Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit - Dokumentation des 10. Innovationsforums der Daimler und Benz Stiftung

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Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit - Dokumentation des 10. Innovationsforums der Daimler und Benz Stiftung
MACHT
Vom Innovationskiller Macht
zur Zukunft der Arbeit

                                   Dokumentation des
                                10. Innovationsforums
                         der Daimler und Benz Stiftung
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Vom Innovationskiller Macht
 zur Zukunft der Arbeit

 2 Machtverhältnisse und
   Innovationsfähigkeit
   von Prof. Dr. Eckard Minx

 4 Vom Innovationskiller Macht
   zur Zukunft der Arbeit
   von Ulrich Klotz

16 Too big to innovate?
   von Wolfgang Wopperer

24 Die Gore-Kultur – einmaliges
   Erfolgsrezept oder Blaupause für
   Unternehmen der Zukunft?
   von Dr. Sabine Martin

30 Interaktive Wertschöpfung:
   Willkommen in der Maker Economy
   von Frank Piller

36 Zwischen Freiheit und Zensur:
   Was kann und darf das Internet?
   von Martina Gauder

40 Programm des 10. Innovationsforums
Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit - Dokumentation des 10. Innovationsforums der Daimler und Benz Stiftung
Machtverhältnisse und
Innovationsfähigkeit
Wenn innovative Ideen ausgebremst werden oder technologische Neuerungen auf
unfruchtbaren Boden fallen, stehen oftmals problematische Machtverhältnisse in
Organisationen dahinter. Nach Ulrich Klotz, dem wissenschaftlichen Leiter unseres
10. Innovationsforums, spielt Macht bei Innovationen eine Schlüsselrolle, denn
Innovation ist kein technischer Vorgang, sondern ein komplexer sozialer Prozess.

Um solch anspruchsvolle Themenfelder sowohl in theoretischen Ansätzen als auch
in praktischen Erfahrungen durchleuchten zu können, stellt die Daimler und Benz
Stiftung eine geeignete Plattform zur Verfügung: Auch im abschließenden Teil
dieser besonderen Trilogie des Innovationsforums beschäftigten sich die Teilneh-
mer mit Macht und Innovationsfähigkeit.

Die Wissenschaftler und Manager aus unterschiedlichen Branchen analysierten und
bewerteten Organisationstheorien und Managementkonzepte. Dabei standen
mögliche Strategien zur Überwindung von Innovationsbarrieren zur Diskussion.
Eingefahrene Strukturen, Angst vor Fehlern, hemmende Bürokratien, aufkeimende
Konflikte oder unterschiedlich ausgeprägte Unternehmenskulturen gehörten zum
persönlichen Erleben der Einzelnen.

Ziel der Daimler und Benz Stiftung ist ein unmittelbarer Erkenntnisgewinn für alle
Teilnehmer, der in den Berufsalltag weiter transportiert wird und sich langfristig
positiv niederschlägt. Mit der vorliegenden Publikation sollen Gedanken des
Innovationsforums festgehalten, Einblicke gewährt und zukunftsweisende Ideen
multipliziert werden. Wir möchten Impulse für Wissen setzen – mit nachhaltiger
Wirkung für den Menschen und die Gesellschaft.

Prof. Dr. Eckard Minx
Vorstandsvorsitzender der Daimler und Benz Stiftung
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                                                                              Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit

                                                      Prof. Dr. Eckard Minx

Weitere Informationen: www.daimler-benz-stiftung.de
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Vom Innovationskiller Macht
zur Zukunft der Arbeit

Vom Innovationskiller
Macht zur Zukunft
der Arbeit
von Ulrich Klotz
»Menschen mit einer neuen Idee gelten          haben. Zum einen die mikroelektronische
so lange als Spinner, bis sich die Sache       Revolution mit der Entwicklung des
durch­gesetzt hat.« Mark Twain                 Mikroprozessors (1971), ohne den unsere
                                               heutige Welt gar nicht mehr vorstellbar
Als ich der Daimler und Benz Stiftung das      wäre. Parallel dazu vollzog sich eine
Thema »Macht und Innovation« vorschlug,        sozio-kulturelle Umwälzung, deren
hatte ich auch Episoden aus meinem             Keimzellen ebenfalls im Kalifornien der
eigenen Berufsleben im Hinterkopf. Einige      1960er Jahre lagen. Die amerikanische
davon werde ich hier in der gebotenen          Gegenkultur war ja auch ein Vorläufer
Kürze schildern, weil die darin erkennbaren    der europäischen Studentenbewegung.
Wechselwirkungen zwischen Macht und
Innovation unverändert aktuell sind.           Am Verschmelzungsort dieser beiden
                                               Trends – also dort, wo Hippies und
Ich kam 1968 nach West-Berlin und landete      Alternativ-Freaks die Potenziale der
an der Technischen Universität recht bald in   aufkommenden Mikrocomputer-
einer Gruppe kritischer Technik-Studenten,     technik entdeckten – keimte nicht
die sich »Rotzkybel« nannte (Rote Zelle        nur ein technischer, sondern vor
Kybernetik Elektrotechnik). In dieser          allem auch ein kultureller Paradigmen-
Zeit bahnten sich zwei große Umbrüche          wechsel in der Informatik auf. Dessen
an, die unsere Welt nachhaltig verändert       spätere Wirkungen auf Wirtschaft und
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5   Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit

