SWR2 Glauben DAS ENDE DER SPIRITUELLEN TOLERANZ IN INDIEN?

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SWR2 Glauben
DAS ENDE DER SPIRITUELLEN TOLERANZ
IN INDIEN?
DER HINDU-NATIONALISMUS UND DIE RELIGIÖSEN
MINDERHEITEN
VON ULRICH PICK
SENDUNG 29.01.2017 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft

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Atmo: Indische Kirchenlieder

Union-Church – Kirche des Zusammenschlusses – so haben sie ihr
provisorisches Gotteshaus genannt. Rund 70 Personen, zumeist Frauen, feiern
hier am Rande der Ortschaft Raikja in der Kandhamal-Region des indischen
Bundesstaates Odisha regelmäßig Gottesdienst. Was sie vereint, sind
traumatische Erlebnisse als Mitglied einer religiösen Minderheit, sagt Pfarrer
Nalin Kantenaik, der die Gemeinde betreut:

Take 1: Hier wohnen ausschließlich Christen und zwar Christen, die ihre
ursprünglichen Dörfer verlassen haben, deren Familienmitglieder und
Verwandte attackiert und umgebracht wurden. Sie haben ihr Eigentum
verloren und sind daher sehr verängstigt.

Gerade zum Jahreswechsel werden ihre schrecklichen Erinnerungen wieder
wach. Denn Ende 2007 wurden sie Opfer gewalttätiger Hindu-
Fundamentalisten, die zur Hatz gegen Christen aufgerufen hatten.
Marodierend seien sie durch sein Dorf gezogen, erinnert sich Kartik Nayak.
Und selbst vor der Kirche hätten sie keinen Halt gemacht:

Take 2: Es war in der Weihnachtsnacht, und wir feierten gerade Gottesdienst.
Sie haben unsere Kirche angegriffen und komplett niedergebrannt.
Gleichzeitig attackierten sie das Gemeindehaus sowie zahlreiche private
Wohnhäuser. Sie haben alles geplündert.

Es habe ausgesprochen lange gedauert, bis die Polizei kam, berichtet Nayak.
Und als sie da war, habe sie den Mob sogar noch ermutigt weiterzumachen.
„Heute Nacht seid ihr frei, alles zu tun“ hieß es. 500 Häuser wurden zerstört.
Eine Frau kam ums Leben. Die meisten Christen flüchteten in die umliegenden
Wälder. Drei Tage lang harrten sie dort ohne Nahrung aus, bevor sie wieder in
ihre Dörfer zurückgingen. Seitdem lebten sie in permanenter Sorge, der Sturm
könne abermals losbrechen. Tatsächlich formierte sich ein gutes halbes Jahr
später der Mob aufs Neue. Anlass war der Mord am radikalen Hindu-Prediger
Swami Lakshmananda Saraswati. Der Geistliche gehörte dem
nationalistischen „Welt-Hindu-Rat“ an und hatte Christen öffentlich der
Missionierung bezichtigt. Nach den Auseinandersetzungen vom
Jahreswechsel und diesen Vorwürfen stand für viele Hindus sofort fest, dass
nur Christen die Tat begangenen haben konnten – berichtet ein Katholik, der
seinen Namen nicht nennen möchte:

Take 3: Nach den Attacken hieß es, dass es die Christen waren, die den
Hinduführer ermordet hätten. Zudem wurde die Propaganda verbreitet, dass,
wer sozusagen wahrer Hindu sei, jetzt auf die Straße kommen und Revanche
nehmen solle. Man müsse sich doch wehren.

Dieses Wehren allerdings war ein gezieltes Angreifen ohne irgendwelche
Rücksicht. Dabei wurden öffentliche wie private Einrichtungen von Christen

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bewusst angegriffen und zerstört. Zudem waren die Hindus in deutlicher
Überzahl, erklärt ein anderes Mitglied der Union-Church-Gemeinde:

Take 4: Es waren mehrere Hindus, die auf mich losstürmten. Sie prügelten auf
mich ein. Ich wurde am Kopf getroffen, verlor das Bewusstsein und stürzte zu
Boden. Da sie annahmen, ich sei tot, ließen sie mich liegen. Dann kamen sie
zurück, brachen in mein Haus ein, überschütteten die Möbel mit Kerosin und
zündeten alles an.

