SWR2 Glauben DAS ENDE DER SPIRITUELLEN TOLERANZ IN INDIEN?
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben DAS ENDE DER SPIRITUELLEN TOLERANZ IN INDIEN? DER HINDU-NATIONALISMUS UND DIE RELIGIÖSEN MINDERHEITEN VON ULRICH PICK SENDUNG 29.01.2017 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Atmo: Indische Kirchenlieder Union-Church – Kirche des Zusammenschlusses – so haben sie ihr provisorisches Gotteshaus genannt. Rund 70 Personen, zumeist Frauen, feiern hier am Rande der Ortschaft Raikja in der Kandhamal-Region des indischen Bundesstaates Odisha regelmäßig Gottesdienst. Was sie vereint, sind traumatische Erlebnisse als Mitglied einer religiösen Minderheit, sagt Pfarrer Nalin Kantenaik, der die Gemeinde betreut: Take 1: Hier wohnen ausschließlich Christen und zwar Christen, die ihre ursprünglichen Dörfer verlassen haben, deren Familienmitglieder und Verwandte attackiert und umgebracht wurden. Sie haben ihr Eigentum verloren und sind daher sehr verängstigt. Gerade zum Jahreswechsel werden ihre schrecklichen Erinnerungen wieder wach. Denn Ende 2007 wurden sie Opfer gewalttätiger Hindu- Fundamentalisten, die zur Hatz gegen Christen aufgerufen hatten. Marodierend seien sie durch sein Dorf gezogen, erinnert sich Kartik Nayak. Und selbst vor der Kirche hätten sie keinen Halt gemacht: Take 2: Es war in der Weihnachtsnacht, und wir feierten gerade Gottesdienst. Sie haben unsere Kirche angegriffen und komplett niedergebrannt. Gleichzeitig attackierten sie das Gemeindehaus sowie zahlreiche private Wohnhäuser. Sie haben alles geplündert. Es habe ausgesprochen lange gedauert, bis die Polizei kam, berichtet Nayak. Und als sie da war, habe sie den Mob sogar noch ermutigt weiterzumachen. „Heute Nacht seid ihr frei, alles zu tun“ hieß es. 500 Häuser wurden zerstört. Eine Frau kam ums Leben. Die meisten Christen flüchteten in die umliegenden Wälder. Drei Tage lang harrten sie dort ohne Nahrung aus, bevor sie wieder in ihre Dörfer zurückgingen. Seitdem lebten sie in permanenter Sorge, der Sturm könne abermals losbrechen. Tatsächlich formierte sich ein gutes halbes Jahr später der Mob aufs Neue. Anlass war der Mord am radikalen Hindu-Prediger Swami Lakshmananda Saraswati. Der Geistliche gehörte dem nationalistischen „Welt-Hindu-Rat“ an und hatte Christen öffentlich der Missionierung bezichtigt. Nach den Auseinandersetzungen vom Jahreswechsel und diesen Vorwürfen stand für viele Hindus sofort fest, dass nur Christen die Tat begangenen haben konnten – berichtet ein Katholik, der seinen Namen nicht nennen möchte: Take 3: Nach den Attacken hieß es, dass es die Christen waren, die den Hinduführer ermordet hätten. Zudem wurde die Propaganda verbreitet, dass, wer sozusagen wahrer Hindu sei, jetzt auf die Straße kommen und Revanche nehmen solle. Man müsse sich doch wehren. Dieses Wehren allerdings war ein gezieltes Angreifen ohne irgendwelche Rücksicht. Dabei wurden öffentliche wie private Einrichtungen von Christen 2
bewusst angegriffen und zerstört. Zudem waren die Hindus in deutlicher Überzahl, erklärt ein anderes Mitglied der Union-Church-Gemeinde: Take 4: Es waren mehrere Hindus, die auf mich losstürmten. Sie prügelten auf mich ein. Ich wurde am Kopf getroffen, verlor das Bewusstsein und stürzte zu Boden. Da sie annahmen, ich sei tot, ließen sie mich liegen. Dann kamen sie zurück, brachen in mein Haus ein, überschütteten die Möbel mit Kerosin und zündeten alles an. Ein Hauptziel der Attacken war es, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen und sie damit zu entwürdigen. Denn die meisten Christen in der Region gehören zu den Dalits, den sogenannten Unberührbaren, sowie den