Stimme derSans-Papiers - Sans-Papiers Basel
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Stimme der Sans-Papiers Basel, Mai 2021 / Ausgabe Nr. 53 Die Zeitung der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel und der Sans-Papiers-Kollektive Basel Foto: Claude Giger Aus dem Schatten treten! 20 Jahre nach der Besetzung der Antoniuskirche in Basel trafen sich fünf ehemalige Beteiligte zum Rückblick: Komi Aimé aus Togo, die Töchter der Familie Estrada aus Ecuador Andrea, Liliana, Cristina – damals Kinder – und der Aktivist Hannes Reiser. Komi arrangierte das Treffen, Hannes zeichnete das Gespräch auf, das hier in drei Teilen durch die Jubiläumsschrift führen wird. Komi: Während meiner Zeit als Sans- Andrea: Unsere Eltern haben uns von schen Schweiz. Bald kam aber eine ganz Papiers lebte ich sehr prekär. Ich hatte diesen Sitzungen erzählt. Sie haben ihnen andere Realität zum Vorschein. Alle wuss- ein paar Freund*innen in Baselland, wo wieder Hoffnung gegeben. Sie lernten hier ten, dass die Wirtschaft diese Menschen ich manchmal essen und duschen konnte, auch den Argentinier Enrique kennen, braucht, vor allem seit der Abschaffung aber mehr nicht. Ich fand Gelegenheits- der 30 Jahre lang als Sans-Papiers in der des Saisonnierstatuts. Es gab wohl mehr jobs, oft gefährliche. Sonst hatte ich kein Schweiz gelebt hatte und erst seit kurzem als 100‘000 Menschen, die ohne Bewilli- Geld. Du stehst auf am Morgen und weisst Papiere hatte. Er half beim Planen und gung hier lebten. Es war bekannt, dass die nicht wohin. Du weisst nicht, wie der Tag Übersetzen. Politik diesen Menschen eine Aufenthalts- aussehen wird und ob du ihn überhaupt Komi: Wir verfolgten schon damals bewilligung und damit normale Rechte überleben wirst. Eine Bekannte von mir mit viel Interesse und Hoffnung die verweigert. rief mich eines Tages an und sagte, sie Kirchenbesetzung der Sans-Papiers in Komi: Ja, mit jeder Sitzung tauchten habe von einer Gruppierung gehört, die Fribourg, meine Informationsquelle war mehr Leute auf, die Probleme mit ihrem eine Aktion zusammen mit Sans-Papiers die Télévision Suisse Romande. Aber ich Aufenthalt hatten. Die Diskussionen wa- plane. Da solle ich doch einmal hinge- wagte nie zu glauben, dass in der deut- ren sehr angeregt, dauerten oft mehrere hen. Die Sitzung war im Haus von Longo schen Schweiz etwas Ähnliches stattfin- Stunden und wir spürten eine Euphorie maï, im Wohnzimmer. Es war voll von den könnte. und wurden nicht müde. Oft diskutier- Menschen, auch Jaqueline, eure Mutter Hannes: Viele sagten uns damals, ten wir bis um 2 Uhr nachts. Ich vergesse war da. Sans-Papiers gäbe es nur in der französi- nie, wie wir jeweils zusammen Spaghetti
Bolognese kochten und den Abend mit Hannes: Das ganze linke und fort- Teenie-Zeit, in der man seine Identität bil- einem gemeinsamen Essen abschlossen. schrittliche Basel von der SP über Bas- det. Da hat man andere Prioritäten. Am Schluss begleiteten uns die Basler*in- ta bis zu den autonomen Gruppen war Komi: Zu Beginn waren wir 15 bis 20 nen nach Hause. vertreten. Solche Bündnisse gibt es zum Sans-Papiers in der Kirche. Aus Kosovo, Hannes: Auch die Unterstützer*innen Glück in Basel immer wieder, wenn wich- aus Chile und Bolivien, aus Syrien, aus der kamen zahlreich. Yvonne Schepperle vom tige Fragen auf dem Spiel stehen. Wir hat- Türkei und aus Kurdistan. Später kamen Sozialdienst der Josefskirche, Anni Lanz ten die Pfarreileitung kurz vorgewarnt. weitere dazu. Es gab verschiedene Wellen, vom Solinetz, Regi Wyss, Pierre-Alain Irgendwie hatten sie eine Vorahnung und denn es wurde langsam bekannt, was wir Niklaus, Francisco Gmür, der als Pfarrer hatten den Bischof in Solothurn schon machten. Einige sind aber bald wieder ge- lange in Südamerika gelebt hatte, und vie- informiert, dass bald etwas „passieren“ gangen, weil sie keine schnellen Resulta- le mehr. Wir waren bereit, unser Schicksal würde. te sahen. Auch viele Einheimische lebten mit dem Schicksal unserer Sans-Papiers- Komi: Später erzählte mir Pfarrer mit uns zusammen zu unserem Schutz. Freund*innen zu verknüpfen. Wir wuss- Bernaditsch, die Polizei habe sofort an- Es gab auch viele Ältere, die tagsüber aus ten, dass wir privilegiert sind. Gerade gerufen und gefragt, ob sie Verstärkung Solidarität bei uns blieben. Vor Weihnach- deshalb wollten wir unseren „Heimvor- brauchten. Er antwortete, nein, das sind ten zogen wir dann auf Einladung und teil“ und die Kenntnisse über die poli- Menschen, die in das Haus Gottes wollen, Vermittlung von Pfarrer Schneider in die tischen Abläufe in dieser Stadt unseren das immer offen ist. Viele Afrikaner*in- Oekolampadkirche. Freund*innen zur Verfügung stellen. nen, die vorher mit dabei waren, hielten Am Anfang hatten wir immer wieder Liliana: Nach einer dieser Sitzungen sich aber von diesem Moment an eher im Angst und dachten, es gäbe bald eine Räu- kamen unsere Eltern zurück und riefen Hintergrund. Ich verstehe das, viele von mung. Das legte sich dann zum Glück. uns zusammen. Sie sagten uns, wir müss- ihnen sind sehr, sehr vorsichtig. Auch sonst war es nie langweilig. Jeden ten jetzt stark sein und zusammenhalten, Andrea: Wir sind mit guten Gefühlen Tag gab es eine Versammlung oder einen bald würde es eine Aktion geben, aber in die Kirche eingezogen. Uns als Fami- kulturellen Anlass, ein Banquet Républi- was wollten sie noch nicht sagen. lie wurde ein eigenes Zimmer zugwiesen. cain mit prominenter Unterstützung. Ein- Komi: Uns war bald klar: wir müssen Wir fühlten uns hier gut aufgehoben, alles mal gab es eine afrikanische Party, einmal aus dem Schatten treten, uns nicht mehr war sehr familiär. Die Anlage war wie eine Latino-Disco. Beide Anlässe waren einfach verstecken, sondern aktiv werden. eine Insel in der Stadt mit einem gros- sehr ausgelassen und dauerten bis früh Die Aktionen in