KIRCHE - beim Leipziger Missionswerk
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Mitteilungsblatt des Leipziger Missionswerkes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland KIRCHE 2/19 weltweit Gerecht Gleich Gerechte Teilhabe ... weil Gottes Welt allen gehört Anerkennung von unterschiedlichen Begabungen und Bedürfnissen, Solidarität, Gleich- berechtigung – all dies sind Schlagworte, wenn es um Teilhabe geht. Menschen aus unseren Partnerkirchen beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln. MITGLIEDERVERSAMMLUNG DES FREUNDESKREISES Der Freundes- und Förderkreis des Leipziger Missionswerkes e.V. (FFK) lädt am 24. August 2019 im Rahmen des 183. Jahresfestes des LMW zur Mitgliederversammlung ins Leipziger Missionshaus ein.
Editorial & Inhalt Liebe Leserinnen Inhalt und Leser, Vollversammlung des Ökume- 2 Editorial nischen Rats der Kirchen 2006 3 Dr. Thilo Daniel … Wir sitzen in einer Morgen- Meditation andacht im Gottesdienstzelt. Alles läuft, wie erwartet: gute 4 Charlotte Weber Musik, ansprechende Predigt Ausgrenzungen überwinden, Verletzungen heilen … Doch dann beim Fürbit- Gedanken zur „Teilhabe“ als Wechselspiel von tengebet … Ich bin irritiert: Teilnehmen und Teilgeben Die Worte werden von einem Menschen gesprochen, der 8 Ally Seif Ramadhani anscheinend Lähmungen hat. Seine Wort sind mir unver- Auf dem Weg zum Einparteienstaat ständlich. Ich habe nichts verstanden, und wohl auch kein Zur aktuellen politischen Situation in Tansania anderer Mensch im Zelt ... Schlagartig wird mir bewusst: Nicht ich bin Adressat des Gebetes, sondern Gott. Und da 10 Dr. S. Thomas Kennedy bin ich mir sicher: Gott hat die Worte gehört, und er hat Angriffe gegen Muslime und Christen sie verstanden. Hindu-Nationalisten schüren Gewalt gegen EDAN, das Ökumenische Aktionsbündnis von und für religiösen Minderheiten in Indien Menschen mit Behinderungen, hatte jene Vollversamm- 12 Fürbitte konkret lung intensiv begleitet. Dabei ist sichtbar geworden, dass es um mehr geht als um eine Rollstuhlrampe zur Kirche. 14 Rahael Jaukae Der gerechten Teilhabe aller Menschen liegen noch viele Die Kirchen werden leerer und die Clubs voller Steine im Weg. Deshalb ist es gut, dass die sächsische Das Verhältnis der Generationen in Papua- Landessynode kürzlich einen „Maßnahmeplan zur gleich- Neuguinea berechtigten Teilhabe von Männern und Frauen in der 16 Faustina Nillan Kirche“ beschlossen hat. Denn während 55,8 Prozent der Mit der Vergangenheit die Zukunft gestalten Kirchgemeindeglieder weiblich sind, sind Leitungsfunkti- Wie die Zeitreise-Methode Frauen zu ihren onen in der Landeskirche beinahe ausnahmslos männlich Rechten verhilft besetzt. Davon, wie Dalits – Inder*innen, die aufgrund ihrer Kas- 17 Andreas Kecke tenzugehörigkeit als „unberührbar“ gelten – ausgegrenzt Wie alles begann werden, können Sie am 23. August zum Auftakt unseres Vor 200 Jahren gründete sich in Dresden der Jahresfestes hören. „Alles, was Recht ist“, so lautet der erste Missions-Hilfsverein Abend mit Manuela Ott, Koordinatorin der Dalit Solida- 18 „Türen auf!“ für junge Menschen mit Behinderung rität in Deutschland. Was das für uns bedeutet, habe ich Adventsaktion für Tansania erbringt über 30.000 kürzlich im Leipziger Erich-Zeigner-Haus erfahren. Gjulner Euro Sejdi und Jana Müller berichteten vom Verfolgungsweg mitteldeutscher Sinti und Roma: Seit mehr als 600 Jahren 20 Nachrichten leben sie in Deutschland, allerdings wird ihnen wie den 22 Geburtstage, Impressum Dalits in Indien gerechte Teilhabe verwehrt. Von uns in Deutschland. Im Jahr 2019. 23 Termine Barrierefreiheit beginnt im Kopf! Ich wünsche uns, dass wir 24 Vierteljahresprojekt erkennen, wo wir es sind, die anderen Menschen Teilhabe verwehren, wo wir andere Menschen behindern. Seien Sie herzlich gegrüßt aus dem Leipziger Missionshaus. Zum Titelbild: Für das Materialheft der Advents Ihr aktion „Türen auf!“ wurde in Tansania dieses Sinn- bild nachgestellt, das den Unterschied von Gleichheit und Gerechtigkeit verdeutlichen soll. Fotografiert hat Ravinder Salooja, Direktor des Leipziger Missionswerkes es unser weltwärts-Freiwilliger Jonathan Pungel. 2 KIRCHE weltweit 2/2019
Meditation Meditation Von Oberlandeskirchenrat Dr. Thilo Daniel, Dezernent für theologische Grundsatzfragen, Landeskirchenamt Sachsen Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. Monatsspruch Juli 2019: Jakobus 1,19 Ihr sollt wissen: Ein jeder Mensch sei schnell zum manchmal verloren, dass Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. aus dieser Erfahrung auch SMS – Short Message Service (Kurznachrichten- ein neues Miteinander un- dienst). Wir tauschen unsere Nachrichten heute ter uns folgt. Vers 22: „Seid ganz anders aus als noch vor 20 Jahren: Wer hätte aber Täter des Worts und seinerzeit an das „Simsen“ gedacht. Die Welt wird nicht Hörer allein; sonst be- zum Dorf durch diese Art und Weise des Aus- trügt ihr euch selbst.“ Und tauschs. In Sekundenschnelle rasen Nachrichten um dieses Wort, das lebendige die Welt. Das ist ohne Zweifel ein Fortschritt. Tan- Wort Gottes, ist Jesus Chris- sania, Indien und Papua-Neuguinea scheinen gleich tus selbst. Im Juli erinnert um die Ecke zu sein. besonders der 4. Sonntag Die Kehrseite lässt sich vielleicht so beschreiben: nach Trinitatis daran: An Die Welt rückt näher zusammen, aber mit den diesem Sonntag sind die Verse aus dem ersten Ka- Menschen in unserer Nähe tauschen wir uns we- pitel des Jakobusbriefes einer der Predigttexte neben niger direkt aus, als wir es über das Handy tun. In den sechs immer wiederkehrenden Predigtreihen. der Straßenbahn haben wir nur noch eine Hand frei. Und eines der Wochenlieder fasst die Erinnerung In der anderen ist das Handy immer fest im Griff. des Jakobusbriefes in eine Bitte, ja, ein Gebet. Der Noch beim Einkauf zwischen den Regalen sind wir Text stammt von Hans von Lehndorff, Arzt und Teil erreichbar. Die Nachrichten, die wir austauschen, der bekennenden Kirche. Bereits 1967 entstanden, werden schneller und kürzer und sie werden auch sind seine Verse ein Ruf zur Besinnung und Um- „kurzatmiger“. Wenn die Antwort nicht gleich auf kehr auch für unsere Zeit. Er bittet für die eine Welt: der Anzeige erscheint, dann ist die Geduld rasch „Komm in unsre stolze Welt, Herr, mit deiner Liebe am Ende. Und: Wir reden weniger miteinander. Werben. Überwinde Macht und Geld, lass die Völ- Wir senden Nachrichten, aber wir sprechen nicht ker nicht verderben. Wende Hass und Feindessinn mehr miteinander und begegnen uns weniger. Die auf den Weg des Friedens hin.“ Möglichkeit, auf Alles gleich zu reagieren, hat auch Er bittet für unser Land und die Entscheidungen, die nachweislich die Hemmschwelle gesenkt, gleich und wir als Wählerinnen und Wähler in diesem Sommer ohne nachzudenken dem Ärger freien Raum zu las- finden sollen: „Komm in unser reiches Land, der du sen. „Shitstorm“ nennen wir die schlimmste Eskala- Arme liebst und Schwache, dass von Geiz und Un- tionsstufe des Schimpfens im Netz. verstand unser Menschenherz erwache. Schaff aus Der Monatsspruch für den Juli hat ein Rezept für unserm Überfluss Rettung dem, der hungern muss.