Ein Hauptziel der Attacken war es, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen
und sie damit zu entwürdigen. Denn die meisten Christen in der Region
gehören zu den Dalits, den sogenannten Unberührbaren, sowie den Adivasis,
den indigenen Stämmen – und befinden sich somit außerhalb des indischen
Kastensystems, was sie für strenge Hindus zu einer Art „Freiwild“ macht. Für
den Mord an Swami Lakshmananda Saraswati übernahmen relativ schnell
maoistische Aufständische die Verantwortung. Trotz dieses Bekenntnisses aber
wurden sieben christliche Männer festgenommen. Sie sitzen bis heute im
Gefängnis und warten noch immer auf ihre Verhandlung. Für den Unterhalt
ihrer Familien müssen seitdem die Ehefrauen sorgen:

Take 5: Ich habe fünf Kinder und es war so schrecklich, als sie meinen Mann
mitten in der Nacht abholten und ins Gefängnis brachten. Ich habe eine sehr
harte Zeit hinter mir. Ich musste arbeiten gehen, um die Kinder zu ernähren.
Jetzt sind sie groß, ich aber bin krank und das Arbeiten fällt mir sehr schwer.

Ihr Mann sei immer ein guter Christ gewesen und im Grunde zu einem Mord
gar nicht fähig, beteuert die weinende Frau, die als Mitglied der indigenen
Adivasis Tätowierungen am Arm hat und Ringe an Nasen und Ohren trägt. Als
Beweis für die Festnahme ihres Mannes reichte dem Gericht eine Axt aus, die
von der Polizei an einer Wand lehnend in ihrem Haus gefunden wurde. Einen
Anwalt können sich die meisten Familien der Festgenommenen nicht leisten.
Sie sind froh, wenn sie über die Runden kommen und haben sich
zurückgezogen. Denn sie fürchten, der Zorn der fanatischen Hindus könne
erneut losbrechen, sagt eine andere Ehefrau:

Take 6: Seit damals habe ich Angst vor Hindus. Nicht, dass alle Hindus schlecht
sind. Aber wer ist gut, wer ist böse? Seit den Erfahrungen von damals habe ich
kein Vertrauen mehr. Sie haben schlimme Sachen über uns Christen gesagt
und mir meinen Mann weggenommen.

Insgesamt dauerten die Gewalttätigkeiten gegenüber den Christen in der
ostinidischen Kandhamal-Region vier Tage lang. Wer sich den Umfang der
Zerstörung vor Augen führt, kommt nicht umhin von einem gezielten Pogrom
zu sprechen – so wie die Mitglieder der Menschenrechtsgruppe „Citizen for
Human Dignity and Development“ (CHDD). Zu ihr gehört auch Dibakar
Parichha, der als Rechtanwalt am höchsten Gericht im Bundesstaat Odisha
zugelassen ist.

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Take 7: Es wurden 101 Personen brutal umgebracht, wobei die Regierung
lediglich von 38 Toten spricht. 95 Kirchen wurden zerstört - größere und
kleinere. 177 christliche Geschäfte wurden angegriffen, geplündert oder
zerstört. 12 öffentliche Gebäude wurden attackiert. Insgesamt waren 56.000
Menschen betroffen, 28.000 davon lebten zeitweise in Flüchtlingslagern.

Musik

Die staatlichen Sicherheitskräfte, die sich bei den Auseinandersetzungen ein
halbes Jahr zuvor streckenweise hinter die hinduistischen Attentäter gestellt
hatten, verhielten sich diesmal neutral. Die Situation der christlichen Opfer
blieb aber ähnlich schlecht wie zuvor:

Take 8: Natürlich bin ich zur Polizei gegangen und habe Anzeige erstattet.
Dort hat man mich auch recht korrekt behandelt. An den gewaltsamen
Übergriffen gibt es ja auch nichts zu leugnen. Aber danach ist nichts passiert.
Das ist ein ganz unangenehmes Gefühl.

Sowohl die Polizei als auch die Behörden hätten nichts gegen Täter
unternommen, sagen die Opfer. Und eine Entschädigung hätten sie auch
nicht bekommen. Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung CHDD
sind von mehr als 300 angezeigten Fällen nur etwa 30 zur Anklage
gekommen. Für die Betroffenen, von denen viele ihre angestammten
Wohngebiete inzwischen verlassen haben, ist dies nur schwer zu ertragen:

Take 9: Natürlich hoffen wir noch zu unserem Recht zu kommen. Aber wenn
man sich die Situation anschaut, in der wir stecken, und dazu die politischen
Umstände, dann bin ich letztlich nicht so sicher. Denn weder die Regierung
noch die Mehrheit der Bevölkerung schenkt unserer Situation Aufmerksamkeit.