Frankreich, in der Suisse sen Innenhof mit Bäumen. Da fühlten wir in den Morgen. Romande und inzwischen auch in Bern uns geschützt. Es gab eine Frau von der Andrea: Ich erinnere mich noch gut, dienten uns als Ansporn und als Vorbild. Kirchgemeinde, die war sehr streng und wie die Unterstützer*innen im Foyer der Hannes: Wir gingen auf die Suche mahnte uns, nichts zu beschädigen. Aber Antoniuskirche einen Filmabend organi- nach einer Kirche. Wir wussten, dass es sonst waren alle sehr freundlich mit uns. sierten. Wir hatten ein starkes Zusammen- keine reformierte Kirche sein darf. In Komi: Ich erinnere mich, dass am An- gehörigkeitsgefühl. Das Schöne war, dass den 80er-Jahren, als türkische und kur- fang auch empörte Menschen aus dem alle Sans-Papiers in der Kirche wie eine dische Flüchtlinge in die Leonhardskirche Kannenfeldquartier vorbeikamen, um zu grosse Familie waren, so ein ähnliches geflohen waren, hatte der reformierte Kir- schauen, was da los ist. Wir luden deshalb Gefühl wie in einem Schullager. Wir ha- chenrat ohne zu zögern die Polizei geholt, zu einem Informationsnachmittag ein. Es ben unsere Wohnung nicht sehr vermisst. welche die Flüchtlinge in der Kirche ver- kamen so viele, dass wir dafür extra in Jetzt waren wir hier zu Hause. haftete und ausschaffte. So etwas vergisst den Kirchgemeindesaal gehen mussten. Liliana: Eines Tages brachte uns eine du nie. Also suchten wir eine katholische Wir Sans-Papiers erzählten einfach von Frau Spielsachen. Ich war erstaunt, dass Kirche, die gross genug war. Inzwischen unserem Leben, von unserem Schicksal. fremde Menschen so gutherzig sein kön- waren wir ja schon sehr zahlreich. Die meisten waren erstaunt, dass wir nen und etwas mit anderen teilen, die Cristina: Dann ging es los, an einem auch Baseldeutsch sprachen, dass wir sie gar nicht kennen. Dieses kleine Er- Sonntagnachmittag, soviel ich mich Menschen waren wie sie, mit unseren lebnis hat mich für mein ganzes Leben erinnern kann. Geschichten und unseren Problemen. Was geprägt: alle Menschen haben eine gute Komi: Ja, das war ein Sonntag, der wir alles durchmachen, bewegte sie und Seite. Auch in den Versammlungen, die re- 21. Oktober 2001. am Schluss kamen ein paar zu uns und gelmässig stattfanden und denen wir von Cristina: Die ganze Familie ging in boten uns ihre Hilfe an. weitem zuhörten, habe ich das gespürt. den Kannenfeldpark. Wir hatten alle un- Liliana: Wir mussten jeden Tag in die Cristina: Ja, wir hatten von klein auf sere wichtigsten Sachen dabei, wie wenn Schule. Am Anfang war mir schon etwas gelernt, misstrauisch zu sein und haben wir ins Ferienlager gehen würden. Dort unwohl, mit all diesen unbekannten Men- zum Glück durch diese Solidarität wieder warteten schon viele andere Menschen schen in der Kirche zu leben. Aber das hat Vertrauen gefasst. aus Basel mit oder ohne Bewilligung. sich dann gelegt. In der Schule versuchte Wir machten einen grossen Umzug, die ich lange, das alles vor den anderen zu Teil 2 siehe Seite 6 Unterstützer*innen umringten uns Sans- verheimlichen. Ich wollte nicht eine spe- Papiers zu unserem Schutz. So zogen wir zielle Person sein. Aber als dann später die in die Antoniuskirche und wurden dort Berichte in den Medien kamen, informier- vom Diakon in die Gemeindesäle einge- te ich die Klasse. Es fiel mir nicht leicht wiesen. und war mir unangenehm. Das war meine 2
Editorial Vor bald 20 Jahren, am 21. Oktober 2001, haben in Basel Sans-Papiers gemeinsam mit Aktivist*innen mit Papieren die Kirche St. Anton in Basel besetzt. Auch in anderen Schweizer Städten haben Sans-Papiers mit politi- scher Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, dass nicht alle Menschen, die hier leben, eine Bewilligung dafür haben. Und dass sich dies ändern muss, indem alle Bewilligungen erhalten! Aus der Bewegung entstanden damals viele neue Beziehungen und Netz- werke in Basel und in der Folge auch die Anlaufstelle für Sans-Papiers, die Stimme der Sans-Papiers und die Union der ArbeiterInnen ohne geregelten Auf- enthalt. In dieser Ausgabe der Stimme zum 20-jährigen Jubiläum der Kirchen- besetzung blicken Aktive von damals zurück auf die bewegte Zeit. Aus den Texten spricht die Kraft der damaligen Zeit, und viele regen zum Nachdenken an. Nehmen wir beides mit für die Zukunft: das Wissen um die Dynamik, die aus der politischen Aktion entstehen kann, und die Erfahrung aus den letzten 20 Jahren Sans-Papiers-Be- wegung. Denn es gibt noch viel zu tun! Foto: Peter Armbruster, Weithin sichtbar: das Transparent an der Kirche St. Anton aus der Basler Zeitung vom 5.11.2001 Fabrice Mangold 20 JAHRE SANS-PAPIERS-BEWEGUNG IN BASEL Ein persönliches Fazit 2001 habe ich mir an einer der ersten grossen Sans-Papiers-Demonstrationen in Fribourg das T-Shirt mit der Aufschrift „La lutte des Sans-Papiers ça rend beau“ gekauft. 20 Jahre sind eine lange Zeit – wie die exponentielle Zunahme meiner grauen Haare zeigt. Angefragt für diesen Artikel, habe ich mich entschie- den, den Schwerpunkt auf die Frage zu legen: Weshalb ist es nicht gelungen, kollektive Regularisierun- gen von Sans-Papiers zu erreichen, wie sie an der Demo damals so lautstark gefordert worden sind? Im Oktober 2001 besetzte eine Gruppe Punkten deckungsgleich. Sie spielten Hat sich der Einsatz gelohnt? Ich erin- von Sans-Papiers und Unterstützer*innen mit viel grösserem Einsatz – ihre müh- nere mich an emotionale gemeinsame Fei- die Kirche St. Anton in Basel. Aus der sam aufgebaute, prekäre Existenz konnte ern, wenn wieder einmal eine Bewilligung Perspektive der Unterstützer*innen war bei einer Legalisierung stabilisiert, oder erstritten worden war. Dann denke ich, die Besetzung ein Aufbruch, weg von der aber durch eine repressive Reaktion sei- dass sich der Einsatz gelohnt hat. Wenn zermürbenden und vielfach erfolglosen tens der Behörden erst recht erschüttert ich mich zurückerinnere, wie oft ich insbe- Einzelfallarbeit, hin zu einer Öffnung, die werden. Der Herbst 2001 war daher nicht sondere in den Jahren 2002 und 2003 ins eine neue, menschenfreundliche Migra- nur der Beginn einer sozialen Bewegung, Bässlergut gefahren bin, um Sans-Papiers in tions- und Asylpolitik erhoffen liess. Die die Schwung und neue Hoffnung gebracht Ausschaffungshaft zu besuchen, werde ich Perspektive der Sans-Papiers, die damals hat, sondern glich auch einem Tanz auf nachdenklich. Wenn ich überlege, wie viel teilnahmen, war sicher nicht in allen dem Vulkan. Einzelfallarbeit, meist in einem Mix aus juris- 3