“ eine Art Gegenmittel bereit. Er bittet für uns, da, wo wir leben: „Komm in unsre Zuhören: Erst einmal hinhören und zuhören und laute Stadt ... Komm in unser festes Haus, ... denn wer aufeinander hören, damit fängt die Sinnesänderung sicher wohnt, vergisst, dass er auf dem Weg noch ist.“ an. Auch nicht gleich eine Antwort haben. Und Er bittet für Dich und mich: „Komm in unser dunk- nicht gleich dem Ärger freien Raum lassen. les Herz, Herr, mit deines Lichtes Fülle; dass nicht Vers 20: „Denn des Menschen Zorn tut nicht, was Neid, Angst, Not und Schmerz deine Wahrheit uns vor Gott recht ist.“ Die Verse nach dem Monats- verhülle, die auch noch in tiefer Nacht Menschenle- spruch machen etwas stark, was unter Evangeli- ben herrlich macht.“ schen ins Hintertreffen geraten kann. Dank Martin Dieses Licht ist mit Jesus Christus schon in unsre Luthers Erfahrung von der befreienden Gnade geht stolze Welt gekommen. KIRCHE weltweit 2/2019 3
Teilhabe Ausgrenzungen überwinden, Verletzungen heilen Gedanken zur „Teilhabe“ als Wechselspiel von Teilnehmen und Teilgeben Sich selbst mit seinen Begabungen einzubringen und andere gleichberechtigt hat etwas mit Menschenwür- de zu tun. Das Gegenteil davon sind Rückzug und Ausgrenzung. Es ist eine Zukunftsaufgabe der Kirche, diese zu überwinden – das gilt hier in Deutschland genauso wie im Umgang mit anderen Ländern. Von Kirchenrätin Charlotte Weber, Ökumenereferentin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Erfurt „Das christliche Verständnis von Teilhabe gründet teresse des Zusammenhaltes dieses Leibes aus, dass in der den Menschen geschenkten Teilhabe an der gerade den schwächsten Gliedern eine besondere Wirklichkeit Gottes. Die Bibel hebt die unverlierba- Würde und Anerkennung zuteil werden muss. Teil- re Würde des Menschen hervor und illustriert die habe an der Gesellschaft hat fundamental mit der Überzeugung von der jedem Menschen gegebenen Erfahrung von Anerkennung von anderen zu tun. Fähigkeit zur aktiven Teilhabe unter anderem in der Anerkennungsentzug beeinträchtigt die Würde des Symbolik des Leibes Christi (1. Korinther 12 u. a.).“ Menschen.“ (Gerechte Teilhabe, S. 20) So begründet die EKD-Denkschrift „Gerechte Teil- So dürfen die realen Unterschiede zwischen Men- habe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Soli- schen, ihre unterschiedlichen Begabungen, Her- darität“ von 2006 den Gedanken der Teilhabe. künfte und Lebenserfahrungen in verschiedenen Aus der Teilhabe an Gottes Wirklichkeit durch den Rollen und Aufgaben in der Gesellschaft, und so Heiligen Geist – der jeder und jedem „Charismen“, durchaus auch in unterschiedlicher Entlohnung re- Geistesgaben, Begabungen schenkt – erwächst die sultieren. Sie dürfen aber nicht zur Abwertung von Aufgabe, diese Begabungen für sich selbst und für Personen oder zum Entzug von Anerkennung und andere lebendig werden zu lassen. Teilhabe an Got- Teilhabechancen führen. tes Kraft verpflichtet dazu, andere teilhaben zu las- Wo die vorhandenen Ungleichheiten nicht als reine sen an den geschenkten Begabungen und teilzuneh- Verschiedenheiten der Menschen, sondern als un- men am Leben in der Gemeinschaft. gleiche Wertigkeiten erlebt werden, werden Men- Teilhabe an Gottes Kraft befähigt zur Verantwortung schen, die sich als ausgegrenzt erleben, noch weiter für sich selbst und zur Solidarität mit anderen. Dieser entmutigt, sich an der Gesellschaft zu beteiligen und Eigenverantwortung und Solidarität entspricht eine ihre Fähigkeiten einzubringen. Haltung gegenüber allen anderen, die wie ich an Got- Die EKD-Denkschrift von 2006 hatte insbesondere tes Wirklichkeit teilhaben: Ich begegne ihnen in einem die Mechanismen von Beteiligung und Ausgren- Geist der Wertschätzung und Beteiligung. zung in unserer Gesellschaft im Blick, die sich aus So entsteht Teilhabe aus einem Wechselspiel von Teil- der Verteilung der Güter, also durch Reichtum und nehmen und Teilgeben, von aktivem Ergreifen meiner Armut, ergeben. Darüber hinaus durchzieht die Fra- Möglichkeiten und dem Gewähren von Beteiligungs- ge der Teilhabegerechtigkeit in einem umfassenden möglichkeiten für andere. Aus der all unseren Leistun- Sinne Lebensbereiche innerhalb unserer Gesell- gen vorausgehenden Teilhabe am Leib Christi entsteht schaft und weltweit. In diesem Artikel können nur so die wirkliche Erfahrung von Zusammengehörigkeit. einige Aspekte von Teilhabe verdeutlicht werden. Das Gegenteil von Teilhabe sind demnach Ausgren- zung und Rückzug, der wiederum häufig aus Erfah- Armut und Teilhabe rungen von fehlender Zugehörigkeit resultiert: Wem nicht Anteil gegeben wird, wird auch nicht teilneh- Armut und Teilhabe, so kann man sagen, schließen men – aber sich vielleicht seinen Teil nehmen, wenn einander aus. Wer um das tägliche Überleben kämp- nötig mit allem Nachdruck. fen muss, kann keine Freiheitsrechte wahrnehmen So führt uns schon Paulus mit seinem Bild vom Leib und Beteiligungsmöglichkeiten einfordern. So kön- und den vielen Gliedern (1. Korinther 12) deutlich nen die, die am meisten unter der ungerechten Ver- vor Augen, „dass jedem Glied der Gemeinschaft teilung der weltweiten Güter leisten, am wenigsten Christi eine besondere Art der Verantwortung für Einfluss nehmen auf wirtschaftliche und politische das Ganze und damit auch eine besondere Art der Entwicklungen. Ihnen die Möglichkeit zu geben, für Teilhabe am Ganzen zukommt. Und er führt im In- sich selbst und ihre Familien zu sorgen, sich selbst 4 KIRCHE weltweit 2/2019
Teilhabe ladung zum Essen, kein Konzert, kein Ausflug, kei- ne Zeitung.“ Und wer länger als sieben Wochen so „außen vor“ bleibt, hat immer weniger Motivation sich zu beteiligen, da das soziale Wechselspiel von Beteiligung und Anerkennung ausbleibt. Ein besonderes Problem ist in diesem Zusammen- hang die Langzeitarbeitslosigkeit, die auch mit zunehmendem Fachkräftemangel voraussichtlich nicht verschwinden wird. Durch die zunehmende Digitalisierung und Technologisierung der Arbeits- welt und die Verlagerung weniger qualifizierter Ar- beitsplätze in Billiglohnländer sinken die Chancen von Menschen mit niedrigen Qualifikationen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf dem Ar- beitsmarkt weiter. Wie kann es gelingen, sie nicht weiter von gesellschaftlicher Teilhabe auszuschlie- ßen? Wie kann unsere Gesellschaft vermitteln: Jeder Mensch wird gebraucht, jeder Mensch hat Kompe- tenzen und Begabungen einzubringen – auch je- mand ohne Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Bildung und Teilhabe „Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, Die Bilder, die diesen Beitrag illustrieren, stammen aus der Wan- derausstellung des Diakonischen Werkes „Kunst trotz(t) Ausgren- dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage zung“, die bis Ende April 2019 in Chemnitz zu sehen war. sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, Dieser Farbholzschnitt von Martin Klätte trägt den eindrücklichen als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für Titel „Mann mit Brot schlägt Mann ohne Brot“ und thematisiert sich selbst und andere einsetzen zu können. Eine sol- Wohlstandsverteidigung und Ausgrenzung. Klätte wurde 1986 in che Gesellschaft investiert folglich, wo immer es geht, Berlin geboren und arbeitet seit 2014 im Kunstatelier der Macherei des Evangelischen Johannesstiftes in Berlin. in die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen zur Gestaltung ihres eigenen Lebens sowie der gesamten Gesellschaft in ihren sozialen und wirtschaftlichen als eigenverantwortlich und als fähig zum Miteinan- Dimensionen.