TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR

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TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Manuela Hinterkörner-Wittinghofer
                                                                                       März 2023

LEITFADEN FÜR
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE

                                                                               „Mutterland“, F. Hinterkörner

Trenaum im                          Tretaumbls                  Traumsenibl
(Schul-)Agtal                 derKin enztsüru                   Elernabit
Mit welchen Traumen           Mögliche Wege, um Vertrauen       Die Eltern betroffener
werden wir in der pädagogi-   zu schaffen und eine tragfähige   Kinder sind meist
schen Arbeit konfrontiert?    Beziehung aufzubauen.             „mittraumatisiert“.
Seeit 10                      Seeit 18                          Seeit 26
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 3

                                                                   Inhalt

                                                                                                                                                                                                                                                       „Ei des Kolumbus“, F. Hinterkörner

                                                                      Manuela Hinterkörner                          ........................................................      4       orbeugende Maßnahmen,
                                                                                                                                                                                         V
                                                                    oV rwort und Einleitung                             .....................................................     6      um Kinder zu stärken ...............................................                                       22

                                                                                                                                                                                         Scham und Schuld                          ....................................................             24

                                                                                                                                                                                         Traumasensible Elternarbeit                                            .................................   26

                                                                                                                                                                                          elbstreexion: Wie gehe ich als Lehrerin
                                                                                                                                                                                         S
                                                                                                                                                                                         oder Lehrer persönlich mit dem Thema
                                                                                                                                                                                        „Trauma“ um?     ..............................................................                            28

                                                                        bererregung ................................................................                             15      Selbstregulation                    .........................................................              30
               GENDERERKL˜RN
                           U G                                          Dissoziation ...................................................................                        16
                                                                        Erstarren .........................................................................                       71    Anhang
                                                                                                                                                                                       	
Im Sinne der besseren Lesbarkeit verwende ich bei personenbe   -
zogenen Bezeichnungen, die sich zugleich auf Frauen und Män    -   	
ner beziehen, zumeist nur die im Deutschen übliche männliche
Form. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen
für alle Geschlechter.
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 4 I Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule                                                                           Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 5

                                Manuela Hinterkörner

                               Manuela Hinterkörner-Wittinghofer   2022/2023 absolviert sie den Diplomlehrgang
                                                                                                                 bei „proges“ (Linz) in
                                                                   Kooperation mit dem Verein „Nordlicht“.

                                                                   Der vorliegende Leitfaden entstand im Zuge der Abschlussarbeit. Er
                                                                   soll praktische Anregungen geben und Pädagogen Methoden und
                                                                   Ideen anbieten, um eine traumasensible Haltung zu entwickeln und
                                                                   auf entsprechende Situationen in der Praxis angemessen reagieren
                                                                   zu können.

                                                                   An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Franz Hinterkörner,
                                                                   der seine Kunstwerke für die Gestaltung des Leitfadens zur Verfü        -
                                                                   gung stellte.

                                                                                                                                                   Manuela Hinterkörner
                                                                                                                                                   W
                                                                                                                                                   „ eg zur Mitte“
                                                                                                                                                    Schöndorf 14a
                                                                                                                                                    4193 Reichenthal
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 6 I Vorwort und Einleitung                                                                                                                                                                                                           Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 7

                                                                                                         Manuela Hinterkörner / Autorin

       Vorwort
       und Einleitung

                                                                                                                                                                                                                                                          „E
                                                                                                                                                                                                                                                            in Trauma ist die am
                                                                                                                                                                                                                                                           meisten vermiedene,
                                   Seit 1994 bin ich Sonderschullehrerin in verschiedensten                                                                                                                                                                ignorierte, verleugnete,
                                   Bereichen. Dabei sind mir immer wieder Kinder begegnet,                                                                                                                                                                 missverstandene und
                                   aus deren Verhalten ich nicht schlau geworden bin.                                                                                                                                                                      unbehandelte Ursache

                                                                                                                                                                                                                                                                                                “
                                                                                                                                              „Hügelland (Zyklus)“, F. Hinterkörner
                                                                                                                                                                                                                                                           menschlichen Leidens.“
                                                                                                                                                                                                                                                                               (Peter Levine)

                               U
                                              m „unliebsame Verhaltensweisen“ abzuklären, werden Eltern oft               -                                             Probleme in der Schwangerschaft, Alkoholgenuss, schwierige Geburt, ein Ge                -
                                              mals dazu angehalten, Psychologen bzw. Psychiater aufzusuchen.                                                            burtsfehler, zu strenge Eltern, zu wenig strenge Eltern, der Kindergarten, der
                                              Befunde geben tieferen Einblick in das Verhalten des Kindes,                                                              Vater, die Mutter, die Großmutter, die Nachbarin, die Schule, der Lehrer, die
                                   und mit den empfohlenen Maßnahmen kann erfolgreich weitergearbeitet                                                                  Pädagogin …
                                   werden: Ergotherapie, Logopädie, Reittherapie, Klettertherapie, Legasthenie            -
                                   training, Arbeit mit frühkindlichen Reflexen … es gibt viele Möglichkeiten, ein                                                      Die Problematik ist komplex und hat in vielen Konferenzzimmern und El                    -
                                   Kind zu unterstützen, damit es im Schulsystem optimal lernen kann.                                                                   terngesprächen schon zu heißen Diskussionen und verletzenden Aussagen
                                                                                                                                                                        geführt.
                                   Eltern und Lehrer sind oft beruhigt, wenn eine Diagnose gestellt ist: Endlich
                                   gibt es eine Antwort auf die Frage, warum sich ein Schüler soverhält, wie er sich                                                    Ich denke, dass es notwendig ist, auf jedes Kind (und dessen Umfeld) indivi              -
                                   eben verhält. Damit ist das Umfeld erst mal zufrieden, auf die Defizite wird ein       -                                             duell einzugehen. Und zwar auf eine sehr sensible, wertfreie Art und Weise
                                   gegangen, indem außerschulische Unterstützungsmaßnahmen in Anspruch                                                                  – ohne Schuldzuweisungen und ohne Beleidigungen!
                                   genommen werden. Auf alle Fälle wird das Verständnis für das Kind in dieser
                                   Phase größer. Falls diese Maßnahmen nicht die gewünschten Ergebnisse bringen           ,                                               In dieser Broschüre geht es nun – wie der Titel schon sagt – um das Thema
                                   probieren es suchende Eltern häufig mit „alternativen“ Methoden: Familien              -                                             T„ rauma“. Trauma ist eines von vielen Erklärungsmodellen. Es erklärt ein
                                   aufstellungen, rC aniosacraltherapie, Hypnose, Kinesiologie … Die Liste ließe                                                          vorher nicht erklärbares bzw. nicht verstandenes Verhalten und führt dazu,
                                   sich endlos fortsetzen. Meistens können Erfolge und Verbesserungen verzeich            -                                               „anders“ – bestenfalls offener und verständnisvoller – damit umzugehen. Das
                                   net werden. fO t gilt es allerdings auch Grenzen zu akzeptieren. Manchmal geht                                                         eine oder andere Licht ist uns schon aufgegangen, wenn wir erfahren haben,
                                   es an die U„ rsachenforschung“: Wer oder was hat dazu beigetragen, dass das                                                            dass ein Kind traumatisiert ist. Allein dieses Wissen verändert den eigenen
                                   Kind dieses und jenes Verhalten an den Tag legt? Wer oder was hat S   „ chuld“?                                                        Blickwinkel. Mit unserem geänderten Verhalten ändert sich auch oft „plötz              -
                                                                                                                                                                          lich“ das Verhalten der Menschen in unserem Umfeld . Das ist ein faszinieren           -
                                                                                                                                                                          des Phänomen.

                                                                                                                                                                        In der Folge stelle ich verschiedene Möglichkeiten und Lösungsansätze dar,

Im Laufe der Jahre ist mir immer klarer geworden, dass
                                                                                                                                                                        um ein Gefühl für traumasensiblen Umgang mit Kindern in der Schule zu
                                                                                                                                                                        bekommen, adäquat handeln und entsprechend reagieren zu können. Prakti                   -
traumatische Erlebnisse        nicht außer Acht zu lassen sind,                                                                                                         sche Beispiele aus dem Alltag untermauern die Erkenntnisse.

da sie natürlich Einuss auf das Verhalten von Menschen

                                                                                                                                          “
haben, aber nicht immer als Ursache erkannt werden.
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 8 I 01 Definition und Arten                                                                                                                                                                                   Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 9

                                                                                                                                                                                             Ein Schocktrauma ist wie ein falschfarbiger Faden
                                                                                                                                                                                             in einem sonst gut gewebten Teppich. Zieht man ihn
                                                                                                                                                                                             heraus, ist der Teppich immer noch in rO dnung. Bei
                                                                                                                                                                                             einem Entwicklungstrauma müsste man so viele Fäden
                                                                                                                                                                                             ziehen, dass sich der Teppich in Form und Farbe verän -
                                                                                                                                                                                             dern würde. Durch langanhaltenden Stress prägen sich
                                                                                                                                                                                             das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen
                                                                                                                                                                                             vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen
                                                                                                                                                                                             Schock (…) Unter einem Schocktrauma verbergen sich

                                                                                                                                                                                                                                                                “
                                                                                                                                                                                             auch meistens Entwicklungstraumata.
                                                                                                                                                                                             (aus Dami h
                                                                                                                                                                                                       C arf: „Auch alte Wunden können heilen“)

                                                                                                                                                                                                                                           „Hügelland (Zyklus)“, F. Hinterkörner

01                   Denition                                                                                                Zum Überbegriff Komplextrauma zählen auch

                     und Arten
                                                                                                                             Entwicklungstrauma und Bindungstrauma:

