AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV

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AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
Hinter den
       Kulissen der
       Saftindustrie

AUSGEPRESST
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
IMPRESSUM

                              Herausgeberin:
                              Christliche Initiative Romero e.V. (CIR)
                              Schillerstraße 44a
                              48155 Münster
                              Tel: 02 51 / 67 44 13 - 0
                              Fax: 02 51 / 67 44 13 - 11
                              cir@ci-romero.de | www.ci-romero.de
                              Redaktion:
                              Sandra Dusch Silva (V.i.S.d.P.),
                              Daisy Ribeiro, Peter Knobloch
                              Lektorat:
                              Dietmar Damwerth
                              Übersetzung:
                              Christian Russau
                              Gestaltung, Layout,
                              Infografiken, Illustrationen:
                              Marco Fischer – grafischer.com
                              Druck:
                              COS Druck & Verlag GmbH
                              Houbirgstraße 20, 91217 Hersbruck
                              © 2018
                              Gedruckt auf 100% Recyclingpapier.

                              Die Studie wurde mit finanzieller Unterstützung der Europäi­
                              schen Union und von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des
                              BMZ ermöglicht. Für den Inhalt der Veröffentlichung ist allein
                              die Christliche Initiative Romero verantwortlich; der Inhalt
                              kann in keiner Weise als Standpunkt von Engagement Global
                              gGmbH, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­
                              menarbeit und Entwicklung oder der EU angesehen werden.

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
INHALT

Vorwort .................................................................................................................................... 5
Die Lieferkette im Überblick: Von der Plantage ins Glas .................................................. 6
1 – DER ANBAU..................................................................................................................                                     8
      Der Preis für die Orangen................................................................................................................                     10
      Saftkartell bestraft...........................................................................................................................               13
      Arbeiten beim Zulieferer..................................................................................................................                    14
      Streik beim Zulieferer.......................................................................................................................                 16
      Neue Gesetze...................................................................................................................................               20
      Pflanzenkrankheit „Greening“........................................................................................................                          22
      Agrargiftweltmeister........................................................................................................................                  23
      Bienensterben...................................................................................................................................              24

2 – DIE HERSTELLER.......................................................................................................... 26
      Cutrale................................................................................................................................................ 27
      Citrosuco............................................................................................................................................ 35
      Louis Dreyfus Company (LDC)....................................................................................................... 41

3 – DIE ABFÜLLER.............................................................................................................. 46
      Coca-Cola .........................................................................................................................................           47
      Pepsico ...............................................................................................................................................       48
      Fruchtsaft-Weltmeister....................................................................................................................                    49
      Eckes-Granini.....................................................................................................................................            51
      Refresco..............................................................................................................................................        54
      Riha-Wesergold.................................................................................................................................               55
      Valensina............................................................................................................................................         56
      Beckers Bester...................................................................................................................................             56
      Hassia-Gruppe..................................................................................................................................               57
      Pfanner...............................................................................................................................................
                                                                                                                                             58
      Verpackung und Umwelt................................................................................................................. 58

4 – DER HANDEL................................................................................................................ 60
      Wertschöpfungskette in Zahlen ....................................................................................................                            63
      Edeka .................................................................................................................................................       63
      Rewe...................................................................................................................................................       66
      Aldi......................................................................................................................................................    68
      Lidl.......................................................................................................................................................   70

5 – DER KONSUM.............................................................................................................. 72
      Siegel, Zertifikate & Co.................................................................................................................... 73
      Was können Sie als Konsument*in tun?......................................................................................... 79

FORDERUNGEN AN POLITIK UND HANDEL................................................................. 80
Quellenverzeichnis............................................................................................................... 82
Über uns ................................................................................................................................... 84
Bestellschein............................................................................................................................ 85
                                                                                                                                                                             INHALT

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                                                                                      3
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
Foto: M. Fischer

     4             Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
Vorwort                                                Evaluierungen von Arbeits-, Sozial- und Um-
                                                       weltstandards multinationaler Konzerne in
                                                       Brasilien. Die ausführlichen und ergebnisof-
                                                       fenen Interviews wurden mit Arbeiter*innen
                                                       und Expert*innen im Hauptanbaugebiet von
                                                       Orangen für die industrielle Saftproduktion
                                                       geführt, dem Bundesstaat São Paulo und an-
                                                       grenzende Nachbarstaaten.
                                                            Zusätzlich zu den Primärquellen – Ein-
                                                       zelinterviews mit Arbeiter*innen und ihren
                                                       Gewerkschaftsvertreter*innen – dienen als Se-
                                                       kundärquellen Auskünfte von Unternehmen
                                                       und Industrie, Behörden beziehungsweise
                                                       Informationen von Fachverbänden, Handels-
                                                       presse und Universitäten. Zur Forschungs-
                                                       strategie: Die Untersuchung konzentriert sich
                                                       auf Fallbeispiele von Arbeiter*innen und auf
                                                       jene Fälle, die von Gewerkschaften oder von
                                                       der Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeitsrecht
                                                       verfolgt wurden. Sie beleuchtet neben allge-

D
          ie vorliegende Studie zeigt, wie der         meinen Vergehen, die mit Bußgeldbeschei-
          Orangensaft in die Regale hiesiger           den geahndet werden, insbesondere den Tat-
          Supermärkte und Discounter kommt             bestand der sklavenähnlichen Arbeit.
– angefangen beim Anbau der Frucht bis zum                  Unser besonderer Dank gilt allen Perso-
Marketing des Safts. Forschungsergebnisse              nen, die zu dieser Arbeit beigetragen haben:
aus Brasilien und Europa beleuchten Proble-            den Arbeiter*innen, die uns ihre Geschich-
me, die die Lebensmittelhändler gerne verber-          ten anvertraut haben, den Gewerkschafts­
gen würden: Abhängigkeit und Ausbeutung.               führer*innen, Universitätsexpert*innen und
Im Visier stehen die Safthersteller Cutra-             NGO-Vertre­ter­* innen, die uns mit ihrem
le, Citrosuco und Louis Dreyfus Company                Wissen unterstützt haben. An dieser Stelle ge-
(LDC) sowie die wichtigsten Abfüllbetriebe in          nannt seien: Articulação dos Empregados Ru-
Europa.                                                rais do Estado de Minas Gerais (Adere-MG),
     Die Studie verfolgt einen qualitativen            Tie Brasil, Movimento dos Trabalhadores
Forschungsansatz. Die Beschreibung der                 Sem-Terra (MST), Federação dos Empregados
Arbeitsbedingungen und die Identifizierung             Rurais Assalariados do Estado de São Paulo
von Umweltproblemen bei der Saft-Herstel-              (Feraesp/SP), Sindicato dos Empregados Ru-
lung basieren auf Feldstudien, die von der             rais de Duartina (SER Duartina), Sindicato
Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000                   dos Trabalhadores e Empregados Rurais de
und der Christlichen Initiative Romero (CIR)           Piratininga (STER Piratininga), Sindicato dos
in Brasilien durchgeführt wurden sowie einer           Trabalhadores nas Indústrias de Alimentação
2017 im Auftrag der CIR erstellten Studie von          e Afins de Mogi Mirim e Região (Stiaamm)
Repórter Brasil. Das Recherche-Team kon-               und Sindicato dos Trabalhadores e Emprega-
zentriert sich auf die Untersuchungen und              dos Rurais de Bauru (STR Bauru).
                                                                                                            VORWORT

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                     5
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
Die Lieferkette im Überblick:
    VON DER PLANTAGE INS GLAS

                      1

                                                                   2

    TRANSPORT
    UM DIE WELT

                                                                   3

Die wichtigsten Stufen:
1 DER ANBAU               ab S. 8

                                                                  4
2 DIE HERSTELLER          ab S. 26
3 DIE ABFÜLLER            ab S. 46
4 DER HANDEL              ab S. 60
5 DER KONSUM              ab S. 72                               SUPERKAUF