“ (Gerechte Teilhabe, S. 11) der in der Gesellschaft zu erfahren, bedeutet, ihnen Bildung stellt somit einen wichtigen Schlüssel dar, Würde und Teilhabe zu geben. um Teilhabechancen zu verbessern. Doch ver- In unserer Gesellschaft bedeutet Armut nicht in schiedene Studien belegen: An deutschen Schulen erster Linie, nicht ausreichend Geld zu haben, um entscheidet weitgehend die Herkunft über den Bil- sich ernähren zu können, sondern ist eine Frage der dungserfolg. Kinder, die aus schwierigen sozialen Würde und des Ausgeschlossenseins. Der zweite Verhältnissen oder aus Familien mit Migrations- Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie- hintergrund stammen, haben immer noch deutlich rung definiert „Armut i.S. sozialer Ausgrenzung schlechtere Chancen im Bildungssystem als andere. und nicht mehr gewährleisteter Teilhabe ... wenn die Dies wiederum hat Folgen für Armut und Teilhabe: Handlungsspielräume von Personen in gravierender So kann es in Deutschland laut einer OECD-Studie Weise eingeschränkt und gleichberechtigte Teilha- bis zu sechs Generationen, also 150 Jahre, dauern, bechancen an den Aktivitäten und Lebensbedin- bis die Nachkommen einer einkommensschwachen gungen der Gesellschaft ausgeschlossen sind“. Familie das Durchschnittseinkommen erreichen. Bekannte von mir machten vor einiger Zeit in der Bildung ist daher nicht nur die Verantwortung der Fastenzeit ein Experiment: Sieben Wochen vom Eltern sondern eine gesamtgesellschaftliche Auf- Hartz-IV-Regelsatz zu leben. Sie berichteten ein- gabe. In Zeiten abnehmender Kinderzahlen sollten drücklich: „Wir hatten ausreichend zum Leben. die freiwerdenden Mittel daher in die qualitative Aber uns fehlte die kulturelle Teilhabe. Keine Ein- Verbesserung der Bildung und die individuelle För- KIRCHE weltweit 2/2019 5
Das hohelied der Liebe in Bildern Teilhabe derung der Kinder investiert werden, um Kindern zu helfen, ihre Begabungen zu entdecken und ihre Fähigkeiten zu entfalten. Migration und Teilhabe Manche Menschen verlassen ihre Heimat, weil ihr Leben dort existentiell bedroht ist oder weil die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe ein- geschränkt sind. Unsere Gesellschaft steht vor der Herausforderung, geflüchteten Menschen nicht nur SchönerHeit-Lukas. Alle Rechte vorbehalten © Julia Krahn eine gesicherte Existenz zu bieten, sondern Teilhabe in einem umfassenden Sinne zu schaffen. So soll die Ausgrenzung, die auf materiellen, sprachlichen und kulturellen Barrieren fußt, abgebaut werden und Teilhabe an allen gesellschaftlichen Vollzügen mög- lich sein. Integration heißt das Schlüsselwort. Aber esSt. Die Fotoserie JohanniS GöttinGen,„SchönerHeit. Das Hohelied der Liebe in Bildern“ Die Ausstellung zeigt die Schönheit und auch die kooperationspartner: Gefördert durch: Verletzlichkeit von Menschen mit Behinderung, Johanniskirchof von Julia Krahn zeigt die Schönheit und auch die Verletzlichkeit verdeutlicht auch, dass wir uns über die wahre Dyna-19. Mai – 22. Juni 2016 arbeitet deren liebenswerte Seiten, trotz körperlicher Einschränkung heraus und gibt ihnen die Möglichkeit, von Menschen mit Behinderung, arbeitet deren liebenswerte ihre Lebenswirklichkeit in Bildern auszudrücken. mik von Teilhabe nicht unbedingt einig sind. Das Bild www.schoenerheit.de www.juliakrahn.com Seiten, trotz körperlicher Einschränkung heraus und gibt ihnen vom Leib und den vielen Gliedern setzt ein eher stati- die Möglichkeit, ihre Lebenswirklichkeit in Bildern auszudrücken. sches Verständnis voraus: Ein Körper bleibt ein Kör- per – und eine Hand bleibt eine Hand. Doch wie ver- ändert sich eine Gesellschaft, wenn an ihr Menschen hinderungen gemeinsam lernen. Doch es gibt auch teilhaben, die vorher nicht dazu gehört haben? Echte Sorgen: Eltern behinderter Kinder fürchten, dass ihr Teilhabe ist ein Wechselspiel zwischen Individuum Kind in der „Regelschule“ nicht ausreichend geför- und Gemeinschaft, die sich gegenseitig verändern. dert wird. Eltern nichtbehinderter Kinder fragen: Bekommt mein Kind noch die nötige Aufmerksam- keit? Dort wo die Förderung von gerechter Teilhabe Behinderung und Teilhabe Geld kostet – und diese Ressource knapp ist – kann Spätestens mit dem Bundesteilhabegesetz, das eine Konkurrenz um Teilhabemöglichkeiten entste- 2016 in Kraft getreten ist, sind die Begriffe Teilha- hen. Doch echte Teilhabe schließt jede Form gestuf- be und Behinderung eng verbunden. Menschen ter Teilhabe aus. Entweder jedes Glied am Leib ist mit Behinderungen sollen nicht in erster Linie als gleich wichtig und wertvoll – oder keines. Empfänger*innen von Hilfeleistungen gesehen wer- den, sondern in ihrer Selbstbestimmung so gestärkt Teilhabe an den weltweiten Ressourcen werden, dass sie am vollen gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Dies ist auch mit einem Lernweg „Jeder Mensch auf dieser Erde hat das gleiche Recht für kirchliche Träger verbunden – sie waren Vorreiter auf Teilhabe an dem weltweiten Reichtum natür- in der Zuwendung zu Menschen mit Behinderungen, licher Ressourcen. Das gegenwärtige Ausmaß an haben diese aber lange nur als Hilfeempfänger*innen Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist unvereinbar wahrgenommen. Möglicherweise ist dies ein notwen- mit diesem gleichen Recht. Dieses Recht setzt dem diger erster Schritt: Bei der Adventsaktion 2018 „Tü- privaten Eigentum an natürlichen Ressourcen und ren auf!“ haben wir erfahren, dass in Tansania Stig- dem Handel mit ihnen Grenzen.“ So formuliert es matisierung und Diskriminierung von Menschen mit der „Zweite Stellenbosch-Konsens“, den kirchliche Behinderung noch weit verbreitet sind. Die Aktion Vertreter*innen aus Deutschland und Südafrika unterstützt diakonische Träger, die behinderten Kin- 2013 formuliert haben. Dabei war sowohl die unter- dern einen Zugang zu Bildung verschaffen. Ein erster, schiedliche aktuelle Verteilung der Ressourcen im kleiner Schritt in Richtung Teilhabe. Blick wie auch ihr übergroßer aktueller Verbrauch In Deutschland ist dagegen die Diskussion um auf Kosten der zukünftigen Generationen. Notwen- schulische Inklusion im vollen Gange. So soll es dig sei daher eine „Große Transformation“ hin zu der Regelfall werden, dass Kinder mit und ohne Be- einer „kohlenstoffarmen Entwicklung und einem 6 KIRCHE weltweit 2/2019
