare Bewegun-
gen des Lichts und unerhörte Klänge verstrahlen. Filme der
Fülle. Filme, in denen das Licht materielle Substanz ist wie
in den Lichträumen von James Turrell. Filme, die von Klar-
träumen nicht zu unterscheiden sind, die man fünfmal sieht
und jedesmal ist es ein anderer Film, wie Andreij Tarkowski‘s
“Spiegel“. Filme, die nicht lügen. Filme, in denen ein ande-
res, überlegenes, gütiges Bewusstsein zu uns spricht. Filme, in
denen wir weinen können vor aufrichtiger Scham. Filme, die
uns lehren, die Erde zu lieben. Filme, die es wie J. S. Bach mit
seinen Klängen “ernst meinen mit der recreatio, der Wieder-
								                                                     23
erschaffung des Gemüts.“ Strahlende Filme. Filme, in denen
der Blick auf den Menschen Novalis‘ Satz bewahrheitet: “Es
gibt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche
Körper“. Filme, die klug machen. Filme, die weise machen.
Kluge Filme. Weise Filme. Filme, die uns “reinigen vom Gift
der Gegenwart“ (A. Pärt). Filme, in denen „die Farben sich
selbst zurückgegeben werden“ (Maleviç). Filme, in denen wir
unsere geistigen Schulden begleichen. Erleuchtende Filme.
Besänftigende Filme. Geistige Lehrfilme, wie Pasolinis “Evan-
gelium nach Matthäus“ oder Tarkowskis “Andrej Rubljow“
oder Bressons “Le Diable, probablement“. Stumme, ikonische
Filme wie Peixotos “Limite“. Kathartische Filme. Filme, die
in dem Feuer brennen, “das nicht verzehrt“. Sühnende Filme.
Filme, die diese Welt und das All als “Leib Gottes“ (J. Böhme)
sichtbar machen. Filme, die zeigen, dass es auf dieser Erde nur
einen Menschen gibt, in unendlichfältiger Gestalt. Komische
Filme. Lachmuskelschmerzfilme. Vertrauenerweckende Filme.
Filme der heiligen Riten in allen Tempeln der Erde, die noch
nicht ihre magische Kraft verloren haben. Erfrischende Filme.
Ernüchternde Filme. Heilende Filme. Zärtliche Filme. Filme,
die “das gefrorene Meer der Seele hinter der Stirn“ (F. Kafka)
auftauen und uns endlich weinen machen. Filme, die nur aus
leuchtenden und brennenden Tafeln bestehen, beschriftet mit
unvergesslichen Worten. Filme, in denen der Tod als Tor er-
scheint, nicht als Ende. Filme für Sterbende. Filme für Kran-
ke. Filme, die “überwärts unterwegs“ sind. Unschuldige Filme.
Filme, die in klaren, unmissverständlichen Formen die für uns
auf dieser Erde gültigen Gesetze des Geistes darstellen. Filme,
die zeigen, dass der Weltraum die Weltseele ist: ein lebendiges
Meer endlosen Bewusstseins. Filme, in denen der mensch-
liche Körper als Urlandschaft erscheint, die alle Landschaf-
ten, Ströme und Meere dieser Welt in sich trägt. Filme, die
Brancusis Wort einlösen: “Alles wirklich Gesehene ist schön.“
Filme, in denen die Seelen der Völker miteinander sprechen,
lautlos, wie Blüten, die sich anblicken. Geheimnisvolle Filme.
Filme, die dankbar machen. Filme, in denen wir erfahren,
24
was der geistige “Fall“ des Menschen in Wirklichkeit bedeutet.
Liebesfilme. Psychoaktive Filme. Nahrhafte Filme. Yogische
Filme. Filme wie himmlisches Brot. Filme, die “nicht von
dieser Welt“ sind. Ungegenständliche Filme. Ermutigende
Filme. Filme, die den Betrachter fühlen lassen, dass er der Mit-
telpunkt der Welt ist und dass dies für jeden Menschen gilt.
Filme, die uns lehren, unser Schicksal zu beherrschen. Filme,
in denen der Mensch als Ebenbild Gottes erscheint. Filme,
die erzählen, dass die Gralsritter unter uns sind, dass sie nie
fort waren und dass dem Heiligen Gefäß ohne Unterlass das
Wasser des Lebens entquillt. Filme, die uns die Furcht nehmen.
Filme, in denen wir uns erkennen als Blätter und Zweige am un-
geheuren Baum des Menschengeschlechts, der das ganze All
durchwächst. Filme, die uns die Liebe lehren. Filme, in denen
die anderen Kreaturen der Erde uns ihre Sprachen und ihre
Geheimnisse lehren. Filme, die uns erwecken. Filme, in denen
wir unsere Daseinspflicht erkennen. Filme, die uns aus der
Schuld der Unwissenheit erlösen und uns zu “Wissenden“ ma-
chen. Friedensfilme. Filme “von der unvoreiligen Versöhnung“
(L. Hohl). Filme, hinter die man nicht zurückgehen kann.
Filme, die unsere Geistesgegenwart stärken. Arglose Filme.
Filme voller Freuden des Sehens. Belebende Filme. Filme wie
Lichtungen. Beruhigende, lindernde Filme. Bewusstseinsblü-
hende, weitende, vertiefende, transmutative Filme. Geduldige
Filme. Neuroplastische Filme. Filme wie Jahreszeiten in den
Gärten des Lichts.

