2021 ZEITSCHRIFT DER UNABHÄNGIGEN GEWERKSCHAFTERINNEN - SCHWERPUNKT DIGITALISIERUNG UND FRAUEN - DIE ...
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Zeitschrift der unabhängigen GewerkschafterInnen Schwerpunkt Digitalisierung und Frauen Anlässlich des Frauentags beschäftigen wir uns mit der Digitalisierung und ihrer Auswirkung auf Frauen. 2021 01
4 5 6/7 8 Kennst du schon...? Kolumne Veronika Litschel In dem Schwerpunktartikel Schwerpunktartikel von Vera Diesmal stellen wir euch Frauentag und Krise schreibt Karin Stanger über die Koller zum Thema Arbeiten von Elisabeth Doppler, Chancen und Risiken der Zuhause und Vereinbarkeit von Christian Husch und Digitalisierung Beruf und Familie Erwin Schleindl vor 9 10/11 12/13 14/15 Betriebsratsvorsitzende Schwerpunktartikel von Beate Interview mit Astrid Schöggl MUCH Claudia Stadler und ihr Team Neunteufel-Zechner über die über den sozialen Prozess der über Betriebsratsarbeit in psychische Belastung durch Digitalisierung Zeiten von Homeoffice die Digitalisierung 16 17/18 19 20/21 Fritz Schiller analysiert die Über die Vor- und Nachteile Kampagne Lieferketten Dr Michaela C. Fried in Sozialpartnereinigung zum digitaler Meetings Christine Petioky stellt die berichtet über die Situation im Homeoffice Maßnahmenpaket Kampagne zum europäischen Flüchtlingslager Kara Tepe Lieferkettengesetz vor 22 23 24/25 Christine Petioky berichtet Notizen Nachrichten aus dem über das Weltsozialforum 2021 Aktuelles aus Gewerkschaft UG Universum und Gesellschaftspolitik Neuigkeiten von den Unabhängigen GewerkschafterInnen 26/27 28 Cornelia Stahl rezensiert Aktuelle Termine Herlinde Koelbl’s Faszination Wissenschaft und Luis Stabauer’s Brüchige Zeiten IMPRESSUM Medieninhaberin, Verlegerin: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen (AUGE/UG), Herausgeberin: Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB (UG/ÖGB), Redaktion: Renate Vodnek, Layout & Satz: Stefanie Hintersteiner, Adresse: Alle 1040, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0, E-Mail für Abonnement: auge@ug-oegb.at, Redak- tion: alternative@ug-oegb.at, Internet: www.ug-oegb.at, Bankverbindung IBAN AT30 1400 0001 1022 8775, IC: BAWAATWW. Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktion der Herausgeberin entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel und Zwischentitel fallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit der Kunst. Textnachdruck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoons liegt beim Künstler. DVR 05 57 021. ISSN 1023-2702 Offenlegung gemäss §25 Mediengesetz Medieninhaberin der „Alternative“ ist der Verein „Alternative und Grüne GewerkschafterInnen – UG“. Mitglieder des Bundesvorstandes sind: Klaus Brandhuber, Martin Gstöttner, Julienne Hartig, Sandra Hofmann, Klaudia Paiha, Karin Stanger. Herausgegeben wird „die Alternative“ von den „Unabhängigen GewerkschafterInnen im ÖGB“ (UG). Die Unabhängigen GewerkschafterInnen - ein Zusammenschluss überparteilicher und unabhängiger Listen im ÖGB – sind eine Gewerkschaftsfraktion, die für die Demokratisierung der Arbeitswelt und der Gewerkschaften eintritt. Die Linie der „Alternative“ wird von diesen Intentionen bestimmt. Geschäftsführende Vorsitzende der UG ist Vera Koller, Kassierin ist Cornelia Lamm. 2 die Alternative • 2021
Editorial W e proudly present: die erste Ausgabe der neuen Alternative! In neuem Gewand, mit zusätzlichen Rubriken und einem Themenschwerpunkt. Dieses Mal mit dem Fokus Digitalisierung und ihre Auswirkung auf Frauen. Karin Stanger führte ein Interview mit Astrid Schöggl von der AK Wien über den sozialen Prozess der Digitalis- ierung. Sie und Beate Neunteufel-Zechner analysieren die Chancen und Risken aus feministischer Perspektive. Vera Koller beschäftigt sich mit der Frage, ob Homeoffice eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zulässt und Claudia Stadler berichtet welche Auswirkungen Homeof- fice auf die betriebsrätliche Arbeit hat. In unserer neuen Rubrik ,Kennt ihr schon?‘ stellen wir euch Elisabeth Doppler, Erwin Schleindl und Christian Husch vor. Wir freuen uns über euer Feedback zur ersten Ausgabe – gerne auch für unsere neue Rubrik Leser*innenbriefe! Ich darf an den Abo Beitrag für 2021 erinnern – bitte auf das Konto IBAN AT30 1400 0001 1022 8775 einzahlen! Auf Wunsch schicken wir auch gerne einen Erlagschein zu – bitte eine Mail an auge@ug-oegb.at schreiben oder 01/505 19 52 anrufen. Abschließend möchte ich auf die Petition zum Erhalt der ÖGB-Buchhandlung hinweisen – bitte unterstützt diesen wichtigen Ort (mehr unter Notizen). FOTO COVER mindspace studio die Alternative • 2021 3
Gleichbehandlungsbeauftragte der UG Kennst du schon...? Wie bist du zur UGÖD und UG gekommen? Ich engagiere mich schon seit der Gründung im Jahr In der Rubrik stellen wir (neue) Betriebsrät*innen, 1991 bei der Unabhängigen Liste „Offenes Team“ Personalvertreter*innen und Aktivist*innen der am Wissenschaftsministerium, heute BMBWF und Unabhängigen Gewerkschafter*innen vor. bin auch Mitglied der UGÖD. Außerdem habe ich fast 20 Jahre Erfahrung als Gleichbehandlungsbeauftragte am BMBWF. Ein Grund, warum ich im Herbst 2019 als Gleichbeauf- tragte der UG kandidierte und seitdem diese Funktion voller Elan ausführe. Was hat dich dazu gebracht, dich gewerkschaftlich zu organisieren? Alle sollen die Möglichkeit haben sich in der Arbeit zu entfalten. Gegenseitiger Respekt zwischen Vorgesetzten und KollegInnen ist zentral. Und das Wer bist du! unabhängig von Geschlecht, Weltanschauung, Ich heiße Christian Husch, BSc MSc MSc und bin Herkunft, Religion, sexueller Orientierung oder Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger (DGKP) einer Behinderung. Direkte und indirekte Diskrimi- in der Justizanstalt Wien-Josefstadt. Zusätzlich bin ich nierungen von Frauen in ihrer Karriere haben eine Biologe mit Spezialisierungen in Immunologie, lange Tradition und es ist notwendig, dass die lang- Mikrobiologie, Genetik, molekulare Mikrobiologie, wierig erkämpften Rechte zur Gleichbehandlung mikrobielle Ökologie und Anthropologie. durchgesetzt werden. Wie bin ich zur UGÖD und UG gekommen? Im Rahmen eines Kurses lernte ich Sandra Gaupmann kennen und wir kamen ins Gespräch wegen der ungerechten Bezahlung der Pflege im Justizbereich. Nach einigen Gesprächen fragte sie mich, ob ich mich auch engagieren möchte. Ich nahm dieses Angebot gerne an und bin sehr dankbar für die gute Zusammenarbeit. Wer bist du? Ich bin Mitglied der Arbeitsgruppe „Gesundheit, Ich bin am 23.01.1980 in Braunau am Inn geboren, bin Soziales, Pflege“, in der verschiedene UG Säulen ver- verheiratet und habe fünf Kinder. Ich arbeite als Lagerist treten sind. Was hat mich dazu gebracht mich gewerk- bei der Firma KTM AG. schaftlich zu organisieren? Als DGKP in der Justizanstalt Wien-Josefstadt erlebe ich, Was hat dich dazu gebracht, dich wie die Pflege in den Justizanstalten aufgrund der meist viel gewerkschaftlich zu organisieren? schlechteren Bezahlung gegenüber anderen Einrichtungen Durch meinen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nicht konkurrenzfähig ist. Deswegen ist es schwer Personal ergriff ich 2014 die Chance und wurde Betriebsrat. zu finden und zu halten. Ich setze mich für eine gerechtere Dadurch konnte ich schon viel für meine KollegInnen Entlohnung, zeitgemäße Zulagen und adäquate Arbeitsbe- erreichen, trotz so manchen Widerstands. dingungen ein (ugoed.at/pflege-hinter-gittern). Wie bist du zur AUGE/UG gekommen? 