Adivasis, den indigenen Stämmen – und befinden sich somit außerhalb des indischen Kastensystems, was sie für strenge Hindus zu einer Art „Freiwild“ macht. Für den Mord an Swami Lakshmananda Saraswati übernahmen relativ schnell maoistische Aufständische die Verantwortung. Trotz dieses Bekenntnisses aber wurden sieben christliche Männer festgenommen. Sie sitzen bis heute im Gefängnis und warten noch immer auf ihre Verhandlung. Für den Unterhalt ihrer Familien müssen seitdem die Ehefrauen sorgen: Take 5: Ich habe fünf Kinder und es war so schrecklich, als sie meinen Mann mitten in der Nacht abholten und ins Gefängnis brachten. Ich habe eine sehr harte Zeit hinter mir. Ich musste arbeiten gehen, um die Kinder zu ernähren. Jetzt sind sie groß, ich aber bin krank und das Arbeiten fällt mir sehr schwer. Ihr Mann sei immer ein guter Christ gewesen und im Grunde zu einem Mord gar nicht fähig, beteuert die weinende Frau, die als Mitglied der indigenen Adivasis Tätowierungen am Arm hat und Ringe an Nasen und Ohren trägt. Als Beweis für die Festnahme ihres Mannes reichte dem Gericht eine Axt aus, die von der Polizei an einer Wand lehnend in ihrem Haus gefunden wurde. Einen Anwalt können sich die meisten Familien der Festgenommenen nicht leisten. Sie sind froh, wenn sie über die Runden kommen und haben sich zurückgezogen. Denn sie fürchten, der Zorn der fanatischen Hindus könne erneut losbrechen, sagt eine andere Ehefrau: Take 6: Seit damals habe ich Angst vor Hindus. Nicht, dass alle Hindus schlecht sind. Aber wer ist gut, wer ist böse? Seit den Erfahrungen von damals habe ich kein Vertrauen mehr. Sie haben schlimme Sachen über uns Christen gesagt und mir meinen Mann weggenommen. Insgesamt dauerten die Gewalttätigkeiten gegenüber den Christen in der ostinidischen Kandhamal-Region vier Tage lang. Wer sich den Umfang der Zerstörung vor Augen führt, kommt nicht umhin von einem gezielten Pogrom zu sprechen – so wie die Mitglieder der Menschenrechtsgruppe „Citizen for Human Dignity and Development“ (CHDD). Zu ihr gehört auch Dibakar Parichha, der als Rechtanwalt am höchsten Gericht im Bundesstaat Odisha zugelassen ist. 3
Take 7: Es wurden 101 Personen brutal umgebracht, wobei die Regierung lediglich von 38 Toten spricht. 95 Kirchen wurden zerstört - größere und kleinere. 177 christliche Geschäfte wurden angegriffen, geplündert oder zerstört. 12 öffentliche Gebäude wurden attackiert. Insgesamt waren 56.000 Menschen betroffen, 28.000 davon lebten zeitweise in Flüchtlingslagern. Musik Die staatlichen Sicherheitskräfte, die sich bei den Auseinandersetzungen ein halbes Jahr zuvor streckenweise hinter die hinduistischen Attentäter gestellt hatten, verhielten sich diesmal neutral. Die Situation der christlichen Opfer blieb aber ähnlich schlecht wie zuvor: Take 8: Natürlich bin ich zur Polizei gegangen und habe Anzeige erstattet. Dort hat man mich auch recht korrekt behandelt. An den gewaltsamen Übergriffen gibt es ja auch nichts zu leugnen. Aber danach ist nichts passiert. Das ist ein ganz unangenehmes Gefühl. Sowohl die Polizei als auch die Behörden hätten nichts gegen Täter unternommen, sagen die Opfer. Und eine Entschädigung hätten sie auch nicht bekommen. Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung CHDD sind von mehr als 300 angezeigten Fällen nur etwa 30 zur Anklage gekommen. Für die Betroffenen, von denen viele ihre angestammten Wohngebiete inzwischen verlassen haben, ist dies nur schwer zu ertragen: Take 9: Natürlich hoffen wir noch zu unserem Recht zu kommen. Aber wenn man sich die Situation anschaut, in der wir stecken, und dazu die politischen Umstände, dann bin ich letztlich nicht so sicher. Denn weder die Regierung noch die Mehrheit der Bevölkerung schenkt unserer Situation Aufmerksamkeit. Auch wenn die derzeitige Situation in der Kandhamal-Region einen weitgehend friedlichen Eindruck mache, sagen viele Christen, schwelten die Spannungen weiter. Noch immer müsse man vor radikalen Hindus auf der Hut sein, und ein kleiner Anlass könne möglicherweise wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Die Bilder von einst jedenfalls hätten sich tief eingegraben und seien nicht vergessen: Take 10: Ich fühle mich noch immer unsicher. Besonders wenn ich Personen sehe, die safrangelbe Kleidung tragen - wie damals die Angreifer - gerate ich leicht in Panik. Pfarrer Nalin Kantenaik, der die Mitglieder der Union-Church am Ortsrand von Reikja betreut, kann die Lage seiner Gemeindemitglieder gut verstehen. Sie haben bei den gewalttätigen Angriffen der Hindus ihre Familienangehörigen ebenso verloren wie ihre Häuser und Ländereien. Zudem verließen sie ihre angestammten Dörfer, weil sie dort keinen Frieden mehr finden konnten. Denn sie mussten vielfach mit ansehen, wie sich ihre hinduistischen Nachbarn, mit denen sie jahrelang ohne große Konflikte Tür an Tür lebten, 4
den anti-christlichen Übergriffen ihrer radikalen Glaubensgeschwister angeschlossen hatten. Für Pfarrer Nalin Kantenaik ist dies alles das Resultat einer einseitigen Politik, von der religiöse Minderheiten nicht viel zu erwarten haben: Take 11: Noch immer wird den Christen ihr Land weggenommen. Und da die Regierung nicht einschreitet und nichts geschieht, sind die Christen weiterhin ängstlich. Ich bin sehr besorgt, weil die Regierung sich uns Christen gegenüber völlig gleichgültig verhält. Wenn sie nur ein wenig Offenheit hätte für die Bedürfnisse der Christen, würden wir uns erheblich sicherer fühlen. Meiner Ansicht nach haben die Regierungen in unserem Bundesstaat wie in Delhi versagt. Offiziell haben wir in Indien ein säkulares System, aber das steht letztlich nur auf dem Papier. In Wirklichkeit ist davon nichts zu sehen. Dass vom säkularen Charakter Indiens, für den vor allem der Name Mahatma Gandhi steht, nichts mehr zu sehen ist, dürfte vielleicht übertrieben sein. Gleichwohl hat sich das politische Klima des Landes in den vergangenen Jahren – genauer gesagt: seit Mai 2014 – deutlich verändert. Seitdem nämlich Ministerpräsident Narendra Modi und seine hindunationalistische BJP an den Schalthebeln der Macht sind, hat sich die Situation für die religiösen Minderheiten spürbar verschlechtert. Anstelle der vielgepriesenen indischen Toleranz in Sachen Religion ist ein zunehmender Druck getreten – beobachtet die Indien-Referentin des katholischen Hilfswerkes „Missio“, Bettina Leibfritz: Take 12: Es herrscht eine wachsende Intoleranz gegen andere Religionen. Es herrscht eine Atmosphäre der Unsicherheit und der Angst. Es werden Muslime ermordet, mit dem Vorwurf, dass sie Rindfleisch verzehren oder mit Rindfleisch handeln. Es werden junge Männer festgenommen - Muslime - unter dem Vorwand des Terrorismus. Es werden christliche Nonnen vergewaltigt. Einige davon schon in einem recht hohen Alter. Und Kapellen zerstört. Es gab eine Anschlagsserie auf kirchliche Institutionen. Die offizielle Regierung schweigt dazu meist. Und es gibt auch offizielle Regierungsvertreter, die in ihrer Rhetorik genau in die gleiche Richtung zielen. Dass religiös motovierte Gewalt in Indien zugenommen hat, beobachten auch Menschenrechtsaktivisten. Zwar sei es im Bundesstaat Odisha und der Kandhamal-Region mittlerweile deutlich ruhiger geworden, sagt Dibakar Parichha von den „Citizen for Human Dignity and Development“. Doch mit Blick auf das ganze Land habe sich die Lage seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Modi spürbar verschlechtert. Take 13: Seit die hindunationalistische BJP an der Regierung ist, haben wir mehr als 500 gewalttätige Attacken gegenüber Minderheiten verzeichnet. Diese Tendenz hält in unterschiedlichen Formen an. Über manche Fälle ist berichtet worden - über manche aber auch nicht. Musik 5