                                                                                                                             Entwicklungstrauma:                                                       Bindungstrauma:
                                                                                                                             Hierbei handelt es sich um Verletzungen, frühe Verlusterfah       -     eW nn in sensiblen Lebensphasen der Kindheit
                                                                                                                             rungen, auch vorgeburtliche Traumatisierungen, Vernachläs         -       Traumatisierungen passieren, welche die Bin                     -
                                    Das Wort „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet W      „ unde“.                sigung und Misshandlungen, die sich auf die Entwicklung des               dung zwischen dem Kind und der Bezugsperson
                                    Es erfolgt eine mögliche Einteilung verschiedener Arten „seelischer uW nden“, wel    -   Kindes auswirken. Diese sind sehr weit verbreitet. Dabei geht             betreffen, kann das die Bindungsfähigkeit nach                  -
                                    che voneinander nicht immer eindeutig abgegrenzt werden können, von denen                es nicht um ein einschneidendes Erlebnis, sondern um eine                 haltig beeinträchtigen.
                                    ich aber glaube, dass sie für die tägliche Arbeit in der Schule von großer Bedeu     -   Reihe von „kleinen“ Ereignissen (Stimmungen in der Familie,
                                    tung sind:                                                                               ständige Belastungen, immer wiederkehrende Muster )… , wel        -     Beispiele:
                                                                                                                             che sich jedoch für Kinder nicht klein, sondern lebensbedroh      -     ff eV rlust eines Elternteils oder eine für das Kind
                                    Schocktrauma (Monotrauma):                                                               lich anfühlen.                                                                lebensbedrohliche Geburt (muss aber kein Ent                -
                                    Landläufig versteht man unter Trauma ein „Schocktrauma“, also einmalige, über        -   Frühe Traumatisierungen beeinträchtigen nachweislich die                      wicklungstrauma werden, wenn eine Bezugs                    -
                                    wältigende, grausame Erlebnisse wie zum Beispiel als Opfer oder Zeuge von Ge         -   Hirnentwicklung und wirken sich vielschichtig auf die psychi      -           person die Stelle des Elternteils einnimmt)
                                    waltverbrechen, (Natur-)Katastrophen, Unfall, Krieg, eV rgewaltigung, Folter, eV r   -   sche und physische Entwicklung eines Kindes aus. Die Folgen             ff M   isshandlungen durch Eltern
                                    lust eines geliebten Menschen oder gravierende medizinische Diagnosen und                sind oft falsch interpretierte Symptome, die mit Emotions-
                                    Eingriffe.                                                                               regulation und Beziehungsverhalten zu tun haben. Kinder mit
                                                                                                                             frühen Traumatisierungen haben oft Schwierigkeiten, sich zu             iW e lange Traumareaktionen nachwirken, ist
                                    Komplextrauma (sequenzielles Trauma):                                                    regulieren, sich zu konzentrieren und mit anderen Menschen                sehr individuell, daher möchte ich keine zeitliche
                                    Mit Komplextrauma meint man meist frühe Traumatisierungen, bei denen Stress              zurechtzukommen. Ebenso können sich medizinisch unerklär          -       Eingrenzung vornehmen. Die Grenzen zwischen
                                    durch andere Menschen über einen längeren Zeitraum hindurch ausgelöst wur            -   liche Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörun         -       den Trauma-Arten sind fließend.
                                    de. Dies umfasst zum Beispiel das Erlebnis emotionaler oder sexualisierter Gewalt        gen oder Überempfindlichkeiten entwickeln. Betroffene Kin         -
                                    durch Bindungspersonen, emotionale oder körperliche eV rnachlässigung, fehlen        -   der leiden häufig unter Bindungsstörungen, Trennungsangst,
                                    den Schutz, frühe Bindungsabbrüche, Mobbing, Kriegs- und Fluchterlebnisse.               Depressionen, ADHS oder gelten als v„ erhaltensauffällig“.
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 10 I 02 Trauma-Arten im (Schul-)Alltag                                                            Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 11

02
      Trauma-Arten
      im (Schul-)Alltag

       Welche Traumen begegnen uns im (Schul-)Alltag?                     Covid-19-Pandemie:
                                                                          Das Coronavirus mit all seinen Auswirkungen ist auch als kollekti-
       Schwere familiäre Belastungen:                                     ves Trauma zu bezeichnen!
       ff Scheidung                                                      » Kinder leiden unter den Diskussionen rund um das polarisierende
       ff Adoption                                                          Thema Corona: Es verunsichert Kinder sehr, wenn ihre Bezugsper-
       ff Vernachlässigung                                                  sonen – zum Beispiel in der Schule und zu Hause – unterschiedli-
       ff Krankheit                                                         cher Meinung sind. Es belastet besonders jene, deren Eltern gegen
       ff Alkoholismus                                                      das System und die herrschenden Maßnahmen argumentieren,
       ff und so weiter ...                                                 während sie sich in der Schule an die geltenden Bestimmungen
                                                                             halten müssen.
       Tod und Sterben:                                                   » Fehlende Sozialkontakte aufgrund von Homeschooling und Kon-
       ff Todesfälle im Familien- und Freundeskreis                         taktbeschränkungen. Die Kinder mussten viel Zeit in häuslicher
       ff Tod einer Bezugsperson (Lehrerin, Nachbar ...)                    Enge und Isolation verbringen.
       ff Tod eines Kindes im Umfeld (Krankheiten, Unfälle,              » Maskenpflicht, Hygiene- und Abstandsregeln beeinträchtigten
          Suizide …)                                                         das tägliche Miteinander.
                                                                          » Es herrschte ein Ausnahmezustand, da Angst und Unsicherheit in
       Krieg/Flucht:                                                         der Bevölkerung verbreitet wurden. Der Zustand wurde teilweise
       Zahlreiche Flüchtlingskinder aus Kriegs- und Krisen-                  medial verstärkt. Menschen hatten Angst zu erkranken bzw. eine
       gebieten besuchen in Österreich die Schule. Zum Teil                  Risikoperson im näheren Umfeld anzustecken.
       mussten sie unter tragischen und lebensbedrohlichen
       Umständen ihre Heimat verlassen. Folgende Belastun-                Sonstige erschütternde Erfahrungen:
       gen sind damit verbunden:                                          » Übergriffe (körperlich, sexuell, psychisch)
       ff Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht                 » Umweltkatastrophen
       ff Trennung von Familie und Freunden                              » Katastrophenberichte in Medien
       ff Tod von Angehörigen                                            » Gewalt in Filmen und Medien, die für Kinder nicht geeignet sind
       ff Asylsuchende wohnen in notdürftigen Unterkünften
           und warten auf den unbestimmten Ausgang ihres
           Asylverfahrens
       ff Angst vor Verfolgung und Abweisung

                                                               „Baumgeister“, F. Hinterkörner
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 12 I 03 Dissoziation – Flashback – Trigger                                                                                                                                                    Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 13

03                   Dissoziation –
                     Flashback – Trigger

                                 Durch ein Ereignis, welches man in seiner ganzen Wucht nicht verkraften
                                 würde, kommt es zu einer     Dissoziation , das heißt Aufspaltung bzw. Fragmen      -
                                 tierung in einzelne Teile und Verschiebung ins Unterbewusstsein, damit es
                                 aushaltbar wird. Wenn keine Kampf- oder Fluchtreaktion möglich ist, ist die
                                 Dissoziation daher lebensrettend.

                                 Merkmale einer Dissoziation können beispielsweise sein, dass die Person am
                                 ganzen Körper oder in ihrer Mimik erstarrt, Blässe oder rote Flecken im Ge          -
                                 sicht und am Hals sichtbar werden, Kiefermuskeln verhärten, Augäpfel nach
                                 oben gedreht sind oder die Person gedanklich wegdriftet, ihre Umwelt nicht
                                 mehr bewusst realisiert, sich nicht mehr spürt und das Gefühl hat, „neben
                                 sich zu stehen“.

                                 Ein Nachteil dieser Dissoziation ist, dass Erinnerungsfragmente präsent blei        -
                                 ben und jederzeit aufflammen können, wenn ein Reiz sie aktiviert. Dies nennt
                                 man Flashback .
                                                                                                                                                                                                                      „Boote im Hafen“, F. Hinterkörner

        Jan                                                                                                                             Gewisse Sequenzen werden durch einen Auslöser im Außen aktiviert, dies
                                                                                                                                        sind die sogenannten Trigger. Im Schulalltag können dies sein:
        5 Jahre
                                         Fallbeispiel aus der Praxis                                                                    » Eine bestimmte Handbewegung (z. B. des Lehrers)
                                                                                                                                        » Gerüche, die mit dem traumatischen Geschehen assoziiert werden
                                                                                                                                        » Geräusche (z. B. Feueralarm, Knall, Stimmen …)
       Der 5-jährige Jan hatte große Schmerzen. Erst nach                  er schien sich gegen den Schlaf zu wehren. Die Mü        -   » Berührungen, die mit dem Erlebten zusammenhängen
       geraumer Zeit wurde klar, dass es sich um eine Blind           -    digkeit triggerte ihn, sie erinnerte ihn unbewusst an        » Ähnlichkeiten mit Personen, die Täter waren
       darmentzündung handelte. Da brach der Blinddarm                     die Narkose und das traumatisierende Ereignis im               (z. B. körperliche Merkmale, ein Bart, eine Brille ...)
       schon durch, und Jan musste notoperiert werden. In                  Krankenhaus.                                                 » Körperliche Schmerzen
       seinem schmerzvollen Zustand wurde er von seinen                    Mit der liebevollen Präsenz der Eltern konnte sich das       » Bilder (z. B. Gebäude, Tiere, Farben, ein Kleidungsstück …)
       Eltern getrennt und einer Narkose ausgesetzt.                       Stressmuster bei Jan zurückentwickeln, sodass Jan die
       Nach der Operation zu Hause bemerkten die Eltern,                   Kontrolle aufgeben und sich wieder beruhigt in den           Es ist notwendig, das Kind diesbezüglich gut zu beobachten, da es unmöglich
        dass Jan nicht mehr entspannt einschlafen konnte,                  Schlaf fallen lassen konnte.                                 ist, alle Trigger vorherzusagen. Hilfreich sind vertrauensvolle, traumasensible
                                                                                                                                        Gespräche – unter Einhaltung der Schweigepflicht –, um so viel wie möglich
                                                                                                                                        über die Geschichte des Kindes in Erfahrung zu bringen.
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 14 I 04 Mögliche Verhaltensweisen nach traumatisierenden Erlebnissen                                                                                                                                                       Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 15