2013 wurde ich Parteimitglied der Grünen. Dadurch fand ich meinen Weg zur AUGE/UG. Als Vorstand der AUGE/UG OÖ kämpfe ich für die Förderung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Beeinträchtigung und für 100 Prozent Überstunden Zuschläge ab der 1. Überstunde. 4 die Alternative • 2021
K O L U M N E Frauentag und Krise TEXT Veronika Litschel D ie Frauenarbeitslosigkeit steigt. der Effizienz, die durch Gerechtig- Die Aussichten dafür sind nicht Und es zu befürchten, dass keit behindert wird, anstimmt. Denn rosig. Die Kosten der Krise werden auf es noch schlimmer wird. Ein schließlich ist es ja ein Experte. So zu- viele Schultern verteilt, aber nicht auf Jahr des Lock-auf und Lock-zu haben mindest der Eindruck aus der Medien- jene, die es sich leisten können. Eine müde gemacht, die Reserven angegrif- lektüre. Solidarabgabe oder gar Vermögens- fen. Die wirtschaftlichen Folgen sind Martin Kocher ist ein wirtschafts- besteuerung sind nicht durchsetzbar. noch nicht im vollen Umfang abzu- liberaler Ökonom und wie das Amen Die politischen Vorzeichen mit einer sehen, aber es wird ungemütlich. Die im Gebet, kommt der Ruf nach Pen- skandalgebeutelten ÖVP, Grünen, die Verdrängung der Frauen aus dem Ar- sionskürzungen um die Krisenkosten nicht wissen, wo sie stehen, einer dar- beitsmarkt als bekannte und häufige zu stemmen. Und die Pflegekräfte niederliegenden Sozialdemokratie Folge wirtschaftlicher Krisen. Zurück werden als unqualifizierte Dillas, die und den wirtschaftsliberalen NEOS, in die Privatheit, an den Herd. Küm- eigentlich nicht mehr verdient haben, sind schlecht. mert euch um eure Lieben, denn die desavouiert. Hoffentlich ist er nicht Ein trauriger Frauentag, der uns öffentliche Versorgung müssen wir bald auf eine angewiesen, eine Pflege- wieder einmal zeigt, wie lang unser leider zurückfahren. Eh schon wissen, kraft. Und wenn doch, hoffentlich hat Atem, wie groß unsere Kraft sein die Pandemie. sie das nicht gehört. muss. Übertreibung Krisen schreiben oder bittere Realität? traditionelle Rollenmuster fest Weg gebrochene Arbeitsplätze kön- Die Kurzarbeit, das Homeoffice, der nen nicht herbeiqualifiziert werden. Lockdown haben nicht dazu geführt, Aber dieses gebetsmühlenartige Wie- dass die unbezahlte Arbeit gleicher derholen der mangelnden Qualifizie- verteilt wurde. Das Gros der Männer rung taugt dazu, die Verantwortung hat sich nicht gedacht: ach, jetzt sehe zu individualisieren. Wer nicht hat, ich endlich, wie viel Arbeit das alles ist der und vor allem die ist zu wenig wei- und pack mal mit an. Jetzt, im zweiten tergebildet, danke auch. Corona-Jahr, wird der Kampf um die Zum Glück haben wir ja jetzt ei- Arbeitsplätze beginnen. Frauen haben nen neuen Arbeitsminister. Eine soge- durch tatsächliche oder unterstellte nannten Experten, Forscher, Ökonom, Betreuungspflichten schlechte Chan- Professor. Da ist es nicht so tragisch, cen. Sie werden zu den Verlierer_innen dass er sich mit dem Arbeitsmarkt bis- zählen, wenn nicht steuernde Ein- lang nicht wirklich beschäftigt hat. griffe in den Arbeitsmarkt erfolgen. Seine Vorschläge werden in Expertise Deutliche Arbeitszeitverkürzung, ge- verkleidet, das überdeckt die ideologi- teilte Karenz als Normmodell, massive sche Ausrichtung. Und wir sind beru- finanzielle Aufwertung so genannter higt. Wenn er das Lied von Angebot Frauenberufe, um nur mal dringlichs- und Nachfrage, der Überlegenheit des ten Schritte anzuführen. freien Wettbewerbs für Innovation, die Alternative • 2021 5
S C H W E R P U N K T Frauen und Digitalisierung: TEXT Karin Stanger Chance oder Risiko? Wir arbeiten online, erledigen Einkäufe per Mausklick - der digitale Wandel ist allgegenwärtig. Ein Anlass den Schwerpunkt dieser Ausgabe dem Thema zu widmen. D ie anhaltende Corona-Krise hat nicht zuletzt dazu geführt, dass sich der digitale Wandel in vielen Bereichen massiv beschleunigt hat. Auch in der Arbeits- welt hinterlässt das tiefe Spuren. So ist Tele-Arbeit für viele Arbeit- nehmer_innen plötzlich Normalzu- stand und vieles deutet darauf hin, dass diese Form der ortsungebunde- nen Arbeit sich dauerhaft etablieren wird. Die Frage nach Potentialen und Risiken der Digitalisierung stellt sich nicht zuletzt aus feministischer Pers- pektive. Besonders betroffen: Produktionsferne Bereiche und Dienstleistungssektor Auch wenn der genau konkrete Um- fang umstritten ist, herrscht größten- teils Einigkeit darüber, dass durch den technologischen Fortschritt Arbeits- kräfte ersetzt und Jobs verloren gehen werden. Die darüber geführte Debatte basiert oft auf der falschen Annahme, dass der digitale Wandel vorrangig den männlich dominierten Sektor der Produktion betrifft. Eine Anfang 2018 vorgestellte Studie des Weltwirt- schaftsforums widerlegt das. Dem- nach sind beispielsweise Arbeitsplätze in produktionsfernen Bereichen der FOTO mindspace studio Industrie und im Dienstleistungssek- tor besonders betroffen – Berufsspar- ten, in denen überproportional viele Frauen tätig sind. Neue Technologien 6 die Alternative • 2021