                                                                 Ulrich Klotz
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Gesellschaft sind durchaus vergleichbar mit    eines Kleinstcomputers – heute würde
fundamentalen Umwälzungen, wie sie etwa        man das PC nennen. Dabei erlebte ich zum
die Erfindung des Buchdrucks nach sich zog.    ersten Mal, dass der Weg von der Idee zur
                                               praktischen Innovation ziemlich steinig
In jener Zeit kursierte Stewart Brands         und nicht selten völlig versperrt ist.
»Whole Earth Catalogue«, den Steve Jobs
später als die »Bibel der Gegenkultur« be-     Solche Ideen waren zu jener Zeit bei Nixdorf
zeichnete. Mit seinem Slogan: »Computer-       überhaupt nicht durchsetzbar. Noch Anfang
Power to the People!« inspirierte er den       der 1980er Jahre verwarf der Firmengrün-
legendären »Homebrew Computer Club«,           der Heinz Nixdorf ähnliche Konzepte, wie
in dem blutjunge Leute wie Adam Osborne,       auch eine damals mögliche Kooperation
Steve Jobs, Bill Gates und andere mit ersten   mit dem PC-Pionier Apple. »Wir bauen
Bastelübungen in die Welt der Computer         Lastwagen, keine Mopeds«, lautete seine
eintauchten. Die Vorstellung, sich einen       ablehnende Reaktion, die später in die
eigenen Computer bauen zu können, hatte        Sammlung berühmter Fehleinschätzungen
damals für viele eine ungeheure Faszination.   einging. Kaum zehn Jahre später war das
                                               ehemalige Vorzeigeunternehmen am
Ich hatte das Glück, einen frühen Mikro-       Ende. Im Grunde genommen war dies
prozessor von Intel zu ergattern und konnte    der Beginn des späteren Niedergangs der
damit 1974/75 als Diplomarbeit einen           gesamten europäischen Computerindustrie.
der ersten universell einsetzbaren Mikro-
computer in Deutschland realisieren, der       Ende der 1970er Jahre arbeitete ich in
heute im Nixdorf Computer Museum steht.        einem Forschungsprojekt der Universität
Später arbeitete ich im Forschungszentrum      Hamburg mit der Traub AG, damals
der damals sehr erfolgreichen Nixdorf          Weltmarktführer bei Drehmaschinen.
Computer AG. Neben unserer offiziellen         Projektziel war eine CNC-Steuerung, die
Tätigkeit im Systemsoftwaredesign ver-         der Facharbeiter in der Werkstatt selbst
folgten wir in einer Gruppe gleichgesinnter    programmieren konnte, um Kopf- und
Kollegen ziemlich konspirativ die Idee         Handarbeit wieder zusammen zu führen.
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                                                                                            Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
Als wir vorschlugen, einen Bildschirm in       stritten. Seit den Erfahrungen der 1970er
die Steuerung zu integrieren, stieg die        Jahre, als im Gefolge der Mikroelektronik
Geschäftsführung aus – es hieß: »Eine          binnen kurzer Zeit zahllose Arbeitsplätze
Werkstatt ist doch keine Videospielhölle!«     in der Uhrenindustrie und Feinmechanik
Bildschirme weckten solche Assoziationen,      verschwanden, traten viele Gewerkschafter
denn es gab damals erste Videospiele, aber     bei neuer Technik erst einmal kräftig auf
noch kaum Computer-Monitore. Etwa zehn         die Bremse. Besonders der Computer wurde
Jahre später eroberten japanische Hersteller   in Gewerkschaftskreisen bis weit in die
mit genau solchen Bildschirm-CNC-Steue­        1990er Jahre pauschal als »Job- und Quali-
rungen den Markt. Die Traub AG hatte           fikationskiller« verteufelt und bekämpft.
dem nichts entgegenzusetzen und ging
dann Mitte der 1990er Jahre in Konkurs.        Diese Beratungsstelle wurde in Hamburg
                                               angesiedelt, weil die Hansestadt auf der
Obwohl das Unternehmen mit unserem             Suche nach neuen Beschäftigungsfeldern
Konzept zunächst wenig anzufangen wusste,      war. Denn im Zuge eines Niedergangs von
machte unser aus dem BMFT-Programm             Schiffbau und Zulieferindustrie hatten
»Humanisierung des Arbeitslebens« geför-       massenhaft Facharbeiter aus Werften und
dertes Projekt in arbeitswissenschaftlichen    Maschinenbau ihre Arbeitsplätze verloren.
und gewerkschaftlichen Kreisen Furore.
Denn mit diesem Projekt wurde zum              Parallel zu dieser Strukturkrise ent­
ersten Mal deutlich, dass Software eine        wickelte sich eine neue Bewegung, die
Schlüsselrolle für die Gestaltung von Arbeit   in Gesellschaft und Wirtschaft ebenfalls
und Arbeitsorganisation spielt. Es wurde       vieles nachhaltig verändern sollte: die
zum Vorzeigeprojekt, weil damit praktisch      Ökologie-Bewegung, unter anderem
bewiesen wurde, dass eine Humanisierung        manifestiert durch die Gründung der
der Arbeit auch betriebswirtschaftliche        Grünen im Jahr 1980. Auch hier war
Vorteile bringen kann, was zu jener Zeit von   ich wieder sehr früh involviert, weil wir
Arbeitgebern oft pauschal bestritten wurde.    ein Landhaus in der Nähe von Gorleben
                                               hatten und in und um Hamburg herum die
Als Folge davon erhielt ich 1978 einen Anruf   Auseinandersetzung um den geplanten Bau
aus der IG Metall-Zentrale mit der Frage, ob   eines Atomkraftwerks in Brokdorf tobte.
ich in einem BMFT-geförderten Pilotprojekt
eine Innovations-Beratungsstelle der IG        Insofern war es naheliegend, dass wir
Metall in Hamburg aufbauen wolle. Da           uns in der Beratungsstelle auf sozial
mich Neues stets reizte, sagte ich zu, ohne    und ökologisch nützliche Innovationen
zu ahnen, worauf ich mich da einlassen         konzentrierten. Vor allem von neuen,
würde. Zu jener Zeit war der Begriff           ressourcenschonenden und regenerativen
»Innovation« noch wenig verbreitet und         Energietechniken erhofften wir uns
außerdem bei Gewerkschaften heftig um-         viele neue Arbeitsplätze im Handwerk und
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Pro-Atomkraft-Demonstrationen, auf
                                               denen beispielsweise der IG Metall-
                                               Vorsitzende Loderer die atomare Entsor-
                                               gungsfrage als bereits gelöst erklärte.

                                               Auch hier war die Zeit noch nicht reif für
                                               unsere Innovationen. Umweltschützer
                                               wurden pauschal als Jobkiller verteufelt,
                                               auch Bundeskanzler Helmut Schmidt
Metall-Bereich. Gemeinsam mit einer rasch      spottete damals: »Von blauer Luft über
wachsenden Zahl von neu zur IG Metall          der Alster kann niemand leben.« Als ich
gekommenen Ingenieuren und Technikern          damals junge grüne MdBs bei forschungs-
bauten die Mitglieder unseres IGM-Energie-     politischen Themen unterstützte, waren
Arbeitskreises in ihrer Freizeit sogar erste   solche Kontakte bei der IG Metall noch
Prototypen von Solar-, Biogas- und Kraft-      strikt verboten. All dies führte im Lauf
Wärme-Koppelungsaggregaten. Unterstützt        der Zeit zu eskalierenden Konflikten mit
durch progressive Stadtwerke wie Flensburg     dem IG Metall-Vorstand. Brokdorf wurde
und Heidenheim, die schon damals Erfah-        bekanntlich gebaut und viele unserer Ideen
rungen mit Techniken wie Kraft-Wärme-          und Konzepte wurden erst Jahre, wenn
Kopplung besaßen, mündete das Ganze            nicht gar Jahrzehnte später salonfähig.
in der Entwicklung eines alternativen
Energiekonzepts für Hamburg, bei dem wir       Nach diesen negativen Erfahrungen mit
zusammen mit fortschrittlichen Stadtpla-       Gewerkschaften und Innovation verließ ich
nern das Ziel verfolgten, die für Brokdorf     1984 die Beratungsstelle und wechselte zur
geplanten drei Milliarden DM in unseres        neu gegründeten Technischen Universität
Erachtens sinnvollere Projekte umzuleiten.     Hamburg-Harburg, wo ich als Oberinge-
                                               nieur den Bereich Arbeitswissenschaft mit
Man muss sich allerdings vergegenwärtigen,     aufbauen konnte. Auch dort erprobten wir
dass in jener Zeit die Hamburger Elektri-      Neues; mit einer frühen Sun-Workstation
zitätswerke (HEW) und die lokale Politik       realisierten wir einen der ersten deutschen
noch auf Atomkurs waren. Hamburg war           Internet-Zugänge. Ausgehend von einem
damals mit elektrischen Nachtspeicher-         1985 beschafften Apple Macintosh, dessen
heizungen zugepflastert und die gesamte        revolutionäres Interaktionskonzept uns
Unterelberegion sollte mit einem Dutzend       damals begeisterte, konzentrierten wir
Atomkraftwerken, Schnellen Brütern und         uns auf die Entwicklung von Systemen
energieintensiven Aluminium-, Stahl- und       für zeitgemäße Bürokommunikation.
Kupferfabriken industrialisiert werden. Die
Gewerkschaften organisierten in diesen         1987 erhielt ich erneut aus der IG Metall-
Jahren von der Industrie unterstützte          Zentrale die Anfrage, ob ich in einem
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                                                                                               Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
Projekt zur Realisierung neuer Kommu-          che Firma DEC dann tatsächlich am Ende.
nikations- und Organisationsstrukturen         Die IG Metall hat, wie übrigens auch andere
in der IG Metall mitarbeiten wolle. Auch       Gewerkschaften, Parteien, Verbände,
diese Herausforderung reizte mich.             Behörden und viele Unternehmen, auf
Ich hoffte, einiges von unseren neuen          ihrem Weg in solche technologischen Sack-
Bürokonzepten praktisch umsetzen und           gassen nicht nur viele Hundert Millionen
später auch mit Hilfe der IG Metall            DM verloren, wenn man die verdeckten
weithin bekannt machen zu können.              Kosten mit einrechnet. Sie hat vor allem
                                               auch an Reputation eingebüßt, weil sie mit
Es folgten jedoch mehrjährige, teilweise mit   ihrem anachronistischen Büro-Projekt bei
harten Bandagen geführte Auseinander-          PC-erfahrenen jungen Leuten und in IT-
setzungen um unterschiedliche technische       Kreisen rasch zum Branchengespött wurde.
Systeme und Vorstellungen von Büroarbeit.
Am Ende konnte ich fast alle meine Ideen       Vor allem in diesem letzten Innovationskon-
begraben, weil einige Schlüsselfiguren in      flikt lernte ich viel über Wechselwirkungen
der IG Metall sich schon frühzeitig auf ein    zwischen Organisation und Innovation.
anachronistisches Timesharing-System           Ausgehend von diesen Erfahrungen begann
festgelegt hatten. Dieses System von DEC       ich in den 1990er Jahren zu diesen Themen
konterkarierte alle gewerkschaftlichen         zu publizieren. Einige dieser Texte riefen
Arbeitsgestaltungsforderungen und war          ein großes Echo hervor, wurden vielfach
aufgrund seiner Inflexibilität letztlich       nachgedruckt und trugen mir sogar einen
nur ein praktischer Beleg für das damals       Literaturpreis und eine Stiftungsprofessur
vieldiskutierte »Produktivitäts-Paradox«.      ein. Vor allen in Diskussionen nach Vor­
Nach der Installation des Systems sank         trägen wurde oft deutlich, dass das, was ich
die Produktivität im Bürobereich, weil         hier mit Beispielen andeute, in vielen heuti-
allein seine komplizierte Bedienung            gen Unternehmen und Institutionen durch-
immens viel Arbeitszeit verschlang.            aus eher die Regel als die Ausnahme ist.