                                                                                                                                                                                                                                                               Anna-
04                  Mögliche Verhaltensweisen
                    nach traumatisierenden Erlebnissen
                                                                                                                                                    Fallbeispiel aus der Praxis
                                                                                                                                                                                                                                                                lena
                                                                                                                                                                                                                                                                   10 Jahre

                                                                                                                                                    Die 10-jährige Annalena verweigert immer häuger             Die Lehrenden müssen wissen, dass das Kind mit sei               -
                                                                                                                                                    den Schulbesuch und spricht in der Schule mit nie       -   nem Verhalten nicht provoziert, sondern nicht anders
                                                                                                                                                    mandem. In der Pause und in der Freizeit hört man sie       kann und selber darunter leidet. In geduldiger und
                                                                                                                                                    mit der Mama in ihrer Muttersprache sprechen. Das           sensibler Elternarbeit muss ein Vertrauen zu Mutter
                                                                                                                                                    verwirrt die Mitschüler und auch die Lehrer, manche         und Kind gefunden werden, ohne dass man vielleicht
                                                                                                                                                    denken, dass sie einfach nicht sprechen möchte, und         jemals Details über die Erlebnisse erfährt, denn diese
      Bei Gefahr reagieren wir reflexhaft, was unser                         Ob das Kind in belastenden Situationen Symptome oder                   ärgern sich über Annalena. Tatsächlich hat sie in der       sind im Augenblick nicht wichtig. Ohne Vorwürfe, mit
      Überleben sichern soll.                                                 Traumafolgestörungen entwickelt, hängt von der indi           -       Heimat Dinge erlebt, über die sie nicht sprechen kann       viel Verständnis und Geduld müssen individuelle Lö               -
                                                                              viduellen Resilienz, den bisher gemachten Lebens- bzw.                und über die auch ihre Mama nicht spricht. Beide sind       sungswege gefunden werden. Annalena soll zu ihrer
       nU sere Instinkte übernehmen das Steuer. Durch Er                -     Bindungserfahrungen, dem Umfeld und den unmittelbar                   traumatisiert. Beide brauchen professionelle Unter      -   Lehrerin wieder Vertrauen aufbauen, um Schritt für
         schrecken kontrahiert die Muskulatur, der Körper                     darauf folgenden Reaktionen der Erwachsenen ab.                       stützung. Wir nden eine Therapeutin, die ebenfalls          Schritt am Unterricht teilnehmen zu können.
         streckt sich und orientiert sich in Richtung Geräusch.                                                                                     die Sprache der beiden spricht.
      iW r werden hellwach und hochkonzentriert, um fest                -    Nicht immer ist eine eindeutige Symptomatik erkennbar.
         zustellen, ob die Situation tatsächlich gefährlich ist               Oftmals werden betroffene Kinder als „lästig“, „auffällig“,
         oder ob wir uns wieder entspannen können            .                „unkooperativ“, „unerzogen“ oder „krank“ bezeichnet.

      Die Reflexe, die zu unseren berlebensmechanis                     -    Menschen reagieren auf Traumaerlebnisse unterschied            -   .. ÜBERERREGUNG: F
                                                                                                                                                                 „ IGHT“ KAMPF                                                   Hilfreiches Verhalten:
      men gehören, laufen blitzschnell und automatisch                       lich. Drei typische Reaktionen mit Anleitungen zu einem                                                                                             Sorge für Beruhigung!
      ab. Der Körper wird auf die Notfallsituation vorbe                -    hilfreichen Verhalten in der jeweiligen Situation werden           In einer bedrohlichen Situation reagiert der Organismus mit
      reitet. Auf Dauer sind diese Stressreaktionen sehr                     auf den folgenden Seiten näher beschrieben:                        Kämpfen oder Angreifen.        Bei Kindern und Jugendlichen kann                   Ruhe bewahren
      belastend und nicht gesund. Eine Traumatisierung                                                                                          sich das folgendermaen äuern:                                                     oV rsichtiges, leises Ansprechen, sanfte
      bedeutet, dass der Körper aus einer Schrecksituation                   ff bererregung:      „fight“ – Kampf                                                                                                                    Stimme, beruhigende oW rte
      nicht mehr herausfindet.                                               ff Dissoziation: „flight“ – Flucht                                 ff Rebellisches Verhalten (provokativ und beleidigend)                             Kontakt herstellen: Kind beim Namen
                                                                             ff Erstarren: „freeze“ – Ohnmacht                                  ff Sexualisiertes bzw. promiskuitives Verhalten                                      nennen, Blickkontakt herstellen, auf
                                                                                                                                                ff Flashbacks: pltzlich auftauchende Gefühle, die das Kind das Er-                  Augenhöhe ansprechen (vor das Kind
                                                                                                                                                    eignis noch einmal erleben lassen, ausgelst durch Trigger (Reize,                knien)
                                                                                                                                                    die an das Trauma „erinnern“). Dies kann heftige Krperreaktionen               Achtsam berühren, Körperwahrneh             -
                                                                                                                                                    hervorrufen (Zittern, Weinen, Schreien )                                         mung anregen, berkreuzbewegung
                                                                                                                                                ff ADS und ADHS (knnen erwiesenermaen von einem Trauma                           eV rschiedene Sinnesorgane anspre           -
                                                                                                                                                    verursacht werden)                                                               chen (Geräusche, Gerüche, Gegen         -
                                                                                                                                                ff Aggression (kann auch aus einer übergroen Angst entstehen)                       stände suchen, Getränke oder Essen
                                                                                                                                                ff Wutausbrüche                                                                     anbieten, Stofftier streicheln )
                                                                                                                                                ff Selbstverletzendes Verhalten (mit dem Kopf gegen die Wand,                     Einfach da sein und Sicherheit
Wichtig zu wissen ist,                                                                                                                              Fingernägel beien, an den Haaren reien, ritzen )                                 vermitteln
dass nicht jedes Kind                                                                                                                           ff Konzentrationsprobleme (nicht bei einer Sache bleiben knnen)                   In Bewegung kommen, einfache
in belastenden Situa   -                                                                                                                        ff Nervosität und Sprunghaftigkeit v ( on einem Zustand in den                      Arbeitsaufträge, Ablenkung
tionen Symptome oder                                                                                                                                anderen schwanken, was in ausgeprägter Form unter Umständen                    Ortswechsel (hinaus aus der Klasse,
Traumafolgestörungen                                                                                                                                als manisch-depressive oder bipolare Strung diagnostiziert wird)                 in den Schulgarten ), Rückzugsort
entwickelt.                                                                                                                                     ff Schlaflosigkeit                                                                  oder frische Luft

                “
                                                                                                                                                ff Angespanntheit und Arbeitssucht (nicht entspannen knnen)                       Psychoedukation: Dem Schüler sagen,
                                                                                                                                                ff Suche nach dem Adrenalinkick (Risikoverhalten)                                   dass er sich in einem Zustand befindet,
                                                                                                                                                ff Selbstmedikation mit allem, was beruhigt                                         der wieder vorübergehen wird

                          „Hutträger“,
                      F. Hinterkörner
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 16 I 04 Mögliche Verhaltensweisen nach traumatisierenden Erlebnissen                                                                                                                                                         Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 17

                                                                                                                                                                                                                                                                      Ali
                                                                                                                                                                                                                                                                      12 Jahre
                                                                                                                                             Fallbeispiel aus der Praxis
                                                                                                                                             Der 12-jährige Ali ist mit seiner Mutter und mit der jün     -     seinem Verhalten, sie zeigt großes Verständnis dafür
                                                                                                                                             geren Schwester aus der Ukraine geüchtet, der Vater                und baut eine echte Beziehung mit ihm auf. Sehr be                 -
                                                                                                                                             ist in der Heimat geblieben. Was er bei dieser Flucht              hutsam integriert sie ihn immer wieder in den Unter                -
                                                                                                                                             alles erlebt hat, wissen wir nicht. Während des Unter        -     richt. Mit ihrem klaren und ritualisierten Unterricht
                                                                                                                                             richts starrt er oft gedankenverloren aus dem Fenster.             sorgt sie für Stabilität. Für Alis Anliegen hat sie immer
                                                                                                                                             Er kann sich schwer konzentrieren und zeigt nur ein ge       -     ein oenes Ohr. Die Lehrerin hat immer ein Auge auf
                                                                                                                                             ringes Interesse am Unterrichtsgeschehen. Manchmal                 den Schüler, damit sie mögliche Dissoziationen oder
                                                                                                                                             wirkt er frustriert und ängstlich. Seine Lehrerin kennt            Trigger behutsam abfangen kann, indem sie Ali hilft,
                                                                                                                                             den Zusammenhang zwischen seiner Geschichte und                    sich zu regulieren.

