Versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschläge für die gesetzliche Rentenversicherung
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Versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschläge für die gesetzliche Rentenversicherung 19 Martin Werding Die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), die ab 2012 schritt- weise wirksam werden soll, hat die Abschläge im Falle vorzeitiger Rentenzugänge wieder in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Diskutiert wurde dabei vor allem, welche Folgen es hat, wenn auf sol- che Abschläge in bestimmten Fällen verzichtet wird. Die viel wichtigere Frage, wie hoch diese Abschläge eigentlich korrekterweise sein sollten, wurde darüber vernachlässigt. In der wissenschaftlichen Politikbe- ratung in Deutschland gibt es eine Art herrschender Meinung, derzufolge mehrere Ansätze existieren, um »versicherungsmathematisch korrekte« Abschläge zu bestimmen – je nachdem, welche Ziele damit ver- folgt werden. Unterschieden wird dabei insbesondere zwischen den Zielen der Anreizneutralität für Ver- sicherte mit Frühverrentungsoption und der Budgetneutralität für das Rentensystem bzw. der finanziellen Neutralität für andere Versicherte. Dem zweiten dieser Ziele wird dabei tendenziell Vorrang gegeben, und die derzeit geltenden Abschlagssätze werden vor diesem Hintergrund für tendenziell niedrig, aber ver- tretbar erklärt. Andere Ökonomen halten die Rentenabschläge nach geltendem Recht hingegen für viel zu gering. Der vorliegende Beitrag bestätigt diese Sicht durch detaillierte Berechnungen, die sich auch schon auf ein Szenario mit erhöhter Regelaltersgrenze beziehen, und diskutiert die konzeptionellen Fra- gen, die hinter der vermeintlichen Wahl zwischen verschiedenen Berechnungsansätzen stehen. Die wich- tigste Schlussfolgerung ist, dass die Unterscheidung zwischen den Zielen der Anreiz- und Budgetneutra- lität immateriell ist, weil Abschläge, die für andere Versicherte finanziell neutral wirken, letztlich auf exakt dieselbe Weise bestimmt werden müssen wie anreizneutrale. Rentenabschläge nach geltendem stärker abgesenkt, als dies im Rahmen Recht der deutschen Rentenformel allein schon durch den rentenrechtlichen Gegenwert Erstmalig eingeführt wurden Abschläge der »fehlenden« Beitragszeiten bis zum bei vorzeitigem Rentenzugang im Recht Erreichen der Regelaltersgrenze ge- der GRV durch das Rentenreformgesetz schieht. Eine solche Senkung ist erfor- 1992, das damit den Abschied von der derlich, weil sich bei einem vorzeitigen zuvor über lange Jahre betriebenen Früh- Rentenzugang zugleich die erwartete verrentungspolitik einläutete.1 Schrittwei- Rentenlaufzeit verlängert. Die Abschlä- se wirksam wurden diese Abschläge ge sorgen im Prinzip dafür, dass die ge- dann, rascher als ursprünglich geplant, im samten Rentenansprüche, die ein Versi- Rahmen der weitgehenden Vereinheitli- cherter bei unveränderter Entgeltpunkt- chung der Altersgrenzen für den ab- zahl nach Erreichen der gesetzlichen Re- schlagsfreien Bezug diverser Unterarten gelaltersgrenze gehabt hätte, auf die ver- von Altersrenten ab 1997. Seit 2005 ha- längerte Rentenphase umgeschichtet ben sie volle Geltung. Für jedes Jahr ei- werden. Ohne solche Abschläge entste- nes Rentenbezuges vor Vollendung des hen Anreize zur Frühverrentung, die zu- 65. Lebensjahres belaufen sie sich auf gleich den Haushalt der Rentenversiche- 3,6% der rechnerischen Ansprüche aus rung belasten und somit von anderen Ver- der Zahl der bis dahin erworbenen Ent- sicherten finanziert werden müssen, die geltpunkte.2 Da Altersrenten nach gelten- selbst noch zu jung sind, um überhaupt dem Recht überwiegend frühestens ab der Vollendung des 63. Lebensjahres, nur 1 Zuschläge bei einem um bis zu zwei Jahre aufge- in einigen Ausnahmefällen schon ab der schobenen Rentenzugang gibt es hingegen bereits Vollendung des 60. Lebensjahres bezo- seit der ersten Flexibilisierung des gesetzlichen Ren- tenalters durch das Rentenreformgesetz von 1972 gen werden können, ergeben sich kumu- (vgl. Frerich und Frey 1993, 53 f.). Bei der Renten- lierte Abschläge in Höhe von bis zu 7,2% reform 1992 wurden sie beibehalten und auf wei- bzw. maximal 18% der jeweiligen Renten- tere Jahre verlängerter Erwerbstätigkeit aus- gedehnt. ansprüche. 2 Lediglich Schwerbehinderte mit mindestens 35 Bei- tragsjahren können eine abschlagsfreie Rente be- reits bei Vollendung des 63. Lebensjahres erhalten. Durch diese Abschläge werden vorzeitig Die Zuschläge bei einem aufgeschobenen Renten- gewährte Renten demnach gezielt noch eintritt betragen derzeit hingegen 6% pro Jahr. 60. Jahrgang – ifo Schnelldienst 16/2007
20 Forschungsergebnisse eine Rente zu erhalten oder die bis zur Regelaltersgrenze ansprüche ab dem tatsächlichen Rentenzugang muss da- weiter arbeiten möchten. Dasselbe geschieht, wenn zwar bei dem Barwert der erwarteten Rentenansprüche bei ei- Abschläge existieren, aber zu niedrig sind, um die Frühver- ner Fortsetzung der versicherungspflichtigen Erwerbstätig- rentungsanreize bzw. die damit verbundenen fiskalischen keit bis zum Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze, Lasten zu neutralisieren. korrigiert um den Barwert der bis dahin noch anfallenden Rentenbeiträge, entsprechen. Die Geister scheiden sich je- doch bei der Wahl des Diskontsatzes zur Umwandlung al- Korrekte Rentenabschläge: Konzeptionelle ler Zeitreihen erwarteter Renten- und Beitragszahlungen in Fragen einheitliche, intertemporal vergleichbare Barwerte – und zwar weit mehr, als dies angesichts genereller Unsicherheiten über Der vorliegende Beitrag konzentriert sich darauf, wie im Rah- zukünftige Entwicklungen zu erwarten ist. men der GRV unter versicherungsmathematischen Gesichts- punkten korrekte Rentenabschläge bestimmt werden kön- Die »herrschende Meinung« unter deutschen Rentenexper- nen. Schon hinsichtlich dieser scheinbar einfachen Frage- ten zur korrekten Bemessung solcher Rentenabschläge6, stellung herrschen in der Praxis nämlich erhebliche Unklar- die vom einschlägigen internationalen Standard abweicht7, heiten. Aus theoretischer Sicht führt die Bestimmung kor- besagt, dass es im Kern zwei unterschiedliche Perspekti- rekter Abschläge darüber hinaus noch zu anderen, ungleich ven gibt, um die angestrebte Neutralität korrekter Renten- spannenderen Fragen3, die auch einigen Raum für vertie- abschläge genauer zu fassen. Gemeint sein könne damit fende empirische Forschung bieten. Soweit umlagefinan- zum einen Neutralität bezüglich der Anreize eines Versicher- zierte Rentensysteme die Arbeitsanreize aller ihrer Mitglie- ten bei der Wahl seines Rentenzugangszeitpunktes, zum der verzerren, kann ein gewisser Frühverrentungsanreiz z.B. anderen Neutralität bezüglich des Budgets der Rentenver- durchaus optimal im Sinne einer Second-best-Lösung sein. sicherung und damit bezüglich der finanziellen Effekte für al- Allerdings müsste dabei Rücksicht genommen werden auf le