4
        In den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts
entdeckte ich bei einem Besuch in Los Angeles eine neue
Filmzeitschrift, glänzend aufgemacht, eine Konkurrenz für
“Variety“. Im Editorial las ich: „Im Westen der USA, in Cali-
fornien, existiert eine kleine Gemeinde, welche die Kultur der
westlichen Zivilisation tiefer geprägt hat als zweitausend Jahre
Christentum. Diese Gemeinde heißt Hollywood.“ Ich war be-
stürzt. Später am Tag, am pazifischen Strand, war ich immer
								                                                     25
noch beschäftigt mit dem realen Albtraum der Kolonisierung
einer unserer kostbarsten Begabungen: der Imagination, der
geheimnisvollen Kraft, innere Bilder zu gestalten, die selbst
das Unsichtbare erschließen. Dann wurde mir bewusst, dass
ich an diesem Meeresufer den äußersten Punkt der westlichen
Zivilisation erreicht hatte: die Dream Houses der Filmindust-
rie im Rücken, blickte ich im Licht der sinkenden Sonne über
das Meer nach Westen, wo jenseits des Wassers in der Ferne
die japanischen Inseln lagen. Ein Spruch kam mir in den Sinn,
den ich im Jahr zuvor in einem kleinen Kloster in der Nähe
von Kyoto auf einer Tafel an einer hölzernen Giebelwand
entdeckt hatte. Ich hatte ihn mir auf englisch übersetzen lassen:
This world is transitory and all experience quickly passes. Each of us
must wake up from his dream. There is no time to lose.

                      Berlin, 5. - 10. Oktober 2017

                   Filmbild, Morgenröte im Aufgang, 2015

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Film-Premiere-Plakat, Morgenröte im Aufgang, 2015
Hauke Johanna Gerdes, 303 Monde, 2017, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Weltraumkino
                        von Otto Maag