T H E M A werden in männlich dominierten Be- rassistische Tendenzen. Diese spie- Gerade in Hinblick auf die Klima- reichen oft unterstützend eingesetzt, geln sich in den Algorithmen nicht nur krise braucht es Gestaltung. Wenn während sie in weiblich dominier- wider, sie werden im Laufe des ‚Lern- sie gut genutzt wird, bietet die Digi- ten Bereichen häufiger Arbeitskräfte prozesses‘ weiter verstärkt. In einer talisierung hier einige Chancen. Etwa ersetzen. Andererseits gibt es auch im Frühsommer veröffentlichten Stu- durch die ressourceneffizientere Pro- frauendominierte Berufssparten, die die wiesen zwei Wissenschaftler der duktion von Gütern, die Mobilitäts- sich gegenüber der Digitalisierung als Universität Linz beispielsweise nach, wende oder den Einsatz von ‚grüner‘ äußerst resistent erweisen, zum Bei- dass bestimmte Algorithmen ‚eine Energie. Auf letztere sind wir ange- spiel soziale Dienstleistungen. besonders ausgeprägte geschlechts- wiesen, denn Digitalisierung verur- spezifische Verzerrung verursachen‘. sacht hohen Stromverbrauch, z.B. für Hoffen auf Vorteile die Kühlung von riesigen Daten-Ser- durch Flexibilisierung Für Aufsehen sorgte in diesem Zu- vern. Auch eine öko-soziale Steuerre- Ein großes Potential der Digita- sammenhang auch der Einsatz des form ist ein wichtiges Instrument zur lisierung liegt in der zunehmenden AMS-Algorithmus, der Frauen schon Gestaltung. Flexibilität bezüglich Arbeitsort und auf Grund ihres Geschlechts schlech- Arbeitszeit. Nach einer Studie der tere Chancen am Arbeitsmarkt zu- Arbeitszeitverkürzung schreibt. Für Betreuungspflichten ist das Gebot der Stunde gibt es weitere Abzüge. Nur für Frauen, Nach langen Verhandlungen konn- Auch eine ökosoziale wohlgemerkt. Paola Lopez, Mathema- ten die Sozialpartner endlich klare Steuerreform ist ein tikerin an der Universität Wien und Rahmenbedingungen zum Thema Ho- Verfasserin der ersten wissenschaft- meoffice durchsetzen. Aber auch prin- wichtiges Instrument. lichen Arbeit zum AMS-Algorithmus: zipielle Fragen wie die Verteilung von „Der Algorithmus berechnet also nicht Arbeit und Einkommen müssen mit deutschen Hans Böckler Stiftung ver- die ‚Chancen‘, die ein Individuum am Blick auf die rasant voranschreitende bessert diese tatsächlich die Verein- Arbeitsmarkt hat, sondern die struk- Digitalisierung diskutiert werden. barkeit von Beruf und Familie und turelle Benachteiligung, die Men- Durch den technologischen Fort- hat gleichzeitig das Potential den schen mit gleichen Dateieinträgen in schritt ist die Produktivität allein in Gender Pay Gap zu verringern. Keine der Vergangenheit widerfahren ist“. den letzten 20 Jahren um 25 Prozent Hinweise finden sich hingegen auf gestiegen. Von dieser Produktivitäts- eine potentielle Umverteilung der un- Digitalisierung steigerung profitieren bisher aber fast bezahlten Sorgearbeit. braucht Gestaltung ausschließlich die Unternehmen. Es Aus feministischer Perspektive ist höchste Zeit, den Vollzeitstandard Erwähnt werden muss in diesem ist das Thema Digitalisierung ein Zusammenhang, dass von der ge- zweischneidiges Schwert: Es kann steigerten Flexibilität in erster Linie einerseits vorhandene Ungleich- Zusätzlich braucht höher qualifizierte Frauen profitieren. heiten aufbrechen, sie aber auch es strukturpolitische Und obwohl sich die strukturellen Ver- zementieren. Nicht zuletzt um Gleich- Maßnahmen, um den änderungen tendenziell stärker auf stellungspolitik und Digitalisierung sogenannte Frauenberufe auswirken, besser miteinander zu verknüpfen, digitalen Wandel wird das vorhandene Potential für den müssen Betriebsrät_innen, Perso- geschlechtergerecht Abbau von Geschlechterungleichhei- nalvertreter_innen und Beschäftigte ten im Rahmen von betrieblichen Di- innerbetrieblich stärker in Digitali- zu gestalten. gitalisierungsprozessen bisher kaum sierungsprozesse einbezogen werden. genutzt. Zusätzlich braucht es strukturpoliti- auf 30 Wochenstunden zu senken und sche Maßnahmen, um den digitalen in Green Jobs zu investieren. Das sorgt ‚Computer says no‘ Wandel geschlechtergerecht zu gestal- nicht nur dafür, dass endlich auch die Auch der Einsatz von Künstlicher ten. Dazu muss unter anderem Sorge- Arbeitnehmer_innen vom digitalen Intelligenz ist in diesem Zusammen- arbeit in Zukunft gerechter zwischen Wandel profitieren, es schafft auch hang ein heikles Thema. So wurde in Männern und Frauen verteilt und das neue Jobs. Und dass ist angesichts jüngerer Vergangenheit zunehmend Recht, außerhalb der Arbeitszeit nicht der höchsten Arbeitslosigkeit in der über das diskriminierende Potential erreichbar zu sein, garantiert werden. Geschichte der Zweiten Republik von Algorithmen berichtet. Algorith- Außerdem gilt es zu verhindern, dass aktuell wichtiger denn je. men nutzen Daten, die von Menschen sexistische Muster durch den Einsatz kategorisiert werden und beinhal- von Künstlicher Intelligenz gefestigt ten daher oft bereits sexistische und oder gar verstärkt werden. die Alternative • 2021 7
S C H W E R P U N K T Arbeiten von zu Hause Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Verstärkung der „Zurück an den Herd“ Politik TEXT Vera Koller D urch die Lockdowns und die hat ein eigenes Zimmer zur Verfügung die Pflege von Angehörigen, die Corona Pandemie hat das und viele fühlen sich durch Kinderbe- Instandhaltung der Wohnung, das Ko- Arbeiten von zu Hause einen treuungspflichten in ihrer beruflichen chen von Mahlzeiten und noch vieles enormen Schub erfahren. Laut einer Tätigkeit belastet. Gibt es ein Arbeits- mehr. Ifes Studie im Auftrag der Arbeiter- zimmer, wird dieses häufig von Män- Ständig hin- und her gerissen kammer Wien1 haben rund 60% der Be- nern genutzt. Frauen arbeiten oft am welche der Aufgaben zuerst erledigt schäftigten im Jahr 2020 Homeoffice Küchentisch und sind generell tech- werden muss. Zwar sind Männer bzw. genutzt. Von denen, die nicht im nisch schlechter ausgerüstet. Väter auch davon betroffen, die Haupt- Homeoffice waren, meinen über 80% Bedenkt man dazu, dass 67% der last bleibt weiblich, wie alle Umfragen im ihrem Beruf ist Arbeiten von zu Frauen unter 40 Jahren eher im Home- zeigen. Hause nicht möglich. office arbeiten, als eine Pflegefreistel- Homeoffice ist 2020 für viele zur lung in Anspruch zu nehmen, wird die Notwendige Bedingungen Norm geworden. Und auch wenn diese Problematik sehr schnell offensicht- Viele Arbeitnehmerinnen bevor- Entwicklung sicherlich durch die Pan- lich. zugen trotzdem zumindest zeitweise demie befeuert wurde, werden auch in So sehr die Zeitersparnis der Verein- Homeoffice. Die langfristigen Folgen Zukunft viele Beschäftigte zumindest barkeit von Beruf und Familie ent- werden dabei oft nicht gesehen. zeitweise in ihren eigenen vier Wän- gegenkommen kann, birgt die Ver- Nicht nur die möglichen psychischen den arbeiten. schmelzung von Freizeit und Arbeit und gesundheitlichen Folgen, son- Grundsätzlich wird das von den besonders für Frauen und vor allem für dern auch die Auswirkung auf die Arbeitnehmer*innen geschätzt. Vor Mütter eine extreme Gefahr. Frauen Erwerbstätigkeit von Frauen sollte allem die Zeitersparnis durch den leisten schon immer den Löwenanteil dabei berücksichtigt werden. Frauen Wegfall von Wegzeiten, aber auch die an unbezahlter Arbeit. Bei der Tätig- Selbstbestimmtheit und Ungestört- keit im Betrieb bleibt diese Verpflich- ILLUSTRATIONEN Stefanie Hintersteiner heit werden immer wieder ins Treffen tung zumindest für ein Zeitfenster geführt. entfernt. Werden jedoch beide Berei- che, der private und der dienstliche Auswirkungen auf Frauen miteinander vermischt, sind die unbe- Die Studie zeigt: Für Befragte zahlten Verpflichtungen omnipräsent. werden bei Einstellungen per se kri- mit Kindern stellt das Arbeiten von Frauen übernehmen vom Küchen- tischer als ihre männlichen Mitbe- Zuhause oft eine größere Herausforde- tisch aus während ihrer beruflichen werber bewertet. Die Möglichkeit rung dar – nur jede/r Zweite von ihnen Tätigkeit die Betreuung der Kinder, einer Schwangerschaft, Ausfälle durch 8 die Alternative • 2021