Um die zunehmenden Attacken gegen religiöse Minderheiten in Indien zu verstehen, lohnt es sich, die Person von Ministerpräsident Narendra Modi sowie seinen politischen Hintergrund näher zu betrachten. Modis politische Karriere begann 1971. Damals trat der 20jährige in die radikale Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh ein. Der RSS ist das größte Freiwilligenchor der Welt und vertritt einen hinduistischen Nationalismus. Damit stellt er sich eindeutig gegen ein säkulares Staatsmodell für Indien, wie es von Mahatma Gandhi vertreten wurde, sagt die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Teesta Setalvat: Take 14: Wenn Sie die Bewegung verstehen wollen, müssen Sie auf ihre Internetseite gehen. Dort finden Sie das Buch "A Bunch of thoughts", das ihr oberster Ideologe Golwalkar geschrieben hat. Und es gibt noch ein zweites Buch "We or Our Nationhood Defined", das Gedankengut von Hitler und Mussolini übernimmt. In diesen beiden Büchern kommt unmissverständlich ihre Weltsicht zum Ausdruck. Die setzen definitiv auf Diskriminierung. Die Hindus sind für sie Bürger erster Klasse. Muslime, Christen und Kommunisten hingegen werden zu Feinden erklärt und es heißt: Wenn sie hier bleiben wollen, sind sie Bürger zweiter Klasse. Der RSS, dem auch der Mörder von Mahatma Gandhi angehörte, hat geschätzte fünf bis sechs Millionen Mitglieder. Diese treffen sich täglich zu paramilitärischen Übungen, bei denen körperliches Training ebenso auf dem Programm steht wie ideologische Unterweisung. Als der politische Arm des RSS gilt die Bharatiya Janata Party (BJP). In sie trat Modi 1985 ein. Bereits drei Jahre später war er ihr Generalsekretär im indischen Bundesstaat Gujarat. 2001 wurde er dann zum Gouverneur von Gujarat gewählt. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt, Ende Februar 2002, kam es zu einem Ereignis, das das Image Modis als Politiker nachhaltig geprägt hat: Das Eisenbahnattentat von Godhra und die nachfolgenden Unruhen – erzählt Bettina Leibfritz: Take 15: Die Unruhen waren eine Reaktion auf einen Brandanschlag, verübt von Muslimen auf einen Zug, bei dem hinduistische Pilger ums Leben kamen. Ungefähr 50, 60. Das hatte zur Folge, dass drei Monate lang vom Februar bis April 2002 bis zu 2500 Muslime ermordet wurden in einem groß angelegten Pogrom im ganzen Bundesstaat. Hunderttausende fliehen mussten. Und das Schlimme ist, die Sachen sind bis heute nicht wirklich aufgearbeitet worden. Menschenrechtsgruppen werfen Modi und seiner Regierung seither vor, eine doppelbödige Politik zu betreiben. Zwar hätten sie die schweren Unruhen formal bedauert, es aber nicht nur versäumt, die religiöse Minderheit der Muslime zu schützen, sondern durch Tatenlosigkeit den blutigen Ausschreitungen sogar noch Vorschub geleistet. Modi selbst wies stets alle Beschuldigungen von sich, und ein Untersuchungsausschuss des Obersten Verfassungsgerichts Indiens sprach ihn von jeglichem Fehlverhalten frei. Seine Kritiker konnte dies nicht überzeugen. Denn Modi wurde aufgrund der Vorfälle in Gujarat in den USA und zahlreichen europäischen Ländern mit einem Einreiseverbot belegt. Nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin Teesta 6
