Vom Hipster zum Klassiker

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Vom Hipster zum Klassiker
SCHWERPUNKT: ZEITGEIST _FREITAG-TASCHEN

Vom Hipster

zum Klassiker

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Vom Hipster zum Klassiker
SCHWERPUNKT: ZEITGEIST

Moden kommen und gehen –
die Firma Freitag aber bleibt bestehen.
Wie das dem Hersteller von
Taschen aus alten Lkw-Planen gelungen
ist, lesen Sie hier.

Text: Jens Bergmann
Foto: Anne Morgenstern                            • Oerlikon, das ehemalige Industriequartier Zürichs, hat sich
                                                  schick gemacht mit modernen Wohnungen, Büros, Parks und
                                                  Fitnessstudios. An der Binzmühlestraße steht, neben Neubauten
                                                  von ABB, das Noerd-Gewerbehaus (für Neu-Oerlikon, die An-
                                                  spielung auf Nerd ist gewollt). Elegante, raue Architektur für fort-
                                                  schrittliche Firmen. Hier hat die Freitag Lab AG ihren Sitz.
                                                      In der Halle im Erdgeschoss, wo es sehr würzig riecht, prüfen
                                                  Arbeiter frisch eingetroffene Planen, die zuvor die Ladung von
                                                  Lastwagen schützten, und zerschneiden sie in handhabbare
                                                  Stücke. Das PVC wird in Industriewaschmaschinen gereinigt,
                                                  getrocknet und nach Farben sortiert. Schwarz und Pink sind be-
                                                  sonders begehrt, weil rar. In der Designabteilung bringen Arbeiter
                                                  das Material mithilfe von Schablonen für verschiedene Taschen-
                                                  modelle in Form, dann werden die Teile zum Zusammennähen
                                                  ins europäische Ausland, nach Tunesien, in Schweizer Sozial-
                                                  unternehmen sowie eine Familienfirma geschickt.
                                                      Auf die Idee, aus Abfall Luxusprodukte zu machen, kamen
                                                  die Brüder Markus und Daniel Freitag vor 20 Jahren. Die Grafik-
                                                  designer trafen damit den Nerv eines jungen, urbanen Publikums.
                                                  Bemerkenswert ist, dass ihr Betrieb nicht wie viele nach einer
Zürcher Handarbeit: Fernando Ferreira, 39,
                                                  Weile wieder vom Markt verschwand. Schließlich ist der Zeitgeist
zerteilt eine alte Lkw-Plane. Danach geht’s zum
Waschen und Trocknen (oben links). Jedes          ein flüchtiger Geselle. Und schon kurz nach der Gründung tauch-
Taschenmodell wird für den Online-Shop hübsch     ten allerhand Nachahmer auf, die Plastiktaschen en masse auf den
in Szene gesetzt (oben rechts)                    Markt warfen.                                                     >

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SCHWERPUNKT: ZEITGEIST _FREITAG-TASCHEN

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                                                                         kommen die leidenschaftlichen Radler auf die Idee, aus dem
                                                                         Material Umhängetaschen zu schneidern, wie sie Fahrradkuriere
                                                                         benutzen. Die Nähte verstärken sie mit Fahrradschläuchen, zum
                                                                         Tragen dienen Auto-Sicherheitsgurte. Die Taschen kommen bei
                                                                         Freunden und Bekannten gut an und die jungen Männer mit dem
                                                                         Nähen nicht mehr hinterher. Also stellen sie einen Asylbewerber
                                                                         aus Afghanistan ein, der mit dem Schweizer Mindestlohn von
                                                                         damals um die 3500 Franken mehr als dreimal so viel verdient
                                                                         wie seine Chefs. Die sind nun Unternehmer. Und bleiben es,
                                                                         wenn man Markus Freitag glaubt, zunächst nur aus Fürsorge.
                                                                         „Unser Schneider musste eine Zahnkorrektur machen lassen, die
                                                                         mehrere Monate dauern und mehrere Tausend Franken kosten
                                                                         sollte. Wir haben uns gesagt: So lange müssen wir auf alle Fälle
                                                                         weitermachen.“
                                                                             Die Firma verdankt ihre Existenz also auch dem schlechten
                                                                         Gebiss ihres ersten Mitarbeiters. Und will bald mehr sein als ein-
                                                                         fach nur eine Firma. Ihren Zweck beschreiben die Gründer mit
                                                                         einem poetischen Mission Statement: „Wir glauben an das nächs-
                                                                         te Leben von Dingen und denken und handeln in Kreisläufen.“

