Unterschichtenschichtenzugehörigkeit und politische Widerständigkeit am Beispiel der Deserteure in Südtirol
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Martha Verdorfer Unterschichtenschichtenzugehörigkeit und politische Widerständigkeit am Beispiel der Deserteure in Südtirol Die Untersuchung, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wurde gemeinsam mit Leopold Steurer und Walter Pichler durchgeführt. In einem Zeitraum von etwa drei Jahren (1989 -1992) haben wir lebensgeschichtliche Interviews mit Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und Sippenhäftlingen in Südtirol während des Zweiten Weltkrieges durchgeführt und versucht, eine zusammenfassende Einschätzu ng über Ausmaß und Qualität dieses Widerstandes gegen den Krieg zu geben. 1 Dabei ergaben sich unter anderem auch Hinweise auf eine Verbindung von sozialem und geografischem Außenseitertum und Desertion bzw. Kriegsdienstverweigerung als spezifischen Formen politischer Widerständigkeit. Die Desertion – Verweigerung als Widerstand Peter Brückner hat einmal festgestellt: „Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten.“ 2 Diese Einschätzung ist gerade im Falle von Desertion und Wehrdien stverweigerung bedeutsam, zumal gerade diese Form des Widerstandes nach 1945 nur sehr zögernd und mit großen Vorbehalten als solcher akzeptiert wurde. Im Zentrum der Debatte stand dabei der Topos der „soldatischen Pflichterfüllung“, der abgekoppelt von sei nem spezifischen Hintergrund, nämlich dem nationalsozialistischen Angriffs - und Vernichtungskrieg, auch in den Nachkriegsgesellschaften seinen positiven Sinn behalten sollte. Die Deserteure des Zweiten Weltkrieges erschienen unter diesem Gesichtspunkt nich t als antifaschistische Widerstandskämpfer, sondern als Feiglinge und Drückeberger, denen es nur darum ging, ihre eigene Haut zu retten, und die deshalb ihrer (staatsbürgerlichen) Pflicht nicht nachgekommen seien. 3 In deutlicher Abgrenzung zu dieser diffam ierenden Diskussion möchte ich Desertion und Kriegsdienstverweigerung als spezifische Form des antifaschistischen Widerstandes im Hinblick auf das soziale und politische Profil der Protagonisten, ihre Motive und die Verlaufsformen ihrer Fluchten genauer betrachten, um eventuell bestehende Zusammenhänge zu erkennen und das Stigma, das dieser Widerstandsform bzw. ihren Protagonisten bis in die Gegenwart anhaftet, zu erklären. Die Entscheidung zur Desertion war in den meisten Fällen sehr spontan und individuel l. Selten lag ihr eine explizit politische Begründung zugrunde, vielmehr wurde häufig ganz einfach eine günstige Gelegenheit (Fliegeralarm, Verlegung der Truppe etc.) genutzt. Andererseits ist natürlich zu berücksichtigen, dass auch zur Wahrnehmung dieser „günstigen Gelegenheiten“ gewisse Dispositionen vorhanden gewesen sein müssen, die wohl nur mit den Begriffen Widerstand, Dissens oder Resistenz zu fassen sind. Man könnte einwenden, dass sich die Ablehnung ausschließlich auf den Krieg bezogen und nicht da s NS-Regime insgesamt im Blick gehabt hätte. Das mag z.T. durchaus zutreffend sein, ist aber letztlich nur die Umkehrung des sattsam bekannten Stereotyps von der „sauberen Wehrmacht“, die den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg stets mit „regulären“ Mitteln geführt und deshalb die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung u.Ä. nicht zu verantworten habe 4. Wie sich die Wehrmacht nicht vom NS -Regime abkoppeln lässt, so ist auch die Desertion nur als Ausbruch aus dem Gesamtsystem des Nationalsozialismus zu begreifen. Ein zweites spezifisches Merkmal der Desertion ist, dass sie sich häufig dem Kriminalisierungsvorwurf ausgesetzt sieht. D.h. die Illegalität der Desertion ist offenbar nicht dieselbe, wie bei anderen Formen von Opposition gegen ein diktatorisches R egime, sondern sie ist allgemeinerer und grundsätzlicher Art. Das ist einerseits zu erklären mit der erwähnten Abkoppelung der Wehrmacht vom Nationalsozialismus, welche die