T H E M A Betriebsrätliche Arbeit in Zeiten von Homeoffice Betriebsräte stehen vor besonderen Herausforderungen, wenn sie die Kolleg*innen nicht mehr direkt und persönlich ansprechen können. Ein Erfahrungsbericht aus dem Grünen Klub. Z TEXT Betriebsrät*innen des u Beginn des Sommers 2020 zu beginnenden Verhandlungen Grünen Klubs im Parlament konstituierte sich unser Be- der Betriebsvereinbarung. Wir or- Claudia Stadler als Vorsitzende sowie triebsrat, nachdem sich der ganisierten Austausch-Treffen mit Nikolaus Ganahl, Katrin Fallmann und Philipp Rohringer grüne Klub im Parlament mehr und BR-Vertreter*innen und den jewei- mehr mit Mitarbeiter*innen füllte. ligen Teams im Klub. Nachdem es Wir nützten das Zeitfenster nach dem in den Herbstmonaten nicht mög- ersten Lockdown im Frühling und lich war, eine physische Betriebsver- bevor die Urlaubszeit losging, um die sammlung einzuberufen, stellten Wahlen durchzuführen. Dass wir mit wir Ende Jänner 2021 erstmals ein Anfang Juli bereits mehr als 75 Kol- Online-Neujahrsgespräch für alle leg*innen hatten, war für uns zu die- Mitarbeiter*innen via Zoom auf die sem Zeitpunkt nicht sichtbar. Alle, Beine. Unsere im Oktober von der die seit März im Klub zu arbeiten Ersatzliste neu hinzugekommene begonnen hatten , starteten mitten Betriebsratskollegin hatte die geniale im Lockdown und somit im Homeof- Betreuungspflichten etc. sind für viele fice Modus. Dazu kam, dass der Klub Wie können wir unseren Arbeitgeber*innen Gründe genug, um erst mit Ende August all seine Räum- Männer zumindest implizit zu bevor- lichkeiten beziehen konnte, und es im Kolleg*innen vermitteln, zugen. Verschärft sich die Situation Sommer so gut wie nicht möglich war, dass wir da sind, wenn durch z.B. Meetings, in denen Kinder neuen Mitarbeiter*innen physisch zu sie uns brauchen? durchs Bild huschen, während Kol- begegnen. Die einzige Möglichkeit, legen dem Chef die ungeteilte Auf- uns als Betriebsratsteam der Beleg- merksamkeit schenken, kann dies schaft vorzustellen, gelang in einer Idee, unsere Kolleg*innen mit einem Auswirkungen auf die berufliche ein paar Wochen vor den Wahlen an- Computerprogramm interaktiv in Ab- Zukunft haben. Auch ein vermehrtes gelegten Betriebsversammlung. So stimmungen zu Fragen über derzei- Aussteigen von Frauen aus dem Beruf begann unsere Arbeit als vierköpfiger tige Themen in den Verhandlungen kann eine Konsequenz sein. Betriebsrat mitten in der Corona Pan- zur Betriebsvereinbarung einzubin- Für Frauen im Homeoffice ist es demie. Ein kleiner Vorteil dabei: zu- den. Wir hatten so zumindest ein daher umso wichtiger klare Ver- mindest ein Betriebsratsmitglied war Drittel der Belegschaft dazu gebracht, bindlichkeiten zu haben. Hauptfor- auch im alten Klub beschäftigt. Den- mit uns über Zoom in Kontakt zu tre- derungen sind die Begrenzung von noch sind wir bis heute mit der Schwie- ten und sich über den Verhandlungs- Erreichbarkeiten, um Arbeit und rigkeit konfrontiert, den Betriebsrat stand, Aktuelles und Wünsche zur Freizeit auseinander zu halten und und seine Aktivitäten sichtbar zu Kommunikation zwischen Betriebs- die klare Trennungsmöglichkeit zwi- machen. Wie können wir unseren Kol- rat und Mitarbeiter*innen auszu- schen Betreuungspflichten, ob für leg*innen vermitteln, dass wir da sind, tauschen. Das Fehlen des direkten pflegebedürftige Angehörige oder wenn sie uns brauchen? Wie finden Kontaktes mit der Mehrheit der Kol- Kinder, und der beruflichen Tätigkeit. wir heraus, welche Wünsche unsere leg*innen schmerzt, umso mehr sind Nur so kann Homeoffice tatsächlich Kolleg*innen bei den Verhandlungen wir als Betriebsrat motiviert, für un- den gewünschten Effekt der Entlas- zur Betriebsvereinbarung haben? sere Kolleg*innen da zu sein, wissend, tung bringen. dass die dauerhafte Remote Situa- Kommunikation im Lockdown tion eine zusätzliche Belastung und Wir begannen zuerst, Willkom- Herausforderung an unsere Arbeit mens-Mails an neue Mitarbeiter*in- darstellt. nen auszusenden. Mit Infomails 1 ) Die Studie findet sich hier: an alle versendeten wir Updates https://tinyurl.com/s6huysfh zu unserer Betriebsratsarbeit und die Alternative • 2021 9
S C H W E R P U N K T Digitalisierung Wo sind die Frauen in der Gestaltung der digitalen Arbeitswelt? Fragen zu verschwundenen Arbeitsplätzen, neuen Rahmenbedingungen und psychischen Belastungen. TEXT Beate Neunteufel-Zechner L inda Scott behauptet in ihrem down 4 von 10 ArbeitnehmerInnen den Frauen voraussichtlich in einen Buch ‚Das weibliche Kapital‘ gezeigt, wie flexibel sie sind? Sie sind doppelten Konkurrenzkampf getrie- (Hanser Verlag 2020), dass im März 2020 von einem Tag auf den ben – um Arbeitsplätze und gegen Männer gar kein Interesse daran anderen vom Büro ins Homeoffice um- Männer auf Arbeitsuche. haben, mit Frauen gemeinsam gestiegen. Viele Frauen hielten beruf- für ein ‚gutes Leben für alle‘ zu lich ihr Leistungsniveau, sammelten Wie verändert sich arbeiten. Männer beherrschen die neue Erfahrungen in der digitalen die Arbeitswelt? Finanzmärkte und treiben die Digi- Arbeitswelt und sind sogar mit Lohn- Sei es das Automatenhotel, das talisierung voran, seit gut 40 Jahren arbeit und der Versorgung ihrer Online-Banking oder die Scankasse, bemühen sie sich, menschliche Ar- Familie unter einem Dach zurecht- die vollautomatische Reinigungsma- beitskraft durch digitale Leistung zu gekommen. In zahlreichen Medien schine oder die Überwachungska- ersetzen. Sollen Frauen also durch wurde so positiv berichtet, weniger mera, die Nutzung von Datenbanken Digitalisierung wieder ganz aus dem häufig wurde der Zusammenbruch zur Informationsbeschaffung oder Arbeitsmarkt verdrängt werden? von Internetverbindungen erwähnt, das elektronische Amt, der Audio- wenn Frauen und Männer aus Angst guide im Museum oder der Chatbot, Wie stark werden Frauen um den Arbeitsplatz und ihre Kinder der unseren Anruf in einem Callcen- eingebunden in die Gestaltung für den Schulerfolg so intensiv wie ter entgegennimmt – sie alle erset- der digitalen Arbeitswelt? möglich alle Verbindungskapazitäten zen kommunikative Arbeitsplätze. Die Entscheidung von Unterneh- gleichzeitig ausschöpften. Wie bald schon werden