        Die Phantasie scheint endgültig aus dem Bereich der
Geisteswissenschaften, der Dichtung und schönen Künste,
in den Besitz der Technik und Naturwissenschaften überge-
gangen zu sein. Keine Schöpfung dichterischer Einbildungs-
kraft, die nicht von tatsächlicher Erfindung auf dem Gebiet
der Chemie, Elektrizität, Radio, Kino, Tele- und sonstiger
-graphie und -phonie und deren täglich sich erweiternden
Möglichkeiten überboten und in den Schatten gestellt würde.
Um so unbegreiflicher ist es, daß von der Phantastik der Tat-
sachen, die wir, weil es eben Tatsachen geworden sind, mit
so unbegreiflicher Selbstverständlichkeit hinnehmen, so we-
nig ins Geistige übersetzt wird, daß man den Gleichnis- und
Symbolcharakter, den all diese Erfindungen und Theorien ha-
ben können, augenscheinlich so wenig wahrnimmt, benutzt
und fruchtbar macht.
        Man stelle sich z.B. einen Savonarola im Besitz der
technischen Kenntnisse eines heutigen Primaners vor, mit der
Möglichkeit, alle diese Dinge ins Religiös-Metaphysische zu
wenden, gewiß, all die Vorstellungsvoraussetzungen, die der
heutige Mensch hat, bei seinen Zuhörern zu finden. Eindruck
und Wirkung solcher müßte unausdenkbar sein. Denn wo die
Phantastik der Tatsachen schon die Einbildungskraft der mit
ihnen Rechnenden unendlich übertrifft, ist die Basis für Füh-
rung und Verführung dieser Einbildungskraft gegeben, die
noch keinem Prediger der Welt je zur Verfügung stand.
        Alle Begriffe und Bilder des religiösen Sprachgebrauchs,
wie Allgegenwart Gottes, Weltgericht, Buch des Lebens, Fe-
gefeuer usw., der früheren Vorstellungskraft fast unzugäng-
lich, wie müssten sie einer Generation erschütternd lebendig
gemacht werden können, der Fernhören, -sehen, -sprechen,
Festhalten jedes Vorgangs, jeder Bewegung und Gebär-
de und beliebiges Wiederlebendigmachen, Kino, Radio usw.
								                                                     29
geläufige Dinge sind. Unsere technischen Möglichkeiten ins
Vollkommene übersteigert und ins Kosmische übersetzt,
also in der Hand eines Weltenlenkers und Weltenrichters ge-
dacht, – man sollte meinen, mit diesem Vorstellungsmaterial
müßte es auch dem einfachsten Landprediger gelingen, das
Blut seiner Zuhörer in den Adern gefrieren zu machen. Sollte
nicht, um nur eines von hundert Beispielen zu nennen, etwa
die Ausmalung eines „Weltraumkinos“ durch einen wort- und
bildmächtigen Bußprediger unserer Zeit genügen, um die
Menschheit in Entsetzen und Zerknirschung zu peitschen.
        Wie, wenn im unendlichen Raum, von den Engeln
Gottes bedient, ein unaufhörlich tätiger kosmischer Aufnah-
meapparat vorhanden wäre, der alles was lebt und geschieht,
festhielte für alle Ewigkeit, so daß der Herr dieser Weltlicht-
spiele beliebig jede Vergangenheit einstellen könnte (eine
Vorstellung, die bei der Lichtwellentheorie geradezu auf der
Hand liegt), und nichts, was je geschehen, kein Gedanke und
keine Regung und Gebärde ihm verborgen bleiben könnte.
Wie wäre die Vorstellung zu ertragen, daß so das jüngste Ge-
richt aussähe: In jenem kosmischen Lichtspielhaus wird das
Buch des Lebens aufgeschlagen, d.h. läuft der überweltliche
Filmstreifen unter den Augen des Weltenrichters der zittern-
den Seele ab Tag und Nacht. Welch grauenvolle unentrinnba-
re Lebendigkeit gewinnt so ein Wort wie das der Apokalypse,
dieser mahnungsschweren Phantasie –: und die Toten stehen
vor Gott und ein Buch ward aufgetan, welches ist des Le-
bens und die Toten wurden gerichtet nach ihren Werken…
und werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu
Ewigkeit und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewig-
keit…. und was du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht und
wird wiederkommen aus dem Abgrund (!)…
        Was sind alle Ausmalungen von Höllenfeuer und kör-
perlichen Qualen der Verdammnis gegen die Vorstellung, daß
Du sitzen mußt und vor Dir rollt der Filmstreifen Deines
Lebens ab, vom Beginn kindlicher Unschuld mit allen lichten
Möglichkeiten bis zum bittern Ende, erbarmungslos getreu,
30
nichts auslassend, keine Tat, keine Gebärde, ja keinen Gedan-
ken und siehst Dich und hörst im Weltraumlautsprecher Deine
Worte mit Deiner Stimme dazu und siehst im bewegten Bild
alle Folgen Deiner Taten und Worte, alle Wirkungen, siehst
die Leiden, die durch Dich und um Deinetwillen geschehen,
alles was versäumt und nie wieder gutzumachen ist, – und das
immer und unaufhörlich, bis Du jeden Zug, jede Gebärde, jede
Bewegung, auch das Längstvergessene auswendig weißt, Tag
und Nacht, bis der Rauch Deiner Qual aufsteigt von Ewig-
keit zu Ewigkeit und Du selbst zum unerbittlichsten Richter
Deines eigenen Wesens wirst.
        Man sollte meinen, einer, dem die Gestalt des Wortes
gegeben ist, müßte mit den Vorstellungsmitteln und -möglich-
keiten, die ihm unsere Zeit liefert, falls glühenden, aber laute-
ren Herzens wäre, diese Zeit aufregender bewegen und viel-
leicht auch gestalten können, als es jemals bisher möglich war.
                    Magische Blätter, Jahrgang 1926, S. 9-11