                                                                                              Die Unternehmer

                                                                         Markus, 43, der Redseligere, und Daniel Freitag, 42, der Bedäch-
                                                                         tigere, sind ideale Markenbotschafter: eloquent, gut aussehend,
                                                                         nah dran an ihrer Zielgruppe. Und als gleichberechtigte Unter-
                                                                         nehmer eine rare Spezies, denn fast gleichaltrige Brüder neigen
Fast immer ein Herz und eine Seele: Daniel und Markus Freitag (rechts)   zu Revierkämpfen. Daniel Freitag, erzählt, dass man sich in der
                                                                         Jugend ordentlich beharkt habe, heute auch gelegentlich unter-
                                                                         schiedlicher Meinung sei, aber insgesamt gut harmoniere. Die
    Allerdings verwendeten die meist fabrikneues PVC, weil das           beiden ticken ähnlich, führen ein ähnliches Leben; beide sind
viel einfacher und billiger ist, als alte Lkw-Planen aufzutreiben        mittlerweile Familienväter. Und fahren immer noch mit dem Velo
und aufzuarbeiten. Freitags arbeitsintensive Produktion mit Alt-         zur Arbeit: mit schicken Klapprädern (beide haben dasselbe Mo-
stoffen erinnert an einfallsreiche Kleinunternehmer in den Slums         dell), die man gut mit in die S-Bahn nehmen kann.
armer Länder – nur dass die Brüder sie in einer der reichsten                Für den Fall, dass es doch einmal ernste Meinungsverschie-
Städte Europas betreiben. Mit Erfolg. Das Unternehmen floriert,          denheiten geben sollte, haben die Inhaber einem Treuhänder
wächst jedes Jahr um 10 bis 15 Prozent, beschäftigt mehr als 160         einige Stimmrechts-Aktien übertragen, sodass einer der beiden
Mitarbeiter und stellt jährlich mehr als 400 000 Produkte her.           überstimmt werde könnte. Ist bis jetzt aber noch nicht passiert.
Man hat es – so die Eigenwerbung – zum „Weltmarktführer der              „Wir machen manchmal Späßchen, ob das vielleicht nicht auch
lastwagenplanenrezyklierenden Taschenindustrie“ gebracht.                noch interessant wäre, wenn wir uns zerstreiten“, sagt Markus
    Wie haben die das geschafft?                                         Freitag. „Das ist der letzte Marketing-Joker, den wir noch ziehen
                                                                         können“, ergänzt sein Bruder: „die Trennungsgeschichte.“
                    Der Gründungsmythos
                                                                                                   Der Zufall
Einprägsame Geschichten sind für Unternehmen Gold wert. Sie
können immer wieder erzählt werden und dienen der Außendar-              Die Handelskette Migros hat sich in der Schweiz mit dem Ab-
stellung ebenso wie der Selbstvergewisserung nach innen. Die             kupfern von Produkten einen gewissen Ruf erarbeitet. So gibt es
Freitag-Story geht so: Die Brüder wohnen in einer Wohngemein-            dort zum Beispiel Eimalzin (statt Ovomaltine) oder das Erfri-
schaft direkt neben der viel befahrenen Zürcher Hardbrücke. Tag-         schungsgetränk Mivella (statt Rivella). 1998 brachte der Riese Ko-
ein, tagaus donnern schwere Laster vorbei. Sie sind genervt von          pien von Freitag-Taschen auf den Markt, nannte sie dreisterweise