Teilnahme am Zweiten Weltkrieg in einen juridisch und moralisch akzeptierten Rahmen stellt und die Deserteure als „Drückeberger“, bestenfalls als Säumige in Bezug auf die „soldatische Pflichterfüllung“ ausgrenzt. Nicht zu vernachlässigen ist daneben der Umstand, dass sich im Verlauf der Flucht für viele Deserteure die Begriffe von Recht und Unrecht zwangsläufig anders darstellten als für die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist nahe liegend, dass sich die Deserteure in den z.T. sehr langen Zeiträumen ihrer Flucht Nahrung und Kleidung nicht immer auf legalem Weg beschaffen konnten. Allerdings hat sich auch dieser Tatbestand zumindest in unseren Untersuchungen sehr relativiert. Wir stellten ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein bei Deserteuren und denen, die sie unterstützten, fest. So betonten einige unserer InterviewpartnerInnen ausdrücklich: „Un sere Buben mußten nie etwas stehlen! Wir haben ihnen immer gebracht, was sie gebraucht haben.“ Wenn etwas gestohlen wurde, war es häufig wiederum ein politisch motivierter Akt: Einen dörflichen Nazibonzen um ein Stück Speck zu erleichtern, galt nicht als D iebstahl, sondern als politische Revanche, die auch als solche expliziert wurde. Als etwa Passeirer Deserteure dem Ortsgruppenleiter zu Weihnachten 1944 ein Schwein aus dem Stall „entführten“, hinterließen sie ihm einen Zettel mit der Botschaft: „Wer auf'n Hitler vertraut, der braucht koan Speck auf'n Kraut.“ 5 An dieser Stelle muss auf die Notwendigkeit eines solidarischen Umfeldes für Deserteure und die zentrale Rolle, die den Frauen dabei zukam, zumindest hingewiesen werden. Auch wenn Desertion auf den er sten Blick als reines Männerphänomen erscheint, so haben unsere Untersuchungen deutlich gezeigt, wie wichtig die Unterstützung der Frauen (Mütter, Schwestern, Freundinnen) war, welche die Männer in ihren Verstecken mit Kleidung, Nahrungsmitteln, Medikament en und Informationen versorgten. Die von uns befragten Deserteure betonten immer wieder, dass sie es ohne diese Hilfestellung wohl nicht geschafft hätten. Frauen waren überdies auch noch durch die so genannte Sippenhaft von der Desertion betroffen. Die entsprechende Verordnung vom 6. Jänner 1944 sah vor, dass im Falle von Wehrdienstverweigerung und Desertion bis zur Ergreifung des Flüchtigen „dessen Familienangehörigen, und zwar die Ehefrau, die Eltern, die Kinder über 18 Jahren und im gemeinsamen Haushalt mit dem Täter oder Mittäter lebenden Geschwister festgenommen werden“ 6 konnten, dass in manchen Dörfern wurden auch Jugendliche mit 14 und 15 Jahren im Zuge der Sippenhaft interniert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Desertion unabhängig von der spezifischen Motivation des Betroffenen objektiv eine „Dysfunktion im gesellschaftlichen Subsystem des Militärs“ 7 darstellte und als solche verfolgt wurde. Gerhard Zwerenz definiert die Fahnenflucht gleich wie den bewaffneten Widerstand als „radikale Ver weigerung. Sie ist der Widerstand des kleinen Mannes und einfachen Soldaten, der keine Gruppe befehligt und in seiner Einsamkeit noch nicht einmal andere zur solidarischen Aktion auffordern kann. [...] Und er weiß, daß er seine Heimat verläßt, ohne daß er wissen kann, ob er jemals wieder irgendwo zu Hause sein wird.“ 8 Die Südtiroler Deserteure Wer waren nun diese Südtiroler Burschen und Männer, die ab Sommer/Herbst 1943 entschieden, nicht mehr in diesem Krieg zu kämpfen bzw. gar nicht erst einzurücken? I nsgesamt dürfte es in Südtirol ca. 400 solcher Fälle gegeben haben, eine genaue Quantifizierung ist nicht mehr möglich. 9 Die Motive Die Bestimmung der Motive für eine Desertion ist im Nachhinein sehr schwierig; auch die Betroffenen selbst sind kaum in d er Lage, die Frage nach ihren Beweggründen eindeutig zu beantworten. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass verschiedene Faktoren und Dispositionen – oft auch unbewusster Natur –
zusammenwirkten und in einer besonderen Situation sich bündelnd zum Ausdruck ka men. So konnte es auch vorkommen, dass jemand in die Desertion „hineinschlitterte“, weil er seine Einheit verloren hatte oder seinen Bestimmungsort nicht fand. In solchen Fällen hinkte der eigene Entschluss den vorgefundenen Tatsachen gewissermaßen nach. T rotzdem lässt sich eine Anzahl von Motiven auflisten, die z.T. südtirolspezifisch, z.T. allgemein sind. 10 Einen für Südtirol wesentlichen Hintergrund bildet die Option von 1939. Als italienische Staatsbürger stellte es für die Südtiroler „Dableiber von 1939 “ ein Unrecht dar, dass sie seit Herbst 1943, nach dem Sturz Mussolinis und der Errichtung der Verwaltungseinheit „Operationszone Alpenvorland“ durch Nazi - Deutschland wie die Optanten zum nationalsozialistischen Kriegsdienst eingezogen wurden. Außerdem wurde gerade in dieser Gruppe der Krieg schon relativ früh als von den Deutschen verschuldet und zudem als aussichtlos eingeschätzt. Damit soll nicht gesagt sein, dass bei den Dableibern