Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
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„Auf Chinesisch kann man das Zuhause gar nicht von der Familie trennen. Beides steckt in einem Wort – 家 JIA. Ein Ort und ein Zustand zugleich – konkret und doch kaum greifbar.“ ● Weina Zhao
Didaktische Hinweise zur Verwendung Altersstufe des Begleitmaterials Ab 13 Jahren Das vorliegende Begleitmaterial enthält sieben Unterrichtseinhei- Fächer ten mit Aufgaben zur vertiefenden Auseinandersetzung mit den Geschichte und Sozialkunde, Motiven des Films. Geographie und Wirtschaftskunde, Deutsch, Politische Bildung, Die Unterrichtseinheiten bauen aufeinander auf, können aber Psychologie, Philosophie, Englisch, auch einzeln oder fächerübergreifend verwendet werden. Die Ethik, Bildnerische Erziehung, ersten zwei Einheiten eignen sich zur Vorbereitung auf den Film, Medienkunde bieten Hintergrundinformationen und setzen sich mit den Haupt- figuren auseinander. Damit kann das Interesse der Schüler:innen Themen im Vorfeld geweckt und eine höhere Aufmerksamkeit für den China, Familie, Migration, Heimat, Film im Unterricht erzielt werden. Die Arbeitsaufgaben sollen Vergangenheitsaufarbeitung, zur Diskussion und Selbstreflexion anregen und darüber hinaus Kulturrevolution, Sino-Japanischer selbstständige Arbeit und kritisches Denken fördern. Krieg, Biographie, Ethik, Filmgeschichte, Dokumentarfilm, Im Text wird auf weiterführende Literatur und Filme verwiesen, Film als politisches Mittel die sich zu einer schwerpunktmäßigen Beschäftigung mit der chinesischen Zeitgeschichte eignen. Zeichenerklärung Lernziele Arbeitsaufgaben
Inhalt 5 Einleitung 6 Unterrichtseinheit 1: Die Filmemacherinnen und ihre Ziele 10 Unterrichtseinheit 2: Der Film und seine Hauptfiguren 18 Unterrichtseinheit 3: Was ist ein Dokumentarfilm? 24 Unterrichtseinheit 4: Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China 30 Unterrichtseinheit 5: Wie wird in China mit der Erinnerung an die Kulturrevolution umgegangen? 34 Unterrichtseinheit 6: Wie geht die KPCh mit ihrer Rolle in der Kulturrevolution um? 38 Unterrichtseinheit 7: Ist „Weiyena – Ein Heimatfilm“ eigentlich ein Heimatfilm? 42 Chronologie der Familiengeschichte 45 Danksagung 46 Quellen und weiterführende Literatur 47 Über das Bildungsnetzwerk China 48 Impressum 3
Einleitung Der Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ wurde von zwei genheit, insbesondere mit bestimmten Elementen der Filmemacherinnen konzipiert und über mehrere Jahre Geschichte seit der Gründung der Volksrepublik China hinweg in China aufgenommen. Eine der beiden Auto- im Jahre 1949. Viele Ereignisse dieser Zeit werden aus rinnen heißt Weina Zhao, sie wurde in China geboren heutiger Sicht als negativ oder problematisch be- und ist in Wien aufgewachsen. Weiyena 维也纳 ist die urteilt, haben Menschenleben gekostet und stehen der chinesische Bezeichnung für Wien, daran erinnert Kommunistischen Partei nicht gut zu Gesicht. Doch Weina Zhaos Vorname. nicht nur der Staat, auch viele Menschen selbst bli- cken lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit, um Weina Zhao ist zweisprachig aufgewachsen und spricht negative und mit Schmerzen verbundene Erfahrungen Deutsch und Chinesisch. Zur Schule gegangen ist sie zu verdrängen und vergessen. Diejenigen, die andere in Österreich und hat später in Wien studiert, doch mit verletzt haben, schämen sich manchmal ihrer Taten ihren Verwandten unterhält sie sich auf Chinesisch. Ihre oder empfinden sie immer noch als gerechtfertigt. Sommerferien verbrachte sie als Kind und Jugendliche Auch diese Menschen sind wenig daran interessiert, regelmäßig in China, vor allem seitdem ihr Vater nach die Vergangenheit aufzuarbeiten. Viele Täter betrach- einiger Zeit in Wien wieder dorthin zurückgekehrt ist, ten sich als Opfer, und Menschen, die in einer Phase um ein Unternehmen zu gründen. Weina Zhao ist also der Geschichte Opfer waren, wurden in einer anderen zwischen zwei Ländern und Kulturen aufgewachsen Phase selbst zu Tätern. Kaum jemand kann das Privileg und hat diesen Film unter anderem gedreht, um mehr in Anspruch nehmen, an all den Geschehnissen gänz- über die Geschichte ihrer eigenen Familie zu erfahren. lich unbeteiligt gewesen zu sein. Weina Zhao hat es mit der Kamera, ihrer Co-Regisseu- So ist ein Film entstanden, in dem verschiedene Mitglie- rin Judith Benedikt und ihrem Team geschafft, eine der ihrer Familie – die Mutter, der Vater, die Großeltern mütterlicherseits und die Großeltern väterlicherseits Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Die Mit- – ihren Blick auf die Geschichte des Landes darlegen, glieder ihrer Familie überwinden sich, sie erzählen aus in dem sie leben, eine Geschichte, die jeweils eng mit ihrem Leben und davon, wie sie mit der Vergangenheit ihrem persönlichen Schicksal verbunden ist. Weina leben. Der Film legt Zeugnis davon ab, wie schwierig Zhao versucht, durch diesen Prozess des Erzählens zu und schmerzhaft eine solche Auseinandersetzung ist, einer eigenen Sichtweise