tischen Eingaben, politischer Arbeit und – Anrufen der Härtefallkommission – droht wird wegen Bezugs von Sozialhilfe. öffentlichen Protesten wir immer wie- Korrektur der Entscheide des Migrations- Es braucht endlich einen grundlegenden der leisten mussten, um eigentlich klare amts durch die Härtefallkommission. Mentalitätswechsel in diesem Departe- „Fälle“ durchzubringen, komme ich erst Nach Monaten des zermürbenden War- ment, ein neues Selbstbewusstsein als recht ins Grübeln. Waren wir nicht auch tens dann endlich die Überstellung der offener Stadtkanton. Damit ein solcher mit dem Ziel angetreten, nicht mehr so Gesuche an den Bund. Wandel eingeleitet werden kann, braucht arbeiten zu müssen, sondern echte struk- Wie ist es möglich, dass nach 20 Jah- es neues Personal auf Führungsebene. turelle Verbesserungen zu erreichen? Wie ren Kampf die Erteilung von Bewilligun- Der letzte Regierungsrat, den die SP im konnte es nur sein, dass auch nach Jahren gen – anders als im Stadtkanton Genf damaligen Polizeidepartement gestellt immer noch jedes Gesuch einer Zitter- – immer noch so unglaublich zäh vonstat- hat, war Karl Schnyder. Die Erfahrung partie glich? ten geht? Ein schwieriges Problem ist die war schmerzlich, er entpuppte sich als Hier kommt mir zuerst einmal ein Abhängigkeit von Bundesgesetzen. Viele Hardliner bei der Niederschlagung der Name in den Sinn: Michel Girard, Leiter Grossrätinnen und Grossräte reichten im AJZ-Bewegung in den 80er Jahren. 1982 Bevölkerungsdienste und Migration des Laufe der Jahre Vorstösse für eine Verbes- trat er aus der SP aus, blieb aber Regie- Kantons Basel-Stadt. Seit 20 Jahren unser serung der Situation der Sans-Papiers ein. rungsratsmitglied in der neuen Partei Gegenüber. Immer freundlich und kor- Praktisch alle blieben letztlich folgenlos, DSP. 40 Jahre ist das nun her. Allerdings rekt im Umgang, unbekehrbar hingegen da das Migrationsamt seine Handlungsle- gäbe es auch ein historisches Vorbild, wie in seiner Überzeugung, dass Sans-Papiers gitimation direkt von Bundesbern ableitet linke Politiker*innen das Amt verstehen nicht regularisiert werden dürfen, weil und nicht vom Grossen Rat. Wie sieht es könnten: Fritz Brechbühl, der während dies einer Belohnung eines Gesetzes- mit ausserparlamentarischen Mitteln aus? des zweiten Weltkriegs eine vergleichs- bruchs gleichkomme. Sprachlos liess Der Druck von der Strasse war 2001 sicher weise liberale kantonale Flüchtlingspoli- mich auch seine ernst gemeinte Aussage hoch, die Sympathiebekundungen aus der tik durchsetzte. anlässlich eines Gesprächs über Gesuche Bevölkerung auch in den Folgejahren Ich schliesse mit einem Zitat aus dem von langjährig anwesenden Sans-Papiers: beflügelnd. Dennoch reichte er nicht aus, Vorwort von „Die Fremdmacher – Wider- Sie hätten den Ausgang ihrer Härtefall- die über Jahrzehnte entstandene Mentali- stand gegen die Schweizerische Asyl- und gesuche selbstverständlich wie üblich im tät der Migrationsabwehr im zuständigen Migrationspolitik“ (Anni Lanz, Manfred Herkunftsland abzuwarten und nicht in Migrationsamt wenigstens ein bisschen Züfle 2006). Das Buch wurde anlässlich Basel… zu kehren. Auch regelmässige Gespräche des 20-Jahre-Jubiläums von „Solidarité Mit äusserster Anstrengung gelang auf höchster Ebene (Regierungsrat) und sans frontières“ geschrieben, passt aber es uns, dass der Regierungsrat 2006 die das Anrufen der Gerichte brachte ausser genauso zum Jubiläum der Kirchenbe- Einrichtung einer Härtefallkommission schönen Worten nicht viel. setzung und der Anlaufstelle: „Unsere unter Einbezug von Vetreter*innen von Mein Fazit: Die Linke muss das JSD Geschichte ist also keine Geschichte zum Asyl- und Migrationsorganisationen be- (Justiz- und Sicherheitsdepartement) Jubeln. Dass sich immer noch und trotz schloss. Anni Lanz vertrat die Anlaufstelle neben andern Departementen endlich alledem Menschen für die Rechte von viele Jahre in diesem Gremium, abgelöst auch als Schlüsseldepartement begreifen. ImmigrantInnen und Flüchtlingen wurde sie durch Claudia Studer von der Das JSD greift tief in das Leben unzähli- engagieren, ist allerdings ein Grund zum IGA. Seither ist folgender Ablauf üblich: ger Menschen in Basel ein, nicht nur der Hoffen und einer zum Nachdenken.“ Einreichung von Härtefallgesuchen – Sans-Papiers. Auch Menschen mit einer routinemässige Ablehnung der meisten B- oder sogar C-Bewilligung leiden, z.B. Pierre-Alain Niklaus dieser Gesuche durch das Migrationsamt wenn ihnen ein Bewilligungsentzug ange- 4