eine prinzipielle Ablehnung von Militär und Krieg vorherrschte; die meis ten von ihnen hatten ihren Dienst beim italienischen Heer widerspruchslos abgeleistet. Andere Motive, die auch für Optanten Geltung hatten, waren die Härte der Ausbildung, sinnlose Schikanen und rüde Befehle und die Überheblichkeit der preußischen Offizier e (hier kamen zweifellos auch traditionelle Ressentiments zum Tragen). Außerdem haftete den Südtiroler Soldaten als Volksdeutschen offenbar der Ruf der Freiwilligkeit an und sie wurden von ihren Kameraden dafür häufig verspottet oder misstrauisch betrachte t. Auch wenn viele Südtiroler Burschen anfänglich vielleicht nicht ungern eingerückt sind, die tatsächlichen Freiwilligenmeldungen hielten sich seit Anfang der 40er Jahre doch sehr in Grenzen. Der Gedanke an eine Desertion konnte auch aus unmittelbaren Fro nterfahrungen herrühren, vor allem bei Soldaten, die im Osten eingesetzt waren. So wurde z.B. häufig erwähnt, dass die wahrgenommene Grausamkeit der Zivilbevölkerung gegenüber einen Bewusstseinswandel hervorrief und aus ursprünglicher Zustimmung oder Indif ferenz Abscheu und Ablehnung werden ließ. Bei vielen Südtirolern war es auch ihre religiöse Einstellung, die sie in Konflikt mit ihrer soldatischen Existenz und den dort üblichen Umgangsformen brachte. Wesentlich scheint mir auf alle Fälle, die Motivations lage der Deserteure im Zusammenhang mit ihrer tatsächlichen Verweigerung zu sehen. Es zeigt sich nämlich sehr deutlich, dass „politisches Bewusstsein“ im Sinne einer bewussten Abgrenzung zum Regime vor allem ein Produkt der konkreten Desertionserfahrung ist. Das gilt auch für die Angehörigen der Deserteure, die im Zuge der Sippenhaft ins Gefängnis bzw. ins Lager kamen. Sie interpretierten diese unmittelbare Einbindung in den seltensten Fällen als ungerechtfertigte Zumutung durch die Deserteure, sondern viel mehr als ihren Beitrag zu deren Entscheidung, die sie damit aktiv mittrugen und unterstützten. Ich glaube, dass dieser Befund – nämlich dass Widerstand gegen ein totälitäres Regime vielleicht generell weniger Produkt theoretischer Überlegungen und politisc her Überzeugungen im engeren Sinn ist als vielmehr die konkrete Entscheidung zu einer Praxis der Widerständigkeit – gerade für die Einschätzung des antifaschistischen Widerstandes der so genannten kleinen Leute viel stärkere Beachtung und auch innerhalb de r Widerstandstheorie größere Aufmerksamkeit verdienen würde. Leben im Abseits – ein prägender Sozialisationsfaktor Desertion kam vor allem im ländlichen, kaum im städtischen Umfeld vor und war auf dem Land eher ein Berg- als ein Talphänomen. Die meisten von uns befragten Deserteure stammten aus relativ abseits gelegenen Bergbauernhöfen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass schon bei der Option von 1939 das geografische „Abseits“ eine gewisse Rolle gespielt hatte. Es ist zu vermuten, dass der abge legene Wohnort auch Schutz vor der kapillaren Propaganda bzw. den Drohungen der Umsiedlungs - und Nazipropagandisten bot. Unter den Südtiroler Deserteuren und Kriegsdienstverweigeren sind die Dableiber – aus den bereits erwähnten Gründen – zweifellos überrepräsentiert. Wesentlich scheint dabei außerdem die damit
verbundene Kontinuität der Ausgrenzung. Auf die Stigmatisierung der Dableiber und ihren mehr oder minder gewaltsamen Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft kann hier nicht im Detail eingegangen werden, sie ist vielfach dokumentiert. 11 Auf jeden Fall waren sich die Dableiber bewusst, was es bedeutete, sich mit einer Entscheidung gegen den Strom der Mehrheit zu stellen. Aus der geografischen Herkunft ergeben sich gleichzeitig auch bestimmte Implikationen zu m Sozialprofil der Deserteure. Bergbauern sind meist keine Großbauern; der Großteil der von uns Befragten kann der Kategorie „ländliche Unterschichten“ zugeordnet werden. Neben Söhnen von Bergbauern sind es häufig Kleinhäusler, Pächter und Knechte, die sic h für Desertion bzw. Kriegsdienstverweigerung entschieden. Sie hatten auch keine andere Möglichkeit, vom Kriegsdienst freizukommen, wie etwa Söhne von Großbauern, denen es unter Umständen durch Bestechung des Ortsgruppenleiters bzw. des Ortsbauernführers g elang, einen Aufschub oder gar eine Freistellung zu erwirken. Auch die relative Häufigkeit der „ledigen Kinder“ bei unseren Ge sprächspartnern lässt sich in einem Zusammenhang von sozialer Aus grenzung und Disponibilität zur Desertion interpretieren. So et wa