sonstigen Versicherten. Im Falle der Anreizneutralität, so unterschiedliche altersspezifische Arbeitsangebotselastizi- wird weiter argumentiert, ergebe sich der angemessene Dis- täten, über die empirisch nur wenig bekannt ist.4 Auch könn- kontsatz aus der Zeitpräferenzrate des jeweiligen Versicher- te es sein, dass einkommensschwächere Individuen ten, die durch den allgemeinen Kapitalmarktzins approxi- und/oder solche mit einer geringeren Lebenserwartung sys- miert werden kann. Im Falle der Budgetneutralität entspre- tematisch stärker an einem vorzeitigen Renteneintritt inte- che der angemessene Diskontsatz hingegen der Anpas- ressiert sind als andere. Was nach einem Frühverrentungs- sungsrate jährlicher Rentenansprüche, die üblicherweise – anreiz aussieht, könnte dann ein Instrument zur kompensie- auch in der deutschen GRV – aus der Wachstumsrate der renden Umverteilung sein, die angesichts beschränkter In- Lohnsätze der aktiven Versicherten abgeleitet wird und ty- formationen des Staates unter Umständen nicht gezielter pischerweise deutlich kleiner ausfällt als der Zinssatz. Stel- vorgenommen werden kann. Auch dazu gibt es jedoch kaum le man demnach die Neutralität für das Budget der GRV und empirische Erkenntnisse.5 Solange es keine hinreichend ver- für die Versichertengemeinschaft als ganze in den Vorder- lässlichen Grundlagen gibt, aus solchen Überlegungen kla- grund, seien vergleichsweise niedrige Abschläge, wie sie re Politikempfehlungen zu machen, stellen versicherungs- seit einigen Jahren in Deutschland gelten, versicherungs- mathematisch korrekte, »neutrale« Abschläge, um deren Be- mathematisch korrekt, selbst wenn mit ihnen immer noch stimmung es in diesem Beitrag geht, allerdings wohl die ent- ein erkennbarer Anreiz einhergeht, individuell einen vorzei- scheidende Richtgröße für die praktische Rentenpolitik dar. tigen Rentenzugang zu wählen. Anreiz- oder Budgetneutralität? Als problematisch erscheint diese Sicht nicht zuallererst, weil die verschiedenen, hier genannten Zielsetzungen für Ren- Bis zu einem gewissen Punkt herrscht unter Rentenexper- tenabschläge auch anders gewichtet werden können. Viel- ten aller Art, international und auch innerhalb Deutschlands, mehr führt die von Vertretern der herrschenden Meinung in Einmütigkeit darüber, wie die Abschläge im Falle eines vor- den Vordergrund gestellte Neutralität bezüglich des Bud- gezogenen Renteneintritts versicherungsmathematisch kor- gets der Rentenversicherung, wenn man sie ernst nimmt, rekt zu bemessen sind. Der Barwert der erwarteten Renten- zu exakt denselben Bedingungen für korrekte Rentenab- schläge wie das Ziel der Anreizneutralität. Das im gleichen 3 Vgl. etwa Diamond und Mirrlees (1978; 1986), Sheshinski (2003) oder Atemzug eingeführte Ziel der Belastungsneutralität für an- Cremer et al. (2004). 4 Wenn Arbeitnehmer, die auf das Rentenalter zugehen, eine höhere Arbeits- angebotselastizität aufweisen als Jüngere, sollten verzerrende Belastun- 6 Vgl. etwa Sozialbeirat (2002, Tz. 39–55; 2005, Tz. 32 und 35), Sachver- gen bei ihnen entsprechend kleiner ausfallen (vgl. Fenge et al. 2005), de- ständigenrat (2003, Tz. 341) sowie den Bericht der Kommission »Nach- ren empirische Untersuchung jedoch die Phase vorzeitiger Rentenzugangs- haltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme« (2003, Kas- möglichkeiten ausblendet. Die Abschläge sollten sich also einer versiche- ten 3-6). rungsmathematisch korrekten Lösung nähern. Auf diesen Punkt wird in 7 Vgl. etwa den Sammelband von Gruber und Wise (1999), den darin ent- einem späteren Abschnitt zurückgekommen. haltenen Beitrag zu Deutschland von Börsch-Supan und Schnabel (1999) 5 Vgl. allerdings einige vorläufige Evidenz in Breyer und Hupfeld (2007). sowie Fenge (2001) oder Fenge und Pestieau (2005, Kap. 3 und 4). ifo Schnelldienst 16/2007 – 60. Jahrgang
Forschungsergebnisse 21 dere Versicherte lässt sich im Rahmen umlagefinanzierter ren Versicherten erleiden dadurch einen barwertmäßigen Alterssicherungssysteme schließlich nur herstellen, wenn Verlust, der aus der Renditedifferenz zu einer Anlage der- man von einer ganzen Reihe herkömmlicher Kalkulations- selben Mittel auf dem Kapitalmarkt resultiert, auf dem die prinzipien solcher Systeme abweicht. Am Ende gelten für Betroffenen ansonsten heutige Konsummöglichkeiten ge- die Bemessung korrekter Abschlagssätze unter diesem Ge- gen morgigen Konsum eintauschen können.8 sichtspunkt schließlich erneut dieselben Bedingungen wie bei den beiden anderen Zielsetzungen. Im Extremfall nehmen die zur Finanzierung vorzeitig gezahl- ter Renten erforderlichen Beitragserhöhungen anderen Ver- Der Denkfehler in der »herrschenden Meinung« sicherten gerade die Mittel weg, die sie ansonsten zum Ausbau einer eigenen, ergänzenden Altersvorsorge ver- Auf den ersten Blick klingt die Zielsetzung sinnvoll, Renten wenden und dabei zum Kapitalmarktzins anlegen könnten. im Falle eines vorzeitigen Bezuges so mit Abschlägen zu be- Nur wenn die Rentenabschläge wiederum auf der Basis legen, dass für das Budget der Rentenversicherung und – dieses Zinses bemessen werden, lassen sich die hier skiz- so wird teilweise behauptet (vgl. Sozialbeirat 2002, Tz. 39), zierten Belastungen anderer Versicherter immerhin nähe- teilweise durch Formulierungen wie »Stabilität der Beitrags- rungsweise neutralisieren. Eine vollständige Neutralisierung sätze« (vgl. Kommission 2003, Kasten 3-6) oder »beitrags- gelingt dabei normalerweise trotzdem nicht, weil einige von satzneutrale Abschläge« (vgl. Sachverständigenrat 2003, den vorübergehenden Beitragserhöhungen betroffene Ver- Tz. 341) suggeriert – mittelbar auch für die anderen Versi- sicherte bereits selbst in den Ruhestand eingetreten sind, cherten des Systems keine dauerhaften Belastungen er- wenn die Beitragssätze wieder sinken, während andere zeugt werden. Klar ist jedoch, dass es völlige Neutralität im Versicherte von diesen Beitragssenkungen profitieren, die Sinne völlig unveränderter Zeitpfade von Ausgaben und Ein- eben erst eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf- nahmen eines umlagefinanzierten Rentensystems nicht oh- nehmen und zuvor nicht belastet waren. Nur wenn von ne weiteres geben kann. Um sie zu realisieren, müsste sich der Festlegung einheitlicher jährlicher Beitragssätze und der Staat die Mittel für die vorzeitig anfallenden Renten auf einheitlicher Gegenwerte der jeweils erworbenen Entgelt- dem Kapitalmarkt leihen. Ferner müssten die über die ge- punkte abgewichen würde und diese Größen stattdessen samte Rentenlaufzeit wirksamen Abschläge so bemessen in einem Jahr für verschiedene Alterskohorten unterschied- sein, dass die verringerten Rentenzahlungen nach Erreichen lich festgelegt würden, ließen sich auch diese Probleme des gesetzlichen Rentenalters Zins und Tilgung für diesen vollständig lösen. Kredit exakt decken. Der für diese Transaktionen relevante Diskontsatz ist offenkundig »der« Kapitalmarktzins, konkret