 Hauke Johanna Gerdes, Sternenstaub, 2017, s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug

								                                                                           31
Hauke Johanna Gerdes, Im Schilf (zu dem Film „Geistzeit“), 2011,
           s/w Photografie, Silbergelatine Barytabzug
Aus dem Film Geistzeit
         frei zitiert nach Shri Ramana Maharshi

             „Du kannst Dir dieses Verhältnis
        nach Art eines Filmapparates vorstellen:
           das Selbst, oder das reine Inne-Sein,
       ist die Lampe, die Lichtquelle im Inneren.
   Das Gemüt, frei von leidenschaftlicher Bewegtheit
                 und dumpfer Dunkelheit,
                 im Stande lichter Klarheit
           und dem unsterblichen Selbst nahe,
             ist die Linse vor der Lichtquelle.

          Die Skala der ererbten Neigungen
            und Gewohnheiten im Gemüt,
              die in Gestalt äußerst feiner,
        ungreifbar hinhuschender Vorstellungen
                 und Regungen folgen,
                   ist der Filmstreifen
           mit seinen Bildern voll Gestalten,
              der an der Linse vorbeiläuft.

                 Das Gemüt ist die Linse,
           sein belebter oder erhellter Zustand
                   sind die Lichtstrahlen,
                die durch die Linse gehen:
         beide bilden zusammen mit dem Selbst
                       das Einzel-Ich:
                die Lampe mit dem Licht,
        das die Linse versammelt und weiterwirft.
         Wie das Licht, das durch die Linse geht,
   als heller Schein auf die Leinwand gegenüber fällt,
             so erscheint das Licht des Selbst,
vom Gemüt durch Sinnesorgane nach außen geströmt, als
        die Welt gegenständlicher Erscheinungen.
								                                               33
Das aus dem Brennpunkt der Linse strahlende Licht
             erhellt die Leinwand: so wird die leblose,
          fühllose Welt des Stoffs vom Gemüt angehellt,
      das die innere Helle des Selbst nach außen weiterleitet.

                       Die Bilder des Films,
                die dank dem Licht aus der Linse
                  sich auf der Leinwand folgen,
              sind die verschiedenen Gegenstände,
     die mit Namen und Gestalt als Sinneswahrnehmungen
              in der Erscheinungswelt auftauchen,
                         dank dem Licht,
             das ihnen vom Gemüt her zuteil wird.

             Die Maschinerie, die den Film laufen läßt,
              entspräche dabei dem göttlichen Gesetz,
     kraft dessen die ererbten Gewohnheiten und Neigungen
          sich selber nacheinander dem Gemüt eingeben.

              Die Bilder erscheinen auf der Leinwand,
                         solange der Film läuft
                  und seine Schatten durch die Linse
                        auf die Leinwand wirft:
                  ebenso spielt die Erscheinungswelt
           sinnlicher Wahrnehmungen von Gegenständen
     als eine anscheinend eigenständige Wirklichkeit so lange,
           wie die ererbten Neigungen und Gewohnheiten
                      im Gemüt ihr Spiel treiben,
                      und das Einzel-Ich wird sie
                    im Wachen und Traum gewahr.