wenn die Betroffenen in den Interviewerzählungen betonen, dass sie zeit ihres Lebens mit der Erfahrung von sozialer Ausgrenzung konfrontiert gewesen seien und dass ihnen deshalb auch die Entscheidung zur Desertion in gewissem Sinn leichter gefallen sei. Inwieweit ein Zusammenhang zwischen geografischer und sozialer Aus - und Abgrenzung, der für Desertion und Kriegsdienstverweige rung gegeben scheint, für politische Widerständigkeit insgesamt relevant sein könnte, ist wahrscheinlich kaum zwingend darstellb ar. Allerdings weist bereits das eingangs erwähnte Zitat von Peter Brückner auf einen plausiblen Zusammenhang hin und auch die Erfahrungen unserer Arbeit weisen in diese Richtung. 12 Bei den befragten Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern spielt ein derar tiger Zusammenhang jedenfalls in ihrer Selbsteinschätzung eine entscheidende Rolle. Sie thematisieren die Erfahrung des Abseits einerseits als wesentlichen Sozialisationsfaktor für eine weniger leichte Einbindung in Massenstrukturen aller Art (Militär, Vereine...) und andererseits als Voraussetzung für die Zähigkeit und Fähigkeit, die zum Überleben unter diesen Bedingungen notwendig waren. Ganz konkret angesprochen werden z.B. die materielle Bedürfnislosigkeit, die durch harte Arbeit erworbene Gewöhnung an körperliche Strapazen und die Fähigkeit, über lange Zeiträume auf menschliche Gesellschaft zu verzichten. Die von uns befragten Personen betonen häufig, dass sie diese Kompetenzen vor allem ihrer unterprivilegierten Stellung verdankt hätten. Trotzdem: es ist gerade diese Erfahrung der Ausgrenzung, Diffamierung und Verfolgung durch die „eigenen Leute“, die den betroffenen Deserteuren und Sippenhäftlingen als bis heute schmerzender Stachel in der Erinnerung steckt. Es war zwar nahe liegend, sich in der Nähe d es Heimatortes zu verstecken, weil man die Gegend und die Menschen kannte. Diese Vertrautheit hatte aber auch eine Kehrseite: Man wurde leichter erkannt, verraten und erwischt. Es ist eine einmütige Einschätzung unserer InterviewpartnerInnen, dass die einheimischen Nazis die reichsdeutschen Besatzer an Eifer und Grausamkeit bei der Verfolgung der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer bei weitem übertrafen. Es kam deshalb immer wieder vor, dass Deserteure es vorzogen, sich in einer fremden, dafür aber solid arischeren Umgebung aufzuhalten. Ein typisches Beispiel dafür war die Situation im Ultental, das an das italienische Nonstal grenzt. Dort hielten sich mehr als ein Dutzend Ultner Deserteure über mehrere Monate versteckt, wurden von der Bevölkerung versorgt und von den lokalen Carabinieri augenzwinkernd nicht zur Kenntnis genommen. Aber auch andere Deserteure teilen und betonen diese Erfahrung, außerhalb von Südtirol (z.B. in den altitalienischen Provinzen) auf ein solidarischeres Umfeld getroffen zu sein. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich viele unserer InterviewpartnerInnen gewisse Einsichten und die kritische Distanz zur Mehrheitsgesellschaft im Allgemeinen und zu Massenorganisationen im Besonderen auch über das Kriegsende hinaus bewahrt haben. S o weisen einige explizit darauf hin, dass ihnen der Kommandoton, die geregelte Aufstellung und das Marschieren bei den Schützenkompanien, den Feuerwehren und den Musikkapellen bis heute suspekt geblieben ist. Wer aber mit dörflichen Sozialstrukturen etwas vertrauter ist, der weiß, dass über die Mitgliedschaft in solchen Vereinen auch
soziale Hierarchien konstituiert werden. Die Deserteure blieben auch nach 1945 sehr häufig am Rand der dörflichen Gemeinschaft – und nicht nur dieser. Die fortgesetzte Margin alisierung und Diffamierung der Deserteure nach 1945 bis heute „Was wollen sie denn von mir wissen, mein Mann war ja doch nur ein Verräter.“ Mit diesen Worten empfing die Witwe eines Deserteurs einen Mitarbeiter unseres Projektes beim Interviewtermin. Sie erzählte bereitwillig über ihre Erfahrungen, aber ihre Eingangsworte verdeutlichen, mit welch großen Vorbehalten vonseiten der Betroffenen wir konfrontiert waren. Unmittelbar nach Kriegsende gab es in Südtirol zwar eine Periode, in der jene Männer und Fra uen, die in irgendeiner Form Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten – und dazu gehörten auch die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure – sehr gerne vorgezeigt und als Relativierung des Kollaborationsvorwurfes mit dem Nationalsozialismus , mit dem sich die Südtiroler – und das nicht zu Unrecht – konfrontiert sahen, eingesetzt wurden. Es zeigte sich jedoch bald, dass hinter dieser Haltung mehr politisches Kalkül als wirkliche Überzeugung bzw. ein allgemeiner Gesinnungswandel stand. Die sofortige Anerkennung der Südtiroler Volkspartei durch die angloamerikanische Besatzungsmacht war durch die antinazistische Tätigkeit einiger ihrer Gründungsmitglieder ermöglicht worden. Dieser Tatsache war man sich auch durchaus bewusst. 