Formal demonstriert werden diese Überlegungen im An- der weitgehend risikolose Zinssatz für lang laufende Staats- hang A1 mit Hilfe eines einfachen Overlapping-generations- anleihen. Nur wenn dieser bei der Bestimmung der Ab- Modells. Bei aller Unsicherheit über die exakte Höhe des schlagssätze für vorzeitig gewährte Renten herangezogen zukünftigen Kapitalmarktzinses, der in Kalkulationen zur Hö- wird, können die Beitragssätze des Rentensystems im Zeit- he versicherungsmathematisch korrekter Rentenabschlä- ablauf wirklich völlig unverändert bleiben, und keiner der an- ge anzusetzen ist9, kann es konzeptionell nur einen Barwert deren Versicherten wird belastet. von Renten- und Beitragszahlungen geben, deren Zeitpfa- de im Falle eines vorzeitigen Rentenzugangs Versicherter Stattdessen »leiht« sich der Staat die Mittel zur Finanzierung vorzeitig gewährter Renten in einem Umlagesystem üblicher- 8 Dieser Verlust vergrößert die sachlich gleichartigen Einbußen an lebens- weise bei den sonstigen Versicherten, indem er die von ih- lang verfügbarem Erwerbseinkommen – eine »implizite Steuer« (vgl. Sinn nen zu entrichtenden Beitragssätze marginal erhöht. Wenn 2000; Thum und Weizsäcker 2000; sowie Fenge und Werding 2003; er die vorzeitigen Renten mit einem Abschlag versieht, kann 2004) –, die Versicherte durch die Pflichtmitgliedschaft in einer umlage- finanzierten Rentenversicherung ohne Frühverrentungsmöglichkeit ohne- er (zumindest bei Versicherten, die selbst noch lange ge- dies schon erleiden. 9 Zusätzlich könnte man diskutieren, ob Individuen bei Altersvorsorgemaß- nug aktiv bleiben) auch diese Kredite später durch verrin- nahmen, die einen umfassenden Schutz gegen biometrische Risiken wie gerte Beitragssätze wieder tilgen. Das Rentenbudget stellt das der eigenen Langlebigkeit (und der von etwaigen Hinterbliebenen) dabei nur einen durchlaufenden Posten dar. »Neutralität« soll bieten, nicht generell mit einer etwas niedrigeren Verzinsung ihrer Einlagen zufrieden wären als zum normalen Kapitalmarktzins. Angemessene Risi- dann bedeuten, dass sich in einer »Längsschnittbetrach- koprämien für die Übertragung solcher Risiken auf den Versicherer lassen tung über die gesamte Laufzeit der Rente eines Individuums sich allerdings kaum quantifizieren, vor allem weil der Markt für vergleich- oder einer betrachteten Gruppe« keine kumulierten Netto- bare private Versicherungsangebote in praktisch allen entwickelten Volks- wirtschaften sehr dünn ist. Fast überall werden diese Risiken für große vor- oder -nachteile ergeben (vgl. Sozialbeirat 2002, Tz. 41). Teile der Bevölkerung von staatlichen Einrichtungen übernommen, die nicht Wenn die Abschläge auf der Basis des allgemeinen Renten- nach versicherungsmathematischen Grundsätzen und unter Wettbewerb kalkulieren. Versicherte im verbleibenden Markt für private Leibrenten wei- anpassungssatzes kalkuliert sind, verzinst der Staat die sen in der Regel gerade hinsichtlich ihrer Lebenserwartung ganz andere zwangsweise aufgenommenen Kredite jedoch nur mit der Merkmale auf als durchschnittliche Versicherte staatlicher Rentenversiche- rungen. Ferner sind die Kalkulationen ihrer Versicherer zumeist so intrans- internen Rendite des Rentensystems, die normalerweise parent, dass sich aus öffentlich zugänglichen Daten keine Rückschlüsse deutlich unterhalb des Kapitalmarktzinses liegt. Die ande- auf »faire« Risikoprämien der hier angesprochenen Art ziehen lassen. 60. Jahrgang – ifo Schnelldienst 16/2007
22 Forschungsergebnisse variieren. Die in der deutschen Fachdiskussion eingeführte schrieben. Die unterstellten Lohnsteigerungsraten und Zins- Unterscheidung zwischen einer Perspektive einzelner Ver- sätze werden vereinfachend ab 2005 konstant gehalten und sicherter mit möglichem Frühverrentungsanreiz einerseits im Rahmen anschließender Sensitivitätsanalysen gezielt va- und der Rentenversicherung und ihrer sonstigen Mitglie- riiert. Als Basisannahmen gelten dabei ein reales Lohnwachs- der andererseits ergibt nur oberflächlich betrachtet einen tum von 1,5% p.a. und ein Realzins von 3,5% p.a., was Sinn. Der entscheidende Fehler dieser Sicht ist, dass das beiderseits langjährigen Durchschnittswerten für das wie- Budget umlagefinanzierter Rentenversicherungen selbst dervereinigte Deutschland entspricht.12 Alters- und ge- nicht neutral ist bezüglich der finanziellen Situation aller Ver- schlechtsspezifische Überlebenswahrscheinlichkeiten wer- sicherten. den der neuesten »Sterbetafel 2003–05« des Statistischen Bundesamtes (2006b) entnommen.13 Berechnungen zur Höhe korrekter Renten- Bei der ergänzenden Berücksichtigung von Erwerbsmin- abschläge für die GRV derungsrenten (die bei fortgesetzter Erwerbstätigkeit bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze wirksam werden können) Im Anschluss an die konzeptionelle Diskussion versiche- werden alters- und geschlechtsspezifische Eintrittswahr- rungsmathematisch korrekter Abschläge bei vorzeitigem scheinlichkeiten auf der Basis entsprechender Rentenzu- Rentenzugang, die darauf hinaus lief, dass solche Abschlä- gänge im Jahre 2005 (vgl. Deutsche Rentenversicherung ge auf der Basis des Kapitalmarktzinses zu bestimmen 2006b, 45 f.) berücksichtigt; ihre Höhe richtet sich bei ge- sind10, werden nun möglichst realitätsgerechte Berechnun- gebener Erwerbsbiographie nach dem geltendem Recht. gen zu ihrer angemessenen Höhe im Rahmen der deutschen Für die erwarteten Beträge etwaiger Hinterbliebenenrenten GRV angestellt. Sie beziehen sich auf Versicherte, die im wird vereinfachend die (positive) Differenz der kumulierten Jahre 2005 das 60. Lebensjahr vollendet haben und daher Überlebenswahrscheinlichkeiten gleichaltriger Partner be- in Ausnahmefällen schon damals, im Regelfall ab 2008, vor- rücksichtigt; ihre Höhe wird ausgehend von der Relation der zeitig eine Rente beziehen können, während sie erst 2010 Rentenansprüche des betrachteten Versicherten zu durch- die gesetzliche Regelaltersgrenze von 65 Jahren erreichen. schnittlichen Rentenansprüchen eines Versicherten des an- Anschließend werden auch Abschlagssätze bestimmt, die deren Geschlechts abgeschätzt. Aus den Altersrenten von für dieselben Versicherten erforderlich wären, wenn sie ei- Frauen ergeben sich dabei typischerweise keine Ansprüche ne abschlagsfreie Altersrente erst 2012, bei Vollendung des auf Witwerrenten, während in den einschlägigen Berech- 67. Lebensjahres, erhalten könnten. nungen alle betrachteten Männer als verheiratet betrachtet werden, bei denen nennenswerte Witwenrenten-Ansprüche In die Berechnungen gehen dabei folgende Größen ein: Bei- entstehen. tragszahlungen und Rentenanwartschaften eines »Standard- rentners«, der in jedem Jahr seiner Erwerbstätigkeit das ver- Die genaue Formel zur Berechnung versicherungsmathe- sicherungspflichtige Durchschnittsentgelt aller aktiven Ver- matisch korrekter Abschläge bei einem vorzeitigen Renten- sicherten erzielt und durch seine jährlichen