                                                                                                „Essenzen der Liebe“, F. Hinterkörner

      .. DISSOZIATIO:N F
                       „ LIGHT“ FLUCHT                                                                                                  .. ERSTARREN: F
                                                                                                                                                      „ REEZE“ OHNMACHT

      Das Stammhirn entscheidet sich für das Flüchten,eV rmeiden,eW g-            Hilfreiches Verhalten: Achte darauf,                  eW nn wir der Gefahrenquelle nicht mehr ausweichen können, kann                           Hilfreiches Verhalten:
      laufen, für Ablenken oder für Suchtmittel („innerlich fliehen“). Bei        im Hier und Jetzt zu sein!                              das eine Ohnmacht auslösen und uns erstarren lassen. Dieser Tot             -           Bringe die Person in Bewegung!
      Kindern und Jugendlichen kann sich das folgendermaen äuern:                                                                         stellreflex ist aus dem Tierreich bekannt: bewegungslose Körper wer         -
                                                                                    Zusätzlich zu den oben angeführten                    den übersehen oder uninteressant, weil sie für tot gehalten werden.                       Präsenz zeigen ( „Ich bin für dich da!“ )
      ff Schwierigkeiten beim Sprechen, Sprechverweigerung:                      eV rhaltensregeln kann Folgendes hilf             -     Für Menschen hat diese Reaktion schwerwiegende Folgen. Sie ist mit                        Kontakt herstellen: Kind beim Namen
          (selektiver) Mutismus                                                     reich sein:                                           einer Dissoziation verbunden, das heißt, der Geist koppelt sich vom                        nennen, Blickkontakt herstellen, sich
      ff bergroe ˜ngstlichkeit oder Angst und Panikattacken                                                                              Körper ab, ähnlich einer Nahtoderfahrung. Erfahrungen, die unser                           auf Augenhöhe begeben
           (z. B. Angst vor Dunkelheit, Tieren )                                    Sich in der Realität orientieren                     berleben bedrohen, können später zu posttraumatischen Sympto                -             Berührungen sensibel anbieten
      ff berempfindlichkeit (psychisch/physisch);                                   (Welcher Tag ist heute? Gegen-                       men führen, die der Körper immer wieder wählt, wenn eine (auch                            Ansprechen: „Ich merke, dass du
            vieles auf sich selbst beziehen                                          stände zeigen und beschreiben,                       nur subjektiv empfundene) Gefahr droht. Diese Reaktion schützt vor                         Stimmt das?“
      ff Traurigkeit, depressive Verstimmungen, Depression                          nach der Uhrzeit fragen usw.)                        den schrecklichen Gefühlen, die mit dem Ereignis verbunden sind.                          Bewusst atmen (miteinander, gleich        -
      ff Schüchternheit (Kind mag nicht alleine sein, braucht immer seine          Geduld und Präsenz ausstrahlen                                                                                                                  zeitig, gleichmäßig atmen)
            Bezugsperson, traut sich wenig zu )                                     Klar und bestimmt auftreten                        Mögliche Symptome:                                                                          Zählen (110, 10)1
      ff Beeinträchtigte Bindungsfähigkeit                                         Sicherheit schaffen und vermitteln                 » Bettnässen oder Einkoten                                                                 Dinge, Farben etc. benennen
      ff Konzentrationsprobleme und Leistungsstrungen                                                                                  » Erhöhte Schreckhaftigkeit                                                                Ortswechsel (hinaus aus der Klasse,
         G  ( rundbedürfnisse sind nicht gestillt, Organismus ist im ber-                                                                  (bei Geräuschen, plötzlichen Bewegungen )                                                 ins Freie )
             lebensmodus und kann sich nicht auf Lerninhalte konzentrieren)                                                             » bertriebene Anhänglichkeit, Anklammern an Eltern,                                        Bewegung (laufen, Stiegen steigen )
      ff Nicht erreichbar sein, in Tagträume oder Fantasiewelten flüchten                                                                 Schulverweigerung                                                                        Leise und ruhig sprechen
      ff Entwicklungsrückschritte                                                                                                      » Probleme mit dem Essen (zu viel, zu wenig )                                              Starke Sinnesreize setzen (z. B. kaltes
             (z. B. Daumenlutschen, schon Gelerntes wieder verlernen )                                                                  » Nicht auffallen wollen                                                                    Tuch auf den Arm legen, hohe oder
      ff Traumatische Erlebnisse werden unbewusst immer wieder nach        -                                                           » Somatisierung (psychosomatische Beschwerden wie                                           schrille Geräusche erzeugen )
              gespielt oder gezeichnet: ein Versuch, das Erlebte zu verarbeiten                                                            Kopfschmerzen, Bauchweh, Hautprobleme )
                                                                                                                                        » Depression, ein Gefühl von Sinnlosigkeit
                                                                                                                                        » Sich „anders“, alleine und abgeschnitten fühlen
                                                                                                                                        » Schuld- und Schamgefühle
                                                                                                                                        » Starrer Blick
                                                                                                                                        » Rückzug
TRAUMABEWÄLTIGUNG IN DER SCHULE - LEITFADEN FÜR
Seite 18 I 05 Mögliche Unterstützung bei traumabelasteten Kindern                                                                                                                 Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 19

                                                                                                                                                             Traumatisierte Kinder brauchen Beziehungen, um Selbst -
                                                                                                                                                             regulierung erlernen zu können, es fällt ihnen jedoch noch
                                                                                                                                                             schwer, normale Beziehungen einzugehen. Daher liegt es
                                                                                                                                                             an uns, vorsichtig in Kontakt zu treten, Vertrauen zu schaf -
                                                                                                                                                             fen und eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Wenn das
                                                                                                                                                             Kind über ein belastendes Thema reden möchte: zuhören,
                                                                                                                                                             oen sein, jedoch nur beantworten, was das Kind fragt –

                                                                                                                                                                                                                             “
                                                                                                                                                             eher weniger als mehr.

                                                                                                                                                                                                                   „Neuland“, F. Hinterkörner

05                  Mögliche Unterstützung
                    bei traumabelasteten Kindern                                                                      Ressourcenorientierte Fragestellungen im Dialog mit dem Kind:
                                                                                                                      »W
                                                                                                                        as macht dir Freude? Was hat dir früher Freude gemacht?
                                                                                                                      »W
                                                                                                                        elches Verhalten von jemand anderem hat dir geholfen?
                                                                                                                      »W
                                                                                                                        as ist dir in der letzten Woche besonders gelungen?
                               Schule soll ein „sicherer Ort“ mit geordneten Strukturen und vertrauens            -   »W
                                                                                                                        elche Personen, Orte oder Dinge bringen dir Ruhe oder Hilfe?
                               würdigen Bezugspersonen sein. Dazu gehören verlässliche Beziehungsange             -   »W
                                                                                                                        as würde dein bester Freund sagen, was du besonders gut kannst, was
                               bote wie fixe Sprechzeiten und die Einhaltung der gewohnten Tagesabläufe.               dich besonders auszeichnet?
                               Auch Rituale und Feiern geben Sicherheit, Struktur und Halt, bieten aber               »W
                                                                                                                        ann warst du das letzte Mal stolz auf dich?
                               auch Gelegenheit, über verschiedene Themen zu sprechen.                                »W
                                                                                                                        elche von deinen Fähigkeiten würdest du gerne noch weiter ausbauen?
                                                                                                                      »W
                                                                                                                        as sollte in der nächsten Stunde passieren, damit du zufriedener bist?
                               Im Schulalltag bieten sich folgende Hilfsmittel an:                                    »B
                                                                                                                        enenne drei Dinge in deinem Leben, für die du dankbar bist.
                                »R   ollenspiele (Gefühle stellvertretend benennen)                                  »W
                                                                                                                        as wäre ein erster kleiner Schritt in die Richtung, in die du gehen möchtest?
                                »K   reatives Gestalten (Malen, Zeichnen )…                                          »B
                                                                                                                        enenne ein paar konkrete Situationen, in denen du dich (zumindest ein
                                » „No
                                     tfallkoffer“ in der Klasse: Sorgenpüppchen, Sorgenfresserchen,                   wenig) so verhalten hast, wie du das gerne magst.
                                    Massagebälle, Bilderbücher …                                                      »S
                                                                                                                        chätze auf einer Skala von 0 bis 10 ein, wie gut es dir zurzeit gelingt,
                                » Üb ungen für den Selbstwert                                                         (dieses oder jenes) umzusetzen.
                                »S   piele und Übungen mit Gefühlen (erkennen, lesen können, benennen)               »W
                                                                                                                        as sind erste kleine Anzeichen, an denen du merkst, dass es dir etwas
                                »R   egelmäßiges Essen und Trinken                                                    besser geht? Was sehen, hören oder bemerken dann andere an dir?
                                »K   örperliche Aktivitäten                                                          »W
                                                                                                                        ie belohnst du dich für ein Verhalten oder einen Zustand, mit dem du
                                »M   editation, oY ga, Entspannungsübungen funktionieren bei traumati        -        zufrieden bist?
                                    sierten Menschen nur bedingt: Sie können sich nicht darauf einlassen              »W
                                                                                                                        as hat dir in der Vergangenheit geholfen?
                                    und entspannen, da sie ständig in Alarmbereitschaft sind und sich nicht           »B
                                                                                                                        ei welchen Problemen würdest du um Hilfe bitten, bei welchen nicht?
                                    sicher fühlen.
Seite 20 I 05 Mögliche Unterstützung bei traumabelasteten Kindern                                                                                                                      „Einkorn“, F. Hinterkörner   Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 21