13 Gleichzeitig versuc hte die SVP allerdings von Anfang an, die Spaltung zwischen den ehemaligen Dableibern und Optanten zu überwinden, indem sie sich von Anfang an als politische Vertretung aller deutsch - und ladinischsprachiger SüdtirolerInnen deklarierte. 14 Dies konnte allerd ings nur gelingen, wenn man die Verstrickung der Südtiroler mit dem NS -Regime möglichst schnell und gründlich vergaß. Diese Strategie war umso erfolgreicher, als sich auch namhafte Dableiber, wie Kanonikus Gamper oder Friedl Volgger, hinter diese Haltung s tellten. 15 In dem Maße, in dem sich die deutsch - und ladinischsprachige Volksgruppe konsolidierte und der Schutz wesentlicher Minderheitenrechte vertraglich garantiert war, konnte offensichtlich auf die Berufung auf und die Würdigung der antinazistischen Tr adition verzichtet werden. Eine Institution verdient im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerung und Desertion besondere Beachtung, nämlich der in der Nachkriegszeit gegründete „Südtiroler Heimkehrerverband“, der sich ab 1957 „Südtiroler Kriegsopfer - und Frontkämpferverband“ (SKFV) nannte. Am Anfang versuchten auch Deserteure und KZ -Häftlinge über diesen Verband die Anerkennung der Kriegsjahre für die Altersrente durchzusetzen. Die Interessen dieser Personengruppe wurden aber vom Verband kaum ernsthaft ver treten, in vielen Fällen wurde den Betreffenden sogar die Aufnahme in den Verband verweigert. Das ist angesichts der personellen Kontinuitäten, die es zwischen illegalen und später „legalen“ Nationalsozialisten in Südtirol und dem SKFV gab 16, auch nicht wei ter verwunderlich. Die Folge davon war, dass der Mehrheit der Deserteure und KZ -Häftlinge die Anerkennung jener Jahre für die Rente versagt blieb. 17 Deserteure waren nicht nur politisch unbequem geworden, sondern sie hatten auch nie eine Lobby. Als mehrheitlich den sozialen Unterschichten angehörend, verfügten sie über keine einflussreiche Interessenvertretung. Dieser Zusammenhang war den Betroffenen schon früh bewusst. So erinnert sich einer unserer Gesprächspartner im Zusammenhang mit seiner Gefangennahme, dass ihm einer seiner Häscher prophezeit hatte: „Wenn du jetzt auch das Glück haben solltest mit dem Leben davonzukommen, ein verachteter Mensch bleibst du ein Leben lang.“ 18 Erst in den späten 70er und 80er Jahren begann sich in Südtirol ein kontinuierlic hes Interesse für die antifaschistische bzw. antinazistische Tradition des Landes zu artikulieren. Desertion und Kriegsdienstverweigerung blieben allerdings bis zum Erscheinen unseres Buches ein unbekanntes Phänomen. Die zwar keineswegs vollständige, aber doch recht umfangreiche Dokumentation, die 1993 erschienen ist, löste deshalb eine ziemlich heftige und durchaus kontroverse Debatte aus und hat schon deswegen – so hoffen wir zumindest – einen weiteren kleinen Beitrag zur Ausdifferenzierzung des Geschichtsbewusstseins in Südtirol beigetragen.
Nach dem Erscheinen des Buches „Verfolgt, verfemt, vergessen“ im Mai 1993 fand in den Leserbriefseiten der lokalen Presse eine monatelange Auseinandersetzung zum Thema statt. Die folgenden vier Leserbriefe vermitteln einen Eindruck der unterschiedlichen Haltungen und der vorgebrachten Argumente: Vergessene Helden FF 20/93 über Südtiroler Deserteure. Helden; diesmal die Vergessenen! Diese abgedroschene Bezeichnung kann man fast nicht mehr hören. Was ist nun eigentli ch Heldentum? Die Bewährung im Kampf? Das Standhalten in Lebensgefahr trotz Angst und Schrecken aus Pflichtgefühl? Der fast tägliche Gang der Frauen in den Keller mit Kindern, Alten und Pflegefällen in den vom Bombenkrieg der Angloamerikaner ausradierten W ohnvierteln Deutschlands? Das Durchhalten; der Überlebensmut in den Hungerlagern der Gefangenschaft? Oder das rechtzeitige Absetzen von der Truppe, um sein Leben in Sicherheit zu bringen? Taten, die in diesem neuen Buch verherrlicht werden? Im Ersten Welt krieg wurde der Begriff Heldentum stark strapaziert. Im Zweiten Weltkrieg wurde mehr von Kameradschaft und Pflicht gesprochen. Es