Beiträge jeweils zugang für die hier konstruierten Szenarien wird im Anhang exakt zusätzliche Rentenansprüche im Umfang eines Ent- A2 angegeben. Betrachtet werden dabei, ab dem frühest- geltpunktes erwirbt. Dabei wird unterstellt, dass dieser Ver- möglichen Rentenzugangsalter, das derzeit in Ausnahme- sicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres 40 Ent- fällen bei 60 Jahren, im Regelfall bei 63 Jahren liegt, jährli- geltpunkte erwerben könnte, was recht genau der durch- che Entscheidungen über eine Fortsetzung der Erwerbstä- schnittlichen Entgeltpunktzahl von Altersrenten für Männer tigkeit vs. einen sofortigen Renteneinritt. Ermittelt werden im Rentenzugang des Jahres 2005 entspricht (vgl. Deutsche auf dieser Basis durchschnittliche Abschlagssätze pro Jahr Rentenversicherung 2006a, 35 f. und 73–76). Beitragssät- ze und aktuelle Rentenwerte der GRV werden, ausgehend 12 Vgl. Werding und Kaltschütz (2005, Abschnitte 2.4 und 2.5). Man beach- von Ist-Daten für 2005, mit Hilfe des CESifo-Rentenmo- te, dass sich diese realen Sätze bei einer Inflationsrate von ebenfalls 1,5% dells – unter Berücksichtigung des derzeit geltenden Ren- p.a. in nominale Lohnwachstumsraten von ca. 3,0% und einen Nominal- zins von rund 5,1% übersetzen. tenrechts und plausibler Annahmen für die zukünftige Ent- 13 Jede aktuelle Sterbetafel, die allein auf den heutigen altersspezifischen wicklung von Demographie und Arbeitsmarkt11 – fortge- Überlebenswahrscheinlichkeiten basiert, dürfte die tatsächliche (Rest-)Le- benserwartung derzeit aktiver Versicherter systematisch unterschätzen, die tendenziell zunehmen dürfte und unter sonst gleichen Umständen nied- 10 In der Logik einer solchen Lösung läge es im Übrigen, die Budgeteffek- rigere, versicherungsmathematisch korrekte Abschlagssätze erforderlich te, die sich unter diesen Rahmenbedingungen für die GRV ergeben, et- macht. Faktisch, so argumentiert auch der Sachverständigenrat (2003, wa mit dem Kapitalstock der »Nachhaltigkeitsrücklage« der GRV abzu- Tz. 341), sind die derzeitigen Abschläge für heute rentennahe Jahrgänge rechnen (vgl. dazu auch Breyer und Kifmann 2002). unter dem Gesichtspunkt der Anreizneutralität zu gering, sie könnten in 11 Hinsichtlich der demographischen Entwicklung stützen sich die Berech- rund 50 Jahren jedoch gerade passend sein. Ohne ihrerseits versiche- nungen dabei auf die Variante »1-W2« der neuesten Bevölkerungsvoraus- rungsmathematische Anpassungen (d.h. Senkungen) der jährlichen Ren- berechnungen des Statistischen Bundesamtes (2006a). Die Annahmen tenansprüche spricht dies jedoch am ehesten dafür, aktuell korrekte Ab- zur Erwerbsbeteiligung und zur Entwicklung der sozialversicherungspflich- schläge festzusetzen, die dann mit der Zeit immer weiter »überhöht« sind tigen Beschäftigung entsprechen denen in Werding und Kaltschütz (2005, und auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit hin wirken, was bei stei- Abschnitt 2.3). gender Lebenserwartung aus mehreren Gründen erwünscht sein kann. ifo Schnelldienst 16/2007 – 60. Jahrgang
Forschungsergebnisse 23 unter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Jahre des vor- Vernachlässigt werden bei diesen ersten Berechnungen zeitigen Rentenbezugs. Dies ist zu betonen, weil versiche- allerdings die Effekte erwarteter Ansprüche auf Erwerbs- rungsmathematisch korrekte Abschläge für einzelne Jahre minderungsrenten und Hinterbliebenenrenten, die von der nicht konstant sind. Sie nehmen vielmehr ab, je früher der Altersrente des betrachteten Versicherten abgeleitet wer- vorzeitige Renteneintritt stattfindet, weil die relative Verlän- den. Erstere erhöhen die insgesamt erwarteten Rentenan- gerung der erwarteten Rentenphase immer kleiner wird, sprüche im Falle einer fortgesetzten Erwerbstätigkeit14, letz- wenn letztere z.B. 18 statt 17 Jahre anstelle von 17 statt tere erhöhen – zumindest bei Männern – die erwarteten 16 Jahren dauert. Diese Nichtlinearität wird noch ausge- Rentenansprüche sowohl bei vorzeitigem Renteneintritt prägter bei versicherungsmathematisch korrekten Zuschlä- als auch bei fortgesetzter Erwerbstätigkeit. In beiden Fäl- gen für einen verspäteten Rentenzugang, die hier der Voll- len vermindern sich daher die versicherungsmathematisch ständigkeit halber ebenfalls ermittelt werden. In diesem Fall korrekten Abschläge von vorzeitig in Anspruch genomme- wird die Rentenphase relativ immer stärker verkürzt. Der Auf- nen Renten. Auf die Zuschläge bei aufgeschobenem Ren- schub kann dabei auch in Altersjahre reichen, in denen die teneintritt haben Erwerbsminderungsrenten keinen Effekt, bedingte Überlebenswahrscheinlichkeit des betreffenden da hier jeweils die Option zum sofortigen Bezug einer Al- Versicherten schon merklich sinkt. tersrente besteht. Rentenabschläge bei einer Regelaltersgrenze von Erwartungsgemäß reduzieren sich versicherungsmathe- 65 Jahren matisch korrekte Rentenabschläge bei der Berücksichti- gung von Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenren- Tabelle 1 weist versicherungsmathematisch korrekte Ren- ten. Außerdem gleichen sich die für Männer und Frauen er- tenabschläge und -zuschläge im Falle eines vorzeitigen bzw. mittelten Sätze in diesem Fall, aufgrund der asymmetri- aufgeschobenen Renteneintritts aus, die sich unter Berück- schen Berücksichtigung abgeleiteter Hinterbliebenenren- sichtigung der zuvor genannten Berechnungsgrundlagen ten, fast perfekt an. Korrekte Abschläge liegen nun in ei- aus der in Anhang A2 beschriebenen Formel ergeben. Die nem Bereich von knapp 6 bis 6,5%. Von besonderer Be- Berechnungen basieren auf einer gesetzlichen Regelalters- deutung sind dabei die jahresdurchschnittlichen Abschlags- grenze von 65 Jahren. Die Resultate werden getrennt für sätze in Höhe von 6,3% – gegenüber 3,6% nach gelten- Männer und Frauen ausgewiesen. Berücksichtigt man allein dem Recht – für einen Renteneintritt bei Vollendung des die Unterschiede in den erwarteten Barwerten der jeweili- 63. Lebensjahres, der im Regelfall den Zeitpunkt des frü- gen Altersrentenansprüche, unterscheiden sich angemes- hestmöglichen Bezugs einer Rente darstellt. Bei Männern sene Abschlagssätze für männliche und weibliche Versicher- ändern sich durch die Berücksichtigung von Hinterbliebe- te wegen der Differenz ihrer altersspezifischen Restlebens- nenrenten auch die Zuschlagssätze für den Fall eines auf- erwartungen deutlich. In beiden Fällen liegen korrekte Ab- geschobenen Renteneintritts, die mit knapp 8% bis rund schläge für die hier zugrunde gelegte Kombination von rea- 9,5% für Männer und Frauen nun ebenfalls annähernd len Lohnwachstumsraten (g = 1,5% p.a.) und realem Zins- gleich hoch ausfallen. satz (r = 3,5% p.a.) mit rund 6% bis knapp 9% pro Jahr deut- lich höher als die in der GRV derzeit geltenden Abschlags- 14 Im Falle einer vorzeitigen Erwerbsminderung reduzieren sich auch die bis sätze von 3,6%. Dasselbe gilt für korrekte Zuschläge im Fal- zum Erreichen der Regelaltersgrenze noch zu entrichtenden Beiträge. le eines aufgeschobenen Renteneintritts, die hier im Bereich Zugleich werden nach geltendem Recht jedoch auch Erwerbsminderungs- renten, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen von knapp 8 bis 12% liegen, während sie sich nach gelten- werden, mit Abschlägen von 3,6% pro Jahr und von insgesamt maximal dem Recht nur auf 6% belaufen. 