                      5
6                     Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
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D
          ie Ursprünge der Orange reichen                           werden für andere Produkte verwendet, wie
          4.000 Jahre zurück und liegen ver-                        etwa für ätherische Öle oder Pellets als Vieh-
          mutlich in Südostasien, genauer im                        futter. An dieser Stelle teilt sich der weitere
heutigen China. Davon zeugt auch, dass in                           Verarbeitungsprozess, je nachdem, ob Frucht-
vielen Sprachen die Frucht als Apfel aus Chi-                       saft oder Saftkonzentrat hergestellt wird.
na (Apfelsine) bezeichnet wird. Im Mittelalter                           Fruchtsaft (Not from concentrated –
brachten die Araber die Orange schließlich                          NFC) wird zur besseren Haltbarkeit kurz er-
nach Europa. Nach Amerika gelangte sie bei                          hitzt (pasteurisiert) und passiert eine Entlüf-
einer der Expeditionen von Christoph Kolum-                         tungsanlage, um den gelösten Sauerstoff zu
bus um das Jahr 1500. Dabei fanden die Pflan-                       entziehen und Vitamine vor der Oxidation
zen in Brasilien bessere Bedingungen vor als                        zu schützen. Für die Herstellung von Frucht-
in ihrer Ursprungsregion. Ein Drittel aller                         saftkonzentrat wird dem Saft das Wasser
Orangen sowie über die Hälfte des weltweit                          durch Vakuum-Verdampfung entzogen und
konsumierten Orangensaftes stammen heute                            auf etwa ein Fünftel bis ein Sechstel des Ur-
aus Brasilien.1                                                     sprungvolumens eingedampft. Die dabei ent-
     Saftorangen gehören zu speziellen                              weichenden flüchtigen Aromastoffe werden
Fruchtsorten, die auf hohen Saftgehalt hin                          aufgefangen. Dieses Konzentrat wird dann
gezüchtet wurden. Dazu zählen: Hamlin,                              auf bis zu -18 °Celsius tiefgefroren. In dieser
Westin, Rubi, Pera, Valencia, Natal und Folha                       Form (Frozen Concentrated Orange Juice –
Murcha. Diese reifen zu verschiedenen Zei-                          FCOJ) hält das Konzentrat bis zu 18 Monate.
ten, sodass sich die Erntezeit in Brasilien                         Nach einer Untersuchung des brasilianischen
von Juli bis Januar erstreckt. Da die einzel-                       Orangensaftsektors benötigt die Produktion
nen Früchte nicht alle zur gleichen Zeit reif                       von einer Tonne FCOJ (in der handelsübli-
sind, müssen sie weitgehend von Hand ge-                            chen Qualität von 66 °Brix) durchschnittlich
erntet werden. Werden die Orangen zu früh                           238 Kisten Orangen (rund 9700 kg).2 Um
gepflückt, schmeckt der Saft sauer. Pflück-                         das ganze Jahr über einen gleichbleibenden
reife Orangen sind nicht notwendigerweise                           Geschmack zu halten, werden verschiedene
orangefarben, denn die Farbe entwickelt sich                        Saftsorten während und nach der Herstel-
erst nach vielen kälteren Nächten bei etwa 5                        lung zu unterschiedlichen Anteilen gemischt.
°Celsius. In Brasilien sind die Nächte nicht                        Über spezielle Gefriercontainer werden die
so kühl, deshalb bleiben die Orangen zum                            Säfte in LKWs gepumpt und zum Hafen von
größten Teil eher grün oder gelb. Auch grüne                        Santos transportiert, hier ebenfalls in speziel-
Orangen können bereits reif und süß genug                           le Schiffe verladen und exportiert.
für Saft sein.                                                           Nach der Ankunft in Europa wird das
     In den Fabriken werden zunächst Proben                         Fruchtsaftkonzentrat auf das ursprüngliche
von den eintreffenden Orangen genommen                              Volumen rückverdünnt und ggf. die Pulpa
und im Labor auf Qualität, Säuregehalt und                          wieder zugesetzt. Zur besseren Haltbarkeit
Dichte/Süße (Grad Brix) überprüft. Danach                           wird der Saft durch kurzes Erhitzen auf 85
werden die Orangen gewaschen, nach Grö-                             °Celsius pasteurisiert, abgefüllt und gelangt
ßen sortiert und gepresst. Da die Schale nicht                      so in den Einzelhandel. FCOJ wird auch für
mitgepresst werden darf, muss jede Orange                           die Herstellung anderer Getränke wie Limo-
einzeln gepresst werden. Das Fruchtfleisch                          naden oder Nektar verwendet.
                                                                                                                                        LIEFERKETTE IM ÜBERBLICK

(Pulpa) wird zerkleinert und tiefgefroren.
Auch die Schale und weitere feste Abfallstoffe
1 Vgl. Neves, Marcos: O retrato da Citricultura Brasileira, 2010:   2 Vgl. Neves, Marcos/ Trombin, Gustavo et. al.: Food and Fuel
S. 29-32.                                                           – The example of Brazil, 2011: S. 99 ff.

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AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
1   DER ANBAU
Foto: Emese Gulyás (TVE)

    8                           Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
D
          ie weltweite Produktion von Orangen Kaffee sind auch Orangen ein sehr arbeitsin-
          belief sich in den vergangenen Jah- tensives Agrarprodukt.5
          ren mit kleineren Schwankungen auf            Der Orangensektor in Brasilien ist hoch
rund 50 Millionen Tonnen.1 Brasilien hat mit effizient; angefangen von den Gärtnereien für
rund einem Drittel den weltweit größten An- Setzlinge, über den Anbau bis hin zur Pro-
teil an der Produktion, gefolgt von China und duktion und den internationalen Vertrieb von
den USA. Nur ein geringer Teil der in Brasi- Saft in seinen verschiedensten Ausführungen
lien geernteten Orangen wird im Land selbst mittels ausgefeilter Massengutlogistik für den
als Frucht konsumiert. Der Großteil geht in Konsum in Europa, Amerika und Asien.6
die Saftproduktion. 95 Prozent des
Saftes werden exportiert. Es gibt drei              VENEZUELA

                                                                                         GUYANA
                                                                                  F. GUYANA
                                                                       SUR
                                                                           INA
große Familienunternehmen, die 80         KOLUMBIEN
                                                                               M
                                                                                                     ATLANTISCHER
                                                                                                     OZEAN
Prozent der globalen Saftproduktion                          Roraima                Amapá

auf sich vereinen:       Cutrale (S. 27),
   Citrosuco (S. 35) und Louis Drey-
                                                      Amazonas                   Pará              Maranháo       Ceará      Rio Grande
fus Company, kurz LDC (S. 41).                                                                                               do Norte

                                                                                                                              Paraíba
      Im Jahr 2016 wurden in Brasi-                                                                      Piauí
                                                                                                                            Pernambuco
                                             Acre
lien 73,3 Prozent aller Orangen in                                                                                            Alagoas

                                                                                           Tocantins                        Sergipe
der Region in und um den Bundes-                         Rondônia
                                                                      Mato Grosso                            Bahia

staat São Paulo gepflückt.2 Die Re-       PERU
                                                                                         BRASILIA

gion, einschließlich des westlichen                   BOLIVIEN                         Goiás
Teils des Bundesstaates Minas Ge-                                                                  Minas Gerais
                                                          PAZIFISCHER

                                                                        Mato Grosso                                Espirito Santo
rais, Triângulo Mineiro, ist die mit                                    do Sul
                                                                                         São Paulo                Rio de Janeiro
Abstand wichtigste Anbauregion in
                                                          OZEAN

                                                                 PARA-
                                                                     GUAY          Paraná
Brasilien. 3 Deutlich über 90 Pro-
zent der Saftproduktion (FCOJ und                                                       Santa Catarina

NFC) kommen von hier.4 Seit den            CHILE
                                                    ARGENTINIEN
                                                                              Rio Grande
                                                                              do Sul
70er Jahren wird der Orangenanbau
in der Region intensiviert, nachdem                                  URUGUAY