HÄRTEFALLPRAXIS Mehr Mut zu unbürokratischen Lösungen Schon zu Justizministerin Elisabeth Kopps Zeiten – so mein Einstieg in Grosi-Manier – gab es Härte- fallkriterien für abgewiesene Asylsuchende. Die damaligen Direktoren, Peter Arbenz und später Jean- Daniel Gerber, führten immer wieder Legalisierungsaktionen für alte pendente Dossiers durch, die letzte fand als HUMAK (humanitäre Aktion) im Jahr 2000 statt. Sans-Papiers gab es zwar schon viel län- staat und wurde einem Arbeitsverbot Erkrankungen. Die Absicht der rechten ger, seit dem Ausländergesetz der Zwi- unterstellt. Nur mit diesen Wegweisun- Politiker*innen, die Abgewiesenen mit schenkriegszeit. Aber in die Öffentlichkeit gen bleibe die Schweizer Asylpolitik den die Menschenwürde verletzenden und ins Bewusstsein traten sie erst in den glaubwürdig, so die endlose Litanei der Massnahmen zur Ausreise zu bewegen, neunziger Jahren. Ihre Kirchenbesetzun- Ausschaffer*innen. Die Sans-Papiers erfüllte sich nämlich nicht. Mehrere hun- gen, verbunden mit ihren öffentlichen ohne Asylverfahren behielten immerhin dert von ihnen leben schon seit mehreren Auftritten in den ersten Nullerjahren das Image der fleissigen Bienen, die für Jahren so in der Schweiz und es werden verliehen ihnen die notwendige Anerken- Gottes Lohn für unser Wohl sorgten. Poli- anzahlmässig, entgegen den Prognosen nung. Fast ein halbes Jahr lang waren sie tisch liess sich nur für die letzteren etwas des SEM, stetig mehr, es sei denn, es käme nach der ersten Besetzung in den Schlag- herausholen, umso mehr, als sich allmäh- zu einer vernünftigen Härtefallpraxis auf zeilen der Westschweizer Medien. Danach lich herausstellte, dass diese mehrheitlich Bundes- und kantonaler Ebene. Daran kam es zu zahlreichen Legalisierungen, Frauen waren. arbeiten die Solinetze. Eine gute Zusam- mehrheitlich betrafen sie abgewiesene Die abgewiesenen Asylsuchenden mit menarbeit von Anlaufstellen und Solinet- Asylsuchende. ihrem Arbeitsverbot waren seit 2005 auf zen ist unabdingbar, um das gegenseitige In verschiedenen Städten, so auch in Nothilfe angewiesen, eine in der Bun- Ausspielen von Papierlosen mit und ohne Basel, schuf die Sans-Papiers-Bewegung desverfassung verankerte, kurzfristige Arbeitsverbot zu vermeiden. Anlaufstellen für Sans-Papiers. Dann Überbrückungshilfe, die vor dem Hun- Die Regularisierungsaktionen mit ver- gelang es rechten Politiker*innen, das ger- und Kältetod bewahren sollte. Ein einfachten Kriterien erforderten in der positive Image der Sans-Papiers zu be- paar Abgewiesene haben mit dem Basler SVP-Blütezeit mehr Mut als heute, wo schädigen, indem sie sie kriminalisierten Kirchenasyl von 2016 auf ihre unhaltbare Migration in weit geringerem Masse ein und aufspalteten: Wer sich ohne Bewilli- Situation aufmerksam gemacht. Reizwort für die Unzufriedenen ist. Dass gung hier aufhielt, machte sich strafbar. Die Minimalhilfe schützt längerfris- sich die Führung der Migrationsbehörden Wer trotz Wegweisungsentscheid nicht tig nicht vor dem «sozialen Tod», d.h. vor mit einer unbürokratischen Lösung heute ausreiste, «beleidigte» die Behörde (war der völligen Ausgrenzung und damit ver- so schwer tut, ist beschämend. unkooperativ), missachtete den Rechts- bunden vor physischen und psychischen Anni Lanz Ich kenne jemanden, der auch Sans-Papiers war. Irgendwie konnte er sich legalisieren. Nach einem Jahr (mit 32) hat er eine Lehre angefangen und fertig gemacht, danach einen Lehrmeisterkurs. 15 Jahre lang hat er in seiner Branche in der Privatwirtschaft gearbeitet. Nun arbeitet er seit zwei Jahren beim Kanton. Dort hat er seinem Schweizer Kollegen folgende Frage gestellt: „Du, Verben oder die Tätigkeitswörter konjugiert man in jedem Tempus, aber warum schreibt man bei den Modalverben das zweite Verb immer in der Infinitivform?“ Kollege:“ Jein, theoretisch scho aba praktisch ... einersiits isch es so, aba anderersiits isch es nöt so, wobii .... obwohl, es isch Aasichtssach, ich ha welle sage: Hochdütsch isch nöt mini Muettersprooch.“ Hogir aus der Türkei Mir, die ich in jener Zeit um meinen verstorbenen Mann trauerte und nach einem neuen Lebensinhalt suchte, verhalf die Begegnung mit den Sans-Papiers zu einem grossen Geschenk: ein Mitglied der Gruppe gewann mein Vertrauen, ich konnte in Kontakt zu seiner zu Hause zurückgeblieben Familie treten, ich konnte sie in die Schweiz holen helfen, ich konnte ihr die Annäherung zu unserem Land erleichtern und ich konnte ihr schliesslich zu unserem Bürgerrecht verhelfen. Heute bin ich ein selbstverständlicher Teil dieser Familie und habe damit ein im Alter wichtiges Gefühl der Geborgenheit erworben. Daisy Reck 5
AUS DEM SCHATTEN TRETEN – TEIL 2 Wirtschaftliche Not und politische Verfolgung Fünf der ehemaligen Beteiligten am Kirchenasyl – Komi Aimé aus Togo, die Töchter der Familie Estrada aus Ecuador und der Aktivist Hannes Reiser – erzählen, wie und warum sie in die Schweiz kamen. Eine der ersten nationalen Demonstrationen der Sans-Papiers-Bewegung, Bern 2001 Juliana: Es ist eine lange Geschichte, Cristina: Dieses Bild habe ich heute unser Zuhause. Wir wussten nicht einmal, wie wir nach Basel gekommen sind. Wir noch vor Augen, wie wir mit der Gross- wo die Schweiz ist. sind in einem Dorf am Rande der Haupt- mutter am Gitter des Flughafens standen Andrea: Ich hatte keine Ahnung, stadt Quito in Ecuador aufgewachsen. und dem startenden Flugzeug nachschau- wie die Schweiz aussieht, wir hatten Andrea: Ich kann mich noch gut er- ten. nie Bilder gesehen. Ich stellte mir so ein innern, wie alles anfing. Meine Mami hat Juliana: Wir lebten dann bei den futuristisches Land vor mit Autos, die auf mich eines Morgens zum Kindergarten Grosseltern. Die Grossmutter musste in verschiedenen Ebenen in Wolkenkratzer- gebracht. Sie war ganz anders als sonst. Quito Schuhe verkaufen, der Grossvater schluchten aneinander vorbeifliegen. Sie hat mich ganz fest an sich gedrückt war Taxifahrer und somit auch den gan- Juliana: Wir flogen mit der Grossmut- und hatte Tränen in den Augen. Am Tag zen Tag weg. Wir wohnten in einer Art ter von Quito bis Amsterdam und von dort darauf war sie nicht mehr da, einfach weg. Kinderwohnung mit Küche, Bad und mit nach Mulhouse. Ein rotes Auto wartete Sie kam dann ein oder zwei Mal wieder Aufenthaltsraum neben dem Haus der auf uns und brachte uns nach Basel. Der zurück. In der folgenden Zeit hat unser Grosseltern. Fahrer schwitzte sehr, er hatte Angst. Wir Vater für uns geschaut. Unser kleiner Bru- Andrea: Ich hatte immer die Emp- kamen in Basel an, in unserer