Teilhabe neuen ressourcenverbrauchsarmen Wohlstandsmo- in die Schule schicken zu können, kommt sonntags dell“ (These 3). „Die Frage der ökologischen Neu- nicht zum Gottesdienst. Auch hier begegnet uns der orientierung muss untrennbar verbunden werden Zusammenhang von Armut und Teilhabe. mit dem Anliegen der Gerechtigkeit und der Gel- Und wie sieht es mit Teilhabe in unseren Kirchen tung der Menschenrechte“ (These 6). aus? Kirche ist wie kaum ein anderer gesellschaftli- Dass wir auf diesem Weg der Großen Transformati- cher Akteur in allen Schichten unserer Gesellschaft on seit 2013 nicht weit genug vorangekommen sind, verwurzelt – und doch erreicht sie in ihrer Arbeit nur machen die aktuellen Entwicklungen deutlich. wenige Milieus, aus denen sich dann wieder Haupt- und Ehrenamtliche zur aktiven Teilhabe gewinnen lassen. Gleichzeitig arbeiten Christinnen und Chris- Teilhabe an Zukunftsgestaltung ten in vielen Bereichen unserer Gesellschaft – So- „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zu- zialwesen, Bildung, Wirtschaft – und können dort kunft klaut!“ Die Kinder der „Fridays for Future“- den christlichen Gedanken von Teilhabe, von Eigen- Bewegung machen es deutlich: Wir sind von dem verantwortung und Solidarität, von Wertschätzung wirtschaftlichen und politischen Handeln der Er- und Beteiligung lebendig werden lassen. Und Kirche wachsenen in unserer Zukunft existentiell betroffen kann sich in ihrer eigenen Bildungs- und Sozialarbeit – und bisher an den Entscheidungen nicht beteiligt. von den Menschen bereichern lassen, denen christ- Sie fordern ein, dass diejenigen, die von Entschei- liches Glaubens- und Traditionsgut fremd sind, die dungen betroffen sind, auch mitbestimmen sollen. aber gerne teilhaben am Auftrag der Kirche, anderen Die jungen Leute nutzen dabei auch ihre privile- Teilhabe zu ermöglichen. gierte Stellung – in einer freiheitlichen Gesellschaft, Doch die Zukunftsfrage der Kirche wird sein: Kann mit guter Bildung und wirtschaftlicher Absicherung unsere Kirche einen Raum bieten, in dem Ausgren- aufgewachsen, gut vernetzt und mit Smartphones zungen überwunden und Verletzungen aufgrund von ausgestattet – um für diejenigen die Stimme zu erhe- Abwertungen geheilt werden? Einen Raum für die, die ben, die schon jetzt von den Folgen des Klimawan- noch nicht dazugehören, weil sie noch nicht lange hier dels betroffen und in ihren Teilhabemöglichkeiten leben? Einen Raum für die, die sich abgehängt fühlen, eingeschränkt sind: Opfer von Dürrekatastrophen weil sie mit den rasanten Entwicklungen in unserer und Überschwemmungen, Opfer von Landgrabbing Gesellschaft nicht mitkommen? Einen Raum für die, für noch mehr Zugang zu fossilen Brennstoffen und die nach den Maßstäben unserer Gesellschaft nichts seltenen Erden. Sicher müssten viele dieser jungen leisten und doch gleich wichtige und gleich würdige Leute ihre eigene Verantwortung für den Klima- Glieder am Leib Christi sind? Einen Raum auch für wandel durch ihre Beteiligung am globalen Konsum die, die nicht ganz dazu gehören wollen und doch teil- noch stärker reflektieren. Aber sie glauben auch haben an Gottes Auftrag für diese Welt? Und wie wird nicht, dass sich die existentielle Krise unserer Ge- Kirche sich verändern, wenn sie all diesen Menschen genwart und Zukunft mit Energiesparlampen und Anteil gibt und sie teilhaben lässt? veganer Ernährung allein lösen. * https://kunst-trotzt-ausgrenzung.de Teilhabe in der Kirche Anregungen zum Weiterlesen Bei meinem Besuch in Tansania war ich beeindruckt von den gut besuchten Gottesdiensten – so viele Rat der EKD (2006): Gerechte Teilhabe. Befähigung Menschen aus allen Generationen, nicht nur Kin- zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift der und Alte, sondern auch die mittlere Generation, des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Juli 2006. Männer und Frauen. Kirche als wirklich inklusive Gemeinschaft. Aber von meinen Gesprächspart- Zweiter Stellenbosch-Konsens (2013), 20 Thesen nern hörte ich: Viele kommen nicht. Wer sich kein zum Verhältnis von Ökologie und Gerechtigkeit angemessenes Sonntagskleid leisten oder nichts zur * www.bayern-evangelisch.de/downloads/ Kollekte beisteuern kann, fühlt sich nicht zugehörig. ELKB-Der-Zweite-Stellenbosch-Konsens-2014.pdf Wer auch sonntags an der Straßenecke Kurierfahr- ten mit dem Motorrad anbietet oder Obst verkauft, Predigtanregungen zum Thema Teilhabe gibt es hier: wer samstags in einer Bar jobbt, um seine Kinder * www.nachhaltig-predigen.de KIRCHE weltweit 2/2019 7
Tansania Auf dem Weg zum Einparteienstaat Zur aktuellen politischen Situation in Tansania Die politische Teilhabe wird für tansanische Oppositionsgruppen unter Präsident Dr. John Magufuli immer schwieriger. Kundgebungen sind verboten und zahlreiche Politiker*innen sehen sich zweifelhaften Gerichts- verfahren gegenüber. Die persönliche Freiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit wird eingeschränkt. Von Ally Seif Ramadhani, Menschenrechtsanwalt, Daressalam Die Vereinigte Republik Tansania wurde 1964 der Vereinigten Republik Tansania, der verstorbene durch den Zusammenschluss von zwei ursprünglich „Lehrer” Julius K. Nyerere (der „Vater der Nation”), selbstständigen Staaten, Tanganyika und Sansibar, in seiner 24-jährigen Regierungszeit versucht, einen gegründet. Seit der Union wird Tansania von der afrikanischen Sozialismus in Tansania zu etablieren. gleichen politischen Partei Chama Cha Mapinduzi Seit den frühen 1980er-Jahren galt diese Idee als ge- (CCM, Partei der Revolution) regiert, jedoch un- scheitert, was – mit starker Unterstützung der westli- chen Länder – dem Kapitalismus Raum bot. In Tansania ist die politische Entscheidungsgewalt stark zentralisiert und wird zugleich verkompliziert durch widerstreitende Interessen von Gruppierun- gen innerhalb der Regierungspartei. Koalitionen zwischen diesen verschiedenen Gruppierungen bestimmen die Vorgehensweise der Regierung und beschränken, obwohl demokratisch gewählt, den Handlungsspielraum auf einzelne Elitegruppen. Sichtweisen und Ansichten von außerhalb hoher politischer Kreise werden infolgedessen kaum in die Entscheidungsfindung einbezogen. Mehrparteiensystem ohne Opposition Seit den Parlamentswahlen im Jahr 2015 stehen die Im Wahlkampf 2015 präsentierte sich Dr. John Magufuli als Macher. Oppositionsparteien in Tansania unter extremem Es gibt auch Erfolge im Land, aber die Demokratie leidet inzwischen. Druck. Die neu gewählte Regierung des Präsidenten Dr. John Magufuli verfügte ein Verbot sämtlicher ter wechselnden Präsidenten. Julius Nyerere war politischer Aktivitäten der Opposition, einschließ- der erste Präsident. Ihm folgten Alhaj Ali Hassani lich politischer Kundgebungen. Das Verbot soll bis Mwinyi, Benjamin William Mkapa und Dr. Jakaya 2020 gelten, dem Jahr der zweiten Wahl der fünf- Mrisho Kikwete. Gegenwärtig regiert der fünfte Prä- ten