Fröste und Krankheiten, insbeson-
dere Kaffeerost, die dortigen Kaffeeplantagen Rund 200 Millionen Orangenbäume liefern im
flächendeckend vernichteten. Orangen boten Bundesstaat São Paulo die Rohstoffe für die
sich seinerzeit als Alternativen besonders an: Saftproduktion. Weitere wichtige Orangen­
                                                  anbaugebiete in Brasilien sind der Nordwesten
Zum einen passten Klima und Bodenbeschaf- des Bundesstaates Paraná, das Triângulo Mineiro
fenheit, zum anderen waren auch genügend im Bundesstaat Minas Gerais sowie der Norden
billige Arbeitskräfte vorhanden. Denn wie des Bundesstaates Bahia.
1 2016/17 49.3 Millionen Tonnen. Vgl. United States Depart-
ment of Agriculture, The Foreign Agricultural Service, https://             Die Produktivität pro Hektar hat sich in
apps.fas.usda.gov/psdonline/circulars/citrus.pdf S.1 (Zugriff:
05.03.2018).
                                                                        den vergangenen Jahren deutlich erhöht: Lag
2 Vgl. Produktionsstatistik „Produção Agrícola Municipal                der landesweite Durchschnitt im Jahr 1990
2016”, Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE):
https://sidra.ibge.gov.br/tabela/1613 (Zugriff 06.03.2018).
                                                                        noch bei 380 Kisten je Hektar, waren es 2010
3 Wenn im Folgenden von der Region São Paulo die Rede ist,
schließt dies in der Regel auch diese Produktionsgebiete mit ein.       5 Vgl. Borges, Claudia / Costa, Vera: A Evolução do Agro-
4 Vgl. United States Department of Agriculture, The Foreign             negócio Citrícola Paulista e o Perfil da Intervenção do Estado.
Agricultural Service, Gain Report Nr. BR17004, 2017 https://            Revista Uniara, n. 17/18, 2005/2006: S. 101 -102. http://www.
gain.fas.usda.gov/Recent%20GAIN%20Publications/                         revistarebram.com/index.php/revistauniara/article/view/270
Citrus%20Semi-annual_Sao%20Paulo%20ATO_Bra-                             (Zugriff: 06.03.2018).
zil_6-9-2017.pdf: S.2 (Zugriff: 05.03.2018).                            6 Vgl. Neves, Marcos / Trombin, Gustavo et. al, 2011: S. 10.
                                                                                                                                              DER ANBAU

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AUSGEPRESST - Hinter den Kulissen der Saftindustrie - Christliche Initiative Romero eV
?
                                                                                                                        >
                                                                   Nach Angaben der Arbeiter*innen enthält ein
                                                                   Großsack 20 Kisten Orangen á 40,8 kg (siehe
     Die Pflücker*innen sammeln Orangen in diesen                  rechts). Die verantwortlichen Vorarbeiter veran­
     Großsäcken. Foto: CIR                                         schlagen hingegen nur etwa 17–18 Kisten.

     bereits 475 Kisten.7 Aus den Daten des US-                    Orangen, die in der Saftindustrie verarbeitet
     amerikanischen Landwirtschaftsministeri-                      werden, wächst auf unternehmenseigenen
     ums (U.S. D­ epartment of Agriculture) lassen                 Plantagen. Ein weiteres Drittel liefern Ver-
     sich für das Wirtschaftsjahr 2017/18 gar 781                  tragsbäuerinnen und -bauern, meist zu festen
     Kisten je Hektar errechnen, für die Region                    Abnahmepreisen. Das verbleibende knappe
     São Paulo sogar 905 Kisten. Dies ist allerdings               Drittel wird auf dem freien Markt erworben,
     in erster Linie auf eine höhere Baumdichte                    in der Regel zu niedrigeren Preisen.10
     zurückzuführen. Der Ertrag pro Baum hängt                          Die Preisvolatilität für Orangensaft ist
     vor allem von klimatischen Bedingungen ab                     sehr hoch, Weltmarktpreise für Konzentrat
     und schwankt erheblich. Zwischen 1988/89                      (FCOJ) können je nach jährlicher Produkti-
     und 2009/10 lag die Spanne in der Regi-                       onsmenge und Beständen erheblich schwan-
     on São Paulo zwischen 69 kg und 124 kg je                     ken. Allein zwischen Januar 2001 und Juli
     Baum.8 Für 2017/2018 wird der Wert auf 85                     2007 stieg der Preis, der in Europa für eine
     kg pro Baum geschätzt.9                                       Tonne FCOJ gezahlt wurde, von 712 US-Dol-
                                                                   lar (579 Euro)11 auf 2.230 US-Dollar (1.813
                                                                   Euro).12 Aktuell liegt der Tonnenpreis zwi-
     DER PREIS                                                     schen 2.100 und 2.400 US-Dollar (1.707 und
     FÜR DIE ORANGEN
     Verkauft werden die Orangen in Kisten á
     40,8 kg. Orangenproduzenten erzielen beim                     10 Vgl. Neves, Marcos/ Trombin, Gustavo et. al.: Food and Fuel
     Verkauf ihrer Früchte an die Saftindustrie ge-                – The example of Brazil, 2011: S. 109.
                                                                   11 1 Euro = 1,23 Dollar Wechselkurs vom 12.03.2018 für die
     nerell geringere Preise als beim Verkauf für                  gesamte Studie: https://www.finanzen.net/devisen/dollarkurs
     den heimischen Markt. Ein gutes Drittel der                   (Zugriff: 12.03.2018).
                                                                   12 Vgl. Neves, Marcos/ Trombin, Gustavo/ Kalaki, Rafael:
                                                                   Competitiveness of the Orange Juice Chain in Brazil. Internati-
     7 Vgl. ebenda: S. 46.                                         onal Food and Agribusiness Management Review, Volume 16,
     8 Vgl. ebenda: S. 60.                                         Special Issue 4, 2013: S. 151. https://www.ifama.org/resour-
     9 Vgl. United States Department of Agriculture, The Foreign   ces/Documents/v16i4/Neves-Trombin-Kalaki.pdf (Zugriff:
     Agricultural Service, Gain Report Nr. BR17004, 2017, S.3.     06.03.2018).

10                                Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
Produktionskosten der Orangen
                                           Durchschnittliche Produktionskosten je Box
                                            á 40,8 kg auf betriebseigenen Plantagen

                                                                                                       Real           Euro*
                        Löhne, Betriebsausgaben, Schutzkleidung, Leiharbeit                            2,65           0,68
                        Pestizide, Herbizide + Dünger (organisch, mineralisch,                         3,54           0,91
                        Bodenzusätze)
                        Pflegemaßnahmen und andere Kosten                                              0,70           0,18
                        Gesamtkosten an den Bäumen                                                     6,89           1,78
                        Ernte (Löhne, Betriebsausgaben, Schutzkleidung,                                3,00           0,78
                        Leiharbeit)
                        Transport zur Fabrik, Abgaben                                                  2,04           0,53
                        Beratung                                                                       0,23           0,06
                        Kosten Gesamt (bis zur Fabrik)                                                12,16           3,14

                       * In dieser Studie beziehen wir uns auf den Wechselkurs von Dezember 2017 1 Euro = 3,87 Real
                        https://www.finanzen.net/devisen/euro-real-kurs/historisch (Zugriff: 07.03.2018).