Wohnung der Julio war erst drei Monate alt. Eine findung, mich um meine Geschwister an der Brombacherstrasse. Unsere Freude Tante von uns hatte ihn übernommen und kümmern zu müssen. Ich habe ihnen war riesengross: endlich war die Familie gehütet. viel beigebracht, z.B. wie man die Schuhe wieder zusammen. Cristina: Wir dachten damals, wir bindet. Das ist ein wichtiger Moment im Komi: Ich bin in Lomé, der Haupt- wären die Einzigen mit diesem Schicksal Leben, wenn man lernt, die Schuhe selber stadt von Togo aufgewachsen als eines (lacht) wie immer, wir sind immer die zu binden, fast wie lesen und schreiben. von neun Geschwistern. Mein Vater war Einzigen, die mit dem speziellen Schick- Der kleine Julio war noch immer bei der Beamter, meine Mutter hatte ein klei- sal. Tante, bis er mit zwei oder drei Jahren nes Geschäft für Lebensmittel. Nach der Andrea: Dank unserer Mutter ging auch zu uns kam. Schule absolvierte ich ein Studium der es uns dann wirtschaftlich gut. Aber Juliana: Eines Tages mussten wir in Informatik und Programmanalyse und das Mami hat uns schon sehr gefehlt, die Stadt fahren, um Passfotos zu machen. beteiligte mich später an der Erarbeitung ihre Liebe und Wärme. Immerhin hatten Wir merkten, dass da etwas in Vorberei- elektronischer Listen für die Wahlen. wir unseren Vater. Später ging er dann tung war und freuten uns riesig. Wir woll- Eines Tages gab es Druck von Seiten der auch. Ich war sieben Jahre alt, als er uns ten so schnell wie möglich zu unseren Regierung. Sie wollte, dass wir unsere erklärte, dass auch er jetzt weg müsse. Für Eltern. Das Land, wo wir leben, ist nicht Arbeit zu ihren Gunsten zurechtbiegen. uns ist eine Welt zusammengebrochen. wichtig. Da, wo wir zusammen sind, ist Ich weigerte mich, da mitzumachen. 6
Nach einer solchen Verweigerung bist lernte ich bei der Arbeit viele Menschen Tag. Wir Kinder waren schon damals sehr du plötzlich auf der anderen Seite. Ich aus Italien, Spanien und Portugal kennen, selbstständig. wurde mehrere Male bedroht. Alle Tü- die weit weg von ihrer Familie arbeiten Cristina: Wir unternahmen auch in ren waren mir von nun an verschlossen. mussten. Sie wurden meine Freunde. Als der Freizeit fast alles gemeinsam. Einmal Ich hatte Angst um mein Leben. So etwas dann Schwarzenbach seine Überfrem- sind wir in die Stadt gefahren mit dem kann man sich hier gar nicht vorstellen. dungsinitiative startete, fühlte ich mich Tram. Wir hatten ein Kurzstreckenbillett Meine zwei älteren Schwestern halfen persönlich angegriffen. 2001 war ich zum gelöst, fuhren aber noch etwas weiter und mir schliesslich, die Flucht vorzuberei- ersten Mal in meinem Leben auf einem kamen in eine Kontrolle. Da wir keine ten. Über Italien schaffte ich es mühsam anderen Kontinent, in Südamerika. Ich Ausweispapiere dabei hatten, riefen die in die Schweiz und stellte hier ein Asyl- war sehr beeindruckt, unsere eingebil- Kontrolleure die Polizei. Diese rief mei- gesuch. Dieses wurde abgelehnt. Da ich deten, reichen Nationen von „unten“ her nen Vater an. Er bekam eine Vorladung kein Geld hatte, um einen guten Anwalt zu betrachten. Der Kulturschock bei der auf den Spiegelhof. Dann kam das ganze zu bezahlen, schrieb ich meinen Rekurs Rückkehr gab mir einen starken Schub, Verfahren gegen meine Eltern ins Rol- selbst. Dieser wurde ebenfalls abgelehnt. mich zu engagieren. len, Arbeiten ohne Bewilligung, illegale So wurde ich zum Sans-Papiers. Liliana: Unser Vater Julio hatte auf Einreise und all das. Es gab kein Pardon, Hannes: Ich bin in Deutschland ge- dem Bau als Maurer und Bauschreiner kein Auge-Zudrücken. Am Schluss hiess boren. Später zog meine Familie in die angefangen. In der Schweiz hat er sein es, wir müssten die Schweiz sofort ver- Schweiz. Einen grossen Teil meiner Kind- Talent als Steinmetz entdeckt. Er war lassen. Es ging den Behörden ums Prinzip. heit verbrachte ich in einem Dorf im bald vor allem für Renovationsarbeiten an Damit drohte unserer Familie, dass alles, Aargau. Später zog unsere Familie in die historischen Gebäuden, wie zum Bespiel was hier aufgebaut worden war, zerstört Stadt. Kaum hatte ich mich umgewöhnt, dem Münster, sehr gesucht. Meine Mutter würde. ging es wieder weiter. Ich hatte nie richtig putzte. Beide arbeiteten den ganzen Tag. Zeit, Wurzeln zu fassen. Nach der Schule Mama kochte im Voraus für den ganzen Teil 3 siehe Seite 12 Das Wichtigste für mich war zu erfahren, dass ich nicht alleine bin. Es gab so viele Leute in der gleichen, illegalen Situation. Zusammen konnten wir überlegen, wie wir vorgehen wollten, und fanden dabei viel Unterstützung. Ich erlebte diese grosse Solidarität auch ganz persönlich. Eine sehr nette Frau kaufte für mich Medika- mente. Denn obwohl ich einen Leistenbruch hatte, arbeitete ich jahrelang bei einem Bauern und durfte keinen Arzt aufsuchen. So oft ich konnte, kam ich nach Basel in die Antoniuskirche und an die Demonstrationen. Ich fühlte mich gut in dieser freund- schaftlichen Atmosphäre. Krasimir Penev Ich verbrachte zwei Nächte mit einer Familie, die sich im Kirchenasyl befand. Ich schlief bei den vier kleinen Kindern, las ihnen vor und wir hatten Spass. Aber ich war auch nervös, weil wir damit rechnen mussten, dass die Polizei am frühen Morgen eine Kontrolle machen könnte. Die Polizei kam nicht und die Familie erhielt später die Aufenthaltsbewilligung. Sabine Trigo Den Heiligabendgottesdienst bereitete ich mit den Sans-Papiers vor. Sie spielten die Weihnachtsgeschichte. Jaqueline und Julio Estrada stellten Maria und Joseph dar, die in der fremden Stadt lange um eine Herberge suchen mussten. Ihre vier Kinder waren Hirten und Engel. Die drei Könige waren geboren in Chile, Afrika, Iran. So gewann die alte Weihnachtsgeschichte ganz neue Aktualität. Für die Kirchgemeinde, alle Sans-Papiers und die Sympathisant*innen wurde es zu einer sehr eindrücklichen mutmachenden Feier. Pfarrer Fritz Christian Schneider 7