Auch wenn die derzeitige Situation in der Kandhamal-Region einen
weitgehend friedlichen Eindruck mache, sagen viele Christen, schwelten die
Spannungen weiter. Noch immer müsse man vor radikalen Hindus auf der Hut
sein, und ein kleiner Anlass könne möglicherweise wieder zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen führen. Die Bilder von einst jedenfalls hätten sich tief
eingegraben und seien nicht vergessen:

Take 10: Ich fühle mich noch immer unsicher. Besonders wenn ich Personen
sehe, die safrangelbe Kleidung tragen - wie damals die Angreifer - gerate ich
leicht in Panik.

Pfarrer Nalin Kantenaik, der die Mitglieder der Union-Church am Ortsrand von
Reikja betreut, kann die Lage seiner Gemeindemitglieder gut verstehen. Sie
haben bei den gewalttätigen Angriffen der Hindus ihre Familienangehörigen
ebenso verloren wie ihre Häuser und Ländereien. Zudem verließen sie ihre
angestammten Dörfer, weil sie dort keinen Frieden mehr finden konnten.
Denn sie mussten vielfach mit ansehen, wie sich ihre hinduistischen
Nachbarn, mit denen sie jahrelang ohne große Konflikte Tür an Tür lebten,
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den anti-christlichen Übergriffen ihrer radikalen Glaubensgeschwister
angeschlossen hatten. Für Pfarrer Nalin Kantenaik ist dies alles das Resultat
einer einseitigen Politik, von der religiöse Minderheiten nicht viel zu erwarten
haben:

Take 11: Noch immer wird den Christen ihr Land weggenommen. Und da die
Regierung nicht einschreitet und nichts geschieht, sind die Christen weiterhin
ängstlich. Ich bin sehr besorgt, weil die Regierung sich uns Christen
gegenüber völlig gleichgültig verhält. Wenn sie nur ein wenig Offenheit hätte
für die Bedürfnisse der Christen, würden wir uns erheblich sicherer fühlen.
Meiner Ansicht nach haben die Regierungen in unserem Bundesstaat wie in
Delhi versagt. Offiziell haben wir in Indien ein säkulares System, aber das steht
letztlich nur auf dem Papier. In Wirklichkeit ist davon nichts zu sehen.

Dass vom säkularen Charakter Indiens, für den vor allem der Name Mahatma
Gandhi steht, nichts mehr zu sehen ist, dürfte vielleicht übertrieben sein.
Gleichwohl hat sich das politische Klima des Landes in den vergangenen
Jahren – genauer gesagt: seit Mai 2014 – deutlich verändert. Seitdem nämlich
Ministerpräsident Narendra Modi und seine hindunationalistische BJP an den
Schalthebeln der Macht sind, hat sich die Situation für die religiösen
Minderheiten spürbar verschlechtert. Anstelle der vielgepriesenen indischen
Toleranz in Sachen Religion ist ein zunehmender Druck getreten – beobachtet
die Indien-Referentin des katholischen Hilfswerkes „Missio“, Bettina Leibfritz:

Take 12: Es herrscht eine wachsende Intoleranz gegen andere Religionen. Es
herrscht eine Atmosphäre der Unsicherheit und der Angst. Es werden Muslime
ermordet, mit dem Vorwurf, dass sie Rindfleisch verzehren oder mit Rindfleisch
handeln. Es werden junge Männer festgenommen - Muslime - unter dem
Vorwand des Terrorismus. Es werden christliche Nonnen vergewaltigt. Einige
davon schon in einem recht hohen Alter. Und Kapellen zerstört. Es gab eine
Anschlagsserie auf kirchliche Institutionen. Die offizielle Regierung schweigt
dazu meist. Und es gibt auch offizielle Regierungsvertreter, die in ihrer Rhetorik
genau in die gleiche Richtung zielen.

