Tod für Lula! Brasiliens Oberschicht bläst zum Angriff - Rationalgalerie

Die Seite wird erstellt Petra Böttcher
 
WEITER LESEN
Tod für Lula!
Brasiliens Oberschicht bläst zum Angriff

Autor: Wolf Gauer
Datum: 03. September 2015

Während ich dies schreibe, lärmt ringsum wieder einmal das Protestritual des
satten brasilianischen Bürgertums, der ?panelaço?: Man schleppt sich nach dem
Dinner auf den Balkon und klappert mit Töpfen, die ansonsten nur das Personal
in die Hände kriegt. Vorzugsweise dann, wenn sich Präsidentin Dilma Vana
Rousseff im Fernsehen an die Nation wendet. Brasiliens Begüterte wollen nicht,
was Rousseff will. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich, keine Landreform,
keine Armen im Flugzeug, keine Schwarzen in der Universität. Sie wollen den
alten Staat der ?Eliten?, der ihre Privilegien verwaltet. Nicht den der
Arbeiterpartei, der in zwölf Jahren 70 der 200 Millionen Brasilianer ein
Bankkonto verschafft hat. Sie verzeihen Rousseffs knappen Wahlsieg im
Oktober 2014 so wenig wie die New York Times oder die deutschen
Parteistiftungen.

Was schert die Töpfetrommler die so mühsam nach der Militärdiktatur
(1964?1985) eingeübte Demokratie und die trotz vieler Mängel beachtliche
soziale Besserung? Brasiliens Eintreten für den ?Mercosur?, für Solidarität mit
Kuba und Venezuela, für die lateinamerikanische Integration und für eine
grundsätzlich multipolare Weltordnung? Vergessen wir nicht: Das infantile
Blechgebimmel wurde von chilenischen Großagrariern aufgebracht und läutete
ab 1971 den blutigen Coup des Kissinger-Pinochet-Faschismus gegen die
gewählte sozialistische Regierung Allende ein, später auch die US-gesponserten
Putschversuche gegen Präsident Hugo Chávez Frías in Venezuela. Tod für Lula

Im Schatten der NATO-Kriegstreiberei in Europa erlebt Brasilien eine völlig
neue, deutlich maidan-mäßig synchronisierte Hasskampagne einschließlich
erster tätlicher Ausschreitungen und Rechtsbeugungen. Sie richten sich gegen
die Präsidentin, gegen ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, gegen die
Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und gegen unbequeme Linke aller

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
1|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
Couleur. ?Ein Phänomen?, wie selbst der frühere, rechtslastige
Wirtschaftsminister Luiz Carlos Bresser Pereira zugibt, ?das ich nie in Brasilien
gesehen habe. Ein plötzlicher, kollektiver Hass der Oberschicht, der Reichen, auf
eine Partei und eine Präsidentin. Nicht Besorgnis oder Angst, sondern Hass.
Hass, weil da zum ersten Mal eine Mitte-links-Regierung ist, die auch links
geblieben ist. Sie hat Kompromisse gemacht, sich aber nicht ausgeliefert [...].
Hass, weil die Regierung eine starke und klare Präferenz für die Arbeiter und die
Armen gezeigt hat.? (Folha de São Paulo, 1.3.15, Übs. u. alle ff.: WG).Obwohl auch
Brasiliens Konjunktur schwächelt, ist die Beschäftigungslage immer noch gut
und die Konsumversorgung die beste meiner bislang 41 Jahre in Brasilien. Trotz
der Blockierung aller sozial fortschrittlichen Gesetzesvorlagen durch die
Oppositionsparteien und trotz der erwähnten Kompromisse mit den
Rechtskonservativen. Ex-Präsident Lula konnte diesen am 1. Mai
wahrheitsgemäß vorhalten: ?Niemals haben Industrie und Banken so gut
verdient wie in den Jahren der PT-Regierung.?

Dennoch durchlöcherte am 30. Juli ein Sprengkörper das Tor seines ?Instituto
Lula?, das sich für soziale Inklusion in Lateinamerika und Afrika einsetzt.
Indessen versuchen Länderstaatsanwaltschaften, Bundesrichter, Bundespolizei
und der Bundesrechnungshof Lula und Rousseff persönlich mit den
Korruptionsvorwürfen um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in
Verbindung zu bringen. Und die Hetztruppe ?Morte ao Lula? (?Tod für Lula?,
4000 Mitglieder) kann auf Googles Facebook ungehindert zu Gewalt und Mord
motivieren. ?Warum haben sie dich nicht aufgehängt?? fragen Transparente in
Anspielung auf die Folterungen der jungen Dilma Rousseff während der
Militärdiktatur.