SANS-PAPIERS ORGANISIEREN SICH Die Union der Arbeiter*innen ohne geregelten Aufenthalt Im Nachgang zur Kirchenbesetzung und der Neuausrichtung der Bewegung der Sans-Papiers beschlos- sen Aktivist*innen zusammen mit der Interprofessionellen Gewerkschaft der ArbeiterInnen (IGA) die Menschen ohne geregelten Aufenthalt bei der gewerkschaftlichen Organisation zu unterstützen. Marsch der Sans-Papiers durch Basel, 2009 Ab dem Jahr 2003 begann die Initiativ- Venezuela wurde eine Ausschaffungsver- Politik und Kirchen mit dem Ziel, eine gruppe mit Aimé, Martha, Claudia, Pi- sicherung ins Leben gerufen. An breite Unterstützung für eine Normali- erre-Alain, Hans-Georg und weiteren jeder Sitzung zahlten die Anwesen- sierung der Lebensumstände der Sans- Aktiven Schritt für Schritt Sans-Papiers den fünf Franken ein. Auch der Erlös von Papiers zu erreichen. Parallel dazu lud die aufzusuchen und für einen Beitritt in Standaktionen floss in die Versicherung. Union zu öffentlichen Hearings ein. Mit die Gruppe zu bewegen. Die Gruppe Das Reglement besagte, dass bei einer der Neustrukturierung der Anlaufstelle fand einen Namen und entwarf ein Logo unfreiwilligen Rückkehr ins Heimatland gingen diese Erfahrungen in die Organi- sowie einen Ausweis mit Foto und Namen, aus der Versicherung tausend Franken sation der Kollektive nach Sprachen ein. der Notfall-Telefonnummer und den die ausbezahlt werden. Später wurde die Die Union konzentrierte sich fortan auf Union unterstützenden Organisationen. Versicherung ergänzt für Notfälle wie die französisch sprechenden Menschen Erwerbslosigkeit. So konnten kleinere Bei- aus Afrika. träge an die Mieten oder für den Lebens- unterhalt ausgerichtet werden. Über die Hans-Georg Heimann Ausrichtung und das Reglement entschied die Vollversammlung der Mitglieder. Highlights in jedem Jahr waren die Kurzferien im Sommer – meistens in Sa- lecina, Engadin – und das grosse Jahre- sendfest. Zweimal wurde ein Marsch der Sans-Papiers quer durch Basel organisiert. 2007 verfasste die IGA die Sektorana- lyse ‹Externe Haushaltsarbeit und Sans- Papiers-ArbeiterInnen›. Darin konnte der Ein PatInnen-Netzwerk wurde auf- immense Beitrag der Hausangestellten, gebaut, damit alle Mitglieder jemanden meist Sans-Papiers, am Wohlergehen zur Seite haben für die Alltagsgestaltung. der meist wohlbetuchteren Schichten in An den monatlichen Sitzungen der Union der Region nachgewiesen und in Fran- wurde in den verschiedensten Sprachen ken beziffert werden. Mit dieser Analyse gesprochen. Nach einer dramatischen Ver- machte die IGA eine Vernehmlassung bei haftung und Ausschaffung einer Frau aus verschiedensten Personen aus Wirtschaft, 8
KAMPF UM REGULARISIERUNG Der Fall Estrada Die im Kirchenasyl engagierte Familie Estrada – die Eltern und ihre vier Kinder – war der erste Sans- Papiers-Fall für den Anwalt Guido Ehrler. Erfahrung mit migrationsrechtlichen Verfahren hat er bis dann vor allem im Rahmen von Asylgesuchen gesammelt. Warst du beim Kirchenasyl im Herbst Militärdepartement (PMD), damals unter gelehnt. Der Entscheid des PMD sei keine 2001 dabei? Jörg Schild, als chancenlos abgelehnt. Verfügung und somit nicht rekursfähig, Die Familie sollte umgehend ausge- hiess es. Es sei eine sogenannt formlose (Guido Ehrler lacht.) Nach eurer Inter- schafft werden. Auch mein Gesuch an die Wegweisung. Diese Argumentation kann- viewanfrage habe ich mir überlegt, wa- Behörden wurde abgelehnt, obwohl te ich schon von anderen Personen ohne rum ich nicht dabei war. Bis mir in den Schild nach der Kirchenbesetzung ver- Aufenthaltsbewilligungen, z.B. versteck- Sinn kam, dass in dieser Zeit meine Toch- sprochen hatte, Härtefallgesuche anonym ten Kindern. ter geboren wurde und ich deshalb eine zu prüfen. Der Fall der Familie Estrada dreimonatige Auszeit genommen hatte. war auch darunter – und positiv beurteilt Ist das überhaupt legal? worden. Wie bist du auf den Fall der Familie Estra- Damals gab es entsprechende Bestim- da aufmerksam geworden? Mit welcher Begründung wurde dein Ge- mungen. Die Schweiz musste diese Praxis such abgelehnt? erst nach dem Anschluss ans Schengener Schon während meines Studiums habe Abkommen revidieren, das in jedem Fall ich mich im Rahmen von Praktika mit Wer sich illegal in der Schweiz auf- eine rekursfähige Abweisung erfordert. migrationsrechtlichen Fällen beschäftigt. halte und verbotenerweise arbeite, kön- Nach dem ersten Entscheid des Verwal- Deshalb trat ein engagierter Freund von ne keinen Härtefall geltend machen. Der tungsgerichtes reichte ich nochmals ein mir mit der Geschichte dieser Familie an Termin für die Ausschaffung stand bereits Gesuch um eine Härtefallbewilligung mich heran. fest, der Flug war gebucht. Ich rekurrierte ein, das aber wieder abgelehnt wurde. gegen den Entscheid und verlangte gleich- Dagegen reichte ich einen Rekurs ein. Was ist geschehen? zeitig dessen Aufschub. Meinen Rekurs begründete ich vor allem mit den bestens Wurde deinem Rekurs zumindest die auf- Nachdem die Töchter wegen eines integrierten Kindern, wie dies Lehrper- schiebende Wirkung zugestanden? geringfügigen Gesetzesverstosses von sonen und Mitschüler*innen bestätig- der Polizei aufgegriffen worden waren, ten. Die Kinder waren beliebt, lernten Gemäss einer informellen Zusicherung ersuchte die Familie um eine Aufenthalts- sehr gut Deutsch, und ihre Leistungen des Migrationsamtes erfolgt bei berech- bewilligung aus humanitären Gründen. waren beeindruckend. Trotzdem wurde tigten Härtefallgesuchen keine Ausschaf- Das Gesuch wurde vom Polizei- und mein Rekurs vom Verwaltungsgericht ab- fung. Nach Gesetz kann der Aufenthalt Rückgabe des Schlüssels der Antoniuskirche beim Umzug ins Oekolampad 9