Präsidentschaftsperiode. In auffälligem Maße sident, Dr. John Pombe Joseph Magufuli. sind die Oppositionsparteien von Parteiübertritten In diesem Artikel möchte ich einige Schlaglicher auf und Abwerbungen betroffen. Zehn Parlamentsabge- die politische Situation in Tansania seit Beginn der ordnete (sieben aus der größten Oppositionspartei fünften Präsidentschaftsperiode werfen und dabei CHADEMA sowie drei aus der CUF – Civic United besondere Tatsachen und Ereignisse in den Blick Front, eine liberale muslimisch geprägte Parte) tra- nehmen. ten zur CCM über. Fast alle wurden durch Nach- wahlen wieder in ihre Ämter gewählt und vertreten nun dieselben Wahlkreise – für die CCM. Über 200 Die politische Situation in Tansania Lokalpolitiker*innen sowie drei Führungskräfte der Die Verfassung der Vereinigten Republik Tansania ACT-Wazalendo-Partei liefen zur Regierungspar- legt die politische Ausrichtung des Landes als „demo- tei über. Oberflächlich betrachtet sieht das Ergeb- kratischen, säkularen und sozialistischen Staat“ fest. nis nach überwältigenden Wahlsiegen der CCM Mit der Ideologie von Ujamaa hat der erste Präsident bei Nachwahlen nach hoher Akzeptanz der Partei 8 KIRCHE weltweit 2/2019
tansania onsparteien wurde abgelehnt. Das neue Gesetz greift massiv in die Organisationsrechte der Parteien ein, etwa die Verwaltung der Mitgliederlisten, die Rege- lung interner Disziplinarangelegenheiten, die Sat- zungshoheit. Vor der Novellierung des Parteiengesetzes war be- reits eine Reihe von neuen Gesetzen und Vorschrif- ten eingeführt worden, die die Kontrolle der Medien, der sozialen Netzwerke und Blogs sowie den Einsatz von Statistiken auf ähnliche Weise verschärfen. All diese Gesetzesänderungen haben das Ziel, die Opposition zu beseitigen und Tansania zu einem Ein-Parteienstaat zu machen – was die Regierungs- behörden natürlich bestreiten. Normalerweise sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in die politische Entscheidungsfindung ein- In allen öffentlichen Büros in Tansania hängt ein Portrait des Präsi- gebunden, etwa durch Beteiligung an der Tagesord- denten Dr. John Pombe Joseph Magufuli. nung, durch Anhörung zu Planung, Entscheidung, Umsetzung, Überwachung eines Vorhabens. In Tan- in der Öffentlichkeit aus. Bei genauerem Hinsehen sania sind die Regierung und ihre Behörden meist wurde dieser Sieg jedoch mit ungesetzlichen Mit- nicht mehr dazu bereit. teln errungen. So hatte die Regierungspartei (CCM) immer wieder ihre Position genutzt, um Wahlen Demokratie geht langsam zugrunde zu manipulieren. Die beiden Oppositionsparteien (Chadema und ACT-Wazalendo) weigerten sich, Der Fortbestand des Mehrparteiensystems in Tan- an weiteren Nachwahlen teilzunehmen, solange die sania steht auf dem Spiel, denn die Demokratie geht Manipulationen nicht abgestellt würden. langsam zugrunde. In Tansania hat die Regierungs- Seit Beginn der fünften Präsidentschaftsperiode partei (CCM), die jede Bewegung und jeden Plan wird eine Vielzahl von Oppositionspolitiker*innen der Regierung diktiert und den Willen der Bevölke- unterschiedlicher Vergehen bezichtigt und in endlo- rung kontrolliert, eine mächtige Position. Es kursiert sen Strafverfahren vor verschiedenen Gerichten des der Witz, dass Männer schwanger werden müssten, Landes angeklagt. Der Zweck dieser politisch moti- wenn die CCM das beschließen würde. Die Men- vierten Prozesse ist offenbar, die politische Glaub- schen haben kaum Spielraum für eine Auseinander- würdigkeit der Politiker*innen zu zerstören und die setzung mit dieser Entwicklung, denn die persönli- Opposition im Land zu schwächen. Zu den promi- che Freiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit nenten Beispielen dieser Maßnahmen gehören der wird nach und nach eingeschränkt – es sei denn, sie ACT-Wazalendo-Parteichef und Kigoma-Abgeord- unterstützt die Regierung und die Regierungspartei. neter Zitto Zuberi Kabwe und der Vorsitzende der Die Bürgerinnen und Bürger innerhalb und außer- CHADEMA Freeman Mbowe. halb der Regierungspartei CCM sollten sich klarma- Im Parlament wurde das Parteiengesetz von 1992 chen, dass das Schicksal unseres Landes von unse- durch Abstimmung und Unterschrift des Präsi- ren faktischen Entscheidungen abhängt, nicht von denten novelliert. Proteste und Einwände wurden einem guten Willen, der das Ganze beschädigt. ignoriert, eine Verfassungsklage von zehn Oppoiti- Übersetzung aus dem Englischen: Birgit Pötzsch KIRCHE weltweit 2/2019 9
Indien Angriffe gegen Muslime und Christen Hindu-Nationalisten schüren Gewalt gegen religiösen Minderheiten in Indien Seit rund fünf Jahren kommt es mit dem politischen Aufstieg der Hindu-Nationalisten verstärkt zu Übergriffen gegen religiöse Minderheiten in Indien. Dabei sind Muslime als größte Minderheit am stärksten betroffen. Instrumentalisiert wird dabei in vielen Regionen das Schlachten und Verzehren von Kühen. Von Dr. S. Thomas Kennedy, Pfarrer und Gastprofessor an der Lutherischen Hochschule Gurukul, Chennai Indien mit seinen über 1,2 Milliarden Menschen ist tant hohem Niveau geblieben. Offizielle Daten zei- nur wenig kleiner als China. Die Bevölkerung ist oft gen allein 2016 mehr als 700 Ausschreitungen mit 86 sehr religiös und zudem mehrsprachig. Seit langem Todesopfern und 2.321 Verletzten. Die tatsächlichen leben Menschen verschiedener Religionsgemein- Zahlen dürften jedoch noch erheblich höher sein, da schaften zusammen. Die Mehrheit der Menschen viele Vorfälle nicht gemeldet werden. Religiöse Min- sind Hindus (82 Prozent). Mit 172,2 Millionen derheiten sind besonders anfällig. Muslime machen Menschen (knapp zwölf Prozent der Gesamtbevöl- zwar weniger als 12 Prozent der Bevölkerung aus, bil- kerung) hat Indien nach Indonesien und Pakistan den aber die große Mehrheit der Opfer. Seit dem Wahlsieg der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) unter der Führung von Narendra Modi 2014 herrscht ein Klima aufsteigenden hinduistischen Nationalis- mus. Dies wiederum befördert ein zunehmend aus- grenzenden Umfeld, das in der Weiterentwicklung von Richtlinien und Gesetzen zum Ausdruck kommt – etwa strengeren Gesetzen bezüglich des Schlachtens von Kühen. Darüber hinaus wurde dies begleitet von einer offensichtlichen Eskalation der Rhetorik gegen Minderheiten durch viele hochrangige Beamte. In diesem Umfeld wurden rechtsgerichtete Gruppen ermutigt, Angriffe gegen religiöse Minderheiten zu verüben. In vielen Fällen spiegeln diese Missbräu- che die politischen Entwicklungen des Landes wi- der und umfassen erzwungene Bekehrungen, die Verbreitung von Hassreden durch soziale Medien Für Hindus sind Kühe heilig und dürfen nicht geschlachtet werden. und Angriffe auf Personen, die im Verdacht stehen, Das führt zu Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen. Rindfleisch zu transportieren oder zu konsumieren. Die Täter wurden durch das anhaltende Schweigen aber auch die drittgrößte muslimische Bevölkerung der öffentlichen Stellen und sogar deren Komplizen- der Welt. Christlichen