Dass religiös motovierte Gewalt in Indien zugenommen hat, beobachten
auch Menschenrechtsaktivisten. Zwar sei es im Bundesstaat Odisha und der
Kandhamal-Region mittlerweile deutlich ruhiger geworden, sagt Dibakar
Parichha von den „Citizen for Human Dignity and Development“. Doch mit
Blick auf das ganze Land habe sich die Lage seit dem Amtsantritt von
Ministerpräsident Modi spürbar verschlechtert.

Take 13: Seit die hindunationalistische BJP an der Regierung ist, haben wir
mehr als 500 gewalttätige Attacken gegenüber Minderheiten verzeichnet.
Diese Tendenz hält in unterschiedlichen Formen an. Über manche Fälle ist
berichtet worden - über manche aber auch nicht.

Musik

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Um die zunehmenden Attacken gegen religiöse Minderheiten in Indien zu
verstehen, lohnt es sich, die Person von Ministerpräsident Narendra Modi
sowie seinen politischen Hintergrund näher zu betrachten. Modis politische
Karriere begann 1971. Damals trat der 20jährige in die radikale
Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh ein. Der RSS ist das größte
Freiwilligenchor der Welt und vertritt einen hinduistischen Nationalismus. Damit
stellt er sich eindeutig gegen ein säkulares Staatsmodell für Indien, wie es von
Mahatma Gandhi vertreten wurde, sagt die Journalistin und
Menschenrechtsaktivistin Teesta Setalvat:

Take 14: Wenn Sie die Bewegung verstehen wollen, müssen Sie auf ihre
Internetseite gehen. Dort finden Sie das Buch "A Bunch of thoughts", das ihr
oberster Ideologe Golwalkar geschrieben hat. Und es gibt noch ein zweites
Buch "We or Our Nationhood Defined", das Gedankengut von Hitler und
Mussolini übernimmt. In diesen beiden Büchern kommt unmissverständlich ihre
Weltsicht zum Ausdruck. Die setzen definitiv auf Diskriminierung. Die Hindus
sind für sie Bürger erster Klasse. Muslime, Christen und Kommunisten hingegen
werden zu Feinden erklärt und es heißt: Wenn sie hier bleiben wollen, sind sie
Bürger zweiter Klasse.

Der RSS, dem auch der Mörder von Mahatma Gandhi angehörte, hat
geschätzte fünf bis sechs Millionen Mitglieder. Diese treffen sich täglich zu
paramilitärischen Übungen, bei denen körperliches Training ebenso auf dem
Programm steht wie ideologische Unterweisung. Als der politische Arm des RSS
gilt die Bharatiya Janata Party (BJP). In sie trat Modi 1985 ein. Bereits drei
Jahre später war er ihr Generalsekretär im indischen Bundesstaat Gujarat.
2001 wurde er dann zum Gouverneur von Gujarat gewählt. Bereits kurz nach
seinem Amtsantritt, Ende Februar 2002, kam es zu einem Ereignis, das das
Image Modis als Politiker nachhaltig geprägt hat: Das Eisenbahnattentat von
Godhra und die nachfolgenden Unruhen – erzählt Bettina Leibfritz:

Take 15: Die Unruhen waren eine Reaktion auf einen Brandanschlag, verübt
von Muslimen auf einen Zug, bei dem hinduistische Pilger ums Leben kamen.
Ungefähr 50, 60. Das hatte zur Folge, dass drei Monate lang vom Februar bis
April 2002 bis zu 2500 Muslime ermordet wurden in einem groß angelegten
Pogrom im ganzen Bundesstaat. Hunderttausende fliehen mussten. Und das
Schlimme ist, die Sachen sind bis heute nicht wirklich aufgearbeitet worden.

Menschenrechtsgruppen werfen Modi und seiner Regierung seither vor, eine
doppelbödige Politik zu betreiben. Zwar hätten sie die schweren Unruhen
formal bedauert, es aber nicht nur versäumt, die religiöse Minderheit der
Muslime zu schützen, sondern durch Tatenlosigkeit den blutigen
Ausschreitungen sogar noch Vorschub geleistet. Modi selbst wies stets alle
Beschuldigungen von sich, und ein Untersuchungsausschuss des Obersten
Verfassungsgerichts Indiens sprach ihn von jeglichem Fehlverhalten frei. Seine
Kritiker konnte dies nicht überzeugen. Denn Modi wurde aufgrund der Vorfälle
in Gujarat in den USA und zahlreichen europäischen Ländern mit einem
Einreiseverbot belegt. Nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin Teesta
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Setalvat haben seit Modis Wahl zum indischen Ministerpräsidenten im Mai
2014 dessen politische Methoden aus Gujarat Anwendung auf ganz Indien
gefunden: So verhielten sich der Premier und seine hindunationalistische BJP
offiziell zwar neutral, ja, sie sprächen sich sogar für Pluralismus aus. Gleichzeitig
aber würden sie fanatische Hindus aus den Reihen des RSS decken und ihnen
freie Hand bei ihren rassistischen Attacken lassen.