10,8% belegt. Tab. 1 Korrekte Rentenabschläge und Rentenzuschläge für jedes Jahr eines vorgezogenen oder aufgeschobenen Renteneintritts (Regelaltersgrenze 65 Jahre) Renteneintritt im Alter … 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 a) Basis: Altersrenten Männer – 7,3 – 7,6 – 7,9 – 8,3 – 8,6 – 9,5 10,0 10,5 11,2 11,9 Frauen – 6,1 – 6,3 – 6,6 – 6,8 – 7,1 – 7,7 8,0 8,4 8,9 9,4 b) Basis: Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten Männer – 5,9 – 6,0 – 6,1 – 6,3 – 6,5 – 8,0 8,3 8,7 9,1 9,6 Frauen – 5,7 – 5,9 – 6,1 – 6,3 – 6,5 – 7,7 8,0 8,4 8,9 9,4 Alle Angaben in % der rechnerischen Rentenansprüche aus der jeweils erreichten Entgeltpunktzahl. – Markierte Zahlen: Frühestmöglicher Renteneintritt im Regelfall (ab Alter 63). – Annahmen: reale Lohnwachstumsrate g = 1,5% p.a.; realer Zinssatz r = 3,5% p.a.; Rentenanpassungen nach dem geltenden Rentenrecht, simuliert mit Hilfe des CESifo-Rentenmodells. Quelle: ifo Institut. 60. Jahrgang – ifo Schnelldienst 16/2007
24 Forschungsergebnisse Rentenabschläge bei einer Regelaltersgrenze von ker verlängert. Andererseits können Versicherte bis zum 67 Jahren Erreichen der neuen Regelaltersgrenze eine höhere Ent- geltpunktzahl erwerben, was das relative Gewicht eines feh- Allerdings wird die derzeitige Regelaltersgrenze von 65 Jah- lenden Beitragsjahres vermindert. Der erste Effekt dominiert ren nur noch bis 2011 und für Versicherte der Geburts- dabei leicht den zweiten. jahrgänge bis einschließlich 1946 gelten. Anschließend wird sie bis 2029 (bzw. 2031) und für Versicherte der Jahrgän- Unter Berücksichtigung der erwarteten Alters-, Erwerbsmin- ge ab 1964 schrittweise auf 67 Jahre heraufgesetzt.15 Das derungs- und Hinterbliebenenrenten liegen versicherungs- in Ausnahmefällen geltende Alter für einen frühestmögli- mathematisch korrekte Abschläge für männliche und weib- chen Renteneintritt steigt dabei ebenfalls um zwei Jahre, liche Versicherte nun im Bereich von 6 bis 7%, sind also von 60 auf 62 Jahre.16 Das im Regelfall geltende Alter für gegenüber den Abschlägen bezüglich der Regealtersgren- einen frühestmöglichen Renteneintritt bleibt hingegen un- ze von 65 Jahren kaum verändert. Auch die Unterschiede verändert bei 63 Jahren. In einer wachsenden Zahl von Fäl- zwischen den Abschlagssätzen für Männer und Frauen sind len ist allerdings weiterhin ein abschlagsfreier Rentenzu- weiterhin vernachlässigbar. Da das Alter für einen frühest- gang bei Vollendung des 65. Lebensjahres möglich. In die- möglichen Renteneintritt im Regelfall unverändert bei 63 Jah- sen Fällen gelten im Prinzip unverändert die Abschlagssät- ren bleibt und die jahresdurchschnittlichen Abschläge mit ze aus Tabelle 1. der Dauer der Frühverrentungsphase abnehmen, ergeben sich dafür nun sogar leicht geringere Abschlagssätze als zu- Tabelle 2 weist versicherungsmathematisch korrekte Ren- vor, nämlich 6,1 bis 6,2% anstelle von 6,3%. Gleichwohl tenabschläge und -zuschläge aus, die sich bei unveränder- ten Berechnungsgrundlagen bezogen auf eine Regelalters- liegen sie weiterhin deutlich über den Abschlägen nach gel- grenze von 67 Jahren ergeben. Dabei fällt auf, dass sich tendem Recht in Höhe von 3,6%. Die versicherungsmathe- die Abschlagssätze bei vorzeitigem Renteneintritt für alle be- matisch korrekten Zuschläge bei einem aufgeschobenen trachteten Szenarien gegenüber den Vergleichswerten für Renteneintritt nehmen bei einer Heraufsetzung der gesetz- eine Regelaltersgrenze von 65 Jahren generell nur leicht er- lichen Regelaltersgrenze hingegen zu, auf gut 8 bis gut 10% höhen. Grund dafür ist das Zusammentreffen zweier ent- pro Jahr bei Männern wie bei Frauen. gegengerichteter Effekte. Einerseits sorgt die verkürzte Lauf- zeit einer Regelaltersrente dafür, dass sich die Rentenpha- Sensitivität korrekter Rentenabschläge für die Lohn- und se durch ein Vorziehen des Renteneintritts jeweils relativ stär- Zinsentwicklung Dass versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschlä- 15 Von 2012 bis 2023 erhöht sich die gesetzliche Regelaltersgrenze jährlich ge im Falle eines vorzeitigen Renteneintritts deutlich höher um einen Monat, ab 2024 jährlich um zwei Monate; vgl. das »RV-Alters- grenzenanpassungsgesetz« vom 20. April 2007. Die angezielte Regelal- sein müssten, als sie nach dem geltenden Recht der GRV tersgrenze von 67 Jahren wird damit im Jahre 2029 erstmalig voll wirk- sind, ist kein Artefakt extremer Annahmen bezüglich der hier sam. Versicherte, die 1964 geboren sind, können auf dieser Basis dann 2031 ohne Abschläge in Rente gehen. unterstellten Zeitpfade von Lohnwachstum, Rentenanpas- 16 Dabei werden auch diese Ausnahmefälle enger begrenzt. Sie beziehen sungen und Kapitalmarktzinsen. Dies unterstreichen auch sich unverändert auf schwerbehinderte Menschen mit 35 Versicherungs- ergänzende Sensitivitätsanalysen zur Höhe korrekter Ab- jahren, die zugleich eine abschlagsfreie Rente ab Vollendung des 65. Le- bensjahres erhalten können, während ähnliche Sonderbestimmungen bei schlagssätze, bei denen die aus längerfristigen Durch- Frauen nur noch für Versicherte der Jahrgänge bis 1951 gelten. schnittswerten abgeleiteten Basisannahmen zur realen Tab. 2 Korrekte Rentenabschläge und Rentenzuschläge für jedes Jahr eines vorgezogenen oder aufgeschobenen Renteneintritts (Regelaltersgrenze 67 Jahre) Renteneintritt im Alter … (62) 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 a) Basis: Altersrenten Männer – 7,7 – 8,0 – 8,3 – 8,7 – 9,1 – 10,1 10,7 11,4 12,2 13,0 Frauen – 6,4 – 6,6 – 6,9 – 7,1 – 7,4 – 8,2 8,6 9,1 9,6 10,2 b) Basis: Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten Männer – 6,1 – 6,2 – 6,4 – 6,6 – 6,9 – 8,4 8,8 9,2 9,7 10,2 Frauen – 6,0 – 6,1 – 6,3 – 6,6 – 6,8 – 8,2 8,6 9,1 9,6 10,2 Alle Angaben in % der rechnerischen Rentenansprüche aus der jeweils erreichten Entgeltpunktzahl. – Markierte Zahlen: Frühestmöglicher Renteneintritt im Regelfall (ab Alter 63). – Annahmen: reale Lohnwachstumsrate g = 1,5% p.a.; realer Zinssatz r = 3,5% p.a.; Rentenanpassungen nach dem geltenden Rentenrecht, simuliert mit Hilfe des CESifo-Rentenmodells. Quelle: ifo Institut. ifo Schnelldienst 16/2007 – 60. Jahrgang