zu finden, um sich trotz der wie wenig wir aber darauf verzichten können, wenn geographischen Distanz und der unterschiedlichen es darum geht, unseren Platz in der Gesellschaft und Lebenswelten innerhalb der Familie zu positionieren. in der Welt zu finden. „Weiyena“ ist ein Film über die Geschichte als Heimat des modernen Menschen. Wir Es ist gar nicht so leicht, als Mitglied einer jüngeren können in verschiedenen Ländern leben und arbeiten, Generation von den Eltern oder Großeltern etwas über uns immer wieder an neue Situationen anpassen, deren Vergangenheit zu erfahren. In der Volksrepublik unsere eigene Geschichte aber wandert immer mit uns, China ist das besonders schwierig. Der Staat vermei- sie gehört zu uns. Sie wegzulegen hieße, einen Teil von det eine allzu intensive Beschäftigung mit der Vergan- uns selbst zu missachten. 5
Unterrichtseinheit 1: Die Filmemacherinnen und ihre Ziele Lernziele Bevor sich die Schüler:innen den Film anschauen, lernen sie die beiden Regisseurin- nen kennen und setzen sich mit dem Hintergrund und den Zielsetzungen des Filmes auseinander. Sie reflektieren, inwieweit die Anliegen der Regisseurinnen auch ihre eigenen Anliegen sein könnten. Dadurch wird die Fremdheit des Themas – die Ge- schichte einer chinesischen Familie – näher an die Erfahrungswelt der Schüler:innen herangerückt. Sie erkennen, dass es in ihrer eigenen Familiengeschichte möglicher- weise Parallelen gibt. Die beiden Regisseurinnen nennen persönliche und politische Gründe dafür, warum die Arbeit an dem Film für sie wichtig war. Weina Zhao spricht von Selbstfindung, Judith Benedikt spricht die Notwendigkeit an, sich mit der Vergangenheit auseinan- derzusetzen, um ein Wiederholen der Geschichte, insbesondere historischer Ent- wicklungen, die zu großem Leid für die Menschen geführt haben, zu verhindern. Eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Aussagen soll die Schüler:innen dazu anregen, Geschichte nicht als eines von vielen Fächern in der Schule zu begreifen, sondern es auf sich persönlich und auf die gegenwärtige Situation in dem Land, in dem sie leben, zu beziehen. Die Schüler:innen denken darüber nach, inwiefern sie Teil ihrer Familie sind oder sich von dieser distanziert haben oder distanzieren wollen. erkennen, dass sich eine Familie auch über ihre gemeinsame Geschichte defi- nieren kann und dass diese gemeinsame Geschichte oft nicht Gegenstand von Familiengesprächen ist. denken über die Geschichte ihres jeweiligen Herkunftslandes nach und versu- chen, einen Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischen Ereignissen der letzten Jahre und ihrer Familie herzustellen. 6
Unterrichtseinheit 1 • Die Filmemacherinnen und ihre Ziele Weina, Nainai und Judith, April 2019 Ein Gespräch mit den Filmemacherinnen Weina Zhao wurde 1986 in Peking geboren und kam Großmutter als Regisseurin und Filmeditorin gearbei- als Kind mit ihren Eltern nach Wien. Als Jugendliche tet hat, ist es für Weina alles andere als selbstver- interessiert sie sich für Star Trek und Fußball, fährt im ständlich, diesen Beruf zu ergreifen. Nach ihrer ersten Sommer mit ihren Eltern nach China und besucht die Zusammenarbeit mit Judith Benedikt wird ihr bewusst, Schule in Wien. Am Wochenende bringt ihr die Mutter dass sie eine berufliche Karriere als Filmemacherin ver- das Lesen und Schreiben chinesischer Schriftzeichen folgen möchte. Sie schlägt Judith Benedikt vor, einen bei. Nach der Matura absolviert Weina an der Universi- Film über ihre eigene Familie zu drehen. Das Ergebnis tät Wien ein Studium der Sinologie, also der Chinakun- ist „Weiyena – Ein Heimatfilm“. de, und schließt dieses mit einem Bachelor und einem Master Titel ab. Judith Benedikt, 1977 in Lienz geboren, hat Bild- technik, Kamera und Schnitt an der Universität für Ihre ersten Erfahrungen als Filmemacherin sammelt Musik und Darstellende Kunst in Wien studiert und sie in der Zusammenarbeit mit Judith Benedikt. Judith als Kamerafrau an zahlreichen Dokumentar- und Benedikt suchte für einen Film über Chinesinnen und Spielfilmen mitgewirkt. Dabei hat sie ein ausgepräg- Chinesen in Wien jemanden, der die chinesische Spra- tes Interesse für China und Ostasien entwickelt und che beherrschte, Kontakte zur chinesischen Bevölke- in vielen Ländern der Welt, insbesondere in Ländern rung in Wien herstellen und sie bei den Dreharbeiten des globalen Südens, gearbeitet. Ihr Regiedebüt unterstützen konnte. Obwohl schon Weinas Urgroßvater war „China Reverse“, ein Film über Chinesinnen und ein berühmter Filmemacher in China war und auch ihre Chinesen in Wien. 7