1.951 Euro).13 Im Mai 2011 kam es zu einem                       sich LDC eines Tricks. Bei der Anlieferung
erheblichen Preisabfall, nachdem zwei gute                       der Orangen bemängelte LDC deren Qualität.
Produktionsjahre vorausgegangen waren, in                        Diese wird anhand des Säuregehalts im Saft
denen sich auch die Lagerbestände deutlich                       bestimmt. Wird ein bestimmter Säuregrad
anhäuften. Die Folge war ein massiver Oran-                      überschritten, können Preisminderungen ge-
gen-Überschuss. Die Industrie hatte nicht                        fordert werden. Auf diese Weise hat LDC zehn
nur 40 Prozent Eigenproduktion, sondern                          Prozent vom Preis einbehalten. Von der Straf-
auch noch zusätzlich Orangen auf Lager. Die                      zahlung waren über 300 Lieferant*innen be-
Saftproduzenten nahmen so den Bäuerinnen                         troffen.14 Für die falschen Angaben zur Quali-
und Bauern ihre Orangen nicht vollständig                        tät der Früchte wurde LDC verurteilt.
ab, sodass diese knapp die Hälfte der Ernte                           Die Produktionskosten für eine Kiste
wegwarfen oder an Schulen verschenkten. Bei                      Orangen lag in der Saison 2014/15 bei 3,14
anderen Rohwaren wie Kaffee oder Kakao be-                       Euro. Dies berechnete die Vereinigung der
sitzt die verarbeitende Industrie in der Regel                   Zitrusfarmer in Brasilien (Associtrus) ausge-
keine eigenen Plantagen. Somit besteht dort                      hend von einer Besatzdichte von 400 Bäu-
auch anders als bei Orangen nicht die Gefahr,                    men pro Hektar. Pestizide und Herbizide
dass sie mit ihrer Eigenproduktion die Preise                    werden genauso wie Düngemittel in großem
der Bäuerinnen und Bauern unterbietet.                           Maßstab eingesetzt. Sie sind der größte Kos-
     LDC hatte bereits vor der Ernte 2011 ei-                    tenfaktor bei der Produktion und betragen
nen Abnahmepreis von etwa drei Euro pro                          fast ein Drittel der Gesamtkosten. Da klei-
Kiste ausgehandelt. Da aber der Weltmarkt-                       nere Produzenten bei der Beschaffung eine
preis unter diese Marge fiel, bemächtigte                        schlechtere Verhandlungsposition haben als
                                                                 die großen Akteure der Saftindustrie, haben
13 Vgl. Neves, Marcos Revista Coopercitrus, Juli 2017, S. 14     sie für einzelne Inputfaktoren höhere Kosten
(http://www.coopercitrus.com.br/index.php?pag=revista&p
=home&edicao=369, (Zugriff: 06.03.2018) / CBI - Centre for
                                                                 zu tragen. Der Zwang zur ständigen Produkti-
the Promotion of Imports from developing countries from the
Ministry of Foreig Affairs (Netherlands)                         14 Vgl. Notícias Agrícolas: Entrevista com Fábio Mes-
https://www.cbi.eu/market-information/processed-fruit-vege-      quita Ribeiro,11.05.2012. https://www.youtube.com/
tables-edible-nuts/citrus-juices/ (Zugriff: 06.03.2018).         watch?v=1cTLKN50WR8 (Zugriff: 06.03.2018).
                                                                                                                                   DER ANBAU

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                                           11
vitätssteigerung bei gleichzeitiger Einhaltung
     geltender Arbeits- und Sozialstandards hat in                    Aufgliederung
     den vergangenen Jahren zu einer deutlichen                       der Orangen-
     Konzentration innerhalb der Orangenproduk-
     tion geführt: Der Anteil der Großproduzenten                     produzenten
     ist gestiegen. Obwohl knapp 90 Prozent der                       nach der Zahl
     im Orangenanbau tätigen Betriebe von Klein-
     produzenten bewirtschaftet werden, besitzen
                                                                      ihrer Bäume
     sie nur rund ein Fünftel der Bäume. In den                       (1. Halbjahr 2016*)
     80er und 90er Jahren gab es noch fünf Mil-
     lionen Bäuerinnen und Bauern. Doch schon
     1995 gab es nur noch 35.879 Betriebe.                              Alle Produzenten in Brasilien
          Kleinproduzenten, die Früchte an die
     Industrie verkaufen, müssen teilweise zehn
     Tage auf einen LKW warten, dann erneut drei                      9.093             1.062               165
     Tage vor den Werkstoren stehen, bis ihnen                        Klein-            mittel-             Groß-
     die Früchte abgenommen werden. Wenn es                           pro-              große               produ-
     dann Mängel an der Ware gibt, wird ein Ra-                       duz.              Produz.             zenten
     batt von zehn Prozent gefordert oder der Preis                   (bis              (20.000 bis         (über
     neu verhandelt beziehungsweise gesetzt. Für                      20.000            200.000             200.000
                                                                      Bäume)            Bäume)              Bäume)
     die kleinen Produzenten sind das ungleiche
     Kräfteverhältnis, die Intransparenz sowie                        88,1 %             10,3 %               1,6 %
     der niedrige Preis die zentralen Probleme
     auf dem Markt. Wie beschrieben nutzen die
     Saftfabriken bevorzugt Orangen aus der eige-
     nen Produktion auch als Druckmittel, um die
     Preise niedrig zu halten. Allein zwischen 2013
     und 2016 wuchs die von Cutrale direkt bewirt-
     schaftete Fläche um 20 Prozent. Gleichzeitig                  18,4 %             34,2 %                 47,4 %
     ging der Aufkauf von Orangen von unabhän-
     gigen Produzenten, um 38,5 Prozent zurück.
     Bei Louis Dreyfus stieg die Eigenproduktion
                                                                       Alle Orangenbäume in Brasilien
     zwischen 2013 und 2016 um zehn Prozent,
     während der Kauf bei Dritten um 23,5 Prozent
     sank.15                                                          * Vgl. Coordenadoria de Defesa Agropecuária
                                                                      do Estado de São Paulo, zusammengetragene
                                                                      Daten der Zitruskulturen des Bundesstaats São
                                                                      Paulo https://www.defesa.agricultura.sp.gov.
                                                                      br/www/gdsv/index.php?action=dadosCitricul
                                                                      turaPaulista (Zugriff: 06.03.2018).

     15 Diese Daten wurden von einer parlamentarischen Untersu-
     chungskommission (Parlament des Bundesstaates São Paulo),
     die im Jahr 2017 vom Landesparlament zur Untersuchung der
     Kartellbildung des Sektors eingesetzt worden war, erhoben.
     Obwohl das Vorgehen von Citrosuco von der parlamentarischen
     Untersuchungskommission untersucht wurde, antwortete die
     Firma nicht auf deren Fragen nach Größe der eigenen Produk-
     tion und Volumen der Käufe von Zulieferern. Vgl. Abschluss-
     bericht der Untersuchungskomission Alesp http://www.al.sp.
     gov.br/repositorio/arquivoWeb/com/com4932.pdf (Zugriff:
     06.03.2018).