Forschungsergebnisse 25 Wachstumsrate der Lohnsätze und zum realen Zinssatz versicherungsmathematisch korrekter Abschlagssätze ei- gezielt variiert werden.17 gentlich nicht diese Einzelannahmen von Belang sind, son- dern in erster Linie die jeweilige Differenz r – g. Je höher sie Um die Fülle des Materials zu beschränken, konzentrieren ausfällt – hier liegt sie konkret zwischen null und vier Pro- sich die Berechnungen zur Sensitivität der bisherigen Re- zentpunkten –, desto höhere Abschlagssätze ergeben sich. sultate auf eine Variante, die für praktische Zwecke tenden- Versicherungsmathematisch korrekte Abschläge im Falle ei- ziell von größter Bedeutung sein dürfte. Betrachtet wird hier nes vorzeitigen Renteneintritts belaufen sich hier auf gut 4 bis einzig der Fall eines männlichen Versicherten, für den die Re- gut 8% pro Jahr, die Zuschläge im Falle eines aufgescho- gelaltersgrenze, wie derzeit, bei 65 Jahren liegt und bei benen Renteneintritts liegen zwischen 6 und gut 12%. dem zur Berechnung korrekter Abschläge neben seiner Al- tersrente auch erwartete Ansprüche auf Erwerbsminde- Selbst unter der extremen Annahme, dass r = g, ergeben rungs- und abgeleitete Hinterbliebenenrenten berücksich- sich demnach immer noch Abschlagssätze, die oberhalb tigt werden. Die auf dieser Grundlage unter den Basisan- derer nach dem geltenden Recht liegen:18 Für den im Re- nahmen hinsichtlich Lohn- und Zinsentwicklung ermittelten gelfall frühestmöglichen Renteneintritt bei Vollendung des Resultate erweisen sich als annähernd identisch mit denen 63. Lebensjahres müssten die Abschläge auch dann noch für weibliche Versicherte (vgl. Tab. 1). Auch für die bereits rund 4,7% anstelle von 3,6% pro Jahr betragen, die ku- beschlossene Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jah- mulierten Abschläge für den um zwei Jahre vorgezoge- re bis 2029 ergeben sich keine stark abweichenden Resul- nen Renteneintritt müssten sich auf 9,4% anstelle von 7,2% tate (vgl. Tab. 2). Ferner würden die Änderungen durch va- belaufen. riierende Lohnwachstumsraten und Zinssätze für jede an- dere Variante ganz ähnlich ausfallen. Rentenabschläge und »implizite Steuern« Tabelle 3 weist die Ergebnisse der Sensitivitätsanalysen aus, umlagefinanzierter Rentensysteme mit Resultaten für reale Lohnwachstumsraten (g) in Höhe von 0,5, 1,5 oder 2,5% p.a. und für reale Zinssätze (r) von Im Rahmen der Überlegungen zur Belastungsneutralität vor- 2,5, 3,5 oder 4,5% p.a. Es zeigt sich, dass für die Höhe zeitiger Renteneintritte für andere Versicherte wurde hier zu- 18 Dies liegt unter anderem daran, dass die Sätze der laufenden Rentenan- 17 Die Rate laufender Rentenanpassungen ergibt sich in den hier zugrunde passungen in diesem Fall immer noch niedriger ausfallen als die Lohn- gelegten Projektionen zur Entwicklung der Finanzen der GRV, ganz nach wachstumsrate g (vgl. Fußnote 17). Die Setzung des Zinssatzes r hat im dem geltenden Recht, endogen aus der Lohnwachstumsrate. Durch die Rahmen der zugrunde liegenden Projektionen für die finanzielle Entwick- Berücksichtigung der zugleich projizierten Steigerungen des Rentenbei- lung der GRV ebenfalls gewisse, wenn auch nur geringe Effekte. Da r zu- tragssatzes, des Abschlags für die Bildung von Altersvorsorgevermögen gleich die Verzinsung der »Nachhaltigkeitsrücklage« des Rentensystems sowie der erwarteten, ungünstigen Entwicklung des Äquivalenz-Rentner- steuert, wirkt es sich nach geltendem Recht auf den genauen Zeitpfad der quotienten fällt sie auf Dauer aber geringer aus als diese. Beitragssätze aus. In Tabelle 3 tritt dieser Effekt allerdings nicht hervor. Tab. 3 Korrekte Rentenabschläge und Rentenzuschläge für jedes Jahr eines vorgezogenen oder aufgeschobenen Renteneintritts (Regelaltersgrenze 65 Jahre) Renteneintritt im Alter … 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 r = 2,5% p.a. g = 2,5% – 4,4 – 4,4 – 4,6 – 4,7 – 4,9 – 6,0 6,2 6,5 6,8 7,2 g = 1,5% – 5,1 – 5,2 – 5,3 – 5,5 – 5,7 – 6,9 7,2 7,6 7,9 8,3 g = 0,5% – 5,9 – 6,0 – 6,1 – 6,3 – 6,5 – 8,0 8,3 8,7 9,1 9,6 r = 3,5% p.a. g = 2,5% – 5,1 – 5,2 – 5,3 – 5,5 – 5,7 – 6,9 7,2 7,6 7,9 8,3 g = 1,5% – 5,9 – 6,0 – 6,1 – 6,3 – 6,5 – 8,0 8,3 8,7 9,1 9,6 g = 0,5% – 6,6 – 6,8 – 7,0 – 7,2 – 7,4 – 9,0 9,4 9,9 10,3 10,9 r = 4,5% p.a. g = 2,5% – 5,9 – 6,0 – 6,1 – 6,3 – 6,5 – 8,0 8,3 8,7 9,1 9,6 g = 1,5% – 6,6 – 6,8 – 7,0 – 7,2 – 7,4 – 9,0 9,4 9,8 10,3 10,9 g = 0,5% – 7,4 – 7,6 – 7,8 – 8,0 – 8,3 – 10,1 10,6 11,1 11,7 12,3 Alle Angaben in % der rechnerischen Rentenansprüche aus der jeweils erreichten Entgeltpunktzahl. – Markierte Zahlen: Frühestmöglicher Renteneintritt im Regelfall (ab Alter 63) und Basisannahmen (reale Lohnwachstumsrate g = 1,5% p.a.; realer Zinssatz r = 3,5% p.a.). – Betrachtetes Szenario: Regelaltersgrenze 65 Jahre; Berechnungsbasis: Alters- und Erwerbsminderungs- für männliche Versicherte sowie davon abgeleitete Hinterbliebenenrenten. Quelle: ifo Institut. 60. Jahrgang – ifo Schnelldienst 16/2007
26 Forschungsergebnisse vor das Konzept einer »impliziten Steuer« angesprochen, Vor diesem Hintergrund lässt sich die Funktion versiche- die umlagefinanzierte Rentensysteme allen ihren Mitgliedern rungsmathematisch korrekter Rentenabschläge abschlie- auferlegen. Diese Steuer, ein rechnerischer Verlust gegen- ßend noch in einem neuen Licht beschreiben. Die Höhe über einer risikofreien Anlage der individuell entrichteten Bei- des impliziten Steuersatzes auf die lebenslang erzielten träge auf dem Kapitalmarkt, ist der »Preis« für die interge- Arbeitsentgelte, der von Mitgliedern einer Alterskohorte nerationelle Umverteilung, die im Rahmen solcher Syste- Versicherter erhoben wird, wird durch das Ausmaß an in- me notwendig bewirkt wird (vgl. Sinn 2000; Thum und Weiz- tergenerationeller Umverteilung definiert, die im jeweiligen säcker 2000; oder Fenge und Werding 2003; 2004). In der System angelegt ist. Nimmt man dieses als gegeben, wird Literatur zur Frühverrentung wird häufig ebenfalls von einer das Zeitprofil jährlicher Steuersätze durch versicherungs- impliziten Steuer gesprochen, der zukünftigen Beiträge po- mathematisch korrekte Abschläge bei vorzeitigem Ren- tentieller Frührentner, je nach Höhe der Abschläge, mit de- tenzugang nach vorne gestaucht. Für die Jahre ab dem nen sie im Falle eines vorzeitigen Rentenzugangs konfron- frühestmöglichen Rentenzugang werden die jährlichen tiert sind, eventuell unterliegen (vgl. Börsch-Supan und Steuersätze dadurch auf null gesetzt, um individuelle Ren- Schnabel 1999; Fenge und Pestieau 2005, Kap. 4). Zwi- teneintrittsentscheidungen in dieser Phase nicht zu ver- schen beiden Konzepten besteht dabei ein enger Zusam- zerren bzw. um das Rentenbudget und andere Versicher- menhang. te nicht zu belasten. Zwar wird die implizite Steuer des Rentensystems zumeist Diese Zusammenhänge illustriert Abbildung 1. Sie weist als kumulierte Größe bestimmt, die sich für verschiedene Al- zunächst ein Lebenszyklus-Profil der impliziten Steuersät- terskohorten jeweils über ihren gesamten Lebenszyklus hin- ze aus, welche Jahr für Jahr auf die Beiträge eines im Jah- weg ergibt. Sie hat aber auch eine zeitliche Struktur inner- re 1945 geborenen »Standardrentners« entfallen, das die halb eines jedes solchen Lebenszyklus (vgl. Wrede 1999; Möglichkeit zu einem vorzeitigen Renteneintritt ignoriert. Fenge et al. 2005; Kifmann 2007). Der