Coup der Konzernmedien

Die Präsidentin ist weitgehend entmachtet, ihre parlamentarische
Unterstützung dahin. Ihre Neun-Parteien-Koalition (?Kraft des Volkes?) vom
Oktober 2014 zerbröselt. Teils wegen des zunehmend kapitalorientierten,
technokratischen Kurses ihrer Regierung, teils aus pragmatischem, medial
verwertbarem Ärger über die Rückfälle einiger PT-Kader in die traditionelle
Korruptionskultur, ironischerweise aber aufgedeckt vom Justizapparat der
PT-Regierung. Die Schuldigen wurden verurteilt und sitzen in Haft ? ein Novum.

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
2|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
Die großen rechts-sozialdemokratischen Oppositionsparteien PMDB und PSDB
bestimmen heute die parlamentarische Szene. Ihr zentraler und hysterisch
nachgebeteter Vorwurf der ?Korruption? hinderte sie selbst nicht daran, am 27.
Mai ungeniert die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmerspenden zu
legalisieren. Eine unflätige und nur mit deutschen Verhältnissen vergleichbare
Medienkampagne gibt Rückenwind. Etwa fünf bourgeoise Familienkonzerne
bestimmen, was die Brasilianer zu denken haben. Rezept: täglich drei
diskreditierende Nachrichten über Rousseff, Lula und PT, je eine über China und
Wladimir Putin. Folglich lehnen 71 Prozent der Bevölkerung die Präsidentin ab ?
laut Befragung durch Institute derselben Medienzaren. Der spanische
Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet stuft die ?mediale Schlacht?, den
?Medien-Coup?, als wichtigstes Kennzeichen der aktuellen
lateinamerikanischen Auseinandersetzungen ein. Private Medienkonzerne
übernehmen die Funktion der rechtskonservativen Parteien, sobald es gegen
die Linke geht.

Zermürbung der Präsidentin

Der gegenwärtige Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB)
koordiniert und fanatisiert Rousseffs parlamentarische Demontage, die auf
Amtsenthebung beziehungsweise Selbstaufgabe abzielt. Er kommt aus dem
äußerst berüchtigten Dunstkreis des ehemaligen Präsidenten Fernando Collor,
der 1992 wegen Korruption und einer Rekordinflation von 1200 Prozent
zurücktreten musste. Cunha setzte danach auf die wachsende
parlamentarische Präsenz der einflussreichen evangelikalen Sekten Brasiliens
und vertritt heute deren machtpolitische und finanzielle Interessen. Wegen
passiver Bestechung in Höhe von mindestens fünf Millionen US-Dollar wackelt
sein Stuhl, der Bundesanwalt plädiert auf 180 Jahre Haft. Im Gegenzug bedroht
Cunha die Präsidentin damit, dass er jederzeit elf Amtsenthebungs-Anträge
seiner Gesinnungsgenossen auf die Tagesordnung setzen könne, sollte man
ihm auf die Pelle rücken. Er ist niveautypisch für den mittlerweile
sozialdemokratisch beherrschten Kongress. Hinter Rousseff stehen lediglich
noch die kommunistische PCdoB (357000 Mitglieder), die sozialistische PSB und
die traditionelle Arbeiterpartei PDT, der Dilma Rousseff selbst entstammt.

Frei Betto (Bruder Betto), Dominikaner und Befreiungstheologe, Weggefährte

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
3|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
und Berater von Fidel Castro und Ex-Präsident Lula, glaubt angesichts des
Drohszenarios nicht an ein Amtsenthebungsverfahren: ?Es gibt kein Motiv
dafür [...]. Selbst wenn Dilma persönlich weitere drei Jahre aushalten würde,
fürchte ich eher, dass sie aufgibt? (Brasil 247,10.8.15). Folgerichtig konzentriert
die Rechte ihr Feuer zunehmend auf den proletarischen Altpräsidenten Lula. Er
nämlich könnte 2018 wieder zur Wahl antreten, und seine Wähler sind die ?70
Millionen?, die nicht vergessen haben, wer ihnen einen Vorschuss auf
Umverteilung und gesellschaftliche Inklusion ermöglicht hat.