12                               Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie
SAFTKARTELL                                                     gens der kleinen und mittleren Produzenten
                                                                voran.17 Ab 2012 wurde die Schaffung eines
BESTRAFT                                                        paritätisch besetzten Organs – Consecitrus
Im November 2016 unterzeichnete die bra-                        – diskutiert, welches den an der ganzen Wert-
silianische Bundeskartellbehörde (Conselho                      schöpfungskette der Orangenproduktion und
Administrativo de Defesa Econômica – Cade)                      -verarbeitung beteiligten Firmen ein Diskus-
ein Abkommen mit den großen Orangenpro-                         sions- und Austauschforum bieten würde. Im
duzenten des Landes, das die Zahlung einer                      Juni 2015 schlugen Orangenproduzenten der
Strafe in Höhe von 301 Millionen Real (rund                     Industrie einen Regelsatz vor, der den Oran-
84 Millionen Euro) wegen Kartellbildung                         gensaftfirmen zugestünde, 40 Prozent eigene
beim Kauf von Orangen vorsah. Unterzeich-                       Orangen zu verarbeiten, und sie verpflichte,
net wurde die Übereinkunft zur Strafzahlung                     die restlichen 60 Prozent von unabhängi-
unter anderem von den Firmen Cutrale, Cit-                      gen Produzenten zu beziehen. Die Industrie
rosuco und Coinbra – gehört heute zu Louis                      lehnte den Vorschlag ab. Im September 2017
Dreyfus in Brasilien.16                                                              entschied die Kartellbe-
     Die Firmen gestan-                                                              hörde, das Organ aufzu-
den ihre Teilhabe an der                                                             lösen, da es dort zwischen
untersuchten Kartellbil-                                                             den Produzenten und der
dung ein, versprachen,                                                               Industrie zu keiner Eini-
diese Praxis einzustel-                                                              gung kam.18
len, und sollen laut Aus-                                                                 Auch die brasilia-
kunft der Kartellbehörde                                                             nische Vereinigung der
bei der Aufklärung der                                                               Zitrusproduzenten (As-
Fakten aktiv mitgewirkt                                                              sociação Brasileira de Ci-
haben. Bei der 1999 be-                                                              tricultores – Associtrus)
gonnenen Untersuchung                                                                kritisierte das Abkom-
handelte es sich um den                                                              men der Behörde mit
langwierigsten Fall der Kartellbehörde. Im                      der Saftindustrie: Die verhängte Strafhöhe
Lauf der Untersuchung kam es zu mehreren                        entspräche nur dem Umsatz der Firmen in
Rechtsstreitigkeiten; die Industrie stellte die                 einer Woche. „Diese Strafzahlung ist außeror-
Rechtmäßigkeiten der im Rahmen der soge-                        dentlich niedrig. Alles deutet darauf hin, dass
nannten „Operation Fanta“ 2006 vorgenom-                        dieses Kartell fortbesteht und weiterhin unge-
men Haus- und Firmendurchsuchungen in                           straft agiert, genauso, wie sie es seit mehr als
Frage und versuchte so, die entsprechenden                      40 Jahren tun”, erklärte der Präsident der Ver-
Durchsuchungsbefehle zu kippen.                                 einigung, Flávio Viegas.19 Das Kartell nehme
     Der Abschlussbericht der vom Landes-                       nicht nur massiv Einfluss auf den Kaufpreis.
parlament São Paulo (ALESP) eingesetzten                        Gestiegen sei auch der dadurch aufgebaute
parlamentarischen Untersuchungskommissi-                        Druck auf die Produzenten, den diese auf die
on hob hervor, dass es anhaltende Indizien für                  unter Vertrag genommenen Arbeiter*innen
den Fortbestand dieses Kartells gäbe. Außer-
                                                                17 Vgl. Abschlussbericht der Untersuchungskommission ALESP.
dem schreite der Vorgang der Vertikalisierung                   18 Vgl. Revista Globo Rural, „Cade reprova formação do
und der Prozess des Aus-dem-Markte-Drän-                        Consecitrus“ http://revistagloborural.globo.com/Noticias/
                                                                Agricultura/Laranja/noticia/2017/09/cade-reprova-formacao-
16 Vgl. Kartellbehörde Cade, Conselho Administrativo de Defe-   do-consecitrus.html (Zugriff: 06.03.2018).
sa Econômica „Cade celebra acordos em investigação de cartel    19 Vgl. Online-Magazin Jota: Os erros de cálculo do Cade no
de compra de laranjas“ http://www.cade.gov.br/noticias/         cartel do suco de laranja, 2016: https://jota.info/artigos/os-
cade-celebra-acordos-em-investigacao-de-cartel-de-compra-       erros-de-calculo-cade-no-cartel-suco-de-laranja-08122016
de-laranjas (Zugriff: 06.03.2018).                              (Zugriff: 06.03.2018).
                                                                                                                                      DER ANBAU

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                                              13
weitergeben. Unabhängige Produzenten, so                  „Du hast da einen Liefervertrag, darfst die
     Viegas, würden von den Saftfirmen keine             Orangen aber nicht abladen“, erläutert Flávio
     ausgearbeiteten Pläne für Ernte und Liefe-          Viegas. „Also musst du die Ernte immer öfter
     rung bekommen. Lieferzeiten und Mengen              unterbrechen und die ganzen Arbeiter*innen
     würden immer unilateral und sehr kurzfristig        pflücken nicht mehr. Klar, dass wir Kleineren
     mitgeteilt, um die Früchte der eigenen Planta-      dann schlechtere Arbeitsbedingungen bieten
     gen zu bevorzugen. Dies führe sogar zu uner-        als die Industrie. Die Pflücker*innen selbst
     warteten Pflückstopps bei den unabhängigen          wollen oft gar nicht mit geregelten Arbeitspa-
     Produzenten. Diese verlören dadurch Ernte-          pieren arbeiten, aber wir sind dazu verpflich-
     erträge, was ihre Produktion weiter verteuere.      tet, sie zu registrieren.“
          Diese Realität, so der Associtrus-Präsi-
     dent, habe auch Auswirkungen auf die Ar-
     beitsbedingungen auf den kleinen und mittle-
                                                         ARBEITEN
     ren Fazendas (Plantagen):                           BEIM ZULIEFERER
         Wettbewerb um Arbeitskräfte: Da die             Repórter Brasil hat Oran­gen­pflüc­k­er­*in­nen
         Industrie zuerst ihre eigenen Früchte in        interviewt, die auf kleineren Plantagen ge-
         den Fabriken verarbeitet, beginnt sie frü-      arbeitet haben. Die Arbeiter*innen konnten
         her mit der Ernte. Sie suche daher auch         nicht mit Sicherheit sagen, wer die Abneh-
         als erste nach Erntehelfer*innen und ent-       mer der Früchte dieser Plantagen waren.
         ziehe dem Markt die Arbeitskräfte.              Aber sie bestätigten, dass zumindest aus ei-
                                                         ner Fazenda das Obst zu einer Saftfabrik in
         Längere Erntezeit: Die Industrie besitzt        Bebedouro (São Paulo) geliefert wurde. Die
         mehr Plantagen und größere Landflä-             Erntepflücker*innen erläuterten, dass die Ar-
         chen. Dies bewirkt auch eine längere            beit auf der Plantage ohne Arbeitspapiere er-
         Erntezeit, die bis zu acht Monate dau-          folgte und dass sie pro Tag entlohnt wurden.
         ern kann. Die kleinen und mittleren             Es gab keine Schutzkleidung, frisches Wasser
         Produzenten ernten in kürzerer Zeit.            wurde nicht gestellt. Die tägliche Arbeitszeit
         Da sie kürzer Arbeit bieten, sind sie           überschritt regelmäßig zehn Stunden, und
         für die Arbeitskräfte auch weniger              der wöchentliche Ruhetag am Sonntag wurde
         attraktiv.                                      nicht beachtet. Ein Arbeiter berichtete zudem,
                                                         dass Nicht-Erscheinen nicht geduldet wurde,
         Ernteunterbrechungen: Die Industrie er-         selbst bei Krankheit oder nach Arbeitsunfäl-
         zwinge ein flexibles System beim Ankauf         len. Von einer anderen Zulieferplantage be-
         von Dritten sowie der Warenlieferung. So        richteten Erntepflücker*innen von ähnlichen
         verursache sie Unterbrechungen der Ern-         Zuständen: informelle Arbeit, keine Zurverfü-
         te und der Arbeit. Dies schädigt die Pro-       gungstellung von Schutzkleidung sowie eine
         duzenten, aber auch die Arbeiter*innen;         Arbeitswoche häufig ohne freie Samstage und
         denn ihre Bezahlung hängt ganz wesent-          Sonntage.
         lich von der eigenen Produktivität ab. Die-
         se Schwankungen fördern die Informali-
         tät des Sektors, sodass die Arbeiter*innen
         nur auf Nachfrage angestellt und ver-
         mehrt als Tagelöhner beschäftigt werden.

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Foto: André Campos
         Deshalb gibt es dauernd Schlangen.«
         Bis Ende 2015 habe ich auf der Plantage Orangen gepflückt. Da geht alles drun-
         ter und drüber. Es gibt keine geregelten Arbeitspapiere – nichts dergleichen. Du
         wirst für deine Leistung bezahlt, und das war‘s. Die Ernte dauert zwei Monate,
         und die Arbeit geht von Sonntag bis Sonntag. Kein Pausentag. Der Lastwagen
         holt die Orangen und du musst dich verpflichten, die Ernte abzuliefern. Sie brin-
         gen die Orangen dann nach Bebedouro (São Paulo), um daraus Saft zu pressen.
         Man kann so 100 Real am Tag machen (rund 26 Euro*), hier gibt es kaum
         bessere Jobs. Aber da machst du dich echt fertig und du hast keinerlei Sicherheit.