Take 16: Im Grunde ist es eine Ideologie, die auf Spaltung unter den
Menschen setzt. Sie tritt nicht für den Austausch und das Verbindende ein,
das gegenseitige Verstehen des Glaubens oder den interreligiösen Dialog. Sie
möchte, dass die tonangebende Mehrheit diejenigen verfolgt, die nicht auf
ihrer Linie ist.

Diese Ideologie wird landläufig als Hindu-Nationalismus bezeichnet – oder –
wie es offiziell heißt: Hindutva, erklärt die Indien-Referentin von „Missio“ Bettina
Leibfritz:

Take 17 Hindutva ist eine Lehre, die eine ideologische Engführung des
Hinduismus ist. Sie besagt eigentlich: Die Nation Indien soll nur für Hindus da
sein. Also alle Inder sollten Hindus sein. Für die Minderheiten heißt das konkret,
dass sie eigentlich nicht existieren sollten. Ein erklärtes Ziel einiger Politiker ist,
Indien bis 2021 frei von Muslimen und Christen zu haben. Das geschieht durch
Zwangskonversionen, durch Aufforderung, das Land zu verlassen oder auch
mit Hilfe von Pogromen.

Musik

Am Abend des 28. Septembers 2015 kam es im Dorf Dadri – rund 50 Kilometer
südöstlich der indischen Hauptstadt Delhi – zu einem denkwürdigen Vorfall:
Zwei Jungen hörten von Priestern im lokalen Hindutempel, die ortsansässige
muslimische Familie Akhilaq hätte eine Kuh geschlachtet, um ihr Fleisch am
islamischen Opferfest zu essen. Da die Kuh strengen Hindus als heilig gilt, und
die Regierung von Ministerpräsident Modi mehrfach den Verkauf und Verzehr
von Rindfleisch angeprangert hatte, beschlossen die beiden Jungen, gegen
die Akhilaqs vorzugehen. Und so trommelten sie nach dem Gottesdienst
Freunde und Nachbarn zusammen, mit denen sie dann zum Haus der
Akhilaqs zogen, um – wie sie sagten - Gerechtigkeit herzustellen. Das Resultat:
Vater Mohammad wurde getötet, Sohn Danish schwer verletzt und das
Gebäude ging in Flammen auf. Einige Tage später hieß es dann, die Akhilaqs
hätten gar kein Rindfleisch im Kühlschrank gehabt, sondern Hammelfleisch.
Präsident Modi schwieg vier Wochen lang zu den Ausschreitungen in Dadri.
Als er sich endlich äußerte, sprach er von einem „traurigen“ Vorfall. Unter
säkular gesinnten Indern wie dem Menschenrechtler Dhirendra Panda hat
sich für dieses Vorgehen inzwischen ein fester Begriff etabliert: Kuh-Politik:

Take 18: Als "Kuh-Politik" bezeichnet man die Propaganda der hindu-
nationalistischen Bewegung. In ihren Augen ist jeder, der Rindfleisch ist, ein
Gegner des hiesigen Staates und der hiesigen Kultur. Da die meisten Christen
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und Muslime Rindfleisch essen, gelten sie den Hindunationalisten als illoyal. In
Wirklichkeit aber essen auch Bramahnen in Kerala, also hochrangige Hindus,
Rindfleisch - ebenso wie die Kastenlosen und die Mitglieder der hiesigen
Stammesgesellschaften. Somit verbreiten die Hindunationalisten die
Unwahrheit und bringen falsche Beschuldigungen in Umlauf.