Pflegeroboter, mensleitungen für Digitalisierung sogenannte Care-O-bots, die mit- kann doch nicht nur Gewinn- und Arbeitnehmerinnen werden menschliche Arbeit in der Pflege und FOTO | links Carl Heyerdahl | rechts Kelly Sikkema Rationalisierungsrichtlinien folgen! von der Corona Pandemie Betreuung ersetzen? Über die Einbindung von Arbeitneh- besonders hart getroffen. Plattformarbeit als digitales Modell merInnen in die Entscheidung für ei- Frauendominierte Branchen wie der Arbeitsorganisation und Leis- nen digitalen Wandel in Betrieben ist Tourismus, Gastronomie und persön- tungserbringung sickert langsam wenig bekannt. Die Beschleunigung liche Dienstleistungen haben in den aber stetig in den Arbeitsmarkt ein. von Arbeitsprozessen durch Digitali- COVID-19-Lockdowns einen hohen Das reicht von der Befüllung von Da- sierung nimmt zu, die Forderung der Anstieg der Arbeitslosigkeit verzeich- tenbanken über kreative Arbeit und Wirtschaft nach mehr Flexibilität der net, +34% seit März 2020 bei Frauen. Übersetzungen bis hin zu administ- ArbeitnehmerInnen bleibt. Durch beschleunigte Digitalisie- rativen und logistischen Dienstleis- Haben aber nicht gerade im Lock- rung in und nach der Pandemie wer- tungen. Beim Crowdworking clicken 10 die Alternative • 2021
T H E M A Digitalisierung kann die Gesundheit gefährden. zwar Personen, aber wer nicht gut genug ‚clickt‘ wird durch ein algorith- misches Rating-System ausgeschlos- sen – weltweit. Steuerrechtliche und sozialversicherungstechnische Fragen sind bei der grenzüberschreitenden Plattformarbeit noch ungelöst, durch vorgetäuschten Wettbewerb gibt es anstelle von Löhnen oft nur Preise zu gewinnen. Wie wirkt sich Digitalisierung auf den Einsatz menschlicher Arbeitskraft aus? Die Zerlegung von Arbeitsprozes- sen in Einzelmodule reduziert nicht unbedingt den Arbeitsanfall, beein- flusst jedoch Leistungsdruck und Bewertung der erbrachten Leistun- gen. Eine unüberschaubare Informa- tionsflut ist zu bewältigen, ständige Lern- und Einsatzbereitschaft wird gefordert. Elektronische Kontrollins- trumente sind zwar bekannt, werden jedoch nicht offen diskutiert. Mengen- und Zeitvorgaben zur Erfüllung von Aufgaben sorgen bereits innerbetrieb- lich für Vereinzelung, durch Home- office wird der persönliche Austausch in auswertbare Videokonferenzen talisierung die körperliche und psychi- men auch noch das Erbringen von verschoben. Mit elektronischem Feed- sche Gesundheit gefährden kann. Vor unbezahlter Arbeit eingefordert wird. back steigt die Verunsicherung und entgrenzter digitaler Arbeit wird zwar Die Digitalisierung unserer Arbeits- insgesamt entsteht der Eindruck, welt ist kaum aufzuhalten, daher wird dass durch Digitalisierung jedes es umso wichtiger, dass Frauen bei ih- menschliche Maß in der Arbeitswelt Wer nicht genug ‚clickt‘ rer Entwicklung auf allen Ebenen mit- verloren gehen kann. wird ausgeschlossen. reden und sich mit ihren großartigen und vielfältigen Fähigkeiten einmi- Werden die gesundheitlichen schen und einbringen. Auswirkungen von digitaler generell gewarnt, dennoch wurde der Arbeit gezielt untersucht? Zwölfstundentag gesetzlich ermög- In den letzten Jahren wird über licht. Teilzeitarbeit nimmt stetig zu, eine Zunahme der Arbeitsbelastung Arbeitszeitverkürzung fordern bis- an sich berichtet und davon, dass psy- lang nur GewerkschafterInnen. Unre- chische Erkrankungen in der Arbeits- gulierte Digitalisierung trifft Frauen welt vermehrt auftreten. Ohne dass jedoch umso härter, weil von ihnen eine direkte Beziehung hergestellt bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung wird, ist davon auszugehen, dass Digi- von traditionellen Gesellschaftsfor- die Alternative • 2021 11
S C H W E R P U N K T Digitalisierung ist ein sozialer Prozess Wir befinden uns im Übergang zu einer digitalen Gesellschaft. Über Chancen und Risiken für die Arbeitnehmer:innen haben wir mit Astrid Schöggl, Referentin für Digitales bei der Arbeiterkammer Wien, gesprochen. Das Interview führte Karin Stanger. Die Digitalisierung bringt einen massiven Strukturwandel mit sich. Inwiefern trifft die Digitalisierung Welche Branchen und Tätigkeiten Frauen? Sind Frauen überproportio- treffen die Veränderungen am Am potenziell stärksten betrof- nal von Jobverlust bedroht? stärksten? fene Berufsgruppen sind Hilfsarbeits- Frauen werden oft als Verliererin- Auf dem Arbeitsmarkt gibt es da kräfte, Handwerker:innen, Maschi- nen der Digitalisierung bezeichnet, gerade ein Auseinanderdriften. Zwei nenbediener:innen und Personen in weil arbeitsunterstützende Technolo- Arten von Tätigkeiten sind schwer Dienstleistungsberufen. gien vor allem in männerdominierten ILLUSTRATION Stefanie Hintersteiner zu automatisieren: hochqualifizierte Im Großen und Ganzen gibt es oft Feldern eingesetzt werden, arbeitser- Aufgaben, die abstraktes Denken er- die Angst, dass die Digitalisierung setzende aber in frauendominierten fordern und Routine-Tätigkeiten, die viele Jobs verschwinden lässt. Das Tätigkeiten. In der Industrie 4.0 kann manuell hoch flexibel sein müssen muss aber nicht so sein, wie man aus man das gut beobachten: Da rentiert oder soziale Interaktion erfordern. der Geschichte lernen kann. Es ist sich eine neue arbeitsunterstützende Zwischen diesen beiden Polen steigt eine Frage der politischen Gestaltung, Technologie nur, wenn man sich da- die Automatisierung von Tätigkeiten dringend wäre jetzt zum Beispiel eine von einen Vorteil am Weltmarkt laufend an. Arbeitszeitverkürzung. erwarten kann. Dort, wo das gleiche 12 die Alternative • 2021
I N T E R V I E W Produkt mit menschlicher Arbeit Wo gibt es Missstände und Verbes- günstiger hergestellt werden kann, ist serungspotenzial? das nicht der Fall. Wenig überraschend Das ist tatsächlich eine besorgni- sind gerade in den schlechter bezahl- weiblichen Pflegekräften als ‚arbeits- serregende Entwicklung. Oft wird ten Industriezweigen besonders viele unterstützend‘ vorgesetzt wird. Oft so getan, als wäre das innovativ, weil Frauen beschäftigt (Lebensmittel- gehen diese Lösungen, zum Beispiel Plattformarbeit etwas Digitales ist. und Tabakverarbeitung, Textil- und für Dokumentation, aber komplett an Dabei ist die ‚Innovation‘ einfach eine Bekleidungsindustrie). Dementspre- der Arbeitsrealität vorbei. Das ist Digi- Verschlechterung von Arbeitsbedin- chend weniger Ansporn gibt es dort, talisierung ‚von oben herab‘. Wir brau- gungen durch Schein-Selbstständig- die Innovation voranzutreiben. chen mehr Mitbestimmung. keit, von denen Unternehmen wie Im Gegenzug kommt es in den Fel- Mjam, Uber und Amazon massiv pro- dern, wo viel Technologie eingeführt Ungerechtigkeiten fitieren. Das müssen wir bekämpfen, wird, oft