            Weiter: wie die Linse die zahllosen
       winzigen Bilder des Filmstreifens vergrößert
     und in riesigem Ausmaß mit Augenblicksschnelle
           auf die Leinwand geworfen werden,
 so vergrößert das Gemüt die winzigen feinen Neigungen
34
und Gewohnheiten zu gewaltigen Maßen
           im Bruchteil eines Augenblickes
         und gibt ihnen Namen und Gestalt.

          Ist kein Film da, so scheint die Lampe,
         ohne Bilder auf die Leinwand zu werfen:
         ebenso scheint das Licht des Selbst allein
  ohne die Dreifalt von Seher, Sehen und Gesehenem,
           wenn keine Neigungen im Spiel sind,
   die sich in Vorstellungen und Regungen ausprägen:
             nämlich im traumlos tiefen Schlaf,
in Zuständen der Bewußtlosigkeit oder der Versenkung.
              Der Lampe geschieht gar nichts,
 sie bleibt völlig unverändert, wandellos und unberührt,
        indes sie Linse, Film und Leinwand erhellt:
                  so bleibt auch das Selbst,
                    indes es das Gemüt,
           seine Neigungen und Gewohnheiten
      und die Sinnesorgane mit seinem Licht erhellt,
               immer wie es in sich selber ist:
                     rein und wandellos.

             Das reine Inne-Sein des Selbst
             strahlt als Licht in sich selber.
          Es wirkt als der „bewirkende Leib“
                in der inneren Kammer,
 die von Wänden aus Nichtwissen abgeschlossen ist.
Durch die Tür des Schlafes, die im Rhythmus der Zeit
             und wie das Schicksal es will,
   von den Atem- und Lebenskräften bewegt wird,
          gelangt das Licht über die Schwelle
  und fällt auf den davor stehenden Spiegel des Ich.
    Mit dem Schein, den der Spiegel zurückstrahlt,
gelangt das Licht in die mittlere Kammer der Träume.
 Von dort strömt es durch die Fenster der fünf Sinne
     in den offenen Raum des Wachseins hinaus.
								                                                   35
Wenn die Tür des Schlafes durch die Kraft
  des Windes der Atem- und Lebenskräfte geschlossen ist,
 zieht es sich von den Sphären des Wachens und Träumens
                 in tiefen Schlummer zurück
           und bleibt rein es selbst ohne Ichgefühl.

        Die erhaben-heitere Unberührbarkeit des Selbst
             ist vollkommen verschieden vom Ich
                    und seinen drei Sphären:
                  Schlaf, Traum und Wachen.

          Das Selbst ist Licht aus sich selbst im Herzen
                  als reines Sich-selbst-Innesein,
                einig ohne ein anderes neben sich.
         Es offenbart sich weltweit als ein und dasselbe
      in allen Wesen und wird der Höchste Geist genannt.

             Rein und ungetrübt ist das Gemüt
                 vollkommenes Gewahrsein,
       aber seines ursprünglichen Wesens vergessend,
wird es von der Eigenschaft dumpfer Dunkelheit überwältigt
            und entfaltet sich als physische Welt.

           Das Selbst ist ewiges Licht in sich selber,
                    ist eines und weltenweit.
     Ungeachtet der drei Sphären personenhafter Erfahrung:
            Wachen, Traum und traumloser Schlaf,
             bleibt das Selbst rein und wandellos.
             Es wird nicht von den drei „Leibern“
                   oder Gehäusen begrenzt:
         dem stofflich-dichten, dem sinnlich-geistigen
          und dem vital-vegetativen „bewirkenden“.
                Es ist jenseits der Dreispaltung
             in Sehenden, Sehen und Gesehenes.
     Das Auge gewahrt den Leib und andere äußere Dinge,
              das Sehzentrum gewahrt das Auge,
36
das Gemüt gewahrt das Sehzentrum,
    das persönliche Selbst oder Ich gewahrt das Gemüt
   und das reine Innesein gewahrt das persönliche Selbst.
            Das wahre Selbst ist reines Innesein
        und wird alle Glieder dieser Reihe gewahr,
            die für einander jeweils „Seher“ sind
                       und was er sieht.