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Vom Hipster zum Klassiker
SCHWERPUNKT: ZEITGEIST

                                                                                                         Das Timing
                                                                   Die Brüder schufen nicht nur einen modischen Artikel, sondern
                                                                   trafen, ohne es zu ahnen, einige länger anhaltende Trends. Sie
                                                                   waren frühe Propagandisten eines sogenannten nachhaltigen
                                                                   Konsums – heute schwer en vogue – ohne damit allzu dick
                                                                   aufzutragen. Das Gleiche gilt für die Verwendung gebrauchten
                                                                   Materials; viele andere Modehersteller trimmen ihre Produkte
                                                                   heute auf alt beziehungsweise vintage. Außerdem handelt es sich
                                                                   bei den Taschen, iPad-Hüllen, Portemonnaies und anderen PVC-
                                                                   Produkten um Unikate, weil das Ausgangsmaterial durch den
                                                                   Gebrauch (Lkw-Planen werden von den Spediteuren nach fünf
                                                                   bis acht Jahren ausgetauscht) eine individuelle Note erhält. Ein-
                                                                   zelstücke sind begehrt in Zeiten, in denen die Leute durch Kon-
                                                                   sum demonstrieren wollen, dass sie besonders sind.
Der Rohstoff hat Tausende Kilometer auf dem Buckel:                    Timing ist auch Glückssache, wie sich bei anderen Projekten
Produktion in Oerlikon                                             der Brüder zeigte. So floppte ihre Idee, Kleidungsstücke und
                                                                   Taschen mit individueller Mail-Adresse anzubieten. Käufer sollten
Donnerstag und bot sie für 49,90 Franken an, zu einem Viertel      die Möglichkeit bekommen, über eine anonyme Mailbox im
des Preises der Originale. Die Brüder bekamen einen Schreck.       Internet miteinander in Kontakt zu treten, eine Art soziales Me-
Doch dann schaffte es die Geschichte bis in die Hauptnachrich-     dium lange vor Facebook & Co. Vermutlich zu kompliziert und
ten des Schweizer Fernsehens. Migros machte einen Rückzieher       zu gewollt. Kein Erfolg war auch der Gorilla AG beschieden,
– und die Freitags waren schlagartig landesweit bekannt.           einer Fahrradmanufaktur, in die beide investiert hatten und die
    Anfang dieses Jahres wurden sie mit dem Swiss Award für        jüngst Insolvenz anmelden musste.
ihre Erfolgsgeschichte ausgezeichnet. Den Preis überreichte der
Migros-Chef Herbert Bolliger. Markus Freitag ließ es sich nicht                              Schweizer Gründlichkeit
nehmen, die Plagiats-Posse bei der Gelegenheit noch einmal zum
Besten zu geben. Und zu gestehen, dass er damals eine Donners-     Sie trug wesentlich zum Erfolg des Geschäftes bei, das nicht so
tag-Tasche bei Migros habe mitgehen lassen. Geld wollte er nicht   trivial ist, wie es erscheint. So ist die Beschaffung des Ausgangs-
dafür ausgeben. „Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass      materials eine Kunst für sich. Mittlerweile sind allein vier Freitag-
ich etwas geklaut habe.“                                           Mitarbeiter damit befasst, Planen zu beschaffen, damit immer >