Schon während meiner Wiedereinstellung          Innovation ist kein tech-
prophezeite ich 1987 dem IG Metall-Vor-
                                                nischer Vorgang, sondern ein
stand, dass er in eine technische Sackgasse
investiere, weil der damals weltweit zweit-     komplexer sozialer Prozess
größte Computerhersteller DEC ähnlich
wie Nixdorf wichtige Trends versäumt           Ich will nun versuchen, einige Muster
hatte. Vom DEC-Gründer Ken Olsen gibt es       und Charakteristika praktischer Innova­
ebenfalls ein berühmtes Zitat aus dem Jahr     tionsprozesse herauszuarbeiten. Zunächst
1977: »Es gibt gar keinen Grund dafür, dass    wird klar, dass gute Ideen allein wenig
irgend jemand einen Computer zu Hause          nützen – man muss sie auch zur richtigen
haben will«. 1998 war die einstmals glorrei-   Zeit und dazu auch die Macht haben, diese
Ideen um- und durchzusetzen. Machtbesitz      innovationshemmend, die vor allem in
ist also auch eine Voraussetzung für Inno-    Klein- und Mittelunternehmen (KMU)
vationen – an dieser Stelle wird vielleicht   heute noch bedeutsamer sind. Angesichts
mancher stutzig, da im Titel unserer          der wachsenden Komplexität und Dynamik
Veranstaltung Macht als »Innovationskiller«   wissenschaftlich-technischer Entwick-
bezeichnet wird. In all meinen Beispielen     lungen sowie neuartiger Verflechtungen
spielt Macht eine Schüsselrolle und ich       eigenständiger Wissenschaftsgebiete,
behaupte heute, dass dies bei Innova­         etwa die Verknüpfung von Biologie und
tionsprozessen generell der Fall ist, denn    Informatik, wird vor allem für KMU die
Innovation ist kein technischer Vorgang,      Aufnahme und Einbindung externen
sondern ein komplexer sozialer Prozess.       Wissens in den eigenen Innovationsprozess
                                              immer bedeutsamer. Dies bereitet jedoch
 Ein weit verbreitetes                        vielen KMU erhebliche Probleme, denn sie
                                              verfügen nicht (mehr) über die Vorausset-
 Innovationshemmnis:                          zungen, um technologische Entwicklungen
 der eigene Erfolg                            beizeiten wahrnehmen, beurteilen und
                                              deren Chancen erkennen zu können. Vielen
Im Fall Nixdorf (ähnlich auch DEC) zeigte     KMU fehlen oft Andockpunkte für externes
sich ein weit verbreitetes Innovations-       Wissen – ihnen fehlt die »Absorptive
hemmnis: Das ist der eigene Erfolg. Erfolg    Capacity«. Bei der Traub AG gab es damals
ist ein Feind des Wandels, er macht oft       viele klassische Maschinenbau-Ingenieure,
hochnäsig und blind. Dann besteht die         aber so gut wie niemanden, der sich
Gefahr, dass Killer-Innovationen gar nicht    mit Informationstechnik auskannte.
erkannt werden, weil sie außerhalb der
eigenen Wahrnehmungsmuster liegen.            Dabei wurde noch ein weiteres Innova­
Nixdorf und viele andere untergegangenen      tionshemmnis deutlich: das Denken in
Computerfirmen wie Sperry, Burroughs,         traditionellen Kategorien. Maschinenbauer
Honeywell, Prime, Control Data, Data Ge-      beispielsweise denken in Hardware-Katego-
neral, DEC oder Univac verkannten damals      rien. Soll eine neue Funktion realisiert
Entwicklungstrends vor allem deshalb,         werden, wird klassisch konstruiert, ent-
weil diese Entwicklungen nicht mehr wie       wickelt und eingebaut. Die Vorstellung,
zuvor aus dem militärisch-industriellen       neue Funktionen per Software zu imple-
Komplex kamen, sondern aus einer Gras-        mentieren, ging damals nicht in die Köpfe
wurzelbewegung – und deshalb zunächst         der Konstrukteure. Dieses Problem ist bis
überhaupt nicht ernst genommen wurden.        heute verbreitet – ein aktuelles Beispiel
                                              hierfür ist die Nokia Corporation, der
Im Fall der Traub AG lag es weniger am        dieses Denken in Hardware nun zum
eigenen Erfolg, denn der lag schon etwas      Verhängnis geworden ist. Nokia brachte
zurück. Hier wirkten andere Faktoren          bekanntlich in dichter Folge neue Mobil­
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                                                                                               Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
telefone auf den Markt, deren neue Funk­       heimliche Regeln, etwa: »Fehler machen ist
tionen in Hardware realisiert waren, etwa      gefährlich, Fehler zugeben ist tödlich.« In
durch neue Tastenanordnungen oder              der Praxis zeigt sich dann, dass viele Fehler
Design. Apple zeigte dann mit dem iPhone,      aus Angst vor Fehlern gemacht werden.
wie es per Software einfacher geht. Für        Erkannte Fehler werden oft nicht korrigiert,
eine neue Funktion ist lediglich eine neue     sondern lediglich kaschiert – oft mit immer
App erforderlich – die Hardware bleibt         neuen Fehlern. Wo Fehler bestraft und nicht
unverändert.                                   als Chancen begriffen werden, werden
                                               neue Ideen häufig als bedrohliche Hinweise
Bei den Konflikten der Hamburger Bera-         auf frühere Fehler missverstanden.
tungsstelle waren die Innovationsbremsen
ziemlich banaler Natur. Innovativen Ideen      Aus Angst, ja nichts falsch zu machen, fielen
wurden nicht als Chancen, sondern seitens      bei der IG Metall frühe Systementschei-
der HEW allenfalls als potenzielle Bedro-      dungen zugunsten eines großen, scheinbar
hung für die eigenen Geschäftsfelder wahr-     sicheren Herstellers. Obwohl zumindest
genommen.                                      Fachleuten bald klar war, dass diese
                                               Entscheidungen schlicht überholt waren,
Im Fall der Gewerkschaft, die von neu­         hatten alle daran Beteiligten Angst, damit
geschaffenen Arbeitsplätzen und dem            zugeben zu müssen, dass man schon einige
Zulauf motivierter Techniker hätte             Millionen in den Sand gesetzt hatte. Statt
profitieren können, verhielt es sich anders.   den Entscheidungsträgern die Wahrheit
Die örtliche IG Metall wurde damals vom        zu sagen, wurde der IG Metall-Vorstand
Betriebsrat der HEW regelrecht erpresst,       von der Projektleitung jahrelang in die Irre
der damit drohte, zur ÖTV zu wechseln,         geführt. Noch in den 1990er Jahren konnte
wenn die IG Metall den Atomkurs der HEW        man in Vorstandsvorlagen lesen, dass
nicht mehr mitmachen würde. Die HEW            PCs in der Bürokommunikation keinerlei
war damals der mitgliederstärkste Betrieb      Zukunft hätten und grafische Oberflächen
in der Hamburger IG Metall. Hier führte        lediglich Spielkram seien, der im Büro
somit ein schlichter Machtkampf zum Ende       nichts zu suchen habe. Dazu kamen immer
aller Debatten – dagegen waren auch noch       wieder für viele IT-Projekte typische
so gute Ideen und Konzepte chancenlos.         Kostenkalkulationen, mit denen durch das
                                               Weglassen der verdeckten Nebenkosten,
Beim Fall Bürokommunikationsprojekt            also 70 bis 80 Prozent der Gesamtkosten, die
der IG Metall-Zentrale war ein vor allem in    eigenen Konzepte schöngerechnet wurden.
hierarchischen Organisationen verbreitetes
Phänomen wesentlich für die Verhinderung       Friedrich Weltz schildert in seiner
aller innovativen Ansätze: der unproduk­       Arbeit »Aus Schaden dumm werden« die
tive Umgang mit eigenen Fehlern. In            Lernschwäche von Verwaltungen bei
bürokratischen Strukturen existieren           IT-Projekten, bei denen ein unproduk-
tiver Umgang mit eigenen Fehlern vor           setzte die IG Metall Nachfolgeprojekte auf
allem zu wachsendem Personalaufwand            ähnliche Weise in den Sand und leidet bis
führt. Die IG Metall hatte deshalb             heute unter den Folgen dieser Fehlentwick-
zeitweilig mehr EDV-Mitarbeiter als die        lungen. Das alles ist den Entscheidungs-
Frankfurter Flughafen AG, immerhin die         trägern aber bis heute nicht bewusst.
größte Arbeitsstätte in Deutschland.
                                               Fritz B. Simon erläutert im Vortrag zur
Solche Innovationskonflikte und Macht-         Psychopathologie der Macht, warum die
kämpfe sind auch heute noch in ungezähl-       Mitglieder des Zentralkomitees der SED
ten Unternehmen und IT-Projekten zu            wahrscheinlich als Letzte gemerkt haben,
beobachten. Denn es geht auch um Ressort­      dass es die DDR nicht mehr gibt. Mich
egoismus und Abhängigkeit. Je komplizier-      erinnerte vieles an den Sommer 1989, als
ter, intransparenter und zentralistischer      Erich Honecker in seiner berühmten Rede
ein IT-System ist, desto unabkömmlicher        den ersten 32-Bit-Mikroprozessor aus
und größer wird die eigene IT-Abteilung.       DDR-Produktion hochhielt und verkündete,
                                               dass die DDR nun den Anschluss an das
Nach Abschluss des Projektes gab der           Weltniveau erreicht hat und weder Ochs
Vorstand eine Projekt-Evaluation in Auftrag,   noch Esel den Sozialismus in seinem
die dem Ganzen die Krone aufsetzte. Die        Lauf aufhalten. Wo man vorwiegend von
beauftragten Berater verfassten auf der        Jasagern und Schönfärbern umgeben ist,
Basis ungeprüfter Projektdaten ein Gefällig­   verliert die Spitze einer Organisation früher
keitsgutachten, das der IG Metall einen        oder später den Kontakt zur Wirklichkeit.
erfolgreichen Projektverlauf bestätigte. Das
hat der Vorstand gerne geglaubt. Hinweise      Solche Scheinwelten, in denen von unten
auf Fehlentwicklungen und das, was man         nach oben bevorzugt Erfolgsmeldungen
heute »Whistleblowing« nennt, wurden           weitergegeben werden, waren ja nicht
seitens des Vorstandes stets ignoriert oder    nur in der DDR gang und gäbe. Ähnliches
Kritiker wurden mundtot gemacht. Da            finden wir bei uns vor allem in Verbänden,
man Fehler nicht produktiv verarbeitete,       Parteien und Behörden, wo nicht nur
sondern »aus Schaden dumm« wurde,              Fachleute, sondern auch Funktionäre
13
                                                                                                Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
das Sagen haben. Denn hier kommt noch           liche Veränderung ist oft gar nicht gewollt.
die kognitive Verzerrung hinzu, die als         Aus solchen Gründen wurden die Chancen
Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet wird:          zahlloser deutscher Inventionen nicht
Weniger kompetente Menschen neigen dazu,        beizeiten ergriffen – von der Halbleiterdiode
ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen        über das Faxgerät und den Tintenstrahl-
und Unwissenheit führt oft zu mehr Selbst-      drucker bis hin zum MP3-Player. Solche
vertrauen als Wissen. Eines der Schlüs-         verpassten Innovationen – »In Deutschland
selprobleme in solchen Organisationen           erdacht, woanders gemacht« – können wir
ist die Verwechslung oder Gleichsetzung         uns künftig nicht mehr erlauben. Deshalb
von Fach- und Entscheidungskompetenz,           gilt es, den oft tabuisierten Innovations-
also wenn jemand in einem Bereich als           killer Macht beim Namen zu nennen und
kompetent gilt, weil ihm die entsprechende      seine fatalen Wirkungen zu erhellen.
Stelle oder Funktion übertragen wurde. Das
führt – vor allem im Zeitalter der Wissens-     Macht ist per se ein kommunikativer
arbeit – oftmals zu vollkommen absurden         Sündenfall, denn sie verzerrt die Kommuni­
Verhältnissen. Projekte wie der Flughafen       kation. Wer in eine Machtposition gelangt
Schönefeld oder die Hamburger Elbphilhar-       ist, erhält kaum noch spontanen Wider-
monie, aber auch Fälle wie der ADAC zeigen,     spruch, sondern ihm wird bevorzugt das
wohin die Psychopathologie der Macht            erzählt, was er vermeintlich hören will.
in derartigen Strukturen führen kann.           Alles andere wird »nach oben« verschwie-
                                                gen. Die Schwerfälligkeit hierarchischer
Allgemeiner formuliert: Innovative Ideen        Organisationen resultiert vor allem aus
haben es überall dort besonders schwer, wo      der Tatsache, dass sich hier Loyalität meist
Menschen anderen Menschen sagen können,         mehr auf den jeweiligen Vorgesetzten
was sie zu tun oder zu lassen haben und wo      richtet als auf die Organisation.
Menschen Angst vor Machtausübung oder
Machtverlust haben. In Hierarchien stoßen       Macht verändert Menschen, leider meist
innovative Ideen auf Hindernisse, weil in       zum Schlechten. Wenn Macht zu Kopf steigt,
dieser Organisationsform Macht durch            wird aus Machtgebrauch oft Machtmiss-
Monopolisierung von Information ausgeübt        brauch. Die Absicherung der eigenen Kar-
wird. »Wissen ist Macht«, sagte schon Francis   riere wird wichtiger als das Voranbringen
Bacon. Innovationen sind neues Wissen, das      des Unternehmens. Dann werden fähige
altes Wissen entwertet und damit bestehen-      Mitarbeiter als Konkurrenten identifiziert
de Machtverhältnisse gefährdet. Deshalb         und abgesägt und schlechte Leute einge-
werden Neuerungen, die zwar gut für das         stellt, um die eigene Position zu verbessern.
Unternehmen, aber (vermeintlich) schlecht
für das Management sind, oft unterdrückt        Natürlich wünschen sich auch in einer
oder behindert. In Bürokratien wird viel        Hierarchie die Führungskräfte viele Ideen,
über Innovation geredet, aber die eigent-       doch was passiert, wenn sie diese auch gelie-
fert bekommen? Wenn Vorgesetzte über           die Bodenhaftung und reagieren auf äußere
Ideen ihrer Mitarbeiter urteilen, wird das     Einflüsse wie auch auf interne Hinweise
Prinzip »Wissen ist Macht« oft ins Gegenteil   nicht mehr adäquat. Nixdorf, AEG, Grundig,
verkehrt: Macht wird dann zur Möglichkeit,     Borgward aber auch die DDR sind typische
bessere Argumente zu ignorieren. Wo der        Beispiele für solche Entwicklungen. In
Erhalt der eigenen Macht Priorität hat,        einem Satz zusammengefasst: Innovations-
werden neue Ideen oft nicht als Chance,        prozesse sind in der Regel Bottom-up-
sondern als Bedrohung empfunden und            Prozesse, die es in top-down geführten
deshalb vielfach vorschnell verworfen.         Strukturen prinzipiell sehr schwer haben.