         Der Farmbesitzer ist ein sehr strenger Kerl. Der verlangt Produktivität, Trödelei
         akzeptiert der nicht. Wenn es regnete, mussten wir klatschnass in den Obstgär-
         ten arbeiten. Du schwimmst da wie in einer Suppe. Und wenn du krank wirst,
         dann ruft er dich an, verlangt, dass du zur Arbeit kommst. Ich selbst war schon
         mehr als einmal trotz Fieber arbeiten.

         Verletzt habe ich mich schon mehrmals. Bei den höheren Bäumen lehnen wir
         die Leiter an den Stamm, um die Früchte zu ernten. Das ist echt gefährlich, da
         runterzufallen. Und dann diese Stacheln erst. Einmal ist so ein Stachel von ei-
         nem Ast in meinen Arm gedrungen und hat da eine Vene durchtrennt. Das hörte
         gar nicht mehr auf zu bluten, also nahm ich das Hemd und habe mir damit ei-
         nen Notverband angelegt. Das war um 13:00 Uhr. Ich habe dann noch bis 17:00
         Uhr gearbeitet, erst dann ging es zum Krankenhaus. Ich wurde mit neun Stichen
         genäht und habe nur einen Tag nicht gearbeitet, weil wenn du nicht zur Arbeit
         kommst, dann drohen sie dir, jemand andern an deine Stelle zu setzen. Und so
         zwingen sie dich – das wirkt echt wie so eine Sache aus der Zeit der Sklaverei.

         Was anderes, was da echt schlimm war, das ist, dass der Orangenhain voll mit
         Unkraut ist. Deshalb gibt es dauernd Schlangen. Zum Glück ist da noch nichts
         passiert. Aber niemand gibt dir irgendeine Schutzkleidung. Zumindest Schien-
         beinschoner gegen die Schlangen, Handschuhe, Armschoner, so etwas müsste
         es geben... Da gibt es keine Schutzbrillen, du läufst so glatt Gefahr, dass ein
         Stachel dich direkt im Auge erwischt.

         Erntehelfer, 22 Jahre alt, auf der Orangenplantage eines Kleinproduzenten.

         * In dieser Studie beziehen wir uns auf den Wechselkurs von Dezember 2017 EUR/REAl=1/3,87
          https://www.finanzen.net/devisen/euro-real-kurs/historisch (Zugriff: 07.03.2018).
                                                                                                                               DER ANBAU

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                                       15
STREIK                                              die Entlohnung für die geernteten Orangen,
     BEIM ZULIEFERER                                     gegen die Arbeitsbedingungen und gegen
                                                         die Situation in den Firmen-Unterkünften.
     Die Firma Agroterenas ist einer der größten,        Die Pflücker*innen, die sich am Streik be-
     unabhängigen brasilianischen Orangenzulie-          teiligten, sind Binnenmigrant*innen aus
     ferer. Die Firma hat 3,7 Millionen Orangen-         nordöstlichen Bundesstaaten, vor allem aus
     bäume auf einer Fläche von 7.350 Hektar mit         Paraíba, die in ihren Heimatstädten von
     Plantagen in drei Gemeinden im Bundesstaat          Anwerber*innen rekrutiert worden waren.
     São Paulo gelegen. Die Firma verkauft sowohl        Laut ihren Aussagen entsprach die von ihnen
     ganze Früchte als auch Orangen für die Saft­        bei der Ankunft in São Paulo vorgefundene
     her­stellung. Laut Auskunft der Arbeiter*innen      Realität nicht dem, was ihnen versprochen
     und Gewerkschaftsvertreter*innen ist       Cit-     wurde.
     rosuco (S. 35) einer der Abnehmer.                       Eine ihrer vorrangigen Beschwerden
          Im Oktober 2017 traten auf der Fazen-          richtet sich gegen die Verpflegungskosten
     da Guaco in Santa Cruz do Rio Pardo (São            und die von ihrem Lohn einbehaltenen Ge-
     Paulo) Dutzende der bei Agroterenas unter           bühren für die Unterbringung von monatlich
     Vertrag stehenden Orangenpflücker*innen             über 200 Real (52 Euro). Dazu kommt ihr
     in den Streik. Sie protestierten damit gegen        Ärger über den für die gepflückten Orangen

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ausgezahlten Lohn. Sie warfen der Firma                wurden Beschwerden durch die Firma mit
Betrug bei der Berechnung der abgelieferten            Sperrzeiten geahndet. Diejenigen, die es
Ware vor. Diese Masche würde den Akkord-               gewagt hatten, die Arbeitsbedingungen zu
lohn der Erntepflücker*innen deutlich sen-             kritisieren, wurden für einige Tage von der
ken. Agroterenas bestreitet diese Vorwürfe:            Ernte ausgeschlossen. Sie verloren somit ihre
„Die den Mitarbeitern geleisteten Zahlungen            Akkord-Boni, die den Hauptteil des Lohnes
sind in perfektem Einklang mit der gelten-             ausmachen. Die Firma äußert sich zu diesem
den Gesetzeslage erfolgt. Alle Arbeiter von            Vorwurf, wie folgt: „Dies ist absurd. Die Re-
Agroterenas erhalten einen Lohn, der über              geln für die Entlohnung nach Produktivität
dem gesetzlichen Minimum des Bundesstaats              werden ausführlich mit den Mitarbeitern
von São Paulo liegt“, so das Unternehmen in            besprochen und folgen den Prinzipien von
seiner Stellungnahme zur vorliegenden Stu-             Ethik und Transparenz, die in allen Bezie-
die. Repórter Brasil gelang es, die Lohnzettel         hungen grundlegend sind, vor allem in den
einiger Erntehelfer*innen einzusehen und               Arbeitsbeziehungen. Agroterenas S/A Citrus
konnte feststellen, dass das Monatsgehalt in           toleriert unter keinerlei Umständen jegliche
einigen Fällen, nach Abzug aller Unkosten,             Praxis der Vergeltung, ganz unabhängig aus
unter dem gesetzlichen Mindestlohn lag.                welcher hierarchischen Position heraus auch
     Laut Aussage einiger Arbeiter*innen               immer. Mit anderen Worten, falls der Arbeiter

                                                                         Obere Reihe, v. l.:
                                                                         Streikende Arbeiter*innen
                                                                         bei ihrer Unterkunft;
                                                                         Außenwand der Unter­
                                                                         kunft; Innenbereich der
                                                                         Unterkunft; Schlafraum.
                                                                         Fotos: André Campos

                                                                         Untere Reihe, v. l.:
                                                                         Polizist*innen auf der
                                                                         Fazenda Guacho während
                                                                         des Streiks; Arbeiter*innen
                                                                         in einem Bus der Firma;
                                                                         Arbeiter*innen von Agro­
                                                                         terenas bei der Ernte.
                                                                         Fotos von einem Arbeiter
                                                                         zur Verfügung gestellt
                                                                                                            DER ANBAU