Washingtons langer Arm

Nicht alle Fäden werden in Brasilien gesponnen. Eine Senatskommission unter
Führung von Rousseffs Wahlgegner Aécio Neves (PSDB) reiste im Juni nach
Venezuela, um sich mit den politischen ?Opfern? der Regierung Maduro zu
solidarisieren. Wasserträger der USA, die sich sowohl in Washington als auch in
der EU profilieren wollen. Der kühle, aber korrekte Empfang in Venezuela geriet
in den ?atlantischen? Medien zu einer Bedrohung von Leib und Leben: ?Brazil
senators flee Venezuela attack? (Brasilianische Senatoren flüchten vor
venezolanischer Attacke, BBC, 19.6.15).Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen
US-amerikanische Politiker und regierungsnahe Institutionen, Brasilien als
?Schurkenstaat? mit nuklearen Ambitionen zu etikettieren. Sie können dabei
auf hiesige Sympathisanten zählen, laut Insidern auch in den drei Gewalten:
Am 28. Juli erfolgte überraschend die Inhaftierung des Vizeadmirals a.D.,
Ingenieurs und Wissenschaftlers Othon Luiz Pinheiro da Silva (76). Dem
mittlerweile pensionierten Militär und nur noch privatwirtschaftlich tätigen
Wissenschaftler und Energiemanager wird Korruption vorgeworfen, der Erhalt
von 4,5 Millionen US-Dollar vonseiten eines bekannt ?generösen? Baukonzerns.
Ein Vorwurf, dessen Klärung andere Beschuldigte in Freiheit abwarten können.
Da Silva ist immerhin eine Symbolgestalt brasilianischer Eigenständigkeit und
Selbstachtung, kein Joseph Blatter, seine Inhaftierung eine offene
Machtdemonstration gegenüber Brasiliens linker, US-kritischer Regierung. Er
dirigierte seit 1978 mit viel Geschick und Beharrlichkeit die autonome
Nuklearforschung des Landes, die nicht auf die Bombe abzielt, sondern auf den
Bau nuklearer U-Boot-Antriebe und Kleinkraftwerke. Gegen den ständigen
Widerstand der USA und mit bemerkenswerten technischen Lösungen, vor
allem beim Bau neuartiger Zentrifugen zur Urananreicherung. Da Silva hatte die

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
4|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
besondere Unterstützung von Präsident Lula, der dagegen US-amerikanische
Pläne einer Raketenabschussbasis im Staat Maranhão und eines
Marinestützpunkts in Rio de Janeiro abgelehnt hatte. Die New York Times
bejubelt die Festnahme ?of that figure? und verleumdet den Admiral als
?Vordenker? eines ?geheimen nuklearen Militärprogramms in den 70er und
80er Jahren? (NYT, 28.7.15).

Admiral da Silvas Inhaftierung erinnert an die Anfänge der brasilianischen
Nukleartechnologie in den 1950er Jahren, die sich auf die reichhaltigen
Thoriumvorkommen in Amazonien stützte. Brasilien hatte damals in der (noch
weniger als heute souveränen) BRD erste Zentrifugen geordert, die bei der
Verladung in Göttingen und Hamburg von den Alliierten beschlagnahmt
wurden. Der damals federführende Wissenschaftler Álvaro Alberto, ebenfalls
Admiral, wurde auf US-Druck gezwungen, das eigenständige und
wissenschaftlich brillante Nuklearprogramm Brasiliens einzustellen.

Admiral da Silvas Verhaftung ist auch deshalb brisant, weil er energisch den
Bau der von Siemens/KWU und Areva/AN gelieferten Kernkraftwerke Angra II
und Angra III vorangetrieben hatte. Angra I war dagegen noch aus den USA
bezogen worden. Sein tatsächliches Verbrechen ist, dass er, obwohl Absolvent
des elitären US-amerikanischen Technologieinstituts MIT, nicht vor dem
Imperium kuschte.Brasilien ist der ganz große Happen, der längst wegen seiner
BRICS-Zugehörigkeit, wegen seiner enormen Reserven an Agrarfläche,
Süßwasser, Sonneneinstrahlung, Öl, Mineralien und Arbeitskraft auf der
imperialen Abschussliste steht. Die innenpolitische Krise, die Gewissenlosigkeit
und politische Unbildung breiter, ökonomisch saturierter Wählerkreise und
ihrer parlamentarischen Vertreter, animieren zum Komplott von rechts. Erste
landesweite Demonstrationen wenden sich aber inzwischen dagegen. Rund
200000 Menschen skandierten am 20. August ?es gibt keinen Coup?, ?Cunha
raus? und ?Dilma bleibt?. Sie repräsentieren das Volk: 24 Prozent mit einem
Einkommen unter 500 und 5 Prozent über 5000 Euro, insgesamt 49 Prozent
afrobrasilianischen Ursprungs.

Sollte die brasilianische Linke dennoch scheitern, ist ganz Lateinamerika
binnen kurzem wieder Hinterhof der USA. Das BRICS-Bündnis verlöre seinen
einzigen Partner in dieser Hemisphäre und der ärmere Teil der Welt einen

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
5|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
unersetzlichen Helfer und Hoffnungsträger.

Erschienen in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft,
Heft 17/2015

      Quelle: http://www.rationalgalerie.de/tod-fuer-lula.html
6|6
      Heruntergeladen am 26.09.2018
Sie können auch lesen