   Lukas
       11 Jahre
                                      Fallbeispiel aus der Praxis
      Der 11-jährige Lukas el schon in der Volksschulzeit               In der Mittelschule wurden die Probleme wieder akuter,
      auf: Er konnte sich schwer konzentrieren und benahm               und die Mutter wurde erneut in die Schule eingeladen.
      sich unpassend, indem er alles hinterfragte, häug                 Man erfuhr, dass es zahlreiche Bindungsabbrüche mit
      widersprach, Machtspiele inszenierte und provozier            -   dem leiblichen Vater und diversen Stiefvätern gab. Ein
      te. Um der Sache auf den Grund zu gehen, wurde die                Stiefvater hatte Lukas – ohne das bewusste Wissen der
      alleinerziehende Mutter gebeten, ein psychologisches              Mutter – schwer misshandelt, indem er ihn fesselte,
      Gutachten erstellen zu lassen, in welchem ADS und                 einsperrte und kalt abduschte. In einem Gespräch mit
      Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen            diagnosti       -   der Betreuungslehrerin konnte die Mutter das Aus         -
      ziert wurden. Seine Intelligenz befand sich im Norm           -   maß der Ereignisse begreifen und betrauern. Die Zu       -   Generell gilt:
      bereich. Das Kind bekam intensive Ergotherapie und                sammenhänge mit den traumatischen Erfahrungen                » Zeit lassen und Ruhe bewahren
      eine psychologische Betreuung. Beides brachte sehr                von Lukas wurden nun klar, und so konnten ihm auch           » Augenkontakt mit dem Schüler/der Schülerin halten
      wenig, weil – laut Mutter – der Junge nicht mitarbeiten           die Lehrerinnen und Lehrer verständnisvoller begeg       -   » Klar, bestimmt und geduldig sein
      wollte.                                                           nen. Zu einem geeigneten Zeitpunkt wurde für Lukas           » Für Ruhe und Entspannung sorgen
                                                                        die passende Therapieform gefunden.                          » Aktives, interessiertes Zuhören

                               Folgende Handlungsansätze sind in der Schule hilfreich:                                               Notwendige Hilfen nach einer Traumatisierung
                                 Neue Autorität:       „Ich bin da und ich bleibe da, komme was wolle.“
                                                                                                     Manchmal                        Das Kind braucht …
                                      genügt es, einfach nur anwesend zu sein. (siehe Anhang Literatur: „Neue                        … einen sicheren Ort
                                      Autorität in der Schule“)                                                                      … liebevolle und vertrauenswürdige Erwachsene
                                 Intuitive Handlungen:         Hineinspüren, was jetzt genau dieses Kind brau  -                    … einen Platz, um zur Ruhe zu kommen
                                      chen knnte, um sich wohl und sicher zu fühlen (z. B. Berührung, keine                          … Stabilität und Struktur
                                      Berührung?)                                                                                    … Spielangebote
                                 Beratung: Im Beratungsgespräch ist es überaus frderlich, den Betroffenen                           … Zeit und Geduld
                                      mit Offenheit zu begegnen und sie nicht zu beurteilen. Der Fokus liegt auf                     … Normalität
                                      positiver Krisenbewältigung. Die Sprache soll klar und einfach sein.                           … nach Bedarf therapeutische Angebote
                                  Psychoedukation:        Man versucht, die Fakten so zu übersetzen, dass sie von
                                      den Betroffenen gut verstanden werden knnen.                                                   Selbstfürsorge und Austausch:
                                   Wichtige Gesprächsregeln:         Keine Konfrontation mit dem Trauma-Thema,                      » Hilfe und Unterstützung holen – für das betroffene
                                      sondern für Stabilisierung sorgen. Nicht „bohren“! Die Traumabearbeitung                          Kind, die Schulkollegen und sich selbst (siehe
                                      ist der Psychotherapie vorbehalten.                                                               „Anlaufstellen“)
                                   Krisenintervention:      Ich verschaffe mir einen berblick und organisiere im                    » Möglichkeiten zur Reflexion – im kollegialen Kreis
                                      akuten Fall sofortige Hilfe. Ich sorge für ein Sicherheitsgefühl. Ich decke ba
                                                                                                                   -                    oder auch professionell (Supervision, Intervision,
                                      sale Bedürfnisse ab (trinken, essen, frieren, schwitzen, Privatsphäre ). Ich                      Selbstreflexion, Therapie – siehe Anhang)
                                      beruhige, hre zu und bin da. Ich plane weitere Unterstützungsmglichkei-                        » Sich eigene Traumen bewusst machen, damit es nicht
                                      ten. Wenn es notwendig ist, verständige ich die Rettung oder die Polizei.                         zu Übertragungen kommt; das heißt: eigene Emotionen
                                    Biografiearbeit: Gemeinsam mit dem Kind beschäftigen wir uns mit den                               reflektieren, die eigene Geschichte aufarbeiten und sich
                                      prägendsten Stationen des bisherigen Lebens.                                                      gegebenenfalls therapeutische Unterstützung holen
                                     Individuelle Lösungen:      e
                                                                  J des Kind ist anders, jedes Trauma braucht etwas                  » Austausch, Vernetzung und Bündnisse pflegen
                                      anderes.                                                                                       » Weitergeben, was sich bewährt hat, damit andere
                                                                                                                                        Lehrende von den Erkenntnissen profitieren
Seite 22 I 06 Vorbeugende Maßnahmen, um Kinder zu stärken                                                                                                                                                   Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 23

                                                                                                                                                                                         Typische Reaktionen traumatisierter Kinder
                                                                                                                                                                                         » Anna hat Bauchschmerzen, ihr ist andauernd schlecht.
                                                                                                                                                                                          »  Rosi leidet unter Rückenschmerzen und kann sich
                                                                                                                                                                                                 kaum auf dem Stuhl halten.
                                                                                                                                                                                           »  Pia kann ihre Schulsachen nicht in rO dnung halten:
                                                                                                                                                                                                 Sie sind zerfleddert, die Hefte sind vollgekritzelt und
                                                                                                                                                                                                 unsortiert.
                                                                                                                                                                                            » Tim ist dauernd müde, kann sich nicht konzentrieren.
                                                                                                                                                                                             »  Paul ärgert seine iM tschüler dauernd: Er zwickt sie,

                                                                                                                                                                                                                                                        “
                                                                                                                                                                                                 nimmt ihnen Dinge weg, obwohl er selbst alles hat.

                                                                                                                                                                                                                                        „Sommergräser“, F. Hinterkörner

06                Vorbeugende Maßnahmen,
                  um Kinder zu stärken
      Welche Möglichkeiten haben Lehrer, um                 Verschiedene Leitgedanken dazu:                                                                                                  Praktische Beispiele aus dem Schulalltag:
      Posttraumatische Belastungsstörungen
      (PTBS) bzw. Traumafolgestörungen zu                   »D
                                                              as Konzept des „guten Grundes“: Vor dem Hintergrund seiner          Die Schule „sicher und dadurch berechenbar“ machen       » „weil“ statt „warum/wieso“
      minimieren oder sogar zu vermeiden?                    Erfahrungen und Erlebnisse ergibt das Verhalten des Kindes Sinn!       (siehe Kapitel 5)                                        Beispiel:
                                                            »E
                                                              in pädagogischer Grundsatz soll sein: Ich beobachte, plane, pro-    bungen zur Selbstwahrnehmung: Stimmungsbaro-             „Warum hast du die Hausübung schon wieder nicht
      Mit anderen Worten: Was ist zu tun, wenn               biere aus, adaptiere, wiederhole und hoffe, dass sich das Verhalten     meter, Gefühle benennen G   ( efühlskärtchen, Gefühls
                                                                                                                                                                                        -    gemacht?“ – Besser: „Du hast die Hausübung nicht
       Kinder o
              ( der auch Erwachsene) in unserem              ändert.                                                                 monster ), Stopp-Regel, Rhythmusübungen, Achtsam-       gemacht, weil …?“
       Umfeld mit traumatisierenden Erlebnissen             »W
                                                              ir arbeiten mit dem traumatisierten Kind und mit seinen Res-          keitsübungen, Krperschemaübungen, bungen zur
       konfrontiert werden, z. B. schlechte Nach-            sourcen, das Trauma steht aber nicht im Vordergrund.                    Raumorientierung                                        » „und“ statt „aber“
       richten empfangen, einen Unfall haben,               »A
                                                              uthentisch sein: Das, was ich sage, soll mit der Mimik und Gestik   Ermunterung und Lob                                      Beispiel:
       Zeuge von Gewalt werden, Verletzungen                 zusammenpassen, also z. B. nicht kritisieren und dabei lächeln.       Dankbarkeitstagebuch                                     „Du hast die Hausübung gut gemacht, aber beim
       erleiden, ihr Zuhause verlieren oder lebens
                                                -           »S
                                                              elbstermächtigung: Voraussetzung ist es, die Würde des Schülers     Bewegung, eventuell berkreuzbewegungen                   Diktat hast du so viele Fehler.“ – Besser: „Du hast die
       bedrohliche Ereignisse miterleben?                    wiederherzustellen und seine Hilflosigkeit zu akzeptieren und an-     Resilienztraining                                        Hausübung gut gemacht, und das Diktat schreibst
                                                             zuerkennen. Dazu ist es wichtig, eine gute Beziehung zum Kind zu      Anti-Gewalt-Training (siehe Anhang)                      du bitte zur Übung noch einmal in dein Heft.“
      Wichtig ist grundsätzlich eine trauma-                 haben. Der Lehrer begleitet und unterstützt bei der Bewältigung       bungen im Sozialen Lernen
      sensible Haltung.                                      der Unterrichtsaufgaben. Durch die „Bestrafung“ von „unliebsa-
                                                             mem“ Verhalten werden keine Veränderungen erzielt.
                                                            »N
                                                              etzwerke schaffen: Wenn notwendig, holen wir uns noch andere
                                                             Menschen aus dem Umfeld des Kindes hinzu.
Seite 24 I 07 Scham und Schuld                                                                                  „Gezähmtes Pferd“, F. Hinterkörner                              Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 25

07                                                                                                                                                                                                           Valerie
                                                                                                                                                                                                                    6 Jahre

      Scham                                                                                Fallbeispiel aus der Praxis

      und Schuld                                                                           Die 6-jährige Valerie ist sehr begabt, jedoch kann sie
                                                                                           dem Unterricht nicht folgen. Wir erfahren, dass sie ih
                                                                                           ren kleinen Bruder durch den „plötzlichen Kindstod“
                                                                                                                                                         -
                                                                                                                                                             Die Lehrerin fragt sie zum Beispiel: „Siehst du das grü
                                                                                                                                                             ne Buch dort drüben?,“ um ihre Aufmerksamkeit auf
                                                                                                                                                             etwas im Außen zu fokussieren. Ein mögliches, sinn
                                                                                                                                                                                                                                -