              Das Selbst ist der letztliche Seher.
        Alles übrige: Ich, Gemüt usw. sind lediglich
             Gegenstände seines Innewerdens.
        Das Selbst kann nicht Gegenstand werden,
     denn es wird von nichts Anderem wahrgenommen,
         es ist der Seher, der alles Übrige gewahrt.

 Trotzdem besteht die Beziehung Subjekt-Objekt für das
    Selbst, besteht für sein anscheinendes Subjekt-Sein
           nur auf der vordergründlichen Ebene
                 wechselseitiger Beziehungen
            und schwindet hin im Unbedingten,
        denn in Wirklichkeit ist nichts Anderes da,
             als das Selbst oder reines Innesein.
  In Wahrheit ist das Selbst nicht Seher noch Gesehenes.
Das Selbst allein ist nicht verstrickt als Subjekt oder Objekt.“

        Heinrich Zimmer, Der Weg zum Selbst, Lehre und Leben des
           Shrî Ramana Maharshi, S. 235-236, Zürich, 1944

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Vorwort zur Nachlese
        von Organisation zur Umwandlung des Kinos

        Der zweite Band der Nachlese enthält u.a. einige Be-
trachtungen über Kunst, die in den Jahren 1919 und 1920
in verschiedenen Görlitzer Tageszeitungen erschienen sind.
Auch in den folgenden Jahren, bis in das Jahr 1924 hinein, ver-
öffentlichte Bô Yin Râ dort weitere Aufsätze zur Kunst, die
bislang nicht in die Nachlese-Reihe aufgenommen wurden.
„Bô Yin Râ hat alle diese Arbeiten nicht in das geschlossene
Werk seiner Lehre, den Hortus Conclusus, eingefügt, aber in
jedem Wort und in jedem Satz ist die innigste Verbindung mit
dem Lehrwerk fühlbar.“1 Anknüpfend an die Tradition der
Nachlese-Bände wollen wir die Sammlung der Texte von Bô
Yin Râ durch unsere Recherche in Görlitzer Archiven, dem
„Ratsarchiv“, der „Oberlausitzischen Bibliothek der Wissen-
schaften“ und dem „Archiv des Kulturhistorischen Muse-
ums“, in dieser Kolumne erweitern. Zu der Veröffentlichung
des zweiten Bandes der Reihe schreibt der Kober-Verlag: „Für
den heutigen Leser, der sich die damalige Zeit vergegenwär-
tigt, kann es wertvoll sein, sich ein Bild davon zu machen, wie
Bô Yin Râ stets lehrend und hilfreich bestrebt war, einerseits
das Positive hervorzuheben, andererseits aber auch gelegent-
liche Fehlinterpretationen mit Nachdruck richtigzustellen.“2
Im Vorwort des ersten Bandes prophezeit der Verlag 1953,
dass „die Jungen und neu Herzutretenden aber, denen ihr Ge-
schick das Buch in die Hände bringt, werden manchen heili-
gen Pfad darin entdecken, der sie sicher nach Innen leitet.“1
Ähnlich zu dem Inhalt der Ausgaben der „Nachlese“ gehören
zu diesem Material auch „zahlreiche zeit- und situationsbe-
dingte Aufsätze sowie einige Buchbesprechungen und
persönliche Erinnerungen.“3

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Nachlese
Rede zu der Gruppenausstellung des Kunstvereins 1920
        im Bankettsaal der Görlitzer Stadthalle
               von Joseph Schneider-Franken