Kirchen gehören gut zwei schaft bei diesen Angriffen weiter unterstützt. Prozent der Bevölkerung an. Das Versäumnis der Behörden, Angriffe gegen re- Von der Religion abgeleitete Persönlichkeitsrechte ligiöse Minderheiten zu verhindern oder zu un- führen immer wieder zu Konflikten. Politische Partei- tersuchen, hat zu einem Klima der Straflosigkeit en stehen fundamentalistischen religiösen Organisa- geführt. Wenn es nicht angegangen wird, wird dies tionen nahe. Ein erheblicher Teil der Hindu-Diaspora wahrscheinlich zu weiteren Angriffen führen. Folg- versammelt sich hinter der Hindutva-Philosophie, lich muss die Regierung sicherstellen, dass geltende einem politischen Konzept, das die Ausrichtung Indi- Gesetze zum Schutz der Rechte aller Religionsge- ens nach hinduistischen Regeln zum Ziel hat. meinschaften mit vollem Engagement von Polizei, Justiz und anderen Akteuren durchgesetzt und in ei- nigen Fällen verstärkt werden. Die Gewährleistung Gewalt gegen religiöse Minderheiten der Rechenschaftspflicht gegenüber den Opfern von Religiös motivierte Gewalt – seit langem ein Problem Anschlägen erfordert auch eine umfassendere Do- in Indien – ist in den letzten fünf Jahren auf kons- kumentation und Verfolgung von Vorfällen sowie 10 KIRCHE weltweit 2/2019
Indien 2500 Anzahl der Verletzten 2000 1500 Daten: Dr. Thomas Kennedy 1000 Anzahl der Vorfälle von religiös motivierter Gewalt 500 Anzahl der Todesfälle 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 umfassendere Anstrengungen, um die weit verbrei- vor allem anti-muslimische Gefühle zu mobilisieren. tete Diskriminierung gegenüber religiösen Minder- In fast allen Fällen sind die Bürgerwehren unbestraft heiten anzugehen. geblieben. Opfer von Angriffen und ihre Familien wa- Zur Vielfalt Indiens tragen eine Vielzahl sich über- ren häufiger wegen Verstößen gegen die Kuhschlacht- schneidender Identitäten bei, darunter Kasten-, Spra- gesetzgebung vor Gericht. Die Tatsache, dass viele der chen- und ethnische Zugehörigkeiten sowie Spielarten ärmsten Gemeinschaften in Indien, einschließlich des religiösen Synkretismus. Viele religiöse Minderhei- Muslime, aber auch viele Hindus, die zu niedrigeren ten in Indien sehen sich daher auch unterschiedlichen Kasten gehören, auf Rindfleisch als preiswerte Nah- Formen von zusätzlicher Diskriminierung gegenüber. rungsquelle angewiesen sind, verleiht dieser Gewalt Dalits, Muslime, Christen und andere religiöse Min- eine zusätzliche Klassendimension. derheiten gehören oft auch zu sprachlichen Minder- In Uttar Pradesh wurde diese Situation durch eine heiten oder indigenen Gemeinschaften (Adivasi). Für Kampagne des Ministerpräsidenten Yogi Adityanath Frauen aus diesen Gruppen gelten nochmals besonde- verschärft. So erklärte Mukhtar Abbas Naqvi, Minis- re Bedingungen. Die religiös motivierte Gewalt zielt ter für Minderheitenangelegenheiten, im Mai 2015, derzeit insbesondere auf Muslime und in geringerem dass „diejenigen, die nicht überleben können, ohne Maße auf Christen und Sikhs ab. Rindfleisch zu essen, nach Pakistan gehen“ sollten. Die Gewalt konzentriert sich auf bestimmte Bundes- Anfang 2015 konvertierte ein Mitglied der Gemein- staaten: Maharashtra, Madhya Pradesh, Uttar Pra- schaft aus Valmiki nach seinem Ausschluss aus dem desh, Odisha, Haryana, Assam, Jammu und Kashmir, örtlichen Tempel zum Islam und veranlasste die Po- Karnataka sowie Kerala. Ausschreitungen, zunächst lizei, ihn wegen „Störung des Friedens und der kom- vor allem ein städtisches Phänomen, treten nun auch munalen Harmonie“ zu verhaften. häufiger in ländlichen Gebieten und Kleinstädten auf. Vorwürfe der erzwungenen Bekehrungen werden Festivals, Prozessionen und Gotteshäuser spielen häufig gegen Christen erhoben und begleiten geziel- nach wie vor eine Schlüsselrolle – sei es in Bezug te Angriffe gegen sie, die in den letzten Jahren zuge- auf Zeitpunkt, Ort oder symbolische Bedeutung, die nommen haben. Im April 2017 stoppte die Polizei leicht politisiert werden können. Die Übergriffe kon- in Uttar Pradesh beispielsweise ein Gebetstreffen in zentrieren sich auf die Zerstörung von Kultstätten, die einer Kirche, nachdem sie Berichte über mutmaß- Störung gemeinschaftlicher Aktivitäten und Vanda- liche Zwangskonvertierungen vom rechten Hindu lismus. Im Oktober 2016 wurde die Überschneidung Yuva Vahini erhalten hatte. zweier religiöser Feste – Durga Puja (Hindus) und Nationalistische Hindu-Gruppen betreiben erfolg- Muharram (Muslime) – genutzt, um Spannungen reich Kampagnen (ghar wapsi), um zum Islam oder zwischen den Gruppen zu provozieren. zum Christentum übergetretene Gläubige wieder zu re-konvertieren. Diese sogenannten „Homecomings“ (Heimkehr) werden propagiert, da die Abkehr vom Rindfleisch als Konfliktursache Hinduismus durch falsche Versprechungen oder Ein virulentes Problem ist die Schlachtung von Kü- Gewalt durch andere „fremde“ Religionen zu Stande hen. In weiten Teilen des Landes ist sie illegal. Hin- gekommen seien. duistische Nationalisten instrumentalisieren sie, um Übersetzung aus dem Englischen: Antje Lanzendorf KIRCHE weltweit 2/2019 11
FÜRBITTE Konkret Regelmäßig erreichen uns Gebetsthemen aus unseren Partnerkirchen, die wir gerne teilen und deshalb auch hier in „KIRCHE weltweit“ regelmäßig weitergeben. Mit großer Dankbarkeit feiern wir die frohe Botschaft der Auferstehung Jesu und das Geschenk des Heiligen Geistes, der verbindet und Brücken über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg spannt. Eine dieser Brücken ist das Gebet, das uns verbindet und die Anliegen unserer Partner aufnimmt. Die Texte laden zur persönlichen Meditation und zur öffentlichen Fürbitte ein. Indien – Gewaltausbrüche und Parlamentswahlen Schon seit mehreren Jahren ist auch Asien auf Grund von Gewaltausbrüchen in den Schlagzeilen. Oft werden dabei religiöse Konflikte als Ursache genannt. Bei näherem Hinsehen geht es um Macht, Vergeltung und Rache. Auch der indische Subkonti- nent mit den angrenzenden Staaten Myanmar und Sri Lanka ist nicht frei davon. Diese Entwicklungen führen in der Region zu großer Unsicherheit und lö- sen Angst und Beklemmungen aus. Herr, unser Gott, wir bitten Dich für alle Betroffenen, die erleben oder mit anschauen mussten, wie Orte des Gebetes zu Orten von Verletzung und Tod wurden. Das ist unerträglich und stellt den Sinn von Religion und Glaube auf den Kopf, wo doch Re-ligion „Rück-bin- dung“ heißt und Antwort und Trost auf die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit und Hoffnung geben soll. Während des Wahlkampfs in Indien wurden in Tamil Nadu sämtliche Wir bitten Dich für unsere Partner in der Tamilischen Statuen politischer Würdenträger*innen verhüllt. Evangelisch-Lutherischen Kirche: Stärke ihren Glau- ben, bewahre sie vor Übergriffen und lass sie selbst zial beigelegt? Die zukünftige Regierung wird am Um- Friedensstifter sein. gang mit all diesen Fragen gemessen werden. Herr, unser Gott, wir bitten Dich, dass Besonnenheit In Indien wurde