                                                                                                                                                                                                                                -
                                                                                           verloren hat. Die Familie ist sehr belastet, das Ereignis         volles Spiel wäre: „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst“.
                                                                                           droht sie zu erdrücken. Zwischen den Eltern ist eine              Dadurch wird Valerie spielerisch angeleitet, sich aktiv
      Scham ist schmerzhaft, macht uns klein, man fühlt sich                               Stimmung von Verurteilungen, Vorwürfen und Hilf               -   umzusehen, um festzustellen, dass alles so ist, wie es
      unterlegen und schwach. Scham kann aber auch nützlich                                losigkeit. Es wird angenommen, dass es auch zu ge             -   immer war, und dass sie sicher ist.
      und konstruktiv sein: Sie setzt uns Grenzen, bewahrt unse    -                       waltsamen Übergrien zwischen den Eltern kommt,                    Im Kollegium wird ein Präsenzplan mit Freistunden
      re Würde, steigert die Motivation, fördert die Zusammen      -                       da der eine oder die andere schon mit einem blauen                etc. erstellt. So wird abgeklärt, ob immer jemand im
      arbeit, deeskaliert und reduziert Gewalt. Scham hilft, uns                           Auge gesehen wurde. Sehr wahrscheinlich ist auch Va           -   Konferenzzimmer ist, der bei Bedarf die Klasse über                -
      zu reflektieren, Verantwortung zu übernehmen und Din         -                       lerie mit dieser Atmosphäre konfrontiert und belastet.            nehmen oder Valerie auangen kann.
      ge wiedergutzumachen. Sie hilft, moralischer zu werden,                              In der Schule fertigt sie eindeutige Zeichnungen an,              In der Familie herrscht eine große Scham, weil die El              -
      indem sie unserem Gewissen sagt, was noch passt oder                                 damit trägt sie ihre Bendlichkeiten nach außen und                tern wissen, dass sie Fehler gemacht haben. Mit Em                 -
      nicht mehr in Ordnung ist. Es hilft, sich zu motivieren,                             macht sie sichtbar. Ich ermuntere Valerie, zu zeich           -   pathie und Einfühlungsvermögen können sie diese
      sich zu bessern, zu regulieren bzw. sich zu verändern.                               nen, und frage nach, ohne sie auszufragen.                        Scham überwinden und eine außerschulische Hilfe                    -
                                                                                           Die Klassenlehrerin hat eine Dissoziation mit einem               stellung von der Kinder- und Jugendhilfe dankend an                -
      Viele traumatische Erfahrungen sind mit Scham und                                    allergischen Schock verwechselt. Als abgeklärt wurde,             nehmen. Die Eltern haben sich inzwischen getrennt,
      Schuld verbunden. Für Kinder wird das Erlebte oftmals                                dass Valerie nicht unter Allergien leidet, kann sie ruhig         Valerie ist nicht mehr den ständigen Streitigkeiten
      mit einem Tabu belegt. Vertraut sich ein Kind einem Leh      -                       auf ihre Anfälle reagieren und sie sanft herausholen,             und Gewalthandlungen ausgesetzt. Es geht ihr zuneh                 -
      rer an, ist es wichtig, nur das weiterzugeben, was mit dem                           indem sie sie direkt mit Namen anspricht, ihr erklärt,            mend besser.
      Kind vereinbart wurde. Stelle nur Verständnisfragen, und                             wo sie gerade ist, was im Augenblick ansteht …

                                                                                       “
      grabe niemals in den Erinnerungen des Kindes!

      Jugendliche sollen mehr und mehr zugeben können, dass
       ein Problem besteht, dann kann Scham reguliert werden.                                                                         Fragen, die es ermöglichen, beide Seiten zu betrachten:
       Sie sollen eingestehen können, dass etwas schiefläuft.                                                                           Inwieweit ist das Verhalten (z. B. Rauchen) hilfreich für dich,
                                                                                                                                          in welchem Bereich ist es eher schädlich bzw. hilft nicht sehr?
                                                                                                                                        Wann denkst du, es ist genug, wann denkst du, es ist noch
                                                                                                                                          lange nicht genug? (z. B. Computer spielen)
                                                                                                                                        Bei Kindern mit Wut über Eltern: Wo ist die Wut angemessen,
                                                                                                                                          wo nicht mehr?
                                                                                                                                        Wenn das Kind im Gespräch missmutig reagiert, weil es sich
                                                                                                                                          beschämt fühlt: Inwieweit ist dieses Gefühl unangenehm für
                                                                                                                                          dich, inwieweit ist das jetzt hilfreich?

                                                               Scham
                                                                                                                                        Was sind die Vorteile und Nachteile gewisser Situationen?
                                                                                                                                          Reden wir über beides! (Schwarz-Wei-Denken vermeiden)
                                                                                                                                        Wann ist das (z. B. Kiffen) gut für dich, wann schadet es dir?
                                                               ist natürlich                                                            Was ist daran in Ordnung, was ist nicht so gut gelaufen?

                                                               und auch wichtig.                                                      Wichtig bei solchen Gesprächen:
                                                               Scham ist die                                                          Pausen machen es „rattert“ im Gehirn und versuchen,
                                                                                                                                      neutral zu reagieren!
                                                               Hüterin der
                                                               Menschenwürde.

                                                                                   “
Seite 26 I 08 Traumasensible Elternarbeit                                                                                                                                                                                              Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 27

08                  Traumasensible
                    Elternarbeit
                                Um Eltern zu helfen, sich von ihrer möglichen Scham zu befreien und ein                                                 Elternabende und Vernetzungsgespräche mit allen            Beispielsätze, mit denen die Lehrperson in ein Gespräch
                                Stück ihrer Schuldgefühle hinter sich zu lassen, gilt es einen guten Kontakt                                            Beteiligten sorgen für Transparenz. Regelmäßige Ge-        gehen könnte:
                                aufzubauen und zu pflegen. Meist sind die Eltern betroffener Kinder wohl                                                spräche mit Eltern sollten auch stattfinden, wenn es
                                „mittraumatisiert“, und es passiert nicht selten, dass vor allem Mütter das ers        -                                gerade gut läuft. Hier gilt es abzustimmen: Wer von        »S  chön, dass Sie da sind. Wie geht es Ihnen?
                                 te Mal über Ereignisse sprechen, die bis dahin im Verborgenen geblieben sind.                                          den Gesprächsteilnehmern (Lehrer, Eltern ...) ist für      »G  ut, dass Sie sich heute Zeit genommen haben.
                                 Daher ist es notwendig, Elternarbeit sensibel zu gestalten.                                                            die Einhaltung der jeweiligen Schritte zuständig?          »E  s ist für uns alle eine ungewohnte und vielleicht auch
                                                                                                                                                        Wann sollen die Abmachungen erfolgt bzw. aus-                unangenehme Situation.
                                Ebenso wesentlich ist, dass wir uns als Lehrerinnen und Lehrer mit unse                -                                geführt sein? Vereinbarung eines weiteren Termins          »E  s ist gar nicht leicht, sich zusammenzusetzen und über
                                ren eigenen (Trauma-)Geschichten und „Abgründen“, mit unseren eigenen                                                   (wenn notwendig), um Verbindlichkeit auf allen Ebe-          dieses Thema zu sprechen.
                                Schuld- und Schamgefühlen vertraut machen. Sind wir uns immer all unserer                                               nen zu schaffen.                                           » I ch freue mich auf den offenen Austausch mit Ihnen.
                                Gefühlsregungen bewusst oder bedarf es einer Reflexion? Es ist möglicher               -                                                                                           » I st es von Ihnen aus in Ordnung, wenn ...?
                                weise ein lebenslanger Prozess, in unsere „blinden Flecken“ ein wenig Licht                                             Wesentliche Fragen:                                        »D  ieses Gespräch heute könnte hart sein.
                                zu lassen. Das kann sehr schmerzhaft, jedoch heilend sein. Hilfen dazu gibt                                             »W  ie zeigt sich das Verhalten des Kindes zu Hause?      »E  s ist sehr wichtig für mich zu hören, was Sie denken,
                                es genug in Form von Supervision, oC aching, Aufstellungsarbeit, Psychothe             -                                » Was hat sich verbessert?                                  sogar wenn es kritisch ist.
                                rapie und Ähnlichem.                                                                                                    » Was kann wer dazu beitragen, dass …?                    »B  itte korrigieren Sie mich …
                                                                                                                                                                                                                   »E  s könnte sein, dass Sie das jetzt irritiert …
                                                                                                                                                        Um für Elterngespräche einen sicheren Ort zu schaf-        »W  ie geht es Ihnen mit Ihrem Kind, was bereitet Ihnen
                                                                                                                                                        fen, bedarf es einer empathischen Haltung:                   Sorgen?
                                                                                                                                                        » Stimmung auflockern (Small Talk, Wasser anbie-          »W  aren Sie schon mal in solch einer Situation?
                                                                                                                                                           ten, Sitzordnung auf Augenhöhe ...)                     »W  ir werden uns gemeinsam was überlegen. Es geht uns
                                                                                                                                                        » Eltern ins Boot holen mit nonverbalen Signalen            darum, dass es XY gut geht.
    Hinweis zur transgenerationellen
                                                                                                                                                           (Mimik, Gestik, lächeln, offen sein ...)                »W  ir sind jetzt da, um uns miteinander zu unterhalten,
    Weitergabe von Traumen:
                                                                                                                                                        » Den Eltern das Gefühl geben, dass Lehrer nicht al-        wie wir am besten … (auf das Ziel, das Gute, das Kind
    Ein Trauma kann „sozial vererbt“                                                                                                                       les wissen, aber helfen wollen. („Sie als Eltern sind     konzentrieren)
    werden, z. B. durch Zuschauen,                                                                                                                         die Experten für Ihr Kind. Erzählen Sie mir bitte,
    Weitererzählen oder Imitation.                                                                                                                         wie geht es Ihnen mit Ihrer Tochter?“)                  »W
                                                                                                                                                                                                                     as gut funktioniert/positiv auffällt, ist ...
    Traumen werden auch in den                                                                                                                          » Bündnisrhetorik (Neue Autorität)                        »U
                                                                                                                                                                                                                     ns allen ist wichtig, dass es dem Kind gut geht, und es
    Genen verankert und verändern                                                                                                                       » Alles ist okay: Jeder hat seine Gefühle, Emotionen,      kann sein, dass ich etwas sage, das Sie verletzen könnte.
    nachweislich Gehirnstrukturen.                                                                                                                         Gedanken ...                                             Bitte melden Sie sich sofort, wenn das der Fall ist.