        Ich möchte von zwei Dingen reden: einmal von der
eigentlichen Bedeutung und der Aufgabe solcher Ausstellun-
gen, und dann von den Grundsätzen, die uns bei der Ver-
anstaltung dieser Ausstellung Richtschnur waren. Wer zur
bildenden Kunst in ein lebendiges Verhältnis kommen will,
der muß wohl oder übel Gelegenheit finden, das Schaffen der
Künstler, auch noch während ihres Ringen um letzte Form,
kennen zu lernen. In einem Museum kann er wohl Werte aus
bestimmten Kunstperioden finden, aber er sieht den Künst-
ler erst, nachdem er sein letztes Wort gesprochen hat, nicht
mehr in seinem Streben, aus dem schließlich dieses „letzte
Wort“ erklärbar wird. Ein Museum hat andere Aufgaben. Es
will aus allen Kunstepochen, aber auch aus allen Schaffens-
perioden eines einzelnen Künstlers, instruktive Beispiele brin-
gen und sie für die Dauer verwahren. Der lebende Künstler
aber braucht auch während der Zeit seines Ringens den steten
Konnex mit dem Publikum, sonst wird er flügellahm und ver-
liert nur zu leicht den frischen Elan zum Weiterstreben. - Wie
ein Geiger oder ein Pianist den vollen Saal braucht, um sein
Bestes geben zu können, so braucht auch der bildende Künst-
ler die Menge der Beschauer, braucht das lebendige Interesse
für seine Kunst, soll sie in ihm Höchstes erreichen.
        Diesen für beide Teilen wichtigen Konnex zwischen
Künstler und Publikum herzustellen, dazu dienen die perio-
dischen Ausstellungen und die Kunstvereine, deren erster,
der Münchener Kunstverein, in drei Jahren sein hundertjäh-
riges Jubiläum feiern kann, und seinerzeit zu dem Zweck be-
gründet worden, solche Ausstellungen zu ermöglichen, um
dadurch das Interesse an den Werken der bildenden Kunst
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zu pflegen. – Jahrzehntelang haben sie äußerst segensreich
gewirkt, bis sie nach und nach in ihrem künstlerischen Ni-
veau immer tiefer herabsanken und schließlich zu richtigen
Asylen der Mittelmäßigkeit und der künstlerisch „O b da ch -
l o sen “ wurden. Erst in neuester Zeit ist man endlich auf-
gewacht. Große Kunstvereine haben jetzt namhafte Kunst-
gelehrte zu ihrer Leitung berufen (erst kürzlich gelang es
wieder dem Leipziger Kunstverein, Hanfstaengel von der
Münchener Pinakothek zu gewinnen ! ) und auch in kleineren
und kleinsten Städten sah man ein, daß man sich sachkundi-
ger, sicherer Leitung vertrauen müsse, wodurch denn heute
schon manche Stadt, in der noch vor gar nicht langer Zeit
nicht das geringste Kunstinteresse zu spüren war. Ich hof-
fe, daß auch Görlitz bald zu diesen Städten gehören wird.
        Man hat mir hier die Leitung des Kunstvereins
übertragen, aber als Leiter kann man immer nur in erster
Linie der „sp ir itus r ecto r “ sein und braucht willige, be-
geisterte Mitarbeiter, wenn man etwas erreichen will, Mit-
arbeiter, deren volles Vertrauen man genießt, und die schon
aus eigener Überzeugung die gleichen Wege gehen wollen.
Ich hatte die große Freude, hier sofort solche tatkräftige
Mitarbeiter zu finden, und möchte da besonders unserem
neuernannten Ausstellungskommissar, Herrn Neumann-
Hegenberg, sowie sämtlichen Herren der Jury meinen
herzlichen Dank sagen. Mit dieser Ausstellung der Werke
heimischer Künstler wollten wir nun vor allen Dingen ein-
mal zeigen, was hier in Görlitz an guter Kunst geschaffen
wird, und wir sind selbst überrascht, wieviel Gutes wir doch
fanden...
        Natürlich konnten wir nicht alles ausstellen, wenn
wir nicht auf das niedere Niveau wieder herabsinken woll-
ten, auf dem auch dieser Kunstverein längst angelangt war.
Trotzdem gingen wir in unserer Toleranz bis an die äußerste
Grenze der Möglichkeit, und Sie werden ein paar Werke äl-
teren Stils hier finden, zu deren Ausstellung wir unser künst-
lerischeres Gewissen nur schwer überreden konnten. Wenn
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