zu einer Verdrängung von für Plattformarbeiter:innen müssen Frauen, zum Beispiel weil sie nach wie werden durch manche die gleichen Standards gelten, wie für vor bei Neuanstellungen, Schulungen Technologien sogar vergleichbare Jobs, die nicht digital und Beförderungen benachteiligt sind. vermittelt werden. Gleichzeitig geht die technologische verstärkt. Es wäre wichtig, dass sich Platt- Neuerung meist mit einer Aufwer- formarbeiter:innen organisieren, um tung der Felder einher, also mit besse- für bessere Arbeitsbedingungen zu rer Bezahlung und Status. kämpfen. Aber das gestaltet sich im Welche Rolle spielt die ‚digitalen Raum‘ aus vielen Gründen Werden Ungleichheiten durch die Arbeitnehmer:innenvertretung, schwierig. Die Plattformen sind mäch- Digitalisierung aufgebrochen insbesondere die Betriebsräte, tig: Zum Beispiel haben sie großen oder einzementiert? beim Thema Digitalisierung? Einfluss auf die Politik oder versuchen Solche Ungerechtigkeiten werden Technologien werden ja in der Regel aktiv jede Organisierung im Keim zu durch manche Technologien sogar im Interesse derer eingesetzt, die sie ersticken. verstärkt. Algorithmen, zum Beispiel entwickelt haben. Im schlimmsten in Rekrutierungs-Software, neigen Fall kann Digitalisierung im Betrieb Die AUGE/UG tritt vehement stark zu Vorurteilen und Diskriminie- mit Überwachung, Kontrolle, Ver- für die 30-Stunden-Woche ein. rung. Das liegt daran, dass Software letzung von Persönlichkeitsrechten, Digitalisierung und Arbeitszeitver- eine Empfehlung oft auf Basis von be- Aushöhlung von Arbeitsschutzbestim- kürzung – ein Paar, das zusammen- stehenden Informationen ausspricht. mungen, usw. einhergehen. Betriebs- gehört? So ein Algorithmus sagt zum Beispiel rät:innen können das verhindern. Unbedingt. Wenn man sich die „Ah, Frauen wurden für diese Posi- Ganz allgemein ist Digitalisierung Beschäftigungsentwicklung des 20. tion in der Vergangenheit selten aus- eine Entwicklung, deren Konsequen- Jahrhunderts ansieht, gab es trotz bei- gewählt, dementsprechend gering ist zen nicht in Stein gemeißelt sind. Es spiellosem technischen Fortschritt die Wahrscheinlichkeit, dass für diese ist ein sozialer Prozess, der wie alle langfristig keine steigende Tendenz Position jetzt eine Frau ausgewählt anderen Entwicklungen zwischen der Arbeitslosigkeit. Ein Grund dafür wird.“ – das ist klassisches Fortschrei- den gesellschaftlichen Interessen kann auch die Arbeitszeitverkürzung ben von Vorurteilen. ausgehandelt wird. Betriebsräte und sein. Die Arbeitszeit halbierte sich Das liegt auch daran, dass Software Gewerkschaften haben hier die zent- zwischen 1870 und 2000. Tatsächlich hauptsächlich von weißen Männern rale Aufgabe, dafür zu kämpfen, dass kommen die Vorteile der Digitalisie- entwickelt wird. Dem können wir Digitalisierung unter der Kontrolle rung, also die erhöhte Effizienz, den entgegenwirken, wenn wir Betroffene, von und im Interesse der Arbeitneh- Arbeitnehmer:innen derzeit nicht zu zum Beispiel Frauen, in die Entwick- mer:innen gestaltet wird. Gute. Anstatt dieselbe Arbeit in weni- lung einbinden. ger Zeit zu erledigen, muss in der glei- Besonders plakativ ist das im Pfle- Die Arbeitsbedingungen bei chen Zeit mehr geschafft werden. Es gebereich. Da entwickeln Männer an Plattformarbeit (z.B. Mjam, Uber, braucht eine gerechte Verteilung der technischen Universitäten Software, Online-Putzvermittlung) stehen Arbeit, also mehr Jobs mit weniger die dann schlecht bezahlten, zumeist regelmäßig in der Kritik. Arbeitszeit. die Alternative • 2021 13
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T H E M A Auf diesen Seiten finden sich Standpunkte und Meinungen zum Schwer- Sozialpartnereinigung punkt der jeweiligen Ausgabe – diesmal zum bei Homeoffice Thema ‚Digitale Meetings Am 27. Jänner gab die Bundesregierung die Einigung mit und Homeoffice‘. den Sozialpartnern über das sog. Homeoffice Maßnahmenpaket bekannt. Es wurde auch Zeit! TEXT Fritz Schiller B islang ist es nur eine Regie- Arbeitgeber*innen können ohne rungsvorlage, entsprechende die Einbeziehung der Betriebsräte gesetzliche Regelungen müs- Einzelvereinbarungen mit Arbeit- sen erst ausgearbeitet werden. Die nehmer*innen abschließen, was Sozialpartner einigten sich auf mitunter für Letztere sehr nachtei- sechs wesentliche Punkte: lig wirken kann. 1.) Freiwilligkeit des Homeoffice Arbeitsmittel und Arbeitszeit mit einer schriftlichen Einzelverein- Digitale Arbeitsmittel inkl. barung, Datenvermittlung müssen nun von den Arbeitgeber*innen zur Verfü- 2.) Möglichkeit einer freiwilligen gung gestellt werden. Andernfalls Betriebsvereinbarung nach § 97 ArbVG, ist den Arbeitnehmer*innen hierfür 3.) Arbeitsrechtliche Regelungen (AZG, eine angemessene (Pauschal)Ab- ARG und DienstnehmerhaftpflichtG), geltung zu bezahlen. Diese kann pro 4.) Arbeitnehmer*innenschutz, Jahr maximal 300 Euro steuerfrei 5.) Unfallversicherung und betragen. Für ergonomisch geeignetes 6.) Entschädigungen für Mobiliar können darüber hinaus im Arbeitsmittel. Rahmen der Arbeitnehmer*innen Veranlagung bis zu 300 Euro p.a. Der Vorteil der Freiwilligkeit für das geltend gemacht werden. Inwieweit Homeoffice ist, dass die Arbeitge- diese Vergütungen aber die realen ber*innen sie nicht anordnen können. Aufwendungen ersetzen ist fraglich. Der Nachteil ist, dass es kein Recht auf Homeoffice gibt. Daher bedarf Positiv ist, dass die Bestimmungen Homeoffice immer einer Einigung des Arbeitszeit-, des Arbeitsruhe- zwischen Arbeitgeber*in und Arbeit- und des Dienstnehmerhaftpflichtge- nehmer*in. setzes im Homeoffice ihre Gültigkeit behalten. Es gelten in diesem Auswirkungen und Bereich also die gleichen Regelungen Rahmenbedingungen wie im Betrieb. Außerdem soll die Es ist zu erwarten, dass die Anzahl aktuelle, coronabedingte Form der der möglichen Arbeitsplätze reduziert Unfallversicherung ins Dauerrecht werden, um Mietkosten zu sparen. übernommen werden. Sogenannte ‚shared desk Arbeits- Insgesamt ist das Ergebnis der plätze‘ werden steigen. Das bedeutet Sozialpartnerschaft ein Schritt in eine massive Veränderung der Büroor- die richtige Richtung, die Rechte ganisation, die für viele Kolleg*innen der Arbeitnehmer*innen hätten ILLUSTRATIONEN Stefanie Hintersteiner mehr Flexibilität, aber auch höhere aber deutlich umfangreicher Kosten mit sich bringen kann. ausfallen können. Sehr bedauerlich ist, dass eine erzwingbare Betriebsvereinbarung nach § 96 ArbVG nicht durchgesetzt werden konnte. Das schwächt die Position der Betriebsräte. 16 die Alternative • 2021