jährlich anfallende Über den gesamten Lebenszyklus des Versicherten hin- Steuersatz nimmt dabei typischerweise im Laufe des Er- weg ergibt sich dabei eine (durchschnittliche) implizite Steu- werbslebens immer weiter ab, in erster Linie, weil die Ren- er in Höhe von exakt 60% seiner gesamten Beiträge. Für ditedifferenz zwischen Anlagen am Kapitalmarkt und Ein- einzelne Beitragsjahre im Alter von 25 bis 65 sinken die zahlungen in das umlagefinanzierte Rentensystem zu Be- jährlich anfallenden Steuersätze, gemessen in Prozent der ginn des Erwerbslebens über einen viel längeren Zeitraum Beiträge, dabei tendenziell durchgängig ab, von einem Ma- zum Tragen kommt als kurz vor dem Renteneintritt. Sobald ximum in Höhe von knapp 75% (im Alter von 29 Jahren) ein Individuum die Möglichkeit erhält, vorzeitig eine Rente zu einem Minimum in Höhe von gut 21% (im Alter von 60 in Anspruch zu nehmen, ändert sich das Kalkül jedoch. Im- Jahren).19 plizite Steuersätze für potentielle Frührentner, die bei zu ge- ringen Rentenabschlägen wieder stark zunehmen, bilden Im Anschluss an die vorherigen Berechnungen zur Höhe ver- damit jeweils den letzten Abschnitt lebenslanger Profile der sicherungsmathematisch korrekter Rentenabschläge wird impliziten Steuersätze, denen Versicherte Jahr für Jahr ge- in Abbildung 1 außerdem ein korrigiertes Profil gezeigt, bei nerell unterworfen sind. dem die jährlichen Steuersätze zunächst bezogen auf den frühestmöglichen Renteneintritt bestimmt werden, der hier bei vollen Abschlägen ge- genüber einem regulären Renteneintritt be- Abb. 1 reits mit 60 Jahren zulässig sein soll. Im Al- Jährliche implizite Steuern der GRV (männlicher Versicherter, * 1945) ter von 25 bis 60 wird das Profil dadurch nach in % der jährlichen Beiträge oben gedreht und insgesamt flacher, da die 100 Höhe der jährlichen Steuersätze zunächst vor allem von einem unveränderten, negati- 80 ven Zinseszins-Effekt bestimmt wird, der im Zeitablauf an Gewicht verliert, während der 60 Effekt der Rentenabschläge immer stärker 40 19 Gleichzeitig zeigt das Profil Spuren einiger Instatio- naritäten, die vor allem aus vergangenen Änderungen 20 ohne Berücksichtigung der Frühverrentungsoption der jährlichen Beitragssätze resultieren (vgl. dazu Fen- inkl. Frühverrentungsoption (korrekte Abschläge) ge et al. 2005, Abschnitt 3). Hinzu kommen Sprün- inkl. Frühverrentungsoption (gesetzliche Abschläge) ge in den jährlichen Belastungen, die aus dem al- 0 tersspezifisch variierenden Risiko einer vorzeitigen Er- 25 30 35 40 45 50 55 60 65 werbsminderung herrühren. Sie sind hier insbeson- Alter des Versicherten dere für den Verlauf dieses Profils ab Vollendung des Quelle: CESifo-Rentenmodell (Version 2007). 60. Lebensjahres verantwortlich. ifo Schnelldienst 16/2007 – 60. Jahrgang
Forschungsergebnisse 27 hervortritt. Für die Jahre ab Vollendung des 60. Lebensjah- immer wieder vertretenen Ansicht, nach der es hierzu ver- res werden die impliziten Steuersätze gezeigt, die die jähr- schiedene, prinzipiell gleichwertige Ansätze gibt, so dass lich neu zu fällende Entscheidung beeinflussen, die versi- es letztlich auf die genaue Zielsetzung ankommt, die mit cherungspflichtige Erwerbstätigkeit noch ein weiteres Jahr der Berechnung solcher Abschläge verfolgt wird. Nimmt fortzusetzen. Sie sind wie angekündigt null. Schließlich zeigt man die konkret vorgeschlagenen Ziele – nämlich Neutra- die Abbildung auch noch die Effekte des geltenden Rechts: lität bezüglich der Anreize eines Versicherten bei der Wahl Zu geringe Abschläge bei einem vorzeitigen Rentenzugang seines Rentenzugangszeitpunktes oder Neutralität bezüg- führen hier dazu, dass das Profil bis zur Vollendung des lich des Budgets der Rentenversicherung und damit der fi- 60. Lebensjahres insgesamt nach unten verschoben wird, nanziellen Effekte für alle sonstigen Versicherten – ernst, während die impliziten Steuern auf Beiträge in der Phase mit so führen sie letztlich alle zu ein und derselben Berech- Frühverrentungsoption wieder stark zunehmen und bereits nungsweise, die im Kern auf einer Diskontierung zukünfti- ab dem Alter 61 höher ausfallen als jemals zuvor im Lebens- ger Renten- und Beitragszahlungen mit Hilfe des Kapital- zyklus. marktzinses basiert. Der kumulierte Satz der impliziten Steuer auf die lebens- Aus diesen Überlegungen folgt, dass die nach dem derzei- lang entrichteten Beiträge des Versicherten bleibt, trotz der tigen Recht verhängten Rentenabschläge klar zu niedrig unterschiedlichen zeitlichen Struktur, in allen hier betrach- sein dürften. Anstelle des aktuellen Abschlagssatzes in Hö- teten Varianten unverändert, wenn der Versicherte jeweils he von 3,6% für jedes Jahr eines vorzeitigen Rentenein- wirklich bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiter ar- tritts ergibt sich hier, dass versicherungsmathematisch kor- beitet. Die Anreizeffekte bezüglich der Fortsetzung einer ver- rekte Abschläge unter Berücksichtigung erwarteter Ansprü- sicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit unterscheiden sich che auf Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenen- allerdings stark. Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Versicherter renten, die ein Versicherter mit seinen Beiträgen erwirbt, be- unter Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Rente ge- zogen auf die derzeitige Regelaltersgrenze von 65 Jahren hen kann, setzen zu geringe Rentenabschläge einen klaren und einen frühestmöglichen Rententritt, der im Regelfall mit Anreiz, dies auch zu tun und dadurch den lebenslang an- 63 Jahren erfolgen kann, für Männer und Frauen einheit- fallenden, impliziten Steuersatz zu senken – auf Kosten des lich bei etwa 6,3% pro Jahr liegen müssten.21 Auch bei der Rentenbudgets und damit letztlich auf Kosten anderer Ver- mittlerweile verabschiedeten, 2012 einsetzenden Erhöhung sicherter. Da die Elastizität des jährlichen Arbeitsangebots der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre kann an Abschlägen ab dem frühestmöglichen Renteneintrittsalter stark zuneh- dieser Höhe praktisch unverändert festgehalten werden. men dürfte20, kann ein solches zeitliches Profil der Belas- Bei weiter steigender Lebenserwartung könnte zwar eine tung mit den impliziten Steuern des Rentensystems kaum sukzessive Senkung erwogen werden, wenn die Abschlags- optimal sein. Der durch versicherungsmathematisch korrek- sätze zunächst entsprechend erhöht werden. Wirklich zwin- te Abschläge erzeugte, jährliche Steuersatz von null trägt gend würde dies aber erst, wenn zugleich die Rentenan- den Wahlmöglichkeiten und der schon daraus resultieren- sprüche jeder Alterskohorte explizit an die steigende Le- den, höheren Reagibilität des Arbeitsangebots in dieser Pha- benserwartung angepasst und dabei im Zeitablauf tenden- se wesentlich eher Rechnung. ziell gesenkt würden, wie dies etwa in Schweden prakti- ziert wird. Zusammenfassung Die konzeptionelle Klärung wie auch die daran anknüpfen- den