gerade ein neues Parlament gewählt. und demokratisches Handeln überall im Vordergrund Wer wird das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung stehen mögen. Schenk Indien eine Regierung, die ak- der Erde in den nächsten Jahren regieren? Wie wird in tuellen und kommenden Herausforderungen gewach- Zukunft sozialer Friede gestärkt, die Würde der Dalits sen ist und auch allen Minderheiten die nötige Frei- (Kastenlose) hergestellt und religiöses Konfliktpoten- heit und Sicherheit garantiert. Amen. PNG – Kommunikation im Land der Sprachenvielfalt In keinem anderen Land der Erde wird die Notwen- Lebens, menschlicher Geschichte und unterschiedlicher digkeit von Kommunikation über Sprachgrenzen Weltverständnisse. Mit großem Einsatz und Phantasie hinweg so alltäglich erfahren wie in Papua-Neugui- pflegen die verschiedenen Sprachfamilien in Neuguinea nea. Die wundervolle Vielfalt von 800 verschiede- ihre Traditionen, Tänze und Lieder. Die Besinnung auf nen Völkern und Sprachen braucht Mittler*innen, die eigene Kultur soll aber nicht der Abgrenzung die- die gegenseitiges Verstehen untereinander möglich nen, sondern zur Dankbarkeit über die Vielfalt und machen. Deshalb werden Übersetzerinnen und Buntheit des Lebens einladen. Übersetzer auf der Pazifikinsel auch besonders ge- Wir bitten Dich für alle, die sich im Bereich der Kom- schätzt und die Entstehung einer gemeinsamen Ver- munikation engagieren, die als Übersetzerinnen und kehrssprache, wie das Tok Pisin, als Segen und große Übersetzer, als Radio- und Fernsehmoderatoren und in Erleichterung erlebt. den Bildungseinrichtungen für junge Menschen arbei- Herr, unser Gott, wir danken Dir mit den Menschen ten. Gib ihnen die Weisheit, zu gegenseitigem Verständ- in Papua-Neuguinea für die Vielfältigkeit menschlichen nis und gegenseitiger Achtung beizutragen. Amen. 12 KIRCHE weltweit 2/2019
Fürbitte Konkret „Waking the Giant“ (Den Riesen wecken) in Tansania „Waking the Giant – Den Riesen wecken“ - mit dieser Nationen machen deutlich, wie eng alles zusammen- Kampagne will der Lutherische Weltbund seine Mit- hängt – die Klimakrise, der Verbrauch von Rohstoffen, gliedskirchen weltweit dabei unter- soziale Gerechtig- stützen, mit eigenen Aktionen die keit, Gesundheit, Ziele für nachhaltige Entwicklung Bildungschancen, (Sustainable Development Goals, demokratische SDGs) der Vereinten Nationen Strukturen ... Nur umzusetzen. Tansania ist eines von miteinander, als vier Pilotländern der Kampagne. weltweite Gemein- Die Kirchen in Tansania haben ent- schaft der Men- schieden, sich zunächst auf die Ziele schen guten Wil- Gesundheit für alle (SDG 3), Bil- lens, können wir dung für alle (SDG 4), Gleichberechtigung von Frau- Schritte in eine Welt der Gerechtigkeit, des Friedens en und Männern (SDG 5), Ungleichheit verringern und der Bewahrung der Schöpfung gehen. (SDG 10) und Frieden und Rechtsstaatlichkeit (SDG Wir danken Dir dafür, dass wir gemeinsam mit un- 16) zu konzentrieren. Zu jedem dieser Themen gibt seren Geschwistern in Tansania unterwegs sein dür- es eine Kommission, die nun kirchliche Initiativen, fen. Und wir danken Dir, dass Du uns immer wieder Kirchenleitende und Gemeinden bei der Umsetzung zeigst, was die Aufgabe von Christinnen und Christen ihrer Projekte und Aktionen unterstützen soll. in dieser Welt ist. Bitte stärke und beflügele die Initia- tiven und Aktionen unserer Schwestern und Brüder in Gott, unser Vater und unsere Mutter, Du hast die Welt Tansania, die sich für eine gerechtere Welt einsetzen. geschaffen als wunderbares Geflecht von Ursachen Hilf mit, „den Riesen zu wecken“, damit Deine Kirche und Wirkungen, als empfindliches Gleichgewicht von ihre Kraft zum Wohl des Landes Tansania einsetzen Gegensätzen. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten kann. Amen. Freiwillige aus unseren Partnerkirchen Im April begann Sprache, entstehende Freundschaften, wachsende für sieben „Süd- Vertrautheit, gemeinsames Lernen und Lachen. Nord-Freiwilli- ge“ des Leipziger Gott, unser Vater und unsere Mutter, der Austausch Missionswerkes von Freiwilligen hilft uns, die Verbundenheit mit den ihr Dienst in Schwestern und Brüdern in unseren Partnerkirchen Mitteldeutschland. Joshua Chris und Rahael Jaukae zu leben. Wir danken Dir, dass es junge Leute gibt, die aus Papua-Neuguinea, Kiran Poulini aus Indien und sich für einen solchen Dienst bereitfinden. Sie kom- die Tansanier Lunyamadzo Ngwembele, John Victo- men als Abgesandte ihrer Kirche, ihres Landes, ihrer ry und Yese Mphuru werden in evangelischen Ein- Kultur – eine große Verantwortung. richtungen der Behindertenhilfe, in Kindergärten Wir bitten Dich um Deinen Schutz und Deine Beglei- und Wohnstätten mitarbeiten. Zwei weitere Teilneh- tung bei allen Schritten, die die Freiwilligen gehen. merinnen, Amina Mmeta aus Tansania und Mercy Sende Deinen Heiligen Geist, der Menschen dabei Rethna aus Tamil Nadu, Indien, warten noch immer hilft, einander zu verstehen, geeignete Worte und an- auf das Visum der Deutschen Botschaft. gemessene Verhaltensweisen zu finden. Öffne die Her- Sie werden wohl ähnliche Erfahrungen machen wie zen der Kolleginnen und Kollegen und der Menschen, die deutschen Freiwilligen, die im Herbst für ein mit denen sie arbeiten werden. Hilf ihnen dabei, Ver- Jahr in umgekehrte Richtung reisen werden. Erfah- traute und Freunde zu finden, die gut zuhören und rungen des Fremdseins, des Alleinseins, des Ange- spüren, was sie brauchen. Lass uns gemeinsam versu- wiesenseins auf fremde Unterstützung. Und Erfah- chen, einander besser zu verstehen, damit wir lernen, rungen des Gelingens, das Erlernen der fremden was es heißt, in der Einen Welt zu leben. Amen. KIRCHE weltweit 2/2019 13
Papua-Neuguinea Die Kirchen werden leerer und die Clubs voller Das Verhältnis der Generationen in Papua-Neuguinea Unsere Freiwillige Rahael Jaukae arbeitete in Papua-Neuguinea als Lehrerin an einer Oberschule. Sie beobach- tet die Veränderungen im Verhältnis der Generationen mit Sorge. Dass sich immer mehr Jugendliche aus der Kirche zurückziehen, liegt auch an deren mangelnden Teilhabe. Von Rahael Jaukae, derzeit Süd-Nord-Freiwillige des Leipziger Missionswerkes Papua-Neuguinea (PNG) ist ein multikulturel- passt es sich der westlichen Kultur an. les Land, in dem Kulturen und Traditionen eine wichtige Rolle spielen. Früher wurden die Kinder Respektlosigkeit und Ungehorsam im Zusammenhang mit der Initiation – also dem Übergang zum Erwachsenenalter – unterrichtet, wie Traditionell gehört zur Initiation in PNG, dass die äl- sie sich in allen Bereichen des Lebens zu verhalten teren Jungen einen Monat lang in einem Haus (Aus- man) zusammenleben und von einem älteren Mann in den kulturellen Disziplinen des Erwachsenseins unterrichtet werden. Auf die gleiche Weise werden die heranwachsenden Mädchen von einer älteren Frau im Ausmeri unterrichtet. Beide Geschlechter ler- nen dabei vor allem die Bedeutung von Respekt und Gehorsam, das heißt andere mit Hochachtung