D E B A T T E N S E I T E Digitale Meetings Vor - und Nachteile TEXT Sandra Gaupmann A ls NichtComputerNerdin hat mich die Umstellung von face-to-face-Meetings auf digitale Meetings naturgemäß kurzfristig in Panik versetzt. Ich habe zwar ein privates Netbook, war aber bisher nicht mal in der Lage zu skypen. Gut, jetzt in diesen Zeiten ist nun mal Flexibilität gefragt, um weiterhin am beruflichen Leben aktiv teilzuhaben. Noch dazu, da ich auch an der Strafvollzugsakademie unterrichte und auch hier nun Distancelearning angesagt war. Eine Herausforderung! Nach einigen technischen und persönlichen Adaptierungen, Versuch- und Irrtumsagitationen bin ich nun überraschenderweise zur Erkennt- nis gekommen, dass digitale Meetings in Pandemiezeiten gut geeignet sind, um weiter- hin zumindest Menschen zu sehen und mit ihnen im Kontakt zu sein. Bei reiner Mailkommunikation und Telefonaten fehlt mir einfach das Gesicht, die Mimik und ein Lächeln. Natürlich gibt es nicht nur Vorteile, digitale Meetings machen um einiges schneller müde, sind generell anstrengender und die Augen ma- chen Probleme. Bzgl. des Datenschutzes gehe ich davon aus, dass auf Einhaltung gerade im Justizressort besonders geachtet wird. Dennoch, ich freue mich sehr, Freunde, Bekannte und natürlich Kolleg*innen baldigst persönlich wieder zu treffen! die Alternative • 2021 17
T H E M A Eine Art „Entfremdung“ TEXT R.W. Vieles ist schon geschrieben worden, so, dass ich zwar von der Arbeitsbe- und vieles wird noch geschrieben lastung stärker gefordert bin als im werden. Dennoch ist es mir ein normalen Büroalltag, aber ich den- Bedürfnis, auch einen kleinen noch nicht wirklich in der Arbeit bin. Beitrag zu Wahrnehmungen in der Ich bin aber auch nicht in der Frei- Pandemie zu leisten. zeit. Ich habe das Gefühl, zwischen A der privaten und beruflichen Welt zu uslöser für diese Zeilen war schweben. Mein Zugang zu meinen eines der mittlerweile sel- Kund_innen bekommt mit zuneh- tenen Gespräche mit einer mender Dauer eine fiktive Kom- meiner Arbeitskolleginnen. Selten ponente. Der direkte, persönliche deshalb, weil ich mich seit geraumer Austausch vor Ort wird ersetzt durch Zeit zu nahezu 100% in Homeoffice die Eindimensionalität des Telefons befinde. Jetzt könnte man annehmen, oder im besten Fall durch die zwei dass ich für Homeoffice die optimalen Dimensionen einer Videokonferenz. Bedingungen habe. Mein Job ist der- Die wesentlichen Elemente der art gestaltet, dass ein Arbeiten außer- direkten Sinneseindrücke bei einem halb der mir zugedachten Büroräume Kund_innenbesuch fehlen. Das hat ganz gut möglich ist. In meinen eige- auch Auswirkungen auf die Gedächt- nen vier Wänden habe ich einen ei- nisleistung. Ich merke mir einfach genen Raum mit Schreibtisch, einem Gesprächsinhalte und Fragestellun- Bürosessel und einen etwas älteren gen besser, wenn ich eine konkrete Fernseher, den ich als Bildschirm nüt- Person in ihrem konkreten Umfeld zen kann. Ein eigenes kleines Büro erleben kann und darf. also, in dem ich ohne Störung anderer All das ist jetzt auf ein absolutes Mini- in Ruhe einen Call nach dem ande- mum reduziert, und verstärkt meine ren mache. Ja, so gesehen bin ich auf unmittelbare Arbeitsbelastung. der Butterseite derjenigen Menschen, Und das Privatleben kommt auch ein die dazu „ermuntert“ werden von zu wenig durcheinander. Früher war es Hause aus zu arbeiten. Und dennoch klar, wann und wo die Arbeit fühle ich mich auf eine ganz spezielle beginnt. Jetzt ist es eine ziemlich ver- Art von meiner Arbeit und auch Frei- mischte Angelegenheit. Dabei fällt zeit entfremdet. mir auf, wie wichtig mir der Weg in Laut Wikipedia bezeichnet Entfrem- die Arbeit war und ist. Und der dung „einen individuellen oder ge- Wegfall desselben meine Tagestruk- sellschaftlichen Zustand, in dem eine tur ziemlich durcheinander bringt. ursprünglich natürliche Beziehung Konnte ich doch meine Wegzeit am aufgehoben, verkehrt, gestört oder Morgen zur Vorbereitung und Ein- zerstört wird.“ Wobei sich diese Ent- stimmung auf den Tag nutzen, und fremdung auf verschiedenen Ebenen am Abend den Rückweg dazu, um wie der Beziehung zu sich selbst, sei- den Arbeitstag (auch mental) zu ei- ner Umwelt und somit auch zur nem guten Abschluss zu bringen. Jetzt Arbeit auswirken kann. greift beides ineinander, praktisch ohne Übergang. Das Gespür verlieren Ja, wie schon so viele vor mir festge- In meinem Fall ist mir im vorhin er- stellt haben: Eine schwierige Zeit, die wähnten Gespräch aufgefallen, dass viele Veränderungen mit sich bringt. ich mein Gespür für die Arbeit ver- Aber auch die Chance, daran zu wach- liere. Irgendwie ist es im Homeoffice sen. 18 die Alternative • 2021
I N T E R N AT I O N A L Lieferketten Kampagne Menschenrechte brauchen Gesetze TEXT Christine Petioky W eltweit engagieren sich hunderte NGOs gegen KOMMENTAR Klaudia Paiha systematische Gewinn-Maximierung durch menschenrechtswidrige und umweltschädi- Unser Wirtschaften geht allzu oft auf Kosten gende Arbeitsbedingungen und fordern wirksame Gesetze der Gesundheit und Lebensgrundlagen und Sanktionen. Die UNO konnte bisher nur Leitprinzipien der Menschen in anderen Ländern. Unsere vorgeben, die viele Mitglieder, auch Österreich, nicht in Rosen blühen auf den wenigen fruchtbaren nationales Recht umgesetzt haben. Böden in Ländern, wo Menschen verhun- gern, die Freude in den Gesichtern unserer Seit 2015 wird über ein rechtlich verbindliches Kinder angesichts des Schoko-Nikolos UN-Abkommen verhandelt, das Menschenrechtsverlet- verseucht anderswo Kinder mit Pestiziden, zungen und Umweltschäden entlang globaler Lieferketten unsere modischen Kleider machen anders- verhindern soll. Die Verantwortung der Unternehmen – wo die NäherInnen krank … - das muss ein auch für Aktivitäten ihrer Subunternehmen und Zulieferer Ende haben! Wir brauchen verbindliche – soll sichergestellt werden. EU und europäische Regierun- Gesetze, die Unternehmen zur Einhaltung gen sind hier besonders gefordert, denn derzeit überprüft sozialer und ökologischer Standards nur jedes dritte EU-Unternehmen seine globalen Lieferketten verpflichten – nicht nur hier, sondern auch auf Menschenrechte und Umweltauswirkungen. entlang ihrer internationalen Lieferketten. EU-Parlament und EU-Kommission haben nun Gesetzes-Initiativen vorgelegt, die Unternehmen für ihre gesamte Wertschöpfungskette haftbar machen und Geschädigten aus Drittländern Zugang zu EU-Rechtsmitteln verschaffen sollen. KOMMENTAR Vera Koller Dieser Entwurf für ein europäisches Lieferkettengesetz ist in Begutachtung. Mit der Kampagne Enforcing Human Dass Konzerne Profite auf dem Rücken der Rights Due Diligence bauen 134 nationale und internatio- Beschäftigten scheffeln und dabei jegliche nale NGOs, darunter Arbeiterkammer und Gewerkschaften, Verantwortung für die Arbeitsbedingungen Druck für eine rasche Umsetzung auf: oegb.at verweigern, ist nicht länger hinzunehmen. Die Pandemie hat deutlich gezeigt, dies ist nicht nur ethisch untragbar, sondern auch gesundheitspolitisch höchst problematisch. Es ist schnellstmögliches Handeln auf österreichischer und europäischer Ebene gefordert, um diesem ausbeuterischen Handeln klare Grenzen zu setzen. Lassen wir die EU-Kommission wissen, was im EU-Lieferkettengesetz drinnen stehen muss! die Alternative • 2021 19