Berechnungen zur Höhe korrekter Rentenabschläge Zentrales Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, kon- haben große praktische Bedeutung im Zusammenhang mit zeptionelle Klarheit über die Bestimmung versicherungs- einer Politik zur Heraufsetzung des effektiven Rentenzu- mathematisch korrekter Abschläge im Falle eines vorzeiti- gangsalters, wie sie in der deutschen GRV zur Bewälti- gen Renteneintritts zu schaffen. Widersprochen wird da- gung der Effekte des demographischen Wandels seit eini- bei insbesondere einer in der deutschen Fachdiskussion gen Jahren zusehends betrieben wird. Dies gilt auch für die Umsetzung der bereits ins Auge gefassten Heraufset- zung der gesetzlichen Regelaltersgrenze und eventueller 20 Die empirischen Resultate zur Höhe altersspezifischer Arbeitsangebots- weiterer Schritte in dieselbe Richtung, bei denen die An- elastizitäten in Fenge et al. (2005, Abschnitt 4) beziehen sich zwar auf die angebotene Arbeitszeit, nicht auf die grundlegendere Partizipationsent- wendung korrekter Abschläge im Falle eines vorzeitigen scheidung, und die Phase mit Frühverrentungsoption wird wegen der sich Rentenzugangs wohl zu den wichtigsten flankierenden Re- fundamental ändernden rechtlichen Rahmenbedingungen bewusst aus- geblendet. Die Ergebnisse deuten jedoch auf eine rapide zunehmende gelungen gehört. Es gilt schließlich a fortiori bei einer stär- Elastizität des Arbeitsangebots männlicher Versicherter nach Vollendung des 50. Lebensjahres, während sie in früheren Phasen des Erwerbsle- bens kaum signifikant von null verschieden ist. So gesehen spricht man- 21 Bei Annahmen bezüglich Zinssatz r und Lohnwachstumsrate g, die von ches dafür, die implizite Steuer des Rentensystems voll in der Haupter- den Basisannahmen (g = 1,5% p.a. und r = 3,5% p.a.) abweichen, erge- werbsphase, d.h. vor Erreichen des frühestmöglichen Renteneintrittsal- ben sich korrekte Abschlagssätze zwischen 4,7 und 8,0% p.a. – in jedem ters, zu konzentrieren. Fall immer noch merklich größere als nach geltendem Recht. 60. Jahrgang – ifo Schnelldienst 16/2007
28 Forschungsergebnisse keren Flexibilisierung des Rentenzugangs durch freiere Hin- Statistisches Bundesamt (2006a), Bevölkerung Deutschlands bis 2050: 11. ko- ordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Statistisches Bundesamt, Wies- zuverdienstmöglichkeiten neben einer vorzeitig gewährten baden. (Teil-)Rente (vgl. etwa Sinn 2005, 253 f.), die – etwa dem Statistisches Bundesamt (2006b), Sterbetafel 2003/2005, Statistisches Bun- desamt, Wiesbaden. japanischen Vorbild folgend – eine zweite (oder x-te) Er- Thum, M. und J. v. Weizsäcker (2000), »Implizite Einkommensteuer als Mess- werbskarriere im Alter erlaubt, wenn die Leistungen der GRV latte für die aktuellen Rentenreformvorschläge«, Perspektiven der Wirtschafts- in Zukunft im Niveau immer weiter zurückgehen. Nur wenn politik 1, 453–468. Werding, M. und A. Kaltschütz (2005), Modellrechnungen zur langfristigen die dabei fälligen Rentenabschläge korrekt bemessen wer- Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung, den, werden die Rentenzugangsentscheidungen älterer Er- Bd. 17, ifo Institut, München. Wrede, M. (1999), »Pareto Efficient Pay-as-you-go Pension Systems with werbspersonen und ihr Wettbewerb mit jüngeren Arbeits- Multiperiod Lives«, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 219, kräften nicht verzerrt. 494–503. Literatur Börsch-Supan, A. und R. Schnabel (1999), »Social Security and Retirement in Germany«, in: J. Gruber und D.A. Wise (Hrsg.), Social Security and Reti- rement Around the World, University of Chicago Press, Chicago, London, 135–180. Breyer, F. und S. Hupfeld (2007), »On the Fairness of Early Retirement Pro- visions«, paper presented at the 2007 Employment and Social Protection Workshop of the CESifo Research Network, mimeo, CESifo: Munich. Breyer, F. und M. Kifmann (2002), »Incentives to Retire Later – a Solution to the Social Security Crisis?«, Journal of Pension Economics and Finance 1, 111–130. Cremer, H., J.-M. Lozachmeur und P. Pestieau (2004), »Social Security, Re- tirement Age and Optimal Income Taxation«, Journal of Public Economics 88, 2259–2281. Deutsche Rentenversicherung (2006a), Rentenversicherung in Zeitreihen: Ausgabe 2006, DRV, Berlin. Deutsche Rentenversicherung (2006b), Statistik der Deutschen Rentenver- sicherung, Bd. 158 (Rentenzugang 2005), DRV, Berlin. Diamond, P.A. und J.A. Mirrlees (1978), »A Model of Social Insurance with Variable Retirement«, Journal of Public Economics 10, 295–336. Diamond, P.A. und J.A. Mirrlees (1986), »Payroll-Tax Financed Social Insu- rance with Variable Retirement«, Scandinavian Journal of Economics 88, 25–50. Fenge, R. (2001), »Vorgezogener Ruhestand: Anreizwirkungen aktueller Ren- tenreformvorschläge«, ifo Schnelldienst 54(2), 17–22. Fenge, R. und P. Pestieau (2005), Social Security and Early Retirement, MIT- Press, Cambridge MA, London. Fenge, R., S. Uebelmesser und M. Werding (2005), »On the Optimal Timing of Implicit Social Security Taxes Over the Life Cycle«, Finanzarchiv 62, 68– 107. Fenge, R. und M. Werding (2003), »Ageing and Fiscal Imbalances Across Ge- nerations: Concepts of Measurement«, CESifo Working Paper Nr. 842. Fenge, R. und M. Werding (2004), »Ageing and the Tax Implied in Public Pension Schemes: Simulations for Selected OECD Countries«, Fiscal Studies 25, 159–200. Frerich, J. und M. Frey (1993), Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstel- lung der Deutschen Einheit, Bd. 3, R. Oldenbourg, München, Wien. Gruber, J. und D.A. Wise (Hrsg., 1999), Social Security and Retirement Around the World, University of Chicago Press, Chicago, London. Kifmann, M. (2007), »Age-dependent Taxation and the Optimal Retirement Benefit Formula«, German Economic Review (erscheint demnächst). Kommission »Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssys- teme« (2003), Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungs- systeme (Bericht der Kommission), BMGS, Berlin. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick- lung (2003), Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren (Jah- resgutachten 2003/04), Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. Sheshinski, E. (2003), »Optimum Delayed Retirement Credit«, CESifo Wor- king Paper No. 889. Sinn, H.-W. (2000), »Why a Funded Pension is Useful and Why it is not Use- ful«, International Tax and Public Finance 7, 389–410. Sinn, H.-W. (2005), Ist Deutschland noch zu retten?, 3. (Taschenbuch-)Auf- lage, Ullstein, Berlin (1. Auflage 2003, Econ, München). Sozialbeirat (2002), Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungs- bericht 2002, abgedruckt in: BT-Drs. 15/110. Sozialbeirat (2005), Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungs- bericht 2005 und zum Alterssicherungsbericht 2005, abgedruckt in: BT-Drs. 16/905. ifo Schnelldienst 16/2007 – 60. Jahrgang
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