gab schon immer unter Millionen von Bürgern, die von König, Kaiser oder Führer aufgerufen wurden, als Soldaten ihre vaterländi sche Pflicht zu erfüllen, solche, die sich weigerten, desertierten. Von diesen Außenseitern gab es in den Kriegsjahren 1914 -1919 mehr als 1939 -1945. Die Strafen aber, die solche Männer zu erwarten hatten, waren unter dem Kaiser ausschließlich der Tod durc h den Strang oder bestenfalls durch die Kugel. Die Männer, die unter Hitler desertierten, hatten weit mehr Überlebenschancen, indem man sie ins KZ oder in eine Strafkompanie steckte. Im letzten Krieg wurden mehr als 25.000 Südtiroler zu den Waffen gerufen ; davon gab es 254 Deserteure. Dabei ist wesentlich festzustellen, daß die große Mehrheit dieser 254 Leute nicht von den Fronttruppen stammten, sondern von den erst im letzten Kriegsjahr aufgestellten Polizeiregimentern. Nun wird nach fast 50 Jahren seit K riegsende versucht, dieses Häuflein von Außenseitern politisch als Regimegegner aufzufrisieren! Warum verkündet man nicht auch, wie Briten und Ami mit ihren Deserteuren umgingen und welchen „Ehrungen“ sie heute noch ausgesetzt sind? Vergessene Helden! Zu diesem Paradox kann nur einer kommen, der bewußt die Kriegsgeneration in den Dreck ziehen möchte und mit den Füßen tritt, was in Tirol seit jeher als anständig und ehrbar galt. Dazu gehört allerdings Mut, unverschämter Mut! Wahrhaftig, mir scheint, mit Her rn Steurer und Co. haben wir neue „Helden“ im Land. Willy Acherer, Brixen. Dolomiten, 03.06.1993 Wertvolles Stück Familienchronik Zum Leserbrief „Die Deserteure im Meinungsstreit“ („Dol.“ vom 25. Mai) folgendes: Herr Willy Acherer aus Brixen und ich, w ir sind beide über 70 Jahre alt. Herr Acherer war im letzten Krieg ein tapferer und mit Kriegsmedaillen ausgezeichneter Frontsoldat, der manchen Nahkampf mit den russischen Soldaten überstanden hat. Seine heldenhaften Erlebnisse hat Herr Acherer in einem B uch niedergeschrieben. Dabei darf man nicht vergessen, daß all diese noch so tapferen Fronteinsätze umsonst und Unsinn waren – und das Schlimmste: Es war der Krieg der Kriegsverbrecher. Die damaligen Diktatoren haben nicht nur die KZ -ler und Juden verheizt , sondern ebenso die ahnungslosen Soldaten. Ich war ein „Drückeberger“, denn das Soldatenleben und die Tätigkeit als Besatzungsoldat in Jugoslawien waren für mich idiotisch, zumal ich wußte, daß der Krieg verloren geht. Meine
Erlebnisse dieser Kriegsjahre sind im Buch „Verfolgt, verfemt, vergessen“ auf einigen Seiten niedergeschrieben. Ich habe 22 Monate bei Bauern in Süditalien um die Kost gearbeitet und eine bescheidene produktive Leistung vollbracht. Nun frage ich Herrn Acherer, wer von uns beiden dazumal „menschliche Schwächen“ hatte und sie noch heute hat; der Leser mag dies selbst beurteilen. Ich möchte mich bei den drei Buchautoren Dr. Steurer, Dr. Verdorfer und Dr. Pichler für ihre „Heldenrolle“, die sie vollbracht haben, bedanken. Dieses kriegsges chichtliche Buch unserer Landsleute ist nicht nur eine wertvolle Tirolensie, sondern auch für viele Familien – wenn auch eine sehr traurige – so doch wertvolle Familienchronik. Am 8. Mai fand im Bozner Kolpinghaus die feierliche Buchvorstellung statt, wob ei viele Deserteure anwesend waren. Es gab kein „heldenhaftes“ Verhalten. Nach meiner persönlichen Beobachtung: Es waren alte Frauen und Männer, die keinen schlechten Eindruck machten. Keine Spur von „Banditen“, wie man diese Leute einstmals nannte. Daß ic h als „Drückeberger“ 22 Monate lang im südlichen Italien lebte und somit den Wehrdienst verweigert habe, darüber freue ich mich heute noch. Franz Klotzner, Schenna. FF 24/1993 Verfolgt, verfemt, verlassen FF 19/93 stellte das Buch über Südtiroler Deserte ure vor. Herr Willy Acherer meint in seinem Leserbrief, wir Deserteure seien vergessene Helden. Dazu kann ich ihm nur folgendes sagen: vergessen wurden wir Deserteure nach 1945 tatsächlich, aber Helden wollten wir nie sein. Das Heldentum überlasse ich ger ne Herrn Acherer. Weder bei der Buchvorstellung und Feier in Bozen am 8. Mai war von uns Deserteuren als „Helden“ die Rede und auch im Buch selber geht nie die Rede, [sic] davon. Offenbar hat Herr Acherer das Buch gar nicht gelesen. Er sollte aber ein paar Geschichten dieses Buches lesen, dann würde er vielleicht nicht mehr so überheblich von den guten „Überlebenschancen“ der Deserteure im Zweiten Weltkrieg reden. Vor allem den Ausspruch Hitlers, der als Motto auf dem Umschlag des Buches