                                            “
    Durch Verschweigen entstehen                                                                                                                        » Keine Vorwürfe (Eltern haben häufig Angst, Kritik       »S
                                                                                                                                                                                                                     ie kennen Ihr Kind als Eltern am besten, und es ist ganz
    „Familiengeheimnisse“, die im                                                                                                                          zu hören oder beschuldigt zu werden)                     normal, dass wir von der Schule einen anderen Eindruck
    Inneren mächtig weiterwirken.                                                                                                                       » Keine Provokationen                                      von Ihrem Kind haben.
                                                                                                                                                        » Eltern fühlen sich besser verstanden, wenn              »E
                                                                                                                                                                                                                     s geht hier nicht um Richtig oder Falsch oder wer
                                                                                                                                                           Lehrende von sich und ihren Kindern erzählen             Schuld hat, sondern darum, gemeinsam einen guten
                                                                                                                                                        » Auf Geheimhaltung hinweisen – alles bleibt in            Weg zu finden.
                                                                                                                                                           diesem Raum                                             »K
                                                                                                                                                                                                                     önnen Sie mir darüber mehr erzählen?
                                                                                                                                                        » Mitschreiben bedeutet: Ich bin interessiert, neugie-    »E
                                                                                                                                                                                                                     s ist sehr wichtig für mich zu hören, was ich ändern
                                                                                                                                                           rig, ihr seid mir wichtig, ich nehme das Gespräch        könnte, was ich anders machen könnte.
                                                                                                                                                           ernst                                                   »H
                                                                                                                                                                                                                     aben Sie noch irgendeine Idee, was wir machen könn-
                                                                                                                                                                                                                    ten? (aber nicht aus einer Hilflosigkeit heraus, sondern
                                                                                                                                                         Lehrer sind keine Therapeuten!                             aus einer Offenheit für Neues)
                                                                                                                  „Die kleine Reise“, F. Hinterkörner
Seite 28 I 09 Selbstreflexion                                                                                                                                                                         Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 29

                                                                                                                                                                                                                                       Lisa
09                   Selbstreexion
                     Wie gehe ich als Lehrerin oder Lehrer
                                                                                                                        Fallbeispiel aus der Praxis
                                                                                                                                                                                                                                          13 Jahre

                     persnlich mit dem Thema um?                                                                        Die 13-jährige Lisa befürchtet, von ihrem Exfreund
                                                                                                                        schwanger zu sein. Ihre Mama hat gerade ein Halbge       -
                                                                                                                                                                                     ihr die Sache über den Kopf zu wachsen droht) kon
                                                                                                                                                                                     taktieren kann. Ich bleibe ganz ruhig und bin einfach
                                                                                                                                                                                                                                                          -

                                                                                                                        schwisterchen geboren, und sie traut sich ihr nichts         für sie da. In der Zwischenzeit hole ich mir bei mei                 -
                                                                                                                        zu erzählen. Auch mit ihren Freundinnen möchte Lisa          nen Kolleginnen externen Rat, da dies kein alltägliches
                                                                                                                        ihre Ängste nicht teilen. Ich biete ihr an, gemeinsam        Problem ist, damit ich auch nichts übersehe und mich
                                                                                                                        mit ihrer Mama zu reden – das kann sich Lisa prinzipi    -   sicher fühle. Nach ein paar Tagen kommt die erlösen                  -
                                „Mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, heißt, immer wieder neu die Kin          -   ell vorstellen, aber sie möchte noch ein wenig warten.       de WhatsApp-Nachricht: Lisa hat ihre Menstruation
                                 der wahrzunehmen, sie in den Blick zu nehmen. Es heißt, sich selbst zu öff         -   Ausnahmsweise gebe ich der Schülerin meine priva         -   bekommen. Bei meinem nächsten Besuch reden wir
                                 nen, sich selbst frei zu machen, um immer wieder aufs Neue hinzuschauen,               te Handynummer, damit sie mich „im Notfall“ (wenn            auch über das Thema Verhütung.
                                 sich mit den einzelnen Kindern äußerlich und vor allem auch innerlich zu be        -
                                 schäftigen. Es heißt, einerseits das Verhalten und den Ausdruck der Gefühle
                                 der Kinder und Jugendlichen zu beobachten, und andererseits bei sich selbst
                                 wahrzunehmen, was einem auffällt am Kind, welche Reaktionen sichtbar und
                                 welche Gefühle im Kontakt mit dem Kind spürbar werden. Es ist ein Wahr             -
                                 nehmen mit den Augen und Ohren und mit dem Herzen – immer und immer
                                 wieder.“ (Kohler-Spiegel, 2017)

                                Wenn man als Lehrerperson mit Kindern in Krisensituationen arbeitet, ist es
                                wichtig, sich bei Bedarf selber Hilfe zu holen, etwa durch Supervision, Inter       -
                                vision, Selbstreflexion oder Therapie.

                                                               Es braucht greifbare Ansprechpersonen, zum
                                                               Beispiel im Kollegenkreis, die die Belastung und
                                                               Betroffenheit teilen können, damit gemeinsame
                                                               Lösungswege gefunden werden können.
        Trauma-
        pädagogik                                              Es ist wichtig, die Zuwendung zu mir selbst zu för
                                                               dern. Es gilt individuell herauszufinden, was mir
                                                                                                                    -

                                                               hilft, mich zu mögen, mit mir selbst liebevoll um    -
        ist keine Technik oder                                 zugehen, meine Gefühle gut wahrnehmen, steu          -
        Methodik, sondern eine                                 ern und regulieren zu können.

                                            “
         Haltungspädagogik.

                                Auch für uns selber knnen jene Methoden hilfreich sein, die wir in
                                Krisensituationen unseren Schülern anbieten.

                                                                                                                                                                                                                                  „Libelle“, F. Hinterkörner
Seite 30 I 10 Selbstregulation                                                                                                                                                                  Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 31

10                  Selbstregulation

                                 Im Laufe unserer Kindheit lernen wir, uns selbst zu regulieren. Wir lernen,
                                 dass ein Zustand großer Not sich lösen lässt und sich der Körper und auch die
                                 Emotionen nach und nach wieder beruhigen. Wir erfahren, dass alles wieder
                                 gut werden kann. Selbstregulation ist zwar eine natürliche Fähigkeit, jedoch                                                        eJ schneller sich ein Mensch selbst regulieren kann, desto
                                 müssen wir sie erst lernen. Fehlt diese Fähigkeit oder ist sie zu schwach ausge   -                                                   weniger wird er dissoziieren. Um diese Fähigkeiten zu trai               -
                                 prägt, befinden wir uns in dauerhafter Über- oder Untererregung. Zwar ist es                                                          nieren, gibt es zahlreiche Übungen. Die Länge und die Häu                -
                                 möglich, sich auf diese Weise durchs Leben zu kämpfen, doch dies schränkt                                                             figkeit der Übungen hängen vom Alter und der Ausdauer
                                 unsere Fähigkeit, zu genießen, zu entspannen und sich zu entfalten, ein.                                                              des Kindes ab, dies ist sehr individuell und muss „erspürt“
                                 Selbstregulation ist essenziell für ein glückliches Leben!

                                 Gerade in herausfordernden Zeiten ist es sehr wichtig, einige leicht anwend       -
                                                                                                                       b
                                                                                                                       Ü ungen                                         werden. Natürlich gilt: eJ länger, desto besser. Die Pausen: so
                                                                                                                                                                       lange wie notwendig.

                                 bare Möglichkeiten zu kennen, um das Nervensystem zu regulieren. Durch
                                 einfache, gezielte Übungen ist es möglich, psychisch und körperlich wieder
                                 ruhiger zu werden.