                                               Innovation ist das Erdenken und Auspro-
 Widerspruch ist das, was
                                               bieren des heute noch Unbekannten. Was
 in vielen Unternehmen fehlt.                  man noch nicht kennt, kann man auch
 Vorbilder und Vorgesetzte                     nicht per Zielvereinbarung verordnen.
                                               Ideen lassen sich weder befehlen noch
 erzeugen Imitation statt
                                               gibt es sie für Geld. Was man noch nicht
 Innovation                                    kennt, kann man – schon aus Gründen der
                                               Logik – nicht systematisch fördern oder gar
Hierarchien fördern intern vor allem           »managen«. Innovationen lassen sich nicht
Anpassung, also das genaue Gegenteil von       systematisch erzeugen, sondern sie sind wie
Innovation. Wo sich der Wert einer Aufgabe     zarte Pflanzen auf ein bestimmtes Klima
durch den Nutzen für den Vorgesetzten          angewiesen, in dem Menschen miteinander
definiert, wird häufig Opportunismus zum       umgehen: Innovationen gedeihen am
Qualifikationsersatz: Um Karriere zu           besten in offenen Unternehmenskulturen,
machen, reicht es völlig, stets nur das zu     in denen Minderheiten, abweichende
tun, was dem Vorgesetzen gefällt. Wo das       Meinungen und Querdenker als wertvolles
eigene Fortkommen vom Urteil eines Vorge-      Ideenpotenzial geschätzt werden und
setzten abhängt, ist aufgrund der internen     Schutz, Freiräume und Förderung genießen.
Selektionsmechanismen die Führung früher       Eine bunte Mischung unterschiedlicher
oder später vorwiegend von pflegeleichten      Wertvorstellungen, Verhaltensweisen,
Jasagern umgeben. Dann ist es zum              Erfahrungen, Traditionen, Kulturen und
»Management by Potemkin« (Friedrich            Ansichten ist der beste Nährboden für Ideen.
Weltz), dem Aufbau schöner Scheinwelten,
meist nicht mehr weit. In einer sich rasch     Doch Widerspruch ist das, was in vielen
wandelnden Umwelt werden solche Struk-         Unternehmen fehlt. Vorbilder und Vorge-
turen zwangsläufig Opfer ihrer selbst er-      setzte erzeugen Imitation statt Innovation.
zeugten Verhaltensmuster. Die Organisation     Hat man einmal begriffen, dass Machtaus-
geht immer mehr ihrer eigenen Selbstdar-       übung der zentrale Misserfolgsfaktor für
stellung auf den Leim, die Spitzen verlieren   Innovationen ist, wird klar, dass radikaler
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                                                                                          Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
                                            festangestellten Menschen keine
                                            Zukunft haben, weil diese hier immer in
                                            irgendeiner Weise an der Entfaltung ihrer
                                            Fähigkeiten gehindert werden. Ideen
                                            und Innovationen entstehen dort, wo
                                            Menschen das tun dürfen, was sie können
                                            und wollen – wir hingegen vergeuden in
                                            unseren traditionellen Strukturen viel
                                            mehr Potenziale als wir tatsächlich nutzen.