steht, sollte sich Herr Acherer zu Herzen nehmen. Da heißt es nämlich: „Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteuer muß man sterben“. Ich danke jedenfalls den Autoren des Buch es „Verfolgt, verfemt, vergessen“ (Steurer, Verdorfer, Pichler), daß sie dieses wichtige Kapitel unserer Heimatgeschichte wahrheitsgetreu aufgeschrieben haben, damit es nicht in Vergessenheit gerät und auch der Jugend erhalten bleibt. Ich glaube nicht, daß Herr Acherer mit seinen Nazi -Ansichten bei der heutigen Jugend viel Anklang finden wird, wenn er uns Deserteure als Feiglinge und Verräter hinstellen möchte, auch weil die jungen Menschen heute ja Gott sei Dank über alles besser informiert sind, als wir e s damals waren. Franz Gruber, Naturns (ehemaliger Ultner Deserteur). Dolomiten, 27.07.1993 Stellungnahme der Kriegsgeneration In den letzten Wochen gab es zum Thema „Drückeberger und Deserteure“ mehrere Leserbriefe in den „Dolomiten“; Landesverband der Kriegsopfer und ehemalige Frontkämpfer wurden darin auch zitiert. Ich erachte es als meine Pflicht, als Vertreter der vielen Kriegsteilnehmer und der Mitglieder des SKFV auf einige generelle Themen eine Antwort zu geben! Kamerad Luis Piock hat in seinem Le serbrief vom 1. Juli '93 sehr treffend und objektiv seine Meinung – und sicher auch die vieler anderer – zum Ausdruck gebracht. Es ist wirklich unverständlich, wenn wir heue – nahezu 50 Jahre nach Kriegsende – immer noch nicht den nötigen Abstand zu diesen traurigen Ereignissen gefunden haben, um sie tendenzlos zu beurteilen. Aber
anscheinend gibt es immer noch jemanden unter uns, dem es ein Bedürfnis ist, mit Schuldzuweisungen, Verdächtigungen und Verurteilungen Unruhe in die Kriegsgeneration zu bringen. I ch bin der Meinung, daß gerade diese Generation, der ja nichts erspart geblieben ist, heute allen Grund hätte, dankbar zu sein und sich am gelungenen Wiederaufbau unserer Heimat, den sie ja maßgebend mitgetragen hat, zu erfreuen. Jeder von uns hatte seine Pflicht zu erfüllen, und ich glaube, Pflichterfüllung ist sicher eine tirolerische Eigenschaft, die nichts mit Kadavergehorsam zu tun hat. Dieses Pflichtbewußtsein wird auch in Zukunft eine notwendige Einstellung für unsere Jugend sein. Ich bin der Meinung , daß jeder seinen Weg gehen sollte, wie er es für richtig hält – der Drückeberger, der Deserteur, der Soldat –, aber jeder sollte wissen, daß es sein Weg war und ist, und niemand hat ein Recht, den anderen für diesen Weg verantwortlich zu machen. Im Namen von vielen tausend Südtriolern, von denen über 8000 gefallen oder in Gefangschaft gestorben sind, und im Namen aller derer, die gesund oder als Kriegsinvaliden heimkehrten, sei noch einmal deutlich gesagt: Es hat keinen Sinn, und wir lassen es nicht zu, d aß man Soldatenehre und Pflichterfüllung ins schiefe Licht rückt und verurteilt, die andere Seite aber verherrlicht. Ich persönlich habe diese problematische Zeit Südtirols 1943 bis 1945 nicht miterlebt, da ich erst 1950 aus russischer Gefangenschaft heimk ehrte. Wir alle wissen aber, daß in dieser Zeit – vor allem gegen Kriegsende – Dinge passiert sind, die sicher kein Ruhmesblatt für uns Südtiroler darstellen. Versuchen wir nach all dem also, dieses Kapitel so objektiv wie möglich zu beurteilen und damit endlich darunter einen Schlußstrich zu ziehen. Hans Pichler, Präsident des SKFV. 1 Leopold Steurer/Martha Verdorfer/Walter Pichler, Verfolgt, verfemt, vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943 -1945, Bozen 1993. 2 Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980, S. 64. 3 Zur inzwischen recht ausführlichen Diskussion um die Desertion als Widerstandsform vgl. Bodo Scheurig, Desert ion und Deserteure, in: Frankfurter Hefte 34 (1979), Heft 4, S. 38 -43; Norbert Haase, Deutsche Deserteure, Berlin 1987; Deserteure. Eine notwendige Debatte, Geschichtswerkstatt 22, Hamburg 1990; Fietje Ausländer (Hrsg.), Verräter oder Vorbilder. Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990; Günter Fahle, Verweigern, Weglaufen, Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939 -1945. Das Beispiel Ems - Jade, Bremen 1990; Karsten Bredemeier, Kriegsdienstverweigerung im Dr itten Reich. Ausgewählte Beispiele, Baden - Baden 1991; Geschichtswerkstatt Marburg (Hrsg.), „Ich habe die Metzelei satt...“ Deserteure – Verfolgte der Militärstrafjustiz und Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg, Marburg 1992; Norbert Haase/Gerhard Paul ( Hrsg.), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Franfurt a.M. 1995. 