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                    17
Für mich hat es sich nicht gelohnt,
         hierher zu kommen.«
     Ich bin aus dem Bundesstaats Paraíba und           Ich musste meine Frau bitten, mit ihm zu
     zum Orangenpflücken nach São Paulo                 reden, ihm zu sagen, dass meine Bezahlung
     gekommen. Ich arbeite auf einer Plantage,          hier sich verzögert. Ich hoffe, dass, wenn ich
     die zu Agroterenas gehört. Ich habe mir in         das Geld hier bekomme, ich alles bezahlen
     meiner Heimatstadt Geld geborgt, um die            kann.
     Reise zu bezahlen.
                                                        Zu Hause da brauchen wir das Geld aus
     Die Firma hat Baracken für die Arbeiter            dem „Bolsa Família“-Sozialprogramm.
     gemietet. Um kurz nach 5:00 Uhr am Mor-            Meine Frau erhält 300 Real von der Regie-
     gen holt uns der Bus der Firma ab, an der          rung (78 Euro), um damit sieben Personen
     Fazenda kommen wir so gegen 6:30 Uhr               zu ernähren. Das ist sehr wenig. Aber da,
     an. Die Ernte dauert bis zum Spätnach-             wo ich herkomme, da ist der Sertão (Anm.
     mittag. Um 15:20 Uhr nehmen sie unsere             d. Red. die Halbwüste). Jetzt mit dieser
     Karten und tragen uns an der Zeitmessuhr           Dürre gibt es dort keine Arbeit.
     aus, um so das Ende des Arbeitstages zu
     dokumentieren. Aber wir müssen weiter              Ich pflücke höchstens vier Großsäcke am
     arbeiten bis zum späten Nachmittag oder            Tag. Und bei jedem meiner Großsäcke tra-
     Abend. Und so geht das von Montag bis              gen die Vorarbeiter höchstens 16 Kisten ein
     Samstag, an Feiertagen arbeiten wir auch.          mit je 40,8 Kilo. Die machen das Abwiegen
     Nur am Sonntag nicht.                              nicht ganz richtig. Alle beschweren sich
                                                        über deren Messerei. Alle sagen, dass in die
     Ich kam hier vor zwei Monaten an und bis           Großsäcke mindestens 20 Kisten reinpassen.
     heute habe ich nur den Scheck über den
     Abschlag für die ersten 15 Tage, also 433          Für mich hat es sich nicht gelohnt, hierher
     Real erhalten (rund 112 Euro). Den Rest            zu kommen. Die versprechen dir eine Sache
     des Lohnes für August und September habe           und halten es dann nicht. Die versprechen
     ich nicht bekommen. Meine Familie ist              dir, dass du Geld verdienen wirst, dass die
     groß. Ich habe sechs Kinder großzuziehen,          Unterkunft nichts kosten wird, dass alles sei
     der Älteste ist 18 Jahre alt. Meine Frau           auf Kosten der Firma... Aber wenn du dann
     und meine Kinder sind von dem, was ich             hierher kommst, ist alles ganz anders, nicht
     verdiene, abhängig. Da ich keinen Lohn             wahr?
     bekam, haben mir meine Kollegen (andere
     Orangenpflücker) Geld geborgt, damit ich
     es nach Hause schicken kann.                       Arbeiter, von der Firma Agroterenas zum
                                                        Orangenpflücken während der Erntesaison
     Jetzt schulde ich meinen Kollegen hier Geld        2017/2018 unter Vertrag genommen.
     – und dem, der mir das Geld für die Reise
     geborgt hatte. Der nimmt einen Zinssatz
     von zehn Prozent im Monat. Wir hatten
     abgemacht, dass ich das bezahlen würde,
     sobald ich mein erstes Gehalt bekäme.

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So hat er mich entlassen ...«

Ich wurde in Paraíba geboren, bin aber                 ja immer nur die Seite der Firma. Samstags
nach São Paulo zum Arbeiten bei Agro-                  wird auch gearbeitet... In einem Monat
terenas gegangen. Ich arbeite als Traktor-             kam ich mal auf 54 Überstunden. Da hast
fahrer bei Agroterenas, aber stelle auch die           du gar keine Wahl. Du musst das machen.
Mischung des Agrargifts zusammen und                   Das Essen nehmen wir von zu Hause mit
kümmere mich um die Instandhaltung der                 und essen das direkt im Traktor, alles voll
Traktoren. Um das Gift zu mischen, geben               mit diesem Gift... Unser Wasser müssen
sie dir eine Atemmaske aus Baumwolle und               wir auch selbst mitbringen. So gegen 16:00
dünne Handschuhe, die schnell reißen. Und              Uhr kocht das Wasser, aber wir müssen es
wenn du um ein neues Paar bittest, weil dir            trinken, da hast du keine Wahl.
deine Handschuhe gerade wieder zerrissen
sind, dann kriegst du keine. Denn die müs-             Eines Tages gab es ein Treffen mit dem
sen ja für mindestens drei, vier Tage reichen,         Farmverwalter, und am Ende habe ich die
bevor sie ausgetauscht werden. Bei der                 Hand gehoben und erzählt, dass ich mit
Maske ist es das Gleiche. Auf der Packung              einer Heckenschermaschine arbeite, die ist
steht, man solle sie täglich wechseln, aber            gefährlicher als andere, und sie hat eine an-
wir benutzen die in einem fort über mehrere            dere Bedienung als die vorherige, die auch
Tage.                                                  in meiner Arbeitskarte eingetragen ist, als
                                                       ich eingestellt wurde. Sie hatten verspro-
Wir gehen aufs Feld, gleich nachdem sie                chen, dass sie meine Papiere entsprechend
gesprüht haben, dann sind da noch all                  aktualisieren würden, und ich forderte das
die Rückstände. Dort gibt es dann einen                nochmal ein. Der Verwalter bat mich, doch
beißenden Geruch, das schmerzt im Kopf.                nach dem Treffen noch zu bleiben. Und als
Oft besprühen sie ein Nachbarfeld, und                 alle weg waren, kam er und war gleich sehr
wir sind direkt daneben und kriegen diese              wütend. Er sagte: „Wie kannst du das vor
Giftwolken ab. Ich hab schon darum gebe-               all den Leuten sagen? Das hättest du nur
ten, in Schutzkleidung arbeiten zu dürfen,             mir sagen dürfen. In meinen Augen taugst
das haben sie jedoch abgelehnt. Sie sagten,            du nichts. Nimm deine Karre und beweg
die seien zu teuer zum Waschen. Die, die               dich zum Haupthaus und mach da deine
da schon länger mitarbeiten, klagen ganz               Papiere fertig”. So hat er mich entlassen.
schön über Kopfschmerzen und Hautrei-
zungen.                                                Hier in der Gegend gibt es keine andere
                                                       Arbeit. Die Mütter und Väter, die Familie
Wir arbeiten viel. Wenn Trockenzeit                    haben, sind gezwungen dazubleiben. Es
herrscht, dann müssen wir früh am Morgen               ist nur darum keine Sklavenarbeit, weil sie
arbeiten. Von Mitternacht bis 10:00 Uhr                dir am Ende des Monats dieses Kleingeld
am Folgetag. Sie versprühen die Agrargifte             auszahlen.
lieber nachts, um die Verdunstung gering zu
halten. Also haben sie ein Abkommen mit                23-jähriger Ex-Angestellter der Firma
der Gewerkschaft vor Ort erzielt, damit die            Agroterenas.
dem zustimmen. Die Gewerkschaften sehen
                                                                                                            DER ANBAU