in solchen Verfahren jedoch nur gewährt unter anderem eine Petition mit mehreren natürlich immer noch. Und wie gesagt, werden, wenn die Personen über eine Tausend Unterschriften ein, worauf sich die formlose Wegweisung wurde dank Adresse und ein Einkommen verfügen Erziehungsdirektor Christoph Eymann für Schengen abgeschafft. Nur: Die Einspra- und die Zulassungsvoraussetzungen die Familie einsetzte. Der Regierungsrat chefrist gegen die nun nötige Verfügung offensichtlich bestehen. Sans-Papiers stimmte schliesslich knapp für den Ver- beträgt gerade einmal fünf Tage! erfüllen zwar meistens die ersten bei- bleib der Familie. den Bedingungen, aber in beiden Fällen Wie ist es bei der Arbeitssituation? illegal. Das heisst, eine Strafverfolgung Das PMD dürfte dich geliebt haben … aufgrund von illegalem Wohnen und 2005 wurde das Bundesgesetz zur Be- Arbeiten ist trotz Härtefallbewilligung (Guido lacht.) Schild zeigte mich bei kämpfung der Schwarzarbeit eingeführt. möglich. Dieser Widerspruch besteht in der Anwaltskammer an. Es seien Blan- Das trifft insbesondere Männer, die zuvor etwas abgeschwächter Form bis heute und ko-Vollmachten in der Antoniuskirche häufig auf dem Bau Stellen fanden. Wegen wird von vielen Rechtsvertreter*innen verteilt und so illegal Werbung für mich der vielen Kontrollen finden Sans-Papiers beanstandet. gemacht worden – ein folgenloser Ein- heute in diesem Bereich kaum mehr Ar- schüchterungsversuch. beit. Das gilt nicht für Privathaushalte, Warum konnte die Familie Estrada wo vor allem Frauen tätig sind. schliesslich doch hier bleiben? Hat sich die Situation der Sans-Papiers inzwischen verbessert? Bestehen Hoffnungen, dass die Regulari- Die Stiftung Basler Münsterbauhüt- sierung von Sans-Papiers einfacher wird? te ersuchte um eine Arbeitsbewilligung Nicht wesentlich. Die Widersprüche für Julio Estrada. Der gelernte Schreiner sind geblieben und es gibt keine neuen Leider nein. Bisher wurden alle Anträ- hatte sich als ausgezeichneter Steinmetz Rechtsgrundlagen. Die einzige Besserung: ge zur Verbesserung abgewiesen und auch einen Namen gemacht. Dieses Gesuch Die Kriterien für eine Härtefallbewilli- die Kriterien nicht gelockert. Die letzte wurde ebenfalls abgelehnt, wie auch mein gung sind nun publiziert. Insbesondere Regularisierungswelle hatten wir Ende Rekurs, um den mich die Stiftung gebeten für Familien mit eingeschulten Kindern der Achtzigerjahre, als viele Geflüchtete hatte. Gleichzeitig wies das Appellations- ist ein Härtefallgesuch nun einfacher. Das aus Sri Lanka Aufenthaltsbewilligungen gericht auch den zweiten Rekurs ab: es Krankenkassenobligatorium gilt auch für erhielten. Wir müssen uns also auch in liege kein Härtefall vor. Dann protestier- Sans-Papiers. Damit ist deren gesund- Zukunft weiter dafür einsetzen. ten Lehrpersonen und Schüler*innen heitliche Versorgung etwas besser. Die des Gymnasiums Leonhard und reichten Angst, entdeckt zu werden, besteht aber Interview: Anne-Lise Hilty 2001, an der ersten Sitzung des Kollektivs wurde einstimmig beschlossen, dass Sans- Papiers ohne Masken und mit Namen vor die Öffentlichkeit treten werden. Diesen Mut bewundere ich noch heute. Damals hatte ich deswegen schlaflose Nächte. Es folgten Pressekonferenzen, Interviews mit Fotos und die Besetzung der Antoniuskirche. Das Medienecho war gross. Wir handelten als Kollektiv, mit und ohne Papiere. Die Politik wurde gezwungen, Stellung zu nehmen. Ich erinnere mich an Aufbruchstimmung und an viele Zeichen der Solidarität. Unvergesslich, wie wir aus den umliegenden Brockenhäusern Matratzen, Bettzeug, Geschirr und Pfannen in die Kirchenräume schleppten und grossartige Festessen auf den Elektroplatten kochten. Margrith von Felten Vor dem Kirchenasyl kannte ich Sans-Papiers nur aus der politischen Diskussion um illegalen Aufenthalt und Schwarzarbeit in der Öffentlichkeit und im Grossen Rat. Die Distanz und Arroganz von uns Schweizerinnen und Schweizern den Menschen gegenüber, die aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen, empörte mich damals und tut es auch heute noch. Beim Kochen und gemeinsamen Essen in der Antoniuskirche lernte ich einige dieser Menschen aus Südamerika und Afrika näher kennen. Ihre Geschichten, ihre Sorgen und Ängste berührten mich tief. Dass die Familie Estrada dank breiter Unterstützung der Bevölkerung schliesslich doch noch hier bleiben durfte, hat mich sehr glücklich gemacht. Von damals habe ich mitgenommen, dass sich gemeinsam kämpfen auch lohnen kann! Doris Gysin 10
Drei Zitate aus Papier Sans!Papiers, der Zeitung aus dem Kirchenasyl vor 20 Jahren «Wir wohnen ja alle bloss vorläufig auf dieser Erde. Früher oder später werden wir ausgewiesen in den Tod. Deshalb sollten wir den Leuten, die bei uns wohnen, das Leben wenigstens so weit erleichtern, dass wir sie aufnehmen in unsere staatliche Gemeinschaft.» Hansjörg Schneider, Schriftsteller «Sans-Papiers: Das Leben hängt am Papier. Wer es nicht hat, der existiert nicht. Zum Arbeiten braucht es kein Papier. Denjenigen, die keins haben, sagen wir Papierlose. Aber es sind Menschen. Wir missbrauchen sie. Und wenn wir sie nicht mehr miss- brauchen, dann schicken wir sie weg. Denn sie haben ja keine Papiere. Zum Glück haben wir Schweizer Papiere. Einen schönen Pass. Das unterscheidet uns von Papierlosen. Nichts weniger, nichts mehr. Ein kleiner Unterschied nur, aber einer, an dem das Leben hängt. Ein menschenwürdiges. Wie wenig kostet es uns, den Papierlosen ein Papier zu geben. Es sind Menschen wie wir, vergessen wir ihre Nöte und Schicksale nicht!» René Regenass, Schriftsteller «Ständig auf der Flucht! Leben im Versteck! Heimatlos! Familien auseinander- gerissen! Niemand kann sich in diese Menschen, welche ein solches Schicksal durch- leben müssen, hineinfühlen, der es nicht selber erfahren hat. Für solche Taten der Verzweiflung in der Not, für solches Leid und Trauer sollten nur noch Gesetze von Herzen der Liebe gelten.» Sabine Rasser, Schauspielerin, Schriftstellerin, Yogalehrerin Zeitung aus dem Kirchenasyl vor 20 Jahren 11