                                            Auf jeden Fall werden sich im Innova­
                                            tionswettbewerb stehende Unternehmen
                                            stärker öffnen müssen, um Talente jenseits
                                            der Unternehmensgrenzen in die eigenen
                                            Innovationsprozesse einzubeziehen. Bill
                                            Joy, eine Ikone des Silicon Valley, sagte
                                            einmal: »Es gibt immer mehr kluge Leute
Hierarchieabbau die wahrscheinlich effek-   außerhalb der Organisation als innerhalb.«
tivste Form eines »Innovationsmanage-
ments« ist.                                 Hier mag man einwenden, so etwas sei
                                            Zukunftsmusik oder Utopie, weil wir alle
Vor diesem Hintergrund ging ich im          wissen, wie zählebig Institutionen sind.
Rahmen meiner späteren Tätigkeiten für      Andererseits gibt es aber heute neue, hoch-
das BMBF bei Konzeption und Begleitung      innovative Strukturen, in denen Menschen
von Forschungsprogrammen zum Thema          anders miteinander und mit ihren Ideen
»Arbeit und Innovation« oft den Fragen      umgehen: wo zum Beispiel Wertschöpfung
nach: Worin unterscheiden sich innovative   vor allem auf gegenseitiger Wertschätzung
von weniger innovativen Organisationen?     basiert. Wir finden innovative Wertschöp-
Wie müssen Arbeitsstrukturen beschaffen     fungsformen heute vor allem im Internet,
sein, damit Ideen gute Entfaltungs- und     etwa in zahlreichen Open Source Projekten.
Durchsetzungsbedingungen erhalten?          Hier können Unternehmen einiges darüber
Wenn Wettbewerb immer mehr zum              lernen, was Menschen motiviert und wie
Innovationswettbewerb wird – wie            eine junge Generation arbeiten will, die in
sieht dann die Arbeit der Zukunft oder      und mit dem Internet ohnehin eine andere
die Zukunft der Arbeit aus?                 Kommunikationskultur lebt, als etablierte
                                            Institutionen sie praktizieren. Unter-
Manche Organisationsforscher prog-          nehmen, die diese Generation gewinnen
nostizieren sogar, dass Unternehmen in      und halten wollen, müssen sich ohnehin
ihrer heutigen Struktur mit abhängig        radikal, das heißt von Grund auf, ändern.
Vom Innovationskiller Macht
zur Zukunft der Arbeit

Too big to innovate?
von Wolfgang Wopperer

Reflexionen über Größe und Skalierung von        chen – ganz im Gegenteil. Die Stoffwechsel-
Lebewesen, Städten und Unternehmen, über         rate steigt langsamer als die Masse, betrach-
Strukturen und ihre Macht – und über das         tet man zunehmend größere Tiere. Größere
Verhältnis von Größe und Struktur zu             Tiere sind also effizienter als kleine!
Innovation
                                                 Kleibers Formel für dieses Gesetz lautet
1. Größe und Skalierung                          S ~ M¾ – die Stoffwechselrate ist direkt
Um Größe und ihre Folgen zu verstehen,           proportional zur Körpermasse hoch ¾. Den
lohnt sich ein Blick in das größte und älteste   resultierenden langsameren Anstieg der
Ökosystem, zu dem wir Zugang haben:              abhängigen Variable, wie hier des Stoff-
Wie funktionieren Größenwachstum und             wechsels, nennt man Sublineare Skalierung.
Skalierung eigentlich in der Natur? Max          Weil das bei Lebewesen so gut funktioniert,
Kleiber, ein Schweizer bzw. US-Biologe,          fragten sich der Komplexitätsforscher
entdeckte in den 1930er Jahren eine faszi-       Geoffrey West und seine Kollegen am ameri-
nierende Gesetzmäßigkeit. Es gibt ein festes,    kanischen Santa Fe Institute zu Beginn der
vom Einzeller bis zum Elefanten für alle         1990er Jahre: Lassen sich diese Forschungs-
Tiere gleiches, Verhältnis von Stoffwechsel-     ergebnisse auch auf größere Gebilde über-
rate (gemessen zum Beispiel in Energie-          tragen, etwa auf Städte? Das erstaunliche
verbrauch pro Zeit) zu Größe, ausgedrückt        Ergebnis lautet: Ja! Je größer die Stadt,
in Körpermasse: »Kleiber’s Law«, ein mathe-      desto geringer der Energieverbrauch je
matisch formulierbares empirisches Gesetz,       Größeneinheit und desto effizienter die
das berechenbar macht, welche Stoffwech-         Stadt. Wie aber sieht es aus mit Metriken,
selrate ein Tier von einer bestimmten Größe      die andere Aspekte von Effizienz, Produkti-
hat. Das heißt nicht, dass alle Tiere gleich     vität und Innovation messen? Auch dazu
viel Energie je Einheit Körpermasse verbrau-     haben West und Kollegen Städte untersucht.
17   Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit

                                                                  Wolfgang Wopperer
Das Ergebnis ist noch überraschender:           uns ansehen, woraufhin Unternehmen
Innovativität, gemessen durch die Anzahl        optimieren, wenn sie wachsen bzw. warum
von Patentanmeldungen pro Jahr, steigt          sie überhaupt auf Wachstum als Optimie-
deutlich schneller als Größe, ausgedrückt in    rungsstrategie setzen.
der Einwohnerzahl. Konkret ist also bei-
spielsweise eine Stadt, die 50mal so groß ist   Optimierungsziel 1: Produktionseffizienz
wie eine andere, 130mal so innovativ wie        Naheliegend und im Kern der gleiche Effekt
die kleinere. Das bedeutet, die Anzahl von      wie bei der Stoffwechselrate von Lebewesen:
Innovationen pro Einwohner wächst mit der       Größere Einheiten können oft effizienter
Größe der Stadt – Städte werden immer           produzieren. Das klassische Beispiel für
innovativer, je größer sie werden.              solche Effizienzgewinne sind Skaleneffekte
                                                durch Massenproduktion.
Da liegt natürlich die Frage nahe, wie es
sich in puncto Größe und Innovation bei         Optimierungsziel 2: Transaktionskosten-
Unternehmen verhält. Das (etwas enttäu-         effizienz
schende) Forschungsergebnis: wie beim           Folgt man dem Coase-Theorem, dann
Stoffwechsel von Tieren. Innovativität          wachsen Unternehmen immer so weit, wie
skaliert sublinear mit der Unternehmens-        es günstiger für sie ist, Aufgaben intern zu
größe. Je größer ein Unternehmen ist,           koordinieren statt über den Markt. Das
desto weniger Innovation pro Mitarbeiter        heißt der Organisationsaufwand bestimmt
gibt es – Unternehmen werden immer              die Größe der Organisation. Die Transak-
weniger innovativ, je größer sie werden.        tionskostenstruktur ist dabei von techni-
                                                schen Rahmenbedingungen abhängig – die
Illustriert an Beispielen aus der Informa-      optimale Größe einer Organisation verän-
tionstechnologie- bzw. Hightech-Industrie       dert sich, wenn eine »bessere« Technologie
und dargestellt in einer Linearskala sieht      zur Verfügung steht.
man, was sublineare Skalierung wirklich
bedeutet: eine stetig sinkende Zunahme          Optimierungsziel 3: Rationalität
von Patenten mit der Größe von Unterneh-        Schon Max Webers Rede vom »stahlharten
men, ein Abflachen der Innovativitätskurve.     Gehäuse der Bürokratie« sollte illustrieren,
Es gibt bei Unternehmen offenbar ein            dass Transparenz über Regeln, Ziele und
oberes Limit für Innovativität.                 Verantwortlichkeiten Institutionen aus der
                                                Abhängigkeit von Gutdünken und Willkür
2. Wachstum und Innovation                      lösen kann – und dass dafür neben einer
Wie erklären wir uns das? Warum sind            bestimmten Organisationsgröße rigide
größere Unternehmen nicht innovativer,          Strukturen notwendig seien.
genau wie große Städte? Wie also hängen
bei Unternehmen Wachstum und Innova-            Das alles findet seine Verkörperung im
tion zusammen? Das wird klarer, wenn wir        klassischen Konzept des Scientific
19
                                                                                                 Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
Management – in anderen Worten: des              heißt auch, dass ihr Potenzial verglichen
Taylorismus. Dieser beschreibt und fordert       mit hoch optimierten Bestandstechnologien
Organisationsstrukturen und Steuerungs-          noch nicht ausgereizt wird. Dieser Rück-
mechanismen, die sehr gut an großmaß-            stand führt dazu, dass eine neue Technolo-
stäbliche, also industrielle Produktion und      gie unattraktiv erscheint und nicht weiter-
deren Anforderungen an Produktionseffi-          verfolgt wird.
zienz, Kosteneffizienz und Rentabilität
sowie Transparenz und Steuerbarkeit              Woher aber kommt diese Fehleinschätzung
angepasst sind.                                  genau? Die gängige Hypothese dazu lautet:
                                                 Die Ursache ist ein Versagen der Metriken
 Städte werden immer                             im Fall disruptiver Innovation, die bei Ska-
 innovativer, je größer                          lierung (Effizienz, Rentabilität) sehr gut
                                                 funktionieren. Diese messen nämlich nur
 sie werden
                                                 das Gap in der initialen Performance und
Wenn diese Strukturen besonders gut Effizi-      lassen die Neuerung daher wirtschaftlich
enz, Rentabilität und Planbarkeit herstellen     unattraktiv erscheinen. Was dabei gänzlich
können, dann heißt das auf die Weiter­           übersehen wird, ist das Potenzial, das in
entwicklung von Produkten bezogen: Sie           dieser Neuerung steckt. Schon zu einem
beherrschen sehr gut die so genannte             frühen Zeitpunkt ist eine neue Technologie
Sustaining Innovation, also die Optimie-         oft bereit für den Low End Market: Disrup­
rung bestehender Technologien und Pro-           tive Technologien funktionieren tatsächlich
dukte. Dass diese Strategie Diminishing          oft erst einmal nur für niedrigere Ansprüche,
Returns in der Performance-Steigerung der        schaffen damit aber ganz neue Märkte.
Produkte erzeugt – einen sinkenden Grenz-
nutzen von weiteren Verbesserungen –, ​das        Je größer ein Unternehmen
nimmt man in Kauf.
                                                  ist, desto weniger Innovation
In Sachen Optimierung des Bestehenden             pro Mitarbeiter gibt es
leistet ein tayloristisches System also Eini-
ges. Aber wie sieht seine Fähigkeit aus, gänz-   Und da die neue Technologie – verglichen
lich neue Technologien zu entdecken und zu       mit der abflachenden Performance-
nutzen? Technologien, die »neu ansetzen«,        Steigerungskurve der alten Technologie –
um Dinge ganz anders und viel besser zu          idealerweise auch noch ein größeres
machen? Wie gut kann der Taylorismus also        Entwicklungspotenzial hat, dauert es oft
disruptive Innovation? Nicht besonders gut,      weniger lange als aus den Erfahrungen mit
weil es zur Zeit der Innovation oft einen        den Bestandstechnologien extrapoliert, bis
Performance-Rückstand des neuen Produkts         die neue Technologie auf High End-Niveau
im Vergleich mit dem alten Produkt gibt.         angekommen ist – und zwar zu deutlich
Dass disruptive Technologien neu ansetzen,       niedrigeren Kosten. Das bedeutet, dass die
Artenbildung
Divergenz

                                   Millionen Jahre

Abbildung 1: Kontinuierliche Evolution

Instrumente, mit denen wir sehr erfolgreich     Varianten bereithält für den Moment, in
evolutionäre Verbesserung, inkrementelle        dem sie benötigt werden. Bis dahin gibt es
oder Sustaining Innovation steuern, syste-      möglichst wenig Einschränkung der Varia-
matisch das Erkennen, die angemessene           bilität – denn sonst wäre ja kein »Vorrat« an
Bewertung und die Förderung von disruptiv       Varianten verfügbar. Schnelle Variation
Neuem erschweren, wenn nicht gar unmög-         ohne sicheres Ergebnis nennt man in der
lich machen.                                    Inno­vationsforschung »the fuzzy frontend
                                                of innovation«, also den wilden, ungeordne-
3. Evolution und Revolution                     ten, unscharfen Anfang von Innovation.
Welches Verständnis von Veränderung und         Wie aber kann ein solcher unscharfer
Innovation steckt hinter diesen Metriken        Anfang in der wirtschaftlichen Realität
und was wäre ein angemessenerer Blick auf       aussehen?
disruptive Veränderung? Auch hier hilft ein
Blick in die Natur. Das herkömmliche Bild       Zum Beispiel wie das Projekt Palomar5, in
der Evolution besagt: Kleinteilige Variation    dem die Deutsche Telekom viel Geld ausgab,
und stetige Anpassung ergeben einen ku-         um 25 Menschen unter 25 Jahren aus aller
mulativen Veränderungseffekt, bis dann          Welt sechs Wochen lang völligen Freiraum
irgendwann das Neue da ist. Tatsächlich         zu geben, alles Mögliche zu erfinden und
funktioniert die Evolution anders: Der          auszuprobieren. Es kam zwar kein Produkt
»Normalfall« ist die schnelle, geradezu         für die Telekom heraus, dafür aber ein
wilde Variation innerhalb weniger Genera­       Interface-Innovator am MIT MediaLab, eine
tionen, die sich bei gleichbleibenden Rah-      NGO, die über Satelliten Breitband-Internet
menbedingungen langfristig »ausmittelt«.        in die so genannte Dritte Welt bringen will,
Neues ent­steht also dadurch, dass              Bildungsinnovationen, Unternehmensgrün-
dauernde, schnelle Variation »passende«         dungen, Maker Spaces in Ägypten, der
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                                                                                                          Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
            Artenbildung
Divergenz