4 vgl. Hannes Heer u.a. (Hg.), Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 -1944, Hamburg 21995. 5 Steurer/Verdorfer /Pichler, S. 108. 6 Verordnungsblatt des Obersten Kommissars in der Operationszone Alpenvorland vom 6.1.1944. 7 Norbert Haase, Die Zeit der Kirschblüten... Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg, in: Fietje Ausl änder, S. 138. 8 Gerhard Zwerenz, „Soldaten sind Mörder.“ Die Deutschen und der Krieg, München 1988, S. 418 f. 9 Im November 1945 wurde im „Volksbote“ unter dem Titel „Südtirols Opfergang unter dem Nationalsozialismus“ eine Liste jener SüdtirolerInnen verö ffentlicht, die in den zwanzig Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft in Südtirol ermordet wurden, in Gefängnissen oder Konzentrationslagern interniert waren oder desertiert sind. Unsere eigenen Nachforschungen haben allerdings gezeigt, dass die Li ste keineswegs vollständig ist. 10 Der Beschluss zur Umsiedelung der deutschsprachigen Minderheit der Südtiroler, der im Juni 1939 offiziell bekannt gegeben wurde, sah eine radikal -ethnische Lösung vor, mit dem der Storfaktor Südtirol in der engen Beziehung zwischen den beiden faschistishen Diktaturen in Italien und Deutschland endgültig beseitigt werden sollte. Als Endtermin für die Volksabstimmung, bei der die Südtiroler für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft und das „Dableiben“ oder die Annahme der deutschen Statsbürgerschaft und die Umsiedlung optieren mussten, wurde der 31.12.1939 festgelegt, die Umsiedlungsollte bis Ende 1942 abgewickelt werden. Die überwältigende Mehrheit der SüdtirolerInnen entschied sich für den Weggang ins Dritte Reich. Ab Jänner 1940 kam es deshalb in Südtirol zum Aufbau einer deutschen Parallelverwaltung, die mit der organisatorischen Abwicklung der Umsiedlung betraut war. Vgl. Option -Heimat-opzioni. Eine Geschichte vom Gehen und vom Bleiben, Bozen 1989;
Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hrst.), Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 5), Innsbruck 1989. 11 Vgl. Option -Heimat-opzioni. Eine Geschichte Südtirols vom Gehen und vom Bleiben, Bozen 1989 , S. 151 ff. Dort sind eine Reihe der damals kursierenden Flugblätter abgedruckt. Martha Verdorfer, Zweierlei Faschismus. Alltagserfahrungen in Südtirol 1918 -1945, Wien 1989, S. 174 ff. Hier finden sich Erinnerungen ehemaliger Dableiber an die erlebte Ausg renzung. 12 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die in italienischer Sprache erschiene Romanbiografie des Passeirer Deserteurs Karl Gufler, in der ein möglicher Zusammenhang zwischen sozialer Unterschichtenzugehörigkeit, Sozialrebellentum und Desertion bzw. politischer Widerständigkeit sehr sensibel und plausibel herausgearbeitet wird. Carlo Romeo, Sulle tracce di Karl Gufler il bandito, Bozen 1993. 13 Bei der ersten Landesversammlung 1947 sagte der Obmann Erich Amonn, „Die SVP ist aus der antinazistisch en Widerstandsbewegung hervorgegangen; die Bildung der Partei und deren sofortige Genehmigung war nur aus diesem Grunde damals möglich.“ Dolomiten vom 10.2.1947. 14 Vgl. Anton Holzer, Die Südtiroler Volkspartei, Thaur/Tirol 1991, S. 61 f. 15 Vgl. Friedl Volg ger, Mit Südtirol am Scheideweg. Erlebte Geschichte, Innsbruck 1984, S. 146. 16 Vgl. das Vorwort von Leopold Steurer bei Elmar Heinz, Die versteinerten Helden. Kriegerdenkmäler in Südtirol, Bozen 1995, S. 8 ff. 17 Im Jahr 1991 wurde im Regionalrat für Trenti no-Südtirol ein Gesetz verabschiedet, dass für ehemalige Frontsoldaten eine Zusatzrente vorsah. Vier Jahre später wurde diese Regelung dahingehend novelliert, dass auch ehemalige Milizsoldaten der faschistischen „Repubblica di Saló“ sowie die Angehörigen d es Südtiroler „Sicherheits - und Ordnungsdienstes“ (SOD), dessen Mitglieder nicht zuletzt mit der Jagd auf Deserteure befasst waren, in den Genuss der Zusatzrente kamen. Ein beschämendes Gentlemen‘s Agreement der italienischen Neofaschisten (MSI) und der SVP! Erst im November 1995 – nicht zuletzt aufgrund der erschienenen Dokumentation und der dadurch ausgelösten Diskussion – besann man sich darauf, auch ehemalige Deserteure und KZ -Häftlinge in diese Pensionsregelung miteinzuschließen. Dabei waren es, in Anb etracht der sozialen Basis, wohl auch nicht zufällig die Arbeitnehmer innerhalb der SVP, die diese Forderung politisch trugen. 18 Steurer/Verdorfer/Pichler, S. 160.
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