Setalvat haben seit Modis Wahl zum indischen Ministerpräsidenten im Mai 2014 dessen politische Methoden aus Gujarat Anwendung auf ganz Indien gefunden: So verhielten sich der Premier und seine hindunationalistische BJP offiziell zwar neutral, ja, sie sprächen sich sogar für Pluralismus aus. Gleichzeitig aber würden sie fanatische Hindus aus den Reihen des RSS decken und ihnen freie Hand bei ihren rassistischen Attacken lassen. Take 16: Im Grunde ist es eine Ideologie, die auf Spaltung unter den Menschen setzt. Sie tritt nicht für den Austausch und das Verbindende ein, das gegenseitige Verstehen des Glaubens oder den interreligiösen Dialog. Sie möchte, dass die tonangebende Mehrheit diejenigen verfolgt, die nicht auf ihrer Linie ist. Diese Ideologie wird landläufig als Hindu-Nationalismus bezeichnet – oder – wie es offiziell heißt: Hindutva, erklärt die Indien-Referentin von „Missio“ Bettina Leibfritz: Take 17 Hindutva ist eine Lehre, die eine ideologische Engführung des Hinduismus ist. Sie besagt eigentlich: Die Nation Indien soll nur für Hindus da sein. Also alle Inder sollten Hindus sein. Für die Minderheiten heißt das konkret, dass sie eigentlich nicht existieren sollten. Ein erklärtes Ziel einiger Politiker ist, Indien bis 2021 frei von Muslimen und Christen zu haben. Das geschieht durch Zwangskonversionen, durch Aufforderung, das Land zu verlassen oder auch mit Hilfe von Pogromen. Musik Am Abend des 28. Septembers 2015 kam es im Dorf Dadri – rund 50 Kilometer südöstlich der indischen Hauptstadt Delhi – zu einem denkwürdigen Vorfall: Zwei Jungen hörten von Priestern im lokalen Hindutempel, die ortsansässige muslimische Familie Akhilaq hätte eine Kuh geschlachtet, um ihr Fleisch am islamischen Opferfest zu essen. Da die Kuh strengen Hindus als heilig gilt, und die Regierung von Ministerpräsident Modi mehrfach den Verkauf und Verzehr von Rindfleisch angeprangert hatte, beschlossen die beiden Jungen, gegen die Akhilaqs vorzugehen. Und so trommelten sie nach dem Gottesdienst Freunde und Nachbarn zusammen, mit denen sie dann zum Haus der Akhilaqs zogen, um – wie sie sagten - Gerechtigkeit herzustellen. Das Resultat: Vater Mohammad wurde getötet, Sohn Danish schwer verletzt und das Gebäude ging in Flammen auf. Einige Tage später hieß es dann, die Akhilaqs hätten gar kein Rindfleisch im Kühlschrank gehabt, sondern Hammelfleisch. Präsident Modi schwieg vier Wochen lang zu den Ausschreitungen in Dadri. Als er sich endlich äußerte, sprach er von einem „traurigen“ Vorfall. Unter säkular gesinnten Indern wie dem Menschenrechtler Dhirendra Panda hat sich für dieses Vorgehen inzwischen ein fester Begriff etabliert: Kuh-Politik: Take 18: Als "Kuh-Politik" bezeichnet man die Propaganda der hindu- nationalistischen Bewegung. In ihren Augen ist jeder, der Rindfleisch ist, ein Gegner des hiesigen Staates und der hiesigen Kultur. Da die meisten Christen 7
und Muslime Rindfleisch essen, gelten sie den Hindunationalisten als illoyal. In Wirklichkeit aber essen auch Bramahnen in Kerala, also hochrangige Hindus, Rindfleisch - ebenso wie die Kastenlosen und die Mitglieder der hiesigen Stammesgesellschaften. Somit verbreiten die Hindunationalisten die Unwahrheit und bringen falsche Beschuldigungen in Umlauf. Die Ereignisse von Dadri sind kein Einzelfall. Mittlerweile gibt es bereits etliche Fälle, in denen radikale Hindus Selbstjustiz gegen religiöse Minderheiten geübt haben. Zudem führen Mitglieder des RSS und anderer fundamentalistischer Organisationen regelmäßig Zeremonien durch, bei denen Christen oder Muslime öffentlich zum hinduistischen Glauben geführt werden, erklärt Bettina Leibfritz, die Indien-Referentin des katholischen Hilfswerkes „Missio“ Take 19: Das sind die sogenannten Ghar-Wapsi-Programme. Ghar-Wapsi heißt: Heimkehr, Zurückkommen ins Zuhause. Es geht darum, gemäß der Hindutva-Ideologie, dass eigentlich jeder Inder ein Hindu ist. Und fremde Religionen wie der Islam oder das Christentum übergestülpt wurden und die Leute sozusagen durch diese Zeremonien in ihr "wahres Zuhause" zurückgeführt werden. Und so werden Hunderte von Menschen versammelt, mit falschen Versprechungen gelockt oder bedroht. Und in einer Reinigungszeremonie werden sie zum Hinduismus zurückgeführt Besonders gefährlich ist für die Menschenrechtlerin Teesta Setalvat, dass radikale Hinduorganisationen wie der RSS hierbei zu einem Glauben aufrufen, den es in der von ihnen propagierten Reinform gar nicht gibt. Anders nämlich als die Fanatiker glauben machen wollten, zeichne sich der Hinduismus nicht durch feste Glaubenssätze aus sondern durch eine Vielfalt von spirituellen Wegen: Take 20: Nicht nur die Muslime, die Christen und die sogenannten Unberührbaren - die Dalits - sind unter Druck. Es sind die Hindus selbst. Denn es wird gesagt, es gebe nur die eine richtige Form von Hindu-Glauben. Das stimmt aber nicht. Es existieren zahleiche Wege, um das Göttliche zu erreichen. Es gibt kein definitives "richtig" oder "falsch". Mit dieser hindunationalistischen Politik, die die Regierung letztlich vertritt, gerät alles unter Druck: die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit der Kultur und so weiter. Alles gerät unter Druck. Und die Muslims, die Christen und die Dalits geraten besonders stark unter Druck. Für Inder, die in einem weltoffenen und pluralistischen Staat leben möchten, sind diese Entwicklungen nur schwer zu ertragen. Denn für sie verstößt die hindunationalistische Politik von Ministerpräsident Modi gegen all das, wofür die Unabhängigkeitsbewegung bei der Gründung des modernen Indiens gekämpft hat – bedauert der katholische Erzbischof von Vasaj, Felix Machado: Take 21: Als wir unsere Verfassung geschrieben haben, wollten wir nicht, dass die Sprache für Indien das Entscheidende ist. Wir wollten nicht, dass die 8
Religion das Entscheidende ist. Wir wollten auch nicht, dass die Volkszugehörigkeit das Entscheidende ist. Aber wir wollten wirkliche Demokratie. Und nun müssen wir mit ansehen, wie Indien zu einem Land wird, das mit einer speziellen Religion identifiziert werden soll. Das ist schon sehr traurig. Und noch etwas bereits Sorge. Diejenigen Kräfte, die sich für Demokratie und soziale Belange einsetzen, geraten immer öfter unter Druck – weiß Bettina Leibfritz: Take 22: Die Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenrechte einsetzen, haben sehr viel schwierigere Arbeitsbedingungen im Moment. Sie werden unter Druck gesetzt. Sie werden überwacht. Es werden Auslandskonten eingefroren oder gesperrt, dass eben keine Mittel mehr empfangen werden können für die Arbeit dieser Menschenrechtsorganisationen. Greenpeace ist ein Beispiel dafür. Dennoch glaubt die Indien-Referentin von „Missio“ nicht daran, dass sich die hindunationalistische Politik der Regierung Modi auf Dauer etabliert. Zwar hätten die religiösen Minderheiten zurzeit einen schweren Stand, langfristig aber, so hofft sie, werde der Pluralismus Oberhand behalten. Take 23: Also, was ich sehe: Dass es eigentlich nicht möglich ist, aus Indien eine Monokultur zu machen. Indien besteht aus einer Vielzahl von Kulturen, von Staaten, von Sprachen, und auch der Hinduismus ist nicht eine Religion. Das sind verschiedenste religiöse Strömungen. Ich glaube eigentlich, dass es gar nicht möglich ist, das durchzusetzen. Das ist meine Hoffnung. Musik 9
Sie können auch lesen