                                 Nachfolgende Übungen können morgens und abends regelmäßig, jedoch                     Schmetterlingsumarmung                                       Versteckte Finger
                                  auch in Akutsituationen wie Panikattacken, Angstzuständen, Stresssitua           -   Hände über Kreuz nehmen und rechts und links                 Beide Daumen berühren sich, linken Daumen
                                  tionen, Trauer, Wut, Verzweiflung etc. durchgeführt werden. Die Übungen              abwechselnd auf die Oberarme tippen – Pause:                 wie einen Fahrradlenker umgreifen, rechten
                                  sind eine Auswahl und individuell einsetzbar, allerdings ersetzen sie keine          sich selber umarmen (Hände in die Achseln)                   Zeigefinger strecken und mit der linken Hand
                                  Therapie!                                                                                                                                         umgreifen – Einatmen: eine Hand zusammen-
                                                                                                                       Umschauen                                                    drücken – Ausatmen: die andere Hand zusam-
                                 Dennoch helfen und unterstützen sie dabei                                             Alle runden, roten, blauen, ovalen Dinge, alle               mendrücken – Pause – wiederholen
                                 … in unserer Mitte zu bleiben                                                         vertikalen Linien, alle Füße etc. zählen – dazwi-
                                  … unsere Stimmungsschwankungen auszutarieren                                         schen: Pause                                                 Hand auf Stirn und Brustkorb
                                   … sich zu spüren                                                                                                                                 Beobachten, was zwischen den Händen pas-
                                    … Dysregulationen auszugleichen                                                    Atmen                                                        siert: Was nimmst du wahr? – Hand von Stirn auf
                                                                                                                       Auspusten, solange du kannst – Denkmütze                     Bauch: Was nimmst du wahr? Beobachte deinen
                                 Sie umfassen folgende Fähigkeiten:                                                    (Ohren von unten nach oben, von innen nach                   Atem!
                                 » s ich bei emotionalem Aufruhr selbst zu beruhigen                                  außen massieren) – Pause
                                 » s ich zu erholen und zu entspannen
                                 »d  ie Aufmerksamkeit auszurichten und zu halten                                     Zentrierter Schmetterling
                                 » Impulse zu fühlen und zu kontrollieren                                             Hände falten – Zeigefinger ausstrecken – Daumen
                                 »m  it Frustrationen umzugehen                                                       abwechselnd übereinanderschlagen – Pause –
                                 »A  bsichten zu verwirklichen und Ziele zu verfolgen                                 wiederholen – Pause
                                 »F  reude zu empfinden und die Welt erkunden zu wollen
                                 » e ine Pause zwischen Reiz und Reaktion zu machen
Seite 32 I 10 Selbstregulation                                                                                                                      Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 33

                                 Nimm dir Zeit, die Abläufe der folgenden Übungen Punkt für Punkt
                                  bewusst durchzugehen:                                             Containment in deinem Körper

                                 Orientierung und Verbindung

                                 Trost durch Berührung                                              Orientierung in der Schwerkraft, Kiefergelenk
Seite 34 I 10 Selbstregulation                                                                                                                                                                      Leitfaden für Traumabewältigung in der Schule I Seite 35

                                                                                                                 Weitere
                                                                                                                 Fallbeispiele
                                                                                                                 Der 9-jährige Leo hat ein W   „ utproblem“: Seine Eltern und       Tagesablauf ist strukturiert. Im Turnunterricht baut
                                                                                                                 Lehrerinnen meinten es gut und rieten zum Ausagieren               sie Meditations-, Atem- und Achtsamkeitsübungen
                                 Dein Atemraum, Zwerchfell                                                       seiner Emotionen mithilfe eines Boxsackes. Da die Ag           -   ein, das schadet den anderen Kindern ja auch nicht.
                                 Sitzen oder (besser) gerade auf dem Rücken liegen – Beine aufstellen – Hände    gressionen einem frühkindlichen Trauma zugrunde lagen,             Die Lehrerin bemüht sich, emotional ausgeglichen
                                 auf den unteren Teil des Brustkorbs legen, Zeigefinger und Daumen auf die       wurde Leo beim wütenden Boxen gegen den Sack jedes                 zu sein. Bei einem Elterngespräch vermittelt sie der
                                 Rippen, die anderen Finger auf den Bauch legen – Mit der Wahrnehmung zu         Mal retraumatisiert. Unmittelbar danach ging es ihm zwar           Mutter geeignete Therapeuten und eine Gruppen-
                                 den Händen gehen; Hände fühlen aktiv, was sie berühren – Beobachten, wie        gut und er fühlte sich erleichtert, das Problem war jedoch         therapie für Tamara bei „Rainbow“.
                                 sich das anfühlt – Perspektive wechseln: der Bereich des Körpers berührt dei-   nicht gelöst und die Wutanfälle kamen immer wieder zu          -
                                 ne Hände – Hände spüren – Dem Körper Aufmerksamkeit schenken – Fläche,          rück. In solchen Fällen kann das Ausleben von Emotionen            Der 14-jährige Max war im letzten Schuljahr kein
                                 auf der ich liege, spüren – Noch mehr ablegen, Atem wird weicher – Welchen      totalen Kontrollverlust bedeuten und sollte unbedingt              einziges Mal in der Schule. Die Eltern haben sich jede
                                 Raum nimmt sich der Atem?                                                       vermieden werden.                                                  Hilfe geholt, auch die Kinder- und Jugendhilfe (KJH)
                                                                                                                                                                                    kam regelmäßig nach Hause, um den Jungen und die
                                 Erweitertes Sichtfeld und Wirbelsäule                                           Der Vater der 9-jährigen Sarah hat Begehungsverbot, da             Familie zu unterstützen. In diesem Jahr schafft er es,
                                 Aufrecht sitzen – Blick auf einen Punkt – Die Peripherie wahrnehmen, ohne       er ihre Mama krankenhausreif geschlagen hat. Sarah re -            mehrmals in der Woche zu kommen. Er hat nun eine
                                 den Blick vom Punkt wegzunehmen, nicht fokussieren! – Währenddessen:            agiert besonders auf männliche Bezugspersonen äußerst              Klassenlehrerin, die sich freut, wenn er kommt, zu
                                 Aufmerksamkeit auf Wirbelsäule richten, sie spüren (von der Schädelbasis,       aggressiv. Sarahs Lehrerin litt in ihrer Kindheit ebenfalls        der er eine positive Beziehung hat und die er mag.
                                 Hals, Brust, Mitte Oberkörper, Lendenwirbelsäule, Steißbein) – Eventuell ro-    unter einem gewalttätigen Vater, daher ist es ihr nicht            Mit den Eltern gibt es einen engen, guten Kontakt.
                                 tieren, bewegen … – Augen schließen – Wirbelsäule spüren – Vorstellen, dass     möglich, angemessen auf die aggressiven Anteile der                Sie können der Schule und ihren Maßnahmen ver-
                                 zwischen den Wirbelkörpern Raum entsteht – Impulsen, feinen Bewegungen          Schülerin zu reagieren. Sie schwankt zwischen Mitleid              trauen, was auch Max deutlich spürt. Es tut ihm
                                 folgen – Dem Körper erlauben, sich sanft zu zentrieren – Augen öffnen – Wei-    und Aggression – es fällt ihr schwer, mit Sarahs obsessi -         wohl, dass eine gute Beziehung zwischen Schule und
                                 ten, offenen Blick wahrnehmen – Blick konkretisieren, sich im Raum umsehen      vem Verhalten umzugehen, da sie ihre eigene Vergangen -            Elternhaus herrscht und nicht mehr gestritten und
                                 – Spüren, was sich verändert hat                                                heit noch nicht aufarbeiten konnte. Auf Anraten einer              verurteilt wird. Alle wünschen sich von ihm dassel-
                                                                                                                 Kollegin sucht sie sich professionelle Hilfe und geht seit         be: Dass es ihm gut geht und er in die Schule gehen
                                 Grundübung von Stanley Rosenberg                                                einem halben Jahr zu einer personenzentrierten Psycho -            kann. Hausübungen und Noten sind nicht vorrangig,
                                 Relativ flach auf den Rücken legen, die Hände ineinander verschränken und       therapeutin, die auf Trauma spezialisiert ist. In der Schule       alles andere wird sich zeigen.
                                 unter den Hinterkopf legen, Kopf ruht auf den Händen; Übungen machen,           holt sich die Lehrerin externe Hilfe von einer Betreuungs -
                                 bis man gähnt, seufzt oder schluckt (ca. 30 Sekunden): Blick geradeaus auf      lehrerin (mit Zusatzausbildung „Traumapädagogik und                Der 8-jährige Marcel ist in der Pause beim Klettern
                                 die Decke – Kopf gerade – Augen nach rechts, soweit es entspannt möglich        traumaspezifische Fachberatung“), die den Beziehungs -             vom Gerüst gestürzt. Sein Handgelenk ist offensicht-
                                 ist, Augen in die Mitte – entspannt ruhen – Links – Mitte, Augen schließen,     aufbau mit der Schülerin stellvertretend übernimmt und             lich verdreht, eine medizinische Versorgung ist not-
                                 durchatmen, nachspüren. Noch einmal: rechts – Mitte – links – Mitte, atmen,     Vertrauen aufbaut. Gleichzeitig hat die Lehrerin auch in           wendig. Marcel weint und schreit laut, weil der Arm
                                 nachspüren – Aufsetzen                                                          der Schule jemanden, mit der sie sich regelmäßig austau -          schmerzt und keinen schönen Anblick bietet. Eine
                                                                                                                 schen kann.                                                        Kollegin ruft seine Mama an, als diese nicht erreich-
                                                                                                                                                                                    bar ist, die Oma. In der Zwischenzeit sitze ich ruhig
                                                                                                                 Der Vater der 13-jährigen Tamara hat in den letzten Som -          und ganz nah bei Marcel in der Garderobe. Ich er-
                                                                                                                 merferien seinen jahrelangen Kampf gegen den Krebs                 kläre ihm, was passiert ist und dass nun seine Oma
                                                                                                                 verloren. Seit dem Schulbeginn verhält sich die Schülerin          kommt und mit ihm ins Krankenhaus fahren wird,
                                                                                                                 trotzig und frech. Lehrende einzelner Fächer beschweren            damit sein Arm versorgt werden kann. In der Zwi-
                                                                                                                 sich über das Verhalten bei der Klassenlehrerin. Diese             schenzeit zeige ich ihm, was ich alles sehe und moti-
                                                                                                                 weiß über den Schicksalsschlag Bescheid und informiert             viere Marcel dazu, sein Umfeld zu betrachten, damit
                                                                                                                 und berät ihre Kollegen über traumasensiblen Unter -               er feststellen kann, dass er im Augenblick sicher ist
                                                                                                                 richt, damit Tamaras Verhalten verständlicher wird. Im             und ihm nichts passieren kann. Ich bin da und ich
                                                                                                                 Unterricht bietet sie der Schülerin Struktur, Sicherheit           bleibe da – bis seine aufgeregte Oma eintrifft, die sich
                                                                                                                 und Verlässlichkeit. Die Klassenregeln sind klar, und der          schnell beruhigt, als sie sieht, dass sich auch ihr En-
                                                                                                                                                                                    kel beruhigt hat und es ihm so weit gut geht.
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