                                                                   > Das kostenlose Girokonto
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                                                                   HypoVereinsbank und Postbank. comdirect bank AG, Pascalkehre 15, 25451 Quickborn
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                                                                     schwinglich und vor allem uncool. Stattdessen bauten sie einen
                                                                     Flagshipstore nahe der Hardbrücke, wo die Firma einst entstand,
                                                                     aus übereinandergestapelten ausgedienten Containern – Stich-
                                                                     wort: das nächste Leben der Dinge. Das Objekt gehört zu den
                                                                     meistfotografierten Zürichs. Außerdem nutzt man die sozialen
                                                                     Medien, um mit der Community in Kontakt zu bleiben. Dort stel-
                                                                     len Freitag-Mitarbeiter sich und ihre Jobs vor. In den weltweit elf
                                                                     eigenen Läden finden regelmäßig Veranstaltungen statt. Bei einer
                                                                     „Freitag am Donnerstag“ genannten treten Autoren des Magazins
                                                                     »Reportagen« auf und berichten von ihren Recherchen.
                                                                         Freitags Botschaft lautet: Wir sind viel mehr als Kunststoff-
                                                                     taschen.

                                                                                                Das Produkt

                                                                     Mittlerweile umfasst das klassische, Fundamentals genannte Sor-
                                                                     timent rund 40 Modelle. Weil man in Zürich gemerkt hat, dass
                                                                     der bunte Fahrradkurier-Look nicht jedermanns Sache ist bezie-
                                                                     hungsweise Kunden aus ihm herausgewachsen sind, hat man eine
                                                                     neue, etwas hochtrabend Reference genannte Linie kreiert. Die
                                                                     unifarbenen Taschen sehen aus wie gewöhnliche, man erkennt
                                                                     erst auf den zweiten Blick, dass sie aus Altmaterial bestehen. Da-
                                                                     mit können auch Menschen, die gern Anzug oder Kostüm tragen,
Unübersehbar und preiswert dank Modulbauweise:                       ins Büro, Restaurant oder in die Oper gehen. Und Freitag schaffte
der Flagshipstore                                                    es dank der neuen Produkte erstmals in klassische Frauenzeit-
                                                                     schriften, als Alternative zu Louis Vuitton & Co.
                                                                         Die Brüder denken trotzdem ständig über neue Geschäfte
alle Farben und Qualitäten am Lager sind. Die Vorräte reichen –      nach. Sie sind überzeugt davon, mit ihrem Namen noch viel
sicher ist sicher – für sechs Monate. Es war auch nicht leicht,      mehr verkaufen zu können. Zum Beispiel ein selbst entwickeltes
Betriebe zu finden, die das sperrige Material verarbeiten konnten.   Regalsystem, mit dem die Produkte in den Läden präsentiert
Hinter der archaisch wirkenden Produktion steht ein modernes         werden. Das hat einen großen Vorteil: Es ist, anders als die
Warenwirtschaftssystem samt leistungsfähigem Online-Shop.            Taschen, patentiert. –
    Die Brüder erkannten zudem, dass Geschäftsführung nicht
ihre Stärke ist und stellten 2010 mit Monika Walser eine erfahrene
Unternehmerin und Managerin ein, die Freitag als Vorstands-
vorsitzende führt. Die Inhaber konzentrieren sich auf Design und
Außendarstellung.                                                    Auch für modische Damen tragbar: Freitags neue Linie
    Zahlen muss die nicht börsennotierte Aktiengesellschaft nach
Schweizer Recht nicht veröffentlichen und hält auch eisern dicht.
Die Schätzungen des Jahresumsatzes reichen von 5 Millionen bis
120 Millionen Euro. Realistisch dürften jene 28 Millionen Euro
sein, die »Welt« Anfang des Jahres nannte. Weil die Firma profes-
sionell gemanagt wird, sind ihre eigenartigen Produkte schwer zu
kopieren. „Die Skalierbarkeit von Unikaten ist das Problem“, sagt
Daniel Freitag. „Die macht uns keiner so leicht nach.“

                       Die Inszenierung

Die Brüder haben ein Händchen dafür, die Marke in Szene zu
setzen. Klassische Werbung kommt nicht infrage, weil uner-

BRAND EINS 12/13                                                                                                                   103
Vom Hipster zum Klassiker Vom Hipster zum Klassiker Vom Hipster zum Klassiker
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