I N T E R N AT I O N A L wieder ein, wandeln in Angstträumen im Schlaf, haben Panikattacken un- Auszug aus einem Tagebuch tertags. Eltern haben keine Kraft und Hoffnung mehr und können deshalb aus Lesbos/Kara Tepe ihren Kindern nur schwer helfen. Bevor wir therapeutisch beraten Im Jänner 2021 waren vier Frauen aus Österreich ist es notwendig, Leid anzuerken- in Kara Tepe, eine von ihnen schildert ihre Eindrücke. nen und zu betonen, dass wir hier sind, um Zeuginnen zu sein, Zeugin- nen auch in unseren Heimatländern, TEXT Michaela C. Fried in denen die Politik sich nicht nur ge- gen eine Evakuierung des Lagers aus- spricht, sondern sich gegenseitig den Ball der Verantwortung zuspielt. Etwa in der Frage, warum teure Hilfsgüter wie Winterzelte seit Wochen in Athen zwischenlagern und nicht hier ankom- 8. – 13 Jänner 2021 vielleicht einmal die Erlaubnis zu ko- men, wo sie überlebenswichtig sind. Wir arbeiten in einem Teilprojekt chen. Hoffnung auf vertraute Speisen von Medical Volunteers International und Gerüche aus der heimatlichen Kü- (MVI) in einem internationalen Team che. Das ist seit dem Brand von Moria 15.1.2021 aus vielen Berufsgruppen. Ein aus Af- verboten. Eine kollektive Bestrafung Heute war ein schlimmer Tag hier, ghanistan geflohener Arzt, der mit sei- nach der immensen Traumatisierung. weil heute die Kinder nicht zu uns ner Familie im Lager lebt, übersetzt Männer reparieren in der Werkstatt kommen konnten, angeblich wegen für uns. Er wurde erst in Afghanistan, Fahrräder. Kinder spielen am Spiel- Corona. Es war traurig leer am Ge- dann auf der Flucht und auch in Les- platz und nehmen an Kindergruppen lände. Auch langgebuchte Termine in bos geschlagen und gequält, Becken, teil, in denen sie über ihre Nöte spre- Spitalsambulanzen wurden nicht zu- Ellenbogen und Kniegelenke sind zer- chen. Im Lager sind Kinder vor nichts gelassen. Wir nutzten die Zeit für Su- trümmert. geschützt, werden sogar Augenzeugen pervision mit dem Team von mental MVI kann ihm für seine Arbeit mo- von Gewalt. Die Zeltwände können health. Sie schätzen die fachärztliche natlich 400 Euro zahlen. Das Wich- Sorgengespräche der Eltern ebenso Expertise der Kinderpsychiatrie. Wir tigste ist für den Arzt aber beschäftigt wenig abhalten, wie das nächtliche sind beeindruckt mit wieviel profes- und nützlich zu sein. Der Ohnmacht Angstweinen und Wimmern anderer sioneller Kreativität und liebevoller durch erlebte und jeden Tag fortwäh- Kinder. Immer wieder müssen Kinder Achtsamkeit das Team arbeitet. Da- rende Traumatisierung zu entkom- ihre Eltern trösten oder beschützen! für sorgt, dass Kinder in den wenigen men. Wieder handlungsfähig werden, Stunden, die sie das Lager verlassen ins ‚tun zu kommen‘ rettet sein Leben, Draußen schneit es, uns dürfen, über ihre Nöte und Ängste erzählt er mir. sprechen oder sich spielend ausdrü- Unser Einsatzort befindet sich am ist kalt, trotz der vielen cken lernen. Papierpüppchen mit Hügel etwa 600m oberhalb des Camps Socken und Schichten verschiedenen Gesichtsausdrücken Kara Tepe, im Gelände von ‚One happy brechen den Damm aufgestauter Ge- family‘. Das Gelände wurde liebevoll Gewand, der heißen fühle: Der Brand von Moria mitten in und mit kultureller Achtsamkeit er- Suppe. der Nacht, körperliche und sexuelle richtet. Gewalt an Kindern, Todesängste, die Den meisten NGOs ist der Zutritt 14.1.2021 ständigen Sorgengespräche der Er- zum Lager verwehrt. Die Menschen Dr.in Wurm und ich arbeiten haupt- wachsenen, das schreiende Kind im im Lager dürfen das Camp 1x pro Wo- sächlich mit Eltern, während deren Nachbarzelt. Vier Stunden pro Woche che für 4 Stunden verlassen. In diese Kinder in einer Kindergruppe Thera- auch einmal Spaß haben und alles ver- Zeit fallen Einkäufe in der Stadt, aber pie, Psychoedukation, soziale Skills gessen. Plötzlich hört man Kinderla- auch die Therapiezeiten für Kinder und Selbstwertstärkung erfahren. chen und sieht Mütter, die stolz ihre und Eltern in unserem Programm. Eltern machen sich Sorgen um Kin- Häkelarbeit präsentieren oder mit an- Hier können Familien kurz auftan- der, die sich immer mehr zurückzie- deren Müttern in der Nähstube tanzen. ken: Für Mütter und Frauen gibt es hen, nicht mehr aus dem Zelt gehen Wir gehen jetzt immer zu Fuß von un- Nähkurse. Bei heißen Tee und bun- wollen, nicht mehr leben wollen oder serer Arbeit zum Apartment, ca. eine ter Wolle wird Hoffnung geschöpft. aufgrund der Enge im Zelt aggressives Stunde, das hilft, die schlimmen Ge- Auf ein bisschen Normalität im Lager, Verhalten zeigen. Viele nässen nachts schichten aus dem Kopf zu bekommen. 20 die Alternative • 2021
T H E M A 18.1.2021 Heute ist Sonntag: wir machen einen Brunch für unsere Freunde aus Österreich. Zuvor wird selbstver- ständlich getestet, ob unsere Rachen auch clean sind. Helga Longin und Sa- bine Sommerhuber von ‚Unser Bruck hilft‘ berichten aus dem Camp, wo sie am Samstag Essen und Kleidung ver- teilt hatten. Dann besucht uns Doro Blancke, die Ute-Bock -Preisträgerin. Unglaublich, was sie hier leistet. 19.1.2021 Draußen schneit es, uns ist kalt, trotz der vielen Socken und Schich- ten Gewand, der heißen Suppe. Um 4 Uhr morgens sehe ich aus dem Fenster auf die verschneiten Autos und denke an das 12 Monate alte Kind, mit hohen Fieber, wegen dem Helga Longin mich spät abends kontaktiert hat: Paraceta- mol, für den Moment und gegen das Frieren. Europa schaut weg. Etwas zu tun, hier zu sein - unterstützt von vielen zuhause, zu bezeugen, was uns berich- tet wird, ist wichtig. Dennoch ist un- ser Tun nur eine Schmerztablette. Die eigentliche Behandlung müsste Eva- kuation heißen. Helga Longin und Sabine Sommerhuber von ‚Unser Bruck hilft‘ waren bei der NGO ‚Home for all‘ in Lesbos, um sie mit Waren aller Art zu unterstützen. Dr in Michaela C. Fried und Dr in Ulla Wurm (Fachärztinnen für Kinderpsychiatrie, beide vom PSD Eisenstadt) waren in der Zeit für ‚Medical Volunteers International‘, die unter anderem das mental health kids program betreiben, tätig. Michaela teilte ihr Tagebuch und Fotos auf www.facebook.com/Bridges4HP/, eine Organisation die Brücken baut zu Menschen in Not und die Michaela entsandt hat. die Alternative • 2021 21
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