Sigrid Rehak und Stefan Wackerlig, Studierende des Masterstudiengangs Sinologie an der Universität Wien, fragten die beiden Filmemacherinnen, wie die Arbeit an dem Film sie verändert hat und ob sie durch die Gespräche mit Weinas Familie ein neues Verständnis für die chinesische Geschichte gewonnen haben. Weina Zhao : Für mich war es auf jeden Fall eine Judith Benedikt : Das war bei uns schon ein sehr gro- Selbstfindungsreise, das habe ich aber erst mit der Zeit ßer Wunsch, von der Familiengeschichte von Weinas realisiert. Bei meiner Mutter habe ich gefühlt, dass sich Familie zu erzählen, die in diesem Fall zwar eine chine- schon etwas getan hat. Und in den Jahren, in denen wir sische Geschichte ist, aber trotzdem haben in vielen den Film gedreht haben, ist meine Oma richtig aufge- Ländern der Welt Menschen eine ähnliche Familien- blüht. Sie hat sich geöffnet und man hat gemerkt, dass geschichte. Natürlich sind die politischen Zusammen- es ihr ein Anliegen ist, über diese Dinge zu reden. Sie hänge ein bisschen anders, aber es gibt eben fast keine hat sich geschmeichelt gefühlt, dass sich endlich je- Länder – mit Ausnahme der Schweiz vielleicht [lacht] mand für sie und die Ereignisse aus ihrer Vergangenheit – in denen es in den letzten Jahrzehnten keine Kriege interessiert, und das war auch ein Entwicklungsprozess gegeben hat. In unserer Generation und in den zwei, für sie. Bei dem Interview am Anfang des Films hat die drei, vier Generationen zuvor hat es mit Sicherheit in Oma sehr kurz und knapp ihr Leben zusammengefasst den meisten Ländern der Welt politisch schwierige und wäre nicht auf die Idee gekommen, mehr Details zu Zeiten gegeben, die die Menschen traumatisiert haben, erzählen. Das hat sich mit der Zeit geändert. in denen ganz viele Menschen auch von einem transge- nerationalen Trauma betroffen sind. Deswegen war uns Ich habe durch die Auseinandersetzung mit meiner das wichtig, dass das eigentlich eine Geschichte ist, die Familiengeschichte erst Geschichte und viele Zusam- weltweit gültig ist. Weil es auch noch sehr viel Bedarf menhänge verstanden. Zu der Zeit, als wir angefangen gibt, gerade auch in Österreich, wo die Geschichte des haben, zu recherchieren, begann ich, das politische Nationalsozialismus noch nicht so lange her ist und viel Tagesgeschehen in China genauer zu verfolgen, und zu wenig aufgearbeitet worden ist. Das war uns natür- plötzlich hat einfach alles so viel Sinn gemacht. Wir lich auch bewusst, und wir wollten dazu anregen, sich haben geschaut, wie die Zensur gerade ist, wie sensibel mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen und zu das Thema Kulturrevolution gerade ist, ob man darüber fragen: Was war vorher? Auch um zu verhindern, dass reden kann oder wo wir noch hinfahren können, um Geschichte sich wiederholt. Deswegen finden wir es Dinge festzuhalten, die damit zu tun haben. Das war im wichtig, sich damit zu beschäftigen. In China wie in Jahr 2015. 2016 begann die strikte Zensur von Themen, Österreich gibt es auch jetzt wieder Tendenzen, dass die mit der Kulturrevolution zu tun hatten. Das Wenige, sich zumindest Teile der Geschichte wiederholen oder das es dazu gab, verschwand immer weiter. So gesehen annähernd wiederholen, natürlich in einer anderen standen Geschichte und Politik plötzlich in einem direk- Form, weil es eine andere Zeit ist. ten Zusammenhang mit unserem Leben, und das war schon eine sehr interessante Erfahrung. Das war auch ein Grund für die Idee, mit euch gemeinsam das Mate- rial zum Film zu machen. Weil das so ein Punkt war, der mir während meines Studiums gefehlt hatte, dass es so abstrakt war. Für mich war es weniger greifbar während des Studiums, damals gab es auch soziale Medien noch nicht in dem heutigen Ausmaß. Aber es macht viel mehr Spaß, etwas zu studieren, wenn man versteht, was das mit einem selbst zu tun hat. 8
Unterrichtseinheit 1 • Die Filmemacherinnen und ihre Ziele Arbeitsaufgaben Die Schüler:innen bilden kleine Diskussionsgruppen. Da in der Diskussion zum Teil sehr persönliche Fragen angesprochen werden, sollten die Diskussions- gruppen so zusammengestellt sein, dass die Schüler:innen Vertrauen zueinander entwickeln können. Folgende Fragen können diskutiert werden: Welche Ereignisse aus deinem Leben sind dir besonders wichtig? Hast du darüber schon einmal mit deiner Familie und deinen Freunden und Freun- dinnen gesprochen? Sind das Ereignisse, an die du dich gerne erinnerst, weil sie schöne Ereignisse sind? Oder hast du eher ein schlechtes Gefühl, wenn du darüber nachdenkst? Welches Ereignis aus der Geschichte des Landes, aus dem du stammst, kommt dir besonders wichtig vor? Woher weißt du, dass es wichtig ist? Ist es ein Ereignis, mit dem du etwas Positives verbindest? Oder bedrückt es dich, wenn du an dieses Ereignis denkst? Weißt du, was Deine Familie erlebt hat, als sich dieses Ereignis abspielte? Wenn du es nicht weißt, wen in deiner Familie könntest du fragen, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten? Die Diskussion der vorgeschlagenen Fragen lässt die Schüler:innen eine Ant- wort auf die Frage suchen, ob es gut und richtig ist, sich mit der Familienge- schichte auseinanderzusetzen. Im Anschluss können sie eine Stellungnahme zu folgender Aussage von Weina Zhao verfassen, die aus dem Film stammt: „Will ich das alles wissen? Geht es mir nun besser, nachdem mir die vielen Grausamkeiten bekannt sind, die meine Familie durchleben musste?“ ● Weina, TC: 01:06:03 Für die Ergebnissicherung und Reflexion können Wandzeitungen erstellt werden. Diese werden im Klassenzimmer aufgehängt und während der Beschäftigung mit dem Film laufend ergänzt und korrigiert. Wandzeitungen enthalten nicht nur Texte, sie können auch Zeichnungen oder sonstige graphische Elemente nutzen. bei Verfügbarkeit digitaler Infrastruktur und mobiler Endgeräte alternativ auch ein Padlet als digitale Wandzeitung erstellt werden. Lerntagebücher geführt werden. Die Lehrkraft kann selbst festlegen, wer welche Texte lesen und Feedback geben soll. 9