                                        Millionen Jahre

       Abbildung 2: Sprunghafte Evolution

       Startup Compass im Silicon Valley und              tion, Nischenmärkte – oft genug garniert
       dergleichen mehr.                                  mit der Attitüde des Anti-Taylorismus. Es
                                                          sind zwei Welten, zwischen denen kaum
       4. Mind the gap!                                   eine Ver­bindung besteht und die ganz unter-
       Da liegt natürlich die Frage nahe, ob man          schiedliche Stärken in ihrer Beziehung zur
       ein solches Fuzzy Frontend nicht überall           Umwelt haben: Dem »stahlharten Gehäuse«
       einbauen kann. Erinnern wir uns an die             mit seiner Rationalität und Vorhersagbar-
       skalierungsorientierten, tayloristischen           keit stehen Anpassbarkeit und Innovativität
       Strukturen »konventioneller« Unternehmen           der informellen Strukturen gegenüber.
       und deren Kennzahlen, liegt die Antwort            Deutlicher können Inkompatibilitäten kaum
       Nahe: Nein, das Fuzzy Frontend ist prima           ausfallen.
       facie inkompatibel mit dem Backend einer
       tayloristischen Struktur. Denn diese zeichnet      5. Dimensionen und Differenzen
       sich aus durch Hierarchien in der Organisa-        So muss die nächste Frage lauten: Was ist der
       tionsstruktur und in den Arbeitsbeziehungen,       Kern dieser Inkompatibilitäten, was sind
       feste Grenzen zwischen Unternehmen,                hinter den Oberflächenphänomenen die defi-
       eigentumsförmige Organisation der produ-           nierenden Merkmale der beiden konträren
       zierten und gehandelten Güter, Mitarbeit           Modelle? Oder anders gefragt: In welchen
       auf Basis extrinsischer Motivation (Geld!)         Dimensionen kann man die Natur dieser
       und einen Massenmarkt, für den entwickelt          Modelle begreifen und wie sind sie jeweils
       und produziert wird.                               ausgeprägt? Mein Vorschlag wäre es, drei
                                                          Dimensionen näher zu betrachten.
       Dem steht am »unscharfen Ende« ein ganz
       anderer Entwurf gegenüber: offene Netz-            Dimension 1: Strukturen
       werke, Gemeingüter, intrinsische Motiva­           Wie ist (Zusammen-)Arbeit im jeweiligen
Modell organisiert und formalisiert – for-      scheidung: neue Unternehmen ausgründen,
mell, rigide, hierarchisch oder informell,      die disruptive Technologien unbehindert
flexibel, netzwerkartig?                        von der »alten« Struktur entwickeln können.

Dimension 2: Anreize und Anreizsysteme          Option 2: »Podularisierung«
Welches Verhalten wird jeweils belohnt?         Von David Gray in The Connected Company
Vorhersagbarkeit oder Kreativität, Fehler-      skizziert: statt einer Gesamt-Hierarchie
vermeidung oder Mut? Welche (Partikular-)       autonome, cross-funktionale Einheiten
Interessen werden wie bedient oder geför-       (»Pods«) rund um (neue) Produkte etablie-
dert? Wie begrenzt (»bounded«) ist die von      ren und diese Einheiten nur lose und netz-
Weber geforderte und intendierte Rationali-     werkartig verknüpfen.
tät im jeweiligen System? Wie weit driften
individuell-rationale Nutzenmaximierung         Option 3: Social Capital und Structural
und die Maximierung des Gesamt- bzw.            Holes nutzen
Unternehmensnutzens auseinander?                Vorgeschlagen von Ronald S. Burt: Wenn
                                                Innovation durch Verknüpfung unterschied-
Das führt auch zu Dimension 3:                  licher Perspektiven entsteht, dann helfen
Menschen!                                       Personen, die diese Verbindung herstellen.
Mit wem und für wen arbeitet man? Welcher       Diese Broker zwischen unterschiedlichen
Typ Mitarbeiter setzt sich durch, welcher ist   Netzwerken sollte man suchen und fördern.
die Norm? Und genauso wichtig sind die
individuellen Beiträge Einzelner. So entste-    Option 4: »Bunte Zettel und wilde
hen durch und während Skalierung ganz           Methoden«
unterschiedlich innovationsfreudige Syste-      Aus dem Fundus von Lean Startup, Agile
me und Erfindungskontexte – durch Struk-        Development und Design Thinking: Metho-
turen, Anreizsysteme und Menschen.              den und Arbeitsweisen, die rigide Denk-
                                                strukturen aufbrechen und mit denen man
6. Trotz allem: Lösungen                        Lernen lernt.
Wie dann mit diesen unterschiedlichen
Systemen und Kontexten umgehen? Wie als         Option 5: Arenen
gewachsenes, skaliertes, großes Unterneh-       Arenen, die als geschützter Raum die unter-
men auch disruptive Innovation möglich          schiedlichen Kulturen in einen Austausch
machen und fördern, statt sie zu ersticken?     bringen und experimentelle Verknüpfungen
Ist das überhaupt möglich? Vielleicht ja –      schaffen, und die man dann auch außerhalb
ein paar Optionen sollte man sich zumin-        nutzen kann, beispielsweise als Teil von
dest genauer ansehen.                           Open-Innovation-Prozessen.

Option 1: Spin-Offs                             Option 6: Immersion
Vorschlag von Clayton Christensen, dem          Selbst in das Fuzzy Frontend eintauchen,
»Erfinder« der sustaining/disruptive-Unter-     um wie ein Austauschschüler Kultur und
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                                                                                            Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
Sprache unmittelbar zu erleben und nach-      und Muster-Entrepreneur Elon Musk als
haltig zu lernen. Wenn das mehr sein soll     Hauptproblem wachsender Unternehmer
als Theater oder Urlaub, dann erfordert ein   beschreibt: »A lot of companies, typically
solcher Ansatz aber ein ernsthaftes Sich-     as they get bigger, tend to have a risk/
Einlassen und mutige Protagonisten.           reward asymmetry: failure is severely pu-
                                              nished and success is moderately awarded.
7. Urbanität und Unternehmen                  That’s not a good idea if you want to be
Warum sollten diese Optionen funktionie-      innovative because by its very nature inno-
ren? Was haben sie gemeinsam, das sie         vation will result in many attempts that
aussichtsreich macht dafür, Wachstum und      don’t work.«
Innovativität zusammen zu bringen? Und
das heißt am Ende: Was haben sie mit          Und im Hinblick auf Menschen: Sie leisten
Städten gemeinsam?                            sich mehr Perspektiven, Lebensentwürfe,
                                              Individualisten und am Ende mehr Spinner!
Im Hinblick auf Strukturen: Sie sind netz-    Denn auch wenn wir noch lange nicht genug
werkartig und informell statt hierarchisch    über die Mechanismen hinter Innovation und
und rigide organisiert und fördern damit      Skalierung wissen, können wir mit Geoffrey
Vielfalt.                                     West zumindest einen wesentlichen Unter-
                                              schied zwischen Städten und Unternehmen
Im Hinblick auf Anreizsysteme: Sie beloh-     benennen. Auf die Frage, warum größere
nen Kreativität und haben einen Fokus auf     Städte immer innovativer werden, Unter-
Erfolgsbelohnung statt Fehlervermeidung.      nehmen aber nicht, antwortet er: »Cities
So entgehen sie dem, was PayPal-Prodigy       tolerate crazy people. Companies don’t.«
Vom Innovationskiller Macht
zur Zukunft der Arbeit