zu be- handeln, zuzuhören und den Anweisungen und Rat- schlägen von Eltern und älteren Menschen zu folgen. Die Initiation als selbstverständlicher Teil des Le- bens hat mit dem Einfluss der westlichen Kultur an Bedeutung verloren. In vielen Teilen Papua- Neuguineas wird sie gar nicht mehr durchgeführt. Die Folge ist, dass viele junge Leute sich respektlos und ungehorsam verhalten. Früher durften Kinder die Namen der Eltern nicht nennen oder sie direkt Die Hälfte der Bevölkerung in Papua-Neuguinea ist jünger als 18 Jah- ansprechen. Heute streiten sich Kinder mit ihren re. Die Veränderungen in der Erziehung haben große Auswirkungen. Eltern, rufen sie beim Namen und widersprechen ihnen. Wenn sie Fehler machen, lehnen sie Kritik haben. Heute verliert die Initiation immer mehr an und Ratschläge ab. Früher setzten sich die Eltern Bedeutung und wir stehen vor Problemen, die es so mit einer Ohrfeige durch. Das wagen sie heute kaum in früheren Generationen nicht gab. noch, weil die Kinder sich wehren. Die Verhaltensweisen und Einstellungen der meis- ten Jugendlichen resultieren aus kulturellen Verän- Soziale Probleme derungen, die in der Elterngeneration stattgefunden haben. Früher wurden Ehen arrangiert, Braut und Respekt und Gehorsam gegenüber den Älteren be- Bräutigam mussten zur gleichen Großfamilie gehö- stimmten jahrhundertelang das Generationenver- ren. Heute wählen die Menschen ihre Partner aus. hältnis. Dadurch wurde die Gemeinschaft stark Weil sie häufig in andere Provinzen oder Staaten zie- von älteren Menschen beeinflusst, die mit ihren hen, um dort zu arbeiten, stammen die Ehepartner Entscheidungen Kultur und Tradition bewahrten. oft aus verschiedenen Bundesstaaten oder Provin- Kinder oder Jugendliche, die sich diesen Entschei- zen. Demzufolge gibt es innerhalb einer Familie un- dungen nicht beugten oder den Ältesten gegenüber terschiedliche Kulturen und Traditionen, also auch ungehorsam waren, wurden bestraft. Heute werden verschiedene Möglichkeiten, ein Kind aufzuziehen. diese Strafen und die kulturellen Regeln nicht mehr Wenn sich die Eltern nicht für eine Kultur entschei- angewandt, weil immer mehr Menschen mit höherer den, wird das Kind sich seine Kultur suchen, meist Bildung sie als unangemessen und überholt ansehen. 14 KIRCHE weltweit 2/2019
Papua-Neuguinea Heute sind Jugendliche unabhängig in Bezug auf einen Gelegenheitsjob. Nach mehreren gescheiter- ihre Entscheidungsfindung und nehmen oft keine ten Bewerbungen sind viele frustriert. Manche wer- Ratschläge von Älteren mehr an. Vielmehr beein- den gewalttätig, fangen an, Marihuana zu rauchen flussen die Jugendlichen jetzt die Gesellschaft mit oder werden alkoholabhängig aus Verzweiflung da- ihrer Art der Interaktion, (wie sie sich treffen und rüber, dass sie keinen Job finden, mit dem sie ihren wie sie Menschen begrüßen), mit der Art von Mu- Lebensunterhalt verdienen können. Andere Jugend- sik, die sie hören, und mit der Kleidung, die sie tra- liche werden kriminell, begehen Raub und Dieb- gen. Sie probieren alle möglichen Aktivitäten. Sie stähle. Natürlich gibt es andere Gründe für dieses versuchen, sich selbst zu definieren. Sie experimen- Verhalten, aber bei vielen ist es die Reaktion darauf, tieren mit Alkohol, Zigaretten und Marihuana. Und dass sich vor ihnen alle Türen schließen. weil sie alles selbst entscheiden, fällt es schwer, sie auf den richtigen Weg zurückzubringen. Beteiligung am Leben der Gemeinden Junge Frauen werden schwanger von jungen Män- nern, die gerade mit dem Studium begonnen ha- Jugendliche sind heute unkontrollierbar. Sie sagen und ben und keine Familie ernähren können. Wenn die tun, was sie wollen. Soziale Aktivitäten wie Sport und Familie die Schwangerschaft nicht akzeptiert oder Clubs sind für viele wichtiger als ein Gebetskreis am wenn sie selbst das Kind nicht wollen, lassen sie Freitagabend oder eine Chorprobe am Samstagabend. es abtreiben. Das ist inzwischen fast ein normales Früher gab es in Kirchengemeinden eine große Anzahl Vorgehen. In früheren Generationen hätten junge von aktiven Jugendlichen, die im Chor sangen, musi- Mädchen nicht riskiert, vor der Ehe schwanger zu zierten und in Gottesdiensten Gebete angeleitet haben. werden, denn eine ungewollte Schwangerschaft hät- Heute sind sie weniger bereit dazu. Viele Jugendliche, te eine schwere Strafe nach sich gezogen. die an Sonntagsgottesdiensten teilnehmen, setzen sich auf die hinteren Bänke. Häufig arbeiten die Kirchenältesten leider aber auch Ausbildung und Jobangebote nicht mit den Jugendgruppen zusammen und so In vielen ländlichen Gebieten von PNG fehlt es noch nimmt in vielen Gemeinden der Anteil der Jugend- an grundlegenden Leistungen im Bildungs- und Ge- lichen immer mehr ab. Die Kirchen werden immer sundheitsbereich, an Straßen und Elektrizität. Die leerer und die Clubs immer voller. Infrastruktur in den Städten ist besser als auf dem Neben der Mehrheit der Jugendlichen, die sich ab- Land, vor allem gibt es dort mehr Schulen. wendet, gibt es eine innerlich unabhängige Minder- 2012 führte die neu gewählte und von Peter O‘Neill heit, die weiter zur Kirche geht. Sie glauben daran, geführte Regierung von PNG die Gebührenfreiheit dass Gott einen Weg durch die Dunkelheit finden (Tuition Fee Free, TFF) für alle staatlichen Grund- wird. Sie werden so zu Friedensstiftenden, die versu- und weiterführenden Schulen ein. Seit 2013 steigt chen, einen Weg für die verwirrten und verlorenen die Zahl der Schüler*innen und Studierenden kon- Brüder und Schwester zu finden. Um ein vollständi- tinuierlich. Diese eigentlich positive Entwicklung ger Mensch zu sein, muss man wachsen: physisch, stellt die Schulen aber auch vor Probleme, denn auf mental, emotional und spirituell. Letzteres braucht so viele Schüler*innen sind sie nicht eingestellt. Die Anleitung. Auch diese Form der Begleitung kann bestehenden Klassenräume wurden für 30 bis 35 Kin- den Jugendlichen helfen, sich selbst zu definieren. der gebaut. Nun sind die Klassen oft überfüllt, das Übersetzung aus dem Englischen: Birgit Pötzsch heißt 70 bis 80 Schülerinnen und Schüler sitzen in ei- ner Klasse einer Lehrkraft gegenüber. Es wurde auch Rahael Jaukae kommt aus nicht festgelegt, für welche Altersgruppe der Schulbe- Goroka in Papua-Neuguinea. such kostenlos sein soll und so gehen viele Eltern mit Die 27-Jährige unterrichtete ihren Kindern zur Schule. Das macht die Arbeit der zuvor an der Lufa-Oberschule Lehrenden noch schwieriger, denn die Erwachsenen Wirtschaft und Englisch. Seit brauchen mehr Unterstützung als die Kinder. April 2019 ist sie eine der Süd- Ein anderes Problem ist, dass es in PNG zu wenig be- Nord-Freiwilligen des LMW zahlte Arbeit gibt. Viele Jugendliche mit abgeschlos- und verstärkt für ein Jahr das senem Hochschulstudium oder Bachelor-Abschluss Team der Leipziger „Kita unter finden keine unbefristete Anstellung, nicht einmal dem Regenbogen“. KIRCHE weltweit 2/2019 15
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