Unterrichtseinheit 2: Der Film und seine Hauptfiguren Urgroßvater 1904 1967 Großvater Großmutter Großvater Großmutter 1927 2019 1930 1925 2018 1928 2005 Vater Mutter 1954 1955 Weina Zhao 1986 Einleitung Weina Zhao erzählt in dem Film die Geschichte ihrer Familie aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie bezieht die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits in die Erzählung ein und gewinnt dadurch eine historische Tiefe, die bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgreift. Der Film fängt fast 100 Jahre und damit die Erfahrungen von drei Generationen ein: das Leben der Großeltern, der Eltern und das Leben von Weina Zhao.●1 Lernziele In dieser Einheit machen sich die Schüler:innen mit den Hauptfiguren des Films und ihren Lebensgeschichten vertraut. Die Erzählung dieser Geschichten folgt keiner linearen Chronologie; die Schüler:innen gewinnen einen ersten Einblick in den Ab- lauf der historischen Ereignisse und vergleichen sie mit bestehenden Vorkenntnissen. Sie erkennen dabei, dass innerhalb einer Familie viele unterschiedliche Erfahrungen weiterleben und die Familie ein Ort sein kann, in dem sich diese Unterschiedlichkeit und ein gemeinsames Leben nicht gegenseitig ausschließen. Die Schüler:innen wer- den sich der Tatsache bewusst, dass die Familie mehrere Versionen der Geschichte der VR China seit 1949 erzählt. Außerhalb Chinas und in der westlichen Berichterstattung wird oft der Eindruck vermittelt, dass die Menschen in China alle so denken müssen, wie es die Partei von ihnen verlangt. In der im Film dargestellten Familie leben Opfer und Täter:innen aus der Zeit der Kulturrevolution, Menschen, die durch die Machtübernahme der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sozial abgestiegen, und Menschen, die aufgestiegen sind, nebeneinander. Trotz dieser zum Teil diametral entgegengesetzten Erfahrungen bilden sie eine Familie. 10 ●1 In der begleitenden Powerpoint Präsentation werden alle Familienmitglieder vorgestellt und die Beziehungen in einem Familienstammbaum dargestellt.
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren „Ich mochte Mao nicht. Er hat über alle gerichtet. Jeden hat er gequält. Ärzte und alle, die eine schlechte Herkunft hatten, wurden malträtiert. [...] Ohne ihn [Mao] wäre auch nichts gegangen. Ohne einen Anführer geht es ja nicht.“ ● Nainai, TC: 01:09:52 / 01:10:42 Die Großmutter väterlicherseits (chinesisch: „Nainai“ 奶奶) Die Großmutter väterlicherseits ist in einem Dorf schen miterlebt hat, wirkt sie nicht bedrückt und aufgewachsen, das während des Zweiten Welt- nimmt keine Opferrolle ein. Sie ist eine starke Frau, kriegs von japanischen Truppen besetzt war. Ob- die den Konflikt mit ihrem Mann ebenso wenig wohl sie nur zwei Jahre die Schule besuchen konnte, scheut wie eine klare Ausdrucksweise. Im Film ergriff sie nach der Gründung der VR China im Jahr wird deutlich, dass sie bisweilen andere Menschen 1949 den Beruf der Kindergärtnerin. Sie lebte mit ih- durch ihre Äußerungen vor den Kopf stößt. rem Mann an verschiedenen Orten in der VR China, zuletzt in Peking. Während der Kulturrevolution von Die Aussagen der Großmutter über Maos Politik 1966 bis 1976 beteiligte sie sich nach eigenen Aus- und über die Politik der Kommunistischen Partei sagen wenig an den turbulenten politischen Kampa- scheinen sich zu widersprechen. Obwohl sie unter gnen, sondern ging ihrer beruflichen Tätigkeit. der Regierung von Mao nicht gelitten hat, äußert sie eine negative Meinung über ihn. Gleichzeitig Die Großmutter hat in ihrem Dorf eine schwere betrachtet sie aber Maos Führung als notwendig Kindheit und Jugend erlebt. Trotzdem scheint sie für die Entwicklung des Staates. Der Widerspruch besonders entspannt und geradezu stolz, als sie zwischen diesen zwei Aussagen der Großmutter mit ihrer Enkeltochter in ihr Heimatdorf fährt. Ob- zeigt nicht nur ihre eigene Haltung, diese kann auch wohl sie Krieg und Bürgerkrieg, den Tod ihrer Eltern stellvertretend für eine Meinung gesehen werden, und das gewaltsame Sterben von vielen Mitmen- die viele Menschen in China teilen 11