Christliche Initiative Romero > AUSGEPRESST – Hinter den Kulissen der Saftindustrie                    19
solche, diesen hypothetischen Fall belegende        NEUE GESETZE
     Beweise vorbringt, wird die Firma umgehend
     entsprechende Maßnahmen, einschließlich             Im Juli 2017 verabschiedete der brasilianische
     der fristlosen Entlassung des Vorgesetzten, in      Nationalkongress eine umfassende Reform
     die Wege leiten.“                                   der Arbeitsgesetzgebung im Land. Diese Än-
           Die Arbeiter*innen berichten auch von         derungen betreffen Beschäftigte vieler Sekto-
     Arbeitstagen über dem gesetzlichen Maxi-            ren, auch die Landarbeiter*innen. Das neue
     mum, ohne dass die gesetzlich vorgeschrie-          Gesetz trat im November 2017 in Kraft.
     benen Überstunden ausbezahlt wurden. Um                  Einige der zentralen Punkte, die das Le-
     15:20 Uhr sammelte ein Angestellter die             ben der Orangenpflücker*innen und anderer
     Stempelkarten der Pflücker*innen ein und            Erntehelfer*innen betreffen, beziehen sich
     checkte sie bei der Stempeluhr von Agrote-          auf das Folgende:
     renas aus, um so das Ende des Arbeitstages
     zu simulieren. Die Arbeit ging jedoch wei-               Fahrtzeit zur Einsatzstelle: Nach alter,
     ter. Trotz Müdigkeit sahen die Arbeiter*innen            bis November 2017 geltender Arbeits-
     dies als Möglichkeit, ihre Entlohnung durch              gesetzgebung zählte die Fahrtzeit zum
     Produktivitätssteigerungen zu erhöhen. Auch              Einsatzort auf dem Feld als zu entlohnen-
     diese betrügerische Praxis bestreitet die Fir-           de Arbeitszeit, wenn das Fahrzeug vom
     menleitung.                                              Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wur-
           Laut Auskunft der Landarbeiter­*innen­             de, weil die Farm abgelegen lag. Seit No-
     gewerkschaft von Bauru nahmen zu Beginn                  vember ist die Anrechnung der Fahrtzeit
     ungefähr 250 Arbeiter*innen an dem Streik                als zu entlohnende Arbeitszeit den Ar-
     teil. Am Tag, als der Streik anfing, rief Agro-          beitgebern nach Gutdünken freigestellt.
     terenas die Polizei. Die Polizeipräsens auf der          Die Landarbeiter*innengewerkschaft von
     Fazenda sollte die Streikenden einschüchtern.            Paulistânia (São Paulo), in deren Ein-
     Nachdem ihnen in Verhandlungen zugesagt                  zugsgebiet sich etliche Plantagen befin-
     wurde, den Akkord-Bonus zu erhöhen, setzte               den, schätzt, dass die rund achttausend
     die Mehrzahl der Pflücker*innen die Arbeit               Arbeiter*innen der Region im Schnitt
     fort. Rund 40 Arbeiter*innen hielten den                 täglich zwei Stunden mit den Firmen-
     Streik jedoch aufrecht.                                  Bussen unterwegs sind. Wenn sie für
           „Die Arbeiter werden genötigt, den Ver-            diese Zeiten fortan nicht mehr bezahlt
     trag schnell – kurz vor Einsteigen in den                werden, sinkt ihr Monatslohn um bis zu
     Bus – zu unterschreiben und zur Ernte zu                 170 Real (umgerechnet 44 Euro). „Die-
     fahren. Wenn sie dann hier ankommen, ist                 ser Betrag scheint gering zu sein, aber er
     alles ganz anders als zuvor vereinbart. Sie              wird den Arbeitern sehr fehlen”, erklärt
     ernten Orangen im Regen, die Orangen                     der Präsident der Gewerkschaft, Abílio
     werden nicht richtig gewogen, da gibt es gar             Penteado da Silva.
     keine Transparenz, und was sie bekommen,
     das reicht kaum, um die Familie zu ernäh-                Entlohnung nach Produktivität: Die
     ren”, erklärt José Paschoal Alves, Chef der              Bezahlung nach Ernte- bzw. Pflück-
     Landarbeiter*innengewerkschaft von Bau-                  menge bildet die Basis der Löhne vie-
     ru (São Paulo), die die Beschwerden der                  ler Landarbeiter*innen, so auch der
     Arbeiter*innen dokumentiert hat.                         Orangenpflücker*innen. Die auf Pro-
                                                              duktivitätsbasis erzielten Lohneinkünfte
                                                              können durch die Reform jedoch stark
                                                              beeinträchtigt werden, da „Prämien und

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Gratifikationen“ sowie weitere Zuschlä-                Auslagerung an Drittfirmen: Brasiliens
     ge nicht länger Bestandteil des Gehalts                Feldarbeit konzentriert die schlimmsten
     sein werden. In der Praxis kann so jeder               Formen der Ausbeutung von Arbeits-
     Aufschlag infolge der erbrachten Akkord-               kräften: Zwischen 1995 und 2015 wur-
     leistung als einfache Prämie bezahlt wer-              den 50.000 Arbeiter*innen aus sklaven-
     den – unabhängig vom Lohn. Verdiente                   arbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen
     eine Landarbeiter*in beispielsweise un-                befreit, 88 Prozent von ihnen waren
     ter Berücksichtigung des für den Sektor                Landarbeiter*innen. In den allermeisten
     geltenden Basissatzes und der persönli-                Fällen sind Arbeitsvermittler involviert,
     chen Produktivität 1.600 Real (413 Euro),              sogenannte „gatos”. 2017 wurde ein Ge-
     werde fortan nur noch 1.100 Real (284                  setz verabschiedet, das die Anstellung
     Euro) auf ihrem Lohnzettel vermerkt. Zu-               über Drittfirmen bei jeglicher Arbeitsleis-
     sätzlich erhält sie zwar einen Akkord-Zu-              tung gestattet. In der Praxis erlaubt die-
     schlag von 500 Real (129 Euro). Auf diese              ses Gesetz, dass diese „gatos” die Arbeits-
     500 Real erfolgt aber keinerlei Anrech-                kräfte ganz legal unter Vertrag nehmen
     nung auf die Arbeits- und Sozialversiche-              und sich den Plantagen als Dienstleister
     rung – sprich: Die soziale Absicherung                 anbieten. Die Reform verhindert, dass
     der Landarbeiter*innen wird durch die                  Auftraggeber für Arbeitsrechtsverletzun-
     Bestimmung deutlich prekärer.                          gen durch diese Dienstleiter juristisch be-
                                                            langt werden können. Farmer und Agrar-
    Gesetzlicher Mindestlohn: Die Zahlung                   firmen werden so in Zukunft kaum mehr
    des gesetzlichen Mindestlohnes wird                     für Fälle von Sklavenarbeit verantwortlich
    durch die neuen Regeln in mehrerer                      gemacht werden können.
    Hinsicht bedroht. Zum einen können
    nun Verträge mit Festanstellung durch                   Arbeitszeiten: Das neue Gesetz gestat-
    Zeitverträge ersetzt werden, sodass                     tet flexiblere Arbeitszeiten, so darf bis
    Arbeiter*innen auf Abruf verbleiben und                 zu zwölf Stunden täglich gearbeitet wer-
    nur noch für geleistete Arbeitsstunden                  den, wenn die Stunden bezahlt werden.
    bezahlt werden. Laut dem verabschie-                    Es sieht des Weiteren eine Verkürzung
    deten Gesetzestext entspricht die Min-                  der Pausenzeiten vor. Für diesen Bericht
    destzahlung je Arbeitstag einem vom                     interviewte Personen erklärten Repórter
    Monat auf den Tag heruntergerechneten                   Brasil, dass sie bereits starke Auswirkun-
    Mindesttagessatz. Mit anderen Worten:                   gen der Arbeitsrechtsreform spürten, ob-
    Bekommen Arbeitende im Laufe eines                      wohl die neuen Gesetze zum Zeitpunkt
    Monats z. B. wegen Krankheit nicht ge-                  der Gespräche noch gar nicht in Kraft
    nügend Arbeitstage zusammen, kann es                    waren: „Sie zwingen uns zu Überstun-
    vorkommen, dass sie am Monatsende                       den. Sie kommen zu uns und sagen, dass
    weniger als den gesetzlichen Mindest-                   diese neue Gesetzgebung schon verab-
    lohn erhalten. Eine der am meisten da-                  schiedet wurde und dass wir von nun an
    von betroffenen Berufsgruppen sind die                  vier Überstunden machen müssen. Die
    Orangenarbeiter*innen von kleinen oder                  wollen das nun alles in einem Abwasch
    mittelgroßen Produzenten. Da diese von                  durchziehen”, berichtete ein Angestellter
    den flexiblen Lieferzeitplänen der Indus-               der Firma Agroterenas im Oktober 2017.
    trie abhängig sind, kommt es für sie oft
    zu Ernteunterbrechungen und damit zu
    faktischen Lohnausfällen.
                                                                                                               DER ANBAU

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