AUS DEM SCHATTEN TRETEN – TEIL 3 20 Jahre danach Das Kirchenasyl vor 20 Jahren hat das Leben der Beteiligten geprägt. Komi Aimé aus Togo, die Töchter der Familie Estrada und der Aktivist Hannes Reiser erzählen, wie es danach weiterging und was aus ihnen geworden ist. Hannes: Wir hatten dann später die wir waren froh, dass es vorbei war. End- Liliana: Meine Maturarbeit ging der Möglichkeit, Härtefallgesuche einzu- lich konnten wir wieder durchatmen, Frage nach: Warum ist meine Mutter aus- reichen. Zahlreiche Basler*innen enga- hatten Zeit und Ruhe. Wir gingen weiter gewandert? Woher kam sie, was waren gierten sich für die Eingabe der Dossiers. in die Schule, bereiteten uns auf die Ma- ihre Träume, woher hatte sie diese un- Schliesslich kamen auf diesem Weg 61 tura vor und begannen Pläne für unser glaubliche Kraft? Dann kam ich auf die Gesuche zusammen. Diese wurden im Leben zu schmieden. Ich fühle mich in der Frage, wer bin ich, was hat mich geprägt, März 2022 eingereicht. Leider bekamen Schweiz mega integriert. Manchmal wun- was ist jetzt mein Weg, in welcher Welt? über diese Dossiers nur 18 Personen eine dere ich mich, wenn Leute, die ich neu Heute lebe ich in Basel, habe eine Aus- Aufenthaltsbewilligung. Den anderen kennenlerne, statt zu fragen, wer ich bin bildung als Apothekerin gemacht und wurde eine Ausreisefrist gesetzt. Für uns oder was ich mache, sofort wissen wollen, arbeite bei Novartis in einer Abteilung, war klar, der Kampf geht weiter. Wir und woher ich so gut Deutsch kann oder ob die auf Medikamentenanalysen spezia- die Betroffenen wollten nicht aufgeben. meine Eltern bei Novartis arbeiten. Meine lisiert ist. Bei der Kirchenbesetzung war Andrea: Wir waren sehr enttäuscht. Maturarbeit hatte das Thema «Zurück zu ich 11 Jahre alt. Aber zum Glück ging es dann doch wieder den Wurzeln“. Es war eine Arbeit vor al- Hannes: Ich bin jetzt im Pensionsalter weiter. Mit dem Pfarrer Fritz Schneider, lem über Ecuador, meine Wurzeln. Diese und geniesse das stressfreie Leben. Ich Heidi Mück und Michael Rössler bildete Überlegungen waren mir wichtig. Heute mache noch einige Freiwilligenarbeit, sich das Komitee „Familie Estrada“. bin ich in einer Agentur für Kommunika- auch in der Begleitung und Unterstützung Hannes: Es beteiligten sich einige tion und Marketing in Zürich angestellt. von Menschen, die neu hier in Basel an- Persönlichkeiten aus verschiedenen poli- In diesem Bereich habe ich auch meinen kommen. tischen Lagern Basels. Schliesslich kam Master gemacht. Mein Herz klopft, wenn Komi: Wir sind trotz verschiedener es zu einer Sondersitzung des Regierungs- ich mich an die Zeit von damals erinnere. Wurzeln eine Familie geworden. Ich rates, der damals eine bürgerliche Mehr- Andrea: Das Erlebte prägte auch mei- habe mich später zum Sigrist und Dia- heit hatte. Zur Überraschung aller gab es ne Maturaarbeit. Ich machte eine Studie kon weitergebildet. Neben dieser Arbeit einen positiven Entscheid. Eure Familie über die Geschichte der Migrationspolitik in Pratteln bin ich seit zehn Jahren bei der konnte bleiben. Dies war ein wunderschö- in der Schweiz, über die Entwicklung der Aids-Hilfe Basel in der Präventionsgruppe ner Moment. Wir umarmten uns alle auf Migrationsgesetze und über den Hinter- tätig. Ich bin auch Sekretär der Union, dem Marktplatz. grund des „Drei-Kreise-Modells“, das einer selbst organisierten Gewerkschaft Komi: Bei mir ging es dann noch län- noch heute die Migrationspolitik prägt der Sans-Papiers. In Pratteln nehme ich ger, bis ich dank der Arbeit der Anlauf- und schlussendlich den Hintergrund da- teilweise auch die Aufgaben eines Pfarrers stelle eine humanitäre Bewilligung vom für bildet, dass es Sans-Papiers gibt. Dies wahr. Einmal in der Woche kommen die Kanton Basel-Landschaft bekam. Ich blieb hat mich später auf das Soziologie-Stu- Roma aus Rumänien zu uns, um ihre To- aber über die Jahre mit allen Engagierten dium gebracht und zu meinem heutigen ilette zu machen, um zu duschen und um in Kontakt und verhielt mich die ganze Beruf. Ich lebe in Bern und arbeite nun ein bisschen zu verschnaufen. Es wird ja Zeit sehr vorsichtig. So habe ich diese seit sechs Jahren im internen Consulting viel über diese Menschen diskutiert. Ich schwierige Zeit überlebt. und Coaching bei der Schweizer Post. werde auch in der Kirchgemeinde darauf Cristina: Mit dem positiven Entscheid Nach dem Studium in Soziologie und angesprochen und antworte dann, auch begann für uns eine sehr schöne Zeit. Das Wirtschaft spezialisierte mich auf Unter- ich hätte erfahren, wie es ist, nicht zu Kämpfen hatte uns schon sehr zugesetzt, nehmensentwicklung. Bei der Besetzung wissen, wo man übernachtet. Wir sind aber auch zusammengeschweisst. Aber der Antoniuskirche war ich 12 Jahre alt. alle eine Menschenfamilie. Zeitung der Anlaufstelle für Sans-Papiers Trägerorganisationen Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel Basels starke Alternative! (BastA!) Gewerkschaftshaus, Rebgasse 1, 4058 Basel Basler Gewerkschaftsbund (BGB) basel@sans-papiers.ch / www.sans-papiers.ch Comité européen pour la défense des réfugiés et immigrés (C.E.D.R.I) Tel. 061 681 56 10 / Fax. 061 683 04 22 Demokratische Juristinnen und Juristen Basel Europäisches BürgerInnenforum (EBF) IBAN: CH10 0900 0000 4032 7601 1 / Postkonto: 40-327601-1 Frauen für den Frieden Region Basel Gewerkschaftsbund Baselland (GBBL) Offene Sprechstunde ohne Anmeldung: Di 14-18 Uhr Interprofessionelle Gewerkschaft der ArbeiterInnen (IGA) Solidaritätsnetz Region Basel Redaktion: Anne-Lise Hilty, Fabrice Mangold, Hannes Reiser, Unia Aargau-Nordwestschweiz Komi Aimé Ofounou, Martin Flückiger, Ute Sengebusch VPOD Region Basel Gestaltung: Niklas Eggmann Druck: Rumzeis, Basel 12
Sie können auch lesen