Der Großvater väterlicherseits (chinesisch: „Yeye“ 爷爷) Der Großvater väterlicherseits stammt aus der in der Hauptstadt leben zu dürfen. Er ist stolz da- Stadt Tangshan, die 1976 während eines schreck- rauf, ein Langstreckenläufer zu sein und betreibt lichen Erdbebens zerstört wurde. Er besucht mit bis ins hohe Alter Sport. den Regisseurinnen seine Heimatstadt und fühlt sich dort vollkommen fremd. Die Stadt sieht nach Der kritischen Haltung der Großmutter gegenüber dem Wiederaufbau ganz anders aus als zu seinen der Kommunistischen Partei entgegnet er: Jugendzeiten. Außerdem ist er in seinem Berufs- „Nachdem es dir jetzt gut geht, solltest du dich bei leben viel herumgekommen und hat sich von der Partei und dem Staat bedanken. Dafür, dass sie seinem Ursprungsort entfernt. Überhaupt scheint sich so gut um die Pensionäre kümmern.“ er in einer Welt zu leben, die nicht die seine ist. Im ● Yeye, TC: 00:18:53 Laufe des Filmes wird er immer wortkarger und weltabgewandter. Er stirbt, bevor der Film fertig- Zwischen ihm und seiner Frau gibt es viele Mei- gestellt wird. nungsunterschiede. So haben sie auch über ihre jeweilige Beteiligung an der Kulturrevolution unter- Die Geschichte der VR China ist für den Großvater schiedliche Ansichten. Die Großmutter wirft ihrem eine Geschichte des sozialen Aufstiegs. Aus ein- Mann vor, sich an Grausamkeiten während der fachen Verhältnissen stammend wird er Ingenieur Kulturrevolution beteiligt zu haben und stellt sich und auf einem für die ökonomische Entwicklung demgegenüber als weitgehend unbeteiligt dar. Er in China wichtigen Ölfeld eingesetzt. Um dieser akzeptiert diese Erzählung nicht. Verpflichtung nachzukommen, lässt er seine Frau zurück und – so berichtet er im Film – ist froh, sie Der Großvater väterlicherseits ist das einzige Fami- zurücklassen zu können. Eigentlich will er sich lienmitglied, das als Täter in der Kulturrevolution scheiden lassen, doch die Partei lässt das nicht zu. bezeichnet werden kann, und seine Aussagen illust- Für seine gute Arbeit wird er zuletzt nach Peking rieren, wie er mit dieser Erinnerung umgeht und wie versetzt und erhält das Privileg, mit seiner Familie er seine Rolle als Täter beurteilt. „Halte dich an die Fakten, das [die Behauptung, dass viele Konterrevolutionäre von seiner Fraktion erschlagen wurden] ist so nicht passiert.“ ● Yeye, TC: 00:59:34 12
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren „Viele Tragödien setzen sich hier [in China] fort, auch die Politik der systematischen Volksverdummung. [...] Die Machthaber haben das Volk an der Nase herumgeführt. In der jüngeren chinesischen Geschichte wurden viele Tatsachen vor den meisten Menschen geheim gehalten.“ ● Baba, TC: 01:21:29 / 01:23:00 Der Vater (chinesisch: „Baba“ 爸爸) Weina Zhaos Vater ist 1985 nach Österreich ausge- was dieser begonnen hat. Dieser Aufstieg erfolgt wandert. Er ist der Erste in seiner Familie, der China unter neuen Bedingungen. Dabei hat er – anders verlässt. Für ihn war es wichtig, im Ausland tun zu als sein Vater – sich nicht den Anliegen von Partei können, was er für richtig hielt, und damit auch und Staat unterworfen, sondern hat die im Zeit- finanzielle Freiheit zu gewinnen, die ihm in China alter von Reform und Öffnung neu entstandenen damals nicht gewährt war. Seine Tochter und seine Möglichkeiten genutzt, um zunächst ins Ausland Ehefrau bleiben zunächst in China. Als Weina Zhao zu gehen und dann als erfolgreicher Unterneh- vier Jahre alt ist, folgen sie dem Vater. Doch es hält mer zurückzukehren. Beides wäre vorher nicht ihn nicht in Wien. Als er erkennt, dass sich China als möglich gewesen. Wie sein Vater spricht er nicht ein Ort anbietet, an dem er sich doch noch verwirk- viel, zeigt aber in seinen Aussagen, dass er sich lichen kann, kehrt er dorthin zurück und baut ein viele Gedanken darüber gemacht hat, was in den Unternehmen auf. Das Publikum lernt ihn als einen letzten Jahrzehnten in seinem Land vor sich ge- vergleichsweise wohlhabenden Mann im Ruhestand gangen ist. kennen, der gerne im Garten arbeitet. Der Vater ist neben seiner Tochter der einzige in der Der Vater hat einen sozialen Aufstieg verwirk- Familie, der die politischen Verhältnisse in China licht, der dem Großvater einerseits fremd ist, der offen kritisiert. Trotzdem ist er im Gegensatz zu gleichzeitig aber eine Fortsetzung dessen ist, seiner Frau nach China zurückgekehrt. 13
„Schließlich haben sie eine Untersuchung eingeleitet. Der Untersuchungsleiter hat dann zu mir gesagt: Du hast nichts gemacht, du warst nur ein Reichensöhnchen und hast mit denen nichts zu tun gehabt. Du bist unschuldig. Du hast dich nur mit anderen vergnügt.“ ● Gonggong, TC: 00:21:36 „Ich bin ein Mensch, der sich sehr gut anpassen kann.“ ● Gongong, TC: 00:48:30 Der Großvater mütterlicherseits (chinesisch: „Gonggong“ 公公) Der Großvater mütterlicherseits stammt aus Filmeditorin und Regisseurin von Wochenschau- einem völlig anderen gesellschaftlichen Milieu. In Filmen in der staatlichen Filmindustrie. Sie war Shanghai aufgewachsen, der internationalsten und hoch angesehen und erhielt Preise für ihre Arbeit. modernsten Stadt im China der Dreißiger- und Vier- Es ist erstaunlich, dass sie trotz ihrer Verbindung zu zigerjahre, war er durch seine Tätigkeit am Thea- einem Ehemann, dem die KPCh skeptisch gegen- ter und seinen Schwiegervater Ying Yunwei, der überstand, ein unbeschwertes Leben führen konnte. damals als Vorreiter des modernen Films in China In der Kulturrevolution wird sie jedoch als Agentin galt, eng mit Kunstschaffenden und Intellektuellen Amerikas verdächtigt und 1967 eingesperrt. Als sie verbunden und ein Leben in Wohlstand gewöhnt. 1974 zu ihrer Familie zurückkehren darf, leidet sie Mit der Machtübernahme durch die KPCh im Jahr an Schizophrenie. Der Großvater hält ihr die Treue, 1949 verliert er nicht nur seine Privilegien, er gilt obwohl er weiß, dass sie unter dem Druck ihrer An- auch als potentieller Feind. Er muss lernen, sich den kläger viele Menschen zu Unrecht beschuldigt hat. Bedingungen anzupassen und zu beweisen, dass er nicht gegen die Partei arbeitet. Er wird einer ent- Der Großvater mütterlicherseits gehört eindeutig sprechenden Untersuchung unterzogen und schafft zu den Opfern der Kulturrevolution und zu jener ge- es, sie von seinen guten Absichten zu überzeugen. sellschaftlichen Gruppe, die durch die Machtergrei- Er zieht nach Peking und arbeitet dort in der Kultur- fung der KPCh einen sozialen Abstieg erfuhr, der industrie, gerät jedoch 1966 erneut unter Verdacht insbesondere die ökonomische Seite ihres Lebens und muss während der Kulturrevolution durch betraf, aber auch mit einem hohen Ansehensverlust körperliche Arbeit unter Beweis stellen, dass er sich verbunden ist. Dem Verlust von Reichtum und An- der Herrschaft der KPCh unterwirft. sehen begegnet der Großvater mit Anpassung und Hinnahme vieler Schicksalsschläge. Er berichtet von Das Schicksal des Großvaters mütterlicherseits ist seiner Angewohnheit, immer kalt zu duschen. Dies auch dadurch geprägt, was seiner Frau widerfahren kann auch als Symbol für Anpassung und Abhär- ist. Sie stammte, wie er, aus Shanghai und arbeitete tung verstanden werden. Über seine Erfahrungen nach der kommunistischen Machtübernahme als spricht er beinahe emotionslos. 14
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren Die Mutter (chinesisch: „Mama“ 妈妈) Weina Zhaos Mutter, in Peking geboren, wuchs wie ihre Großmutter, Karriere in der Filmbranche in einer Familie auf, in der ihr Vater die KPCh von gemacht. Doch so ist aus dem Kind einer Künst- seiner Loyalität überzeugen musste und die Mutter lerfamilie eine „Proletarierin“ geworden. Nach in einem Bereich tätig war, der für die Herrschaft maoistischer Ideologie wurde sie damit in eine der KPCh wichtig war. Die Kinder, Weinas Mutter gesellschaftliche Klasse aufgenommen, deren und ihre Schwester, sind so erzogen worden, dass Loyalität zur KPCh nicht in Frage steht. Damit hat kein Zweifel an der Legitimität der KPCh und ihres sie das Bestreben ihrer Eltern, sich anzupassen, Herrschaftsanspruches aufkommen konnte. Doch vollendet. während der Kulturrevolution werden die Kinder von ihren Eltern getrennt. Zu dieser Zeit ist Weina Nach ihrer Heirat ändern sich die Verhältnisse, Zhaos Mutter erst 12 Jahre alt und muss sich alleine und sie entschließt sich, ihrem Ehemann mit durchs Leben schlagen. Als die Mutter davon be- ihrer Tochter nach Österreich zu folgen. Als der richtet, bricht sie in Tränen aus. Sie ist die einzige, Ehemann beschließt, nach China zurückzukehren, die ihre Schmerzen und ihre Wunden zu erkennen entscheidet sie sich für den Verbleib in Wien. Sie gibt und das Publikum daran teilhaben lässt. erklärt im Film, dass es die Freiheit ist, die sie in Österreich genießen kann, die sie dazu bewogen Mit 17 Jahren erhält die Mutter Arbeit in einer Uh- hat. Sie wollte ihrer Tochter ein besseres Leben renfabrik. Eigentlich hätte sie gerne studiert und, ermöglichen. „Unsere Erfahrungen sind etwas, die nur wenige Menschen in ihrem Leben gemacht haben.“ ● Mama, TC: 01:02:59 15
Die Großmutter mütterlicherseits (chinesisch: „Abu“ 阿婆 ●2) und der Urgroßvater Weina Zhaos Großmutter mütterlicherseits und als diese in Shanghai durch die damalige Regie- der Urgroßvater sind bereits verstorben, spielen rung grausam verfolgt wurde. Doch das zählt aber dennoch eine wichtige Rolle für den Film. Ihr während der Kulturrevolution nicht. Er wird, Urgroßvater Ying Yunwei war einer der frühesten obwohl schon hoch betagt, öffentlich angeklagt. Filmemacher Chinas und drehte 1934 den ersten Dabei bricht er zusammen und fällt während des chinesischen abendfüllenden Tonfilm „Taolijie“ Abtransports von der Pritsche. Er stirbt auf offener (engl.: „Plunder of Peach and Plum“). Er kommt je- Straße und unter den Augen seiner Ankläger. doch während der Kulturrevolution ums Leben. Bis dahin hatte er alle Anfeindungen überstanden und Seine Tochter Ying Xuan, Weina Zhaos Großmutter, sogar Filme gedreht, die von der KPCh und der tritt in seine Fußstapfen. Die Geschichte der beiden Zensur positiv rezipiert wurden. Eigentlich müsste wird durch Weina Zhao und die noch lebenden er große Anerkennung im neu gegründeten kommu- Familienmitglieder erzählt. Szenen ihrer filmischen nistischen Staat genießen, hatte er sich doch noch Arbeiten werden mit der Erzählung des Films ver- zu Zeiten der KPCh angeschlossen, woben. 16 ●2 Im Shanghai Dialekt wird 阿婆 („Apo“), Großmutter mütterlicherseits, als „Abu“ ausgesprochen.