Die Gore-Kultur –
einmaliges Erfolgsrezept
oder Blaupause für Unter-
nehmen der Zukunft?
von Dr. Sabine Martin

Seit der Gründung im Jahr 1958 durch Bill     Inzwischen sind mehr als 10.000
Gore, einem bis dahin bei DuPont beschäf­     Mitarbeiter (darunter über 1.000 Wissen-
tigten Chemiker, und seine Frau Vieve         schaftler und Techniker) an circa 30
hat sich das Unternehmen W. L. Gore &         Standorten auf vier Kontinenten für Gore
Associates als Innovationsführer mit einer    im Einsatz. Sie engagieren sich dafür, auf
Vielzahl von Produkten auf der Basis von      neue Herausforderungen von Kunden
PTFE (Teflon®) und anderen Fluorpoly­         adäquate Antworten zu finden – ständige
meren etabliert. Neben den in der breiteren   Innovation ist ein Kernelement der DNS
Öffentlichkeit vor allem bekannten Marken     von Gore.
Gore-Tex® und Windstopper® für Outdoor-
Bekleidung bietet Gore auch Produkte für      Zum Selbstverständnis des Unternehmens
den Medizinsektor und die Industrie an, oft   gehört eine Unternehmenskultur, die »den
in den Markt eingeführt als Lösungen, die     Menschen in den Mittelpunkt stellt«. Von
völlig neue Maßstäbe setzten und die Spiel-   Anfang an war es den Gründern ein Anlie-
regeln im Markt nachhaltig veränderten        gen, im Unternehmen ein Arbeitsumfeld zu
(disruptive Technologien).                    schaffen, das zu einem Menschenbild passt,
25   Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit

                                                                  Dr. Sabine Martin
wie es seinerzeit etwa von D. McGregor,      werden vom ersten Tag an für Associates
MIT, als »Theorie Y (vs. Theorie X)« pro-    spürbar, erwartet, trainiert und gefördert.
pagiert wurde: statt ständigem Anweisen,
Antreiben und damit einhergehenden           Nun ist Unternehmenskultur kein Selbst-
Kontrollen, Sanktionen (um ein Maximum       zweck bei W. L. Gore & Associates, ebenso
an Leistung aus grundsätzlich für faul und   wenig wie bei allen anderen Unternehmen.
desinteressiert gehaltenen Untergebenen      Bedenkt man, dass sie laut A. Kieser der
herauszuholen) weitreichende Entfaltungs-    wichtigste Einflussfaktor für Innovation ist,
und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für       der das Innovationspotenzial im Unterneh-
Mitstreiter (»Associates«), die sich mit     men sowohl fördern als auch einschränken
Sachverstand und Freude an der Arbeit        oder gar ganz zum Erliegen bringen kann,
(»make money and have fun doing so«) für     so wird verständlich, dass bei Gore als
die gemeinsamen Belange (»alle im selben     einem technologiegetriebenen Unter­
Boot«) einsetzen.                            nehmen die Suche nach der passenden
                                             Unternehmenskultur von Anfang an ein
Dieses Leitbild ist bei Gore nicht auf die   wesentliches Thema war. Denn wie schafft
typischen kreativen bzw. innovativen         man es, innovationsstarke Mitarbeiter
Funktionsbereiche wie Forschung und          anzuziehen (und zu halten) und ihr Innova-
Entwicklung beschränkt. Vielmehr gelten      tionspotenzial optimal zu nutzen? Oder
die daraus abgeleiteten Prinzipien und       umgekehrt gefragt: Was motiviert helle
weiteren Elemente der Unternehmenskul-       Köpfe, ins Unternehmen zu kommen und
tur ausnahmslos für alle Beschäftigten und   dort ihr Bestes zu geben?
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                                                                                             Macht | Vom Innovationskiller Macht zur Zukunft der Arbeit
Nach H.-J. Warnecke geht es beim Thema        Lieferanten etc. fair zu verhalten – das
Unternehmenskultur um drei Grundfragen:       betrifft den Umgangsstil (direkte, offene
• Wie sind die Arbeitsbedingungen?            Kommunikation) ebenso wie zum Beispiel
• Wie wird geführt?                           die Ausgestaltung von Verträgen mit exter-
• Wie geht man miteinander um?                nen Partnern.

Auf diese Fragen hat Bill Gore mit der        Commitment
Aufstellung von vier Grundprinzipien          Statt Aufträge zugeteilt zu bekommen, legt
geantwortet. Was bedeuten sie für jeden       jeder Associate selbst seine Aufgaben fest –
Einzelnen im Unternehmen?                     unter Berücksichtigung der Anforderungen
                                              des Geschäfts neben den individuellen
Freiheit                                      Fähigkeiten und Interessen. Und, ganz
Jeder Associate darf (und sollte nach Mög-    entscheidend, er verpflichtet sich, diese
lichkeit) sein Wissen vergrößern und seinen   Commitments einzuhalten.
Verantwortungsbereich erweitern – aus
Unternehmenssicht die Voraussetzung für       Waterline
Kreativität und Innovation. Was es nicht      Bei allen Aktionen, die den guten Ruf, den
heißt: Jeder kann tun und lassen, was ihm     Erfolg oder die Existenz des Unternehmens
beliebt.                                      schwer schädigen bzw. gefährden könnten,
                                              wird vom Associate erwartet, dass er sich
Fairness – nach innen wie nach außen          mit fachkundigen anderen Associates berät.
Jeder im Unternehmen ist gehalten, sich       Einerseits wird das individuelle Handeln
gegenüber anderen Associates und Kunden,      durch dieses Prinzip begrenzt, andererseits
wird der Einzelne bei schwierigen Entschei-
dungen entlastet, da die Verantwortung
nicht allein auf seinen Schultern ruht.

Die Umsetzung dieser Prinzipien im Unter-
nehmensalltag – ständige Forderung und
Herausforderung an jeden Einzelnen – ist
der Schlüssel zum Erfolg von Gore. Das
heißt, zur Verwirklichung der strategischen
Unternehmensziele
• kontinuierlich neue, einzigartige und
  hochwertige Produkte für die Kunden zu
  entwickeln,
• den Ruf von Gore als High-Tech-Unterneh-
  men weiter auszubauen,
• alles zu tun, dass Gore die geeigneten Mitar-
  beiter hat – heute und in der Zukunft – und
• dafür zu sorgen, dass Gore für jeden Asso-
  ciate ein »Great Place to Work« ist.            • Personal development plan
                                                  • »Sweet spot«-Ansatz bei Festlegung der
Die Praxis: »Great Place to Work«                   Commitments
• dicht vernetzte, gitterähnliche Organi-
  sation                                          Die Gore-Unternehmenskultur ist weder
• direkte 1:1-Kommunikation                       ein einmaliges Erfolgsrezept noch eine
• »No ranks, no titles«                           Blaupause, die man einfach 1:1 auf andere
• kleine Werke (maximal 200 Associates)           Organisationen übertragen kann. Aber sie
• kleine Teams                                    kann als Inspirationsquelle für andere
• Teambüros, offene (Glas-)Türen                  Unternehmen dienen, die angesichts von
• »Natural leaders« statt Chefs                   Herausforderungen wie Mitarbeitergewin-
• selbst gewählte Sponsoren für jeden             nung und Innovationsfähigkeit nach neuen
   Associate                                      Wegen suchen. Manche der bei Gore erprob-
• »Contribution & compensation process«           ten Kulturelemente lassen sich sicherlich
  mit Peer-Ranking                                ohne große Probleme auch in anderen
• DIY-/Hands-on-Kultur (z. B. keine persön-       Unternehmen einführen und können relativ
  lichen Assistentinnen)                          rasch Wirkung zeigen (»low hanging fruit«):
• Common Sense / Augenmaß-Prinzip                 • Eigen-/Teamverantwortung: z. B. Arbeits-
• »Travel investment reports«                       platz-, -zeitorganisation, Vertrauens-
• Vertrauensarbeitszeit                             arbeitszeit
• 10-15 Prozent frei gestaltbare Zeit             • direkte Kommunikation: passende Begeg-
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