Die Ereignisse von Dadri sind kein Einzelfall. Mittlerweile gibt es bereits etliche
Fälle, in denen radikale Hindus Selbstjustiz gegen religiöse Minderheiten geübt
haben. Zudem führen Mitglieder des RSS und anderer fundamentalistischer
Organisationen regelmäßig Zeremonien durch, bei denen Christen oder
Muslime öffentlich zum hinduistischen Glauben geführt werden, erklärt
Bettina Leibfritz, die Indien-Referentin des katholischen Hilfswerkes „Missio“

Take 19: Das sind die sogenannten Ghar-Wapsi-Programme. Ghar-Wapsi
heißt: Heimkehr, Zurückkommen ins Zuhause. Es geht darum, gemäß der
Hindutva-Ideologie, dass eigentlich jeder Inder ein Hindu ist. Und fremde
Religionen wie der Islam oder das Christentum übergestülpt wurden und die
Leute sozusagen durch diese Zeremonien in ihr "wahres Zuhause"
zurückgeführt werden. Und so werden Hunderte von Menschen versammelt,
mit falschen Versprechungen gelockt oder bedroht. Und in einer
Reinigungszeremonie werden sie zum Hinduismus zurückgeführt

Besonders gefährlich ist für die Menschenrechtlerin Teesta Setalvat, dass
radikale Hinduorganisationen wie der RSS hierbei zu einem Glauben aufrufen,
den es in der von ihnen propagierten Reinform gar nicht gibt. Anders nämlich
als die Fanatiker glauben machen wollten, zeichne sich der Hinduismus nicht
durch feste Glaubenssätze aus sondern durch eine Vielfalt von spirituellen
Wegen:

Take 20: Nicht nur die Muslime, die Christen und die sogenannten
Unberührbaren - die Dalits - sind unter Druck. Es sind die Hindus selbst. Denn es
wird gesagt, es gebe nur die eine richtige Form von Hindu-Glauben. Das
stimmt aber nicht. Es existieren zahleiche Wege, um das Göttliche zu
erreichen. Es gibt kein definitives "richtig" oder "falsch". Mit dieser
hindunationalistischen Politik, die die Regierung letztlich vertritt, gerät alles
unter Druck: die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit der Kultur
und so weiter. Alles gerät unter Druck. Und die Muslims, die Christen und die
Dalits geraten besonders stark unter Druck.

Für Inder, die in einem weltoffenen und pluralistischen Staat leben möchten,
sind diese Entwicklungen nur schwer zu ertragen. Denn für sie verstößt die
hindunationalistische Politik von Ministerpräsident Modi gegen all das, wofür
die Unabhängigkeitsbewegung bei der Gründung des modernen Indiens
gekämpft hat – bedauert der katholische Erzbischof von Vasaj, Felix
Machado:

Take 21: Als wir unsere Verfassung geschrieben haben, wollten wir nicht, dass
die Sprache für Indien das Entscheidende ist. Wir wollten nicht, dass die
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Religion das Entscheidende ist. Wir wollten auch nicht, dass die
Volkszugehörigkeit das Entscheidende ist. Aber wir wollten wirkliche
Demokratie. Und nun müssen wir mit ansehen, wie Indien zu einem Land wird,
das mit einer speziellen Religion identifiziert werden soll. Das ist schon sehr
traurig.

Und noch etwas bereits Sorge. Diejenigen Kräfte, die sich für Demokratie und
soziale Belange einsetzen, geraten immer öfter unter Druck – weiß Bettina
Leibfritz:

Take 22: Die Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Wahrung der
Menschenrechte einsetzen, haben sehr viel schwierigere Arbeitsbedingungen
im Moment. Sie werden unter Druck gesetzt. Sie werden überwacht. Es
werden Auslandskonten eingefroren oder gesperrt, dass eben keine Mittel
mehr empfangen werden können für die Arbeit dieser
Menschenrechtsorganisationen. Greenpeace ist ein Beispiel dafür.

Dennoch glaubt die Indien-Referentin von „Missio“ nicht daran, dass sich die
hindunationalistische Politik der Regierung Modi auf Dauer etabliert. Zwar
hätten die religiösen Minderheiten zurzeit einen schweren Stand, langfristig
aber, so hofft sie, werde der Pluralismus Oberhand behalten.

Take 23: Also, was ich sehe: Dass es eigentlich nicht möglich ist, aus Indien
eine Monokultur zu machen. Indien besteht aus einer Vielzahl von Kulturen,
von Staaten, von Sprachen, und auch der Hinduismus ist nicht eine Religion.
Das sind verschiedenste religiöse Strömungen. Ich glaube eigentlich, dass es
gar nicht möglich ist, das durchzusetzen. Das ist meine Hoffnung.

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