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren Arbeitsaufgaben In der begleitenden Powerpoint Präsentation wird den Schüler:innen die Familie von Weina Zhao vorgestellt. Sie erhalten die Texte über die Familienmitglieder aus diesem Begleitheft zum Nachlesen und beantworten in Partnerarbeit oder Kleingruppen folgende Fragen: Wer aus der Familie hat aus heutiger Sicht ein zufriedenes und erfülltes Leben geführt? Wer betrachtet sich als Opfer der Entwicklung in der VR China seit 1949? Wer ist Opfer der Entwicklungen? Wer betrachtet sich als Täter:in, der/die andere Menschen aus politischen Gründen gequält hat? Wer ist Täter:in? Ist die Anpassung an politische Verhältnisse eine Garantie für ein sorgenfreies Leben? Die Schüler:innen erstellen eine Tabelle auf der Grundlage der Diskussionsergeb- nisse und unterscheiden zwischen der Selbstwahrnehmung der Familienmitglie- der und der Einschätzung, die aus den Kurzbiographien hervorgeht. Sie lassen eine Spalte in der Tabelle offen, in der sie ihre eigenen Einschätzungen eintragen können. Dann sehen sich die Schüler:innen den Film an. 17
Unterrichtseinheit 3: Was ist ein Dokumentarfilm? Einleitung Der Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ ist ein Dokumentarfilm, der nicht einfach die Wirklichkeit abbildet, sondern ästhetisch und inhaltlich künstlerisch gestaltet ist. In dieser Unterrichtseinheit geht es darum, das Genre des Dokumentarfilms genauer kennenzulernen und sich damit auseinanderzusetzen, wie die Regisseurinnen die Geschichte der Familie von Weina Zhao erzählen, gestalten und dem Publikum näherbringen. Lernziele Die Schüler:innen hinterfragen die angebliche Objektivität des Dokumentarfilmgenres und erwerben Wissen darüber, wie Erzählstrategien in Dokumentarfilmen umgesetzt werden. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit das Publikum eines Dokumentarfilmes davon überzeugt werden muss, die Glaubwürdigkeit der Erzäh- lung anzunehmen, überprüfen sie ihr eigenes Identifikationsverhalten und gewinnen jenseits der Fremdheit des Stoffes ein tieferes Verständnis für die im Film darge- stellten Zusammenhänge. Sie entdecken die Filmemacherin als Protagonistin des Films und überprüfen, inwieweit sie sich mit ihr identifizieren können. 18
Was ist ein Dokumentarfilm? Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm? Am einfachsten lässt sich das damit ausdrücken, was Für viele Dokumentationen der 1930er und 1940er ein Dokumentarfilm nicht ist: er ist kein Spielfilm. Er Jahre war der Einsatz einer auktorialen Erzählstimme erzählt keine ‚erfundene‘ Geschichte, sondern aus charakteristisch. Diese:r auktoriale, ‚allwissende‘ Erzäh- dem ‚wahren Leben‘, etwas Authentisches. Trotzdem ler:in wird auch ‚voice of God‘ genannt, wird optisch ist er aber kein Sach- bzw. Unterrichtsfilm, da er nicht nicht dargestellt und erweckt den Anschein, außerhalb nur informiert, sondern beansprucht, den Gegenstand des Films zu stehen. ästhetisch zu gestalten. In der frühen Filmgeschichte wurde jeder Film als dokumentarisch bezeichnet. Ein In den 1950er und 1960er Jahren bestimmten techni- Film bestand aus Bildern, die Geschehnisse dokumen- sche Neuerungen die Entwicklung des Dokumentar- tierten. Die Filme der Brüder Lumière am Ende des films. Leichtere, tragbare Kameras führten zur Heraus- 19. Jahrhunderts zeigten beispielsweise kurze Szenen bildung neuer Filmstile wie Direct Cinema und Cinema aus dem Alltag, wie in ihrem Film „Arbeiter verlassen verité. Diese Filmstile zielten auf die objektive, wirklich- die Lumière-Werke“ von 1895. Wichtig für das Ver- keitsgetreue Darstellung des Gezeigten ab. Zum ersten ständnis des Begriffs Dokumentarfilm war dann vor Mal war es möglich, Menschen ohne deren Mitwissen allem der Film „Moana“ von Robert Flaherty aus dem zu filmen. Die Erzählstimme wurde etwas zurückge- Jahr 1926, der von der Lebensweise der Pazifik-Insu- drängt und war nicht mehr so allwissend wie in frühe- laner auf der Insel Samoa handelte. Von der Filmkritik ren Dokumentarfilmen. wurde dieser Film als dokumentarisch bezeichnet, doch Flaherty hatte bewusst Schauspieler:innen unter In den 1960ern festigte der Dokumentarfilm seine den Bewohnern von Samoa gecastet, die bestimmte Stellung als Genre auch durch seinen Einsatz im Me- Rollen spielten, so wie es bei Spielfilmen üblich ist. In dium des Fernsehens. Dokumentationen konnten einer den 1920er Jahren entstanden auch avantgardistische, Reportage ähnlich sein oder einen didaktischen Zweck impressionistische Filme, die ebenfalls dem Doku- verfolgen. In den 1980er Jahren kamen verstärkt Filme mentarfilm zugeordnet werden. Dazu gehören Filme mit dem Einsatz von Zeitzeugen-Interviews auf, und des sowjetischen Filmemachers Dziga Vertov und des seit den späten 1990er Jahren gibt es das sogenannte Niederländers Joris Ivens, in denen die ästhetische Reality-TV, welches als von der dokumentarischen Film- Gestaltung der abgebildeten Wirklichkeit eine beson- sorte abgegrenzt aber auch als ihr zugehörig angese- dere Rolle spielt. hen werden kann. 19
Der Filmkritiker Bill Nichols identifiziert sechs Erzählstrategien oder Modi, die für den Dokumentarfilm charakteristisch sind: Poetischer Modus : Lineare Kontinuität wird ver- Beobachtender Modus : Dieser Dokumentarfilmstil mieden, dafür wird die ästhetische Gestaltung mit- wurde vor allem von der oben genannten Cinema hilfe von Stimmung, Ton und Komposition der Bilder Verité-Bewegung genutzt. Die Filmemacher:innen betont. Da rein poetische Dokumentarfilme oft nur sind bestrebt, die Wahrheit ihres Filmthemas zu wenig oder gar keinen erzählerischen Inhalt haben, entdecken. Das reale Leben soll beobachtet werden, wird es zur Aufgabe der Kameraperson, hoch kom- wobei die Kamera unauffällig sein soll, um einen ponierte, visuell auffällige Bilder aufzunehmen, die möglichst authentischen Zustand festzuhalten. auch ohne Text eine Geschichte erzählen können. Auch die Anwesenheit der filmenden Personen soll möglichst wenig Einfluss nehmen. Expositorischer Modus : Hier vermittelt die all- wissende, auktoriale Erzählstimme ein bestimmtes Reflexiver Modus : Hier machen die Filmema- Thema. Es wird eine spezifische Sichtweise ver- cher:innen deutlich, dass sie nicht die Realität treten, die durch das Kameramaterial illustriert wird. abbilden, sondern bewusst einen Film herstellen. Der Film hat eine belehrende oder propagandisti- Filmmaterial, das Szenen hinter der Kulisse oder sche Funktion. technische Apparaturen zeigt, findet Eingang in den Film. Das Publikum wird dadurch auf die gestal- Partizipativer Modus : Kennzeichnend für den par- terische Rolle der Filmemacher:innen aufmerksam tizipativen Erzählmodus ist die Interaktion zwischen gemacht. Dokumentarfilmer:in und Akteuren und Akteurinnen des Films. Die Filmemacher:innen stehen nicht nur Performativer Modus : Dieser Modus ist dem parti- hinter der Kamera, sie kommen selbst im Film vor, zipatorischen Modus ähnlich. Auch hier interagie- beispielsweise indem sie ein Interview führen oder ren die Filmemacher:innen mit den Akteurinnen und ihre Stimme im Hintergrund hörbar ist. Dieser Mo- Akteuren in ihrem Film, beispielsweise in Form von dus ähnelt dem, weiter unten genannten, performa- Interviews. Dabei legt der performative Modus ein tivem Modus. Der Unterschied besteht darin, dass größeres Augenmerk auf die persönliche, subjektive im partizipativen Modus die interviewten Personen Sichtweise der gefilmten Personen. z.B. als Expertinnen und Experten von Dingen, die allgemeine Gültigkeit besitzen, erzählen, während im performativen Modus die subjektive Sichtweise der interviewten Personen wichtiger ist. Diese Erzählstrategien schließen sich gegenseitig nicht tät schon allein dadurch nicht gegeben sein kann, aus. Während der Entwicklung des Dokumentarfilms dass das Kameramaterial immer nur einen Aus- gab es unterschiedliche Trends, doch keiner der Erzähl- schnitt der Wirklichkeit zeigt. Die Filmemacher:in- modi hörte je auf zu existieren, und auch in einem ein- nen müssen eine Reihe von Entscheidungen über zigen Film können mehrere dieser Modi nebeneinander das Thema des Films und darüber, wer oder was im angewendet werden. Mittelpunkt stehen wird, welche Aspekte beleuchtet werden und wie sie dies realisieren sollen, tref- Die Vielfalt dieser Erzählstrategien macht deutlich, fen. Deshalb fließen immer gewollt oder ungewollt wie unterschiedlich die Auffassungen davon sind, subjektive Auffassungen in die im Film dargestellte wie sich ‚Wahrheit’ so authentisch wie möglich dar- Wirklichkeit ein. Durch die Art und Weise, wie der stellen lässt. Inzwischen herrscht die Ansicht vor, Film erzählt wird und wie Bilder und Musik ein- dass es sich beim Dokumentarfilm um ein subjekti- gesetzt werden, wird das wichtigste Merkmal des ves Medium handelt, da der Anspruch auf Objektivi- Dokumentarfilms, seine Glaubwürdigkeit, erzeugt 20
und dem Publikum vermittelt, das diese wiederum winden, Verbündete oder Mentoren und Mentorin- Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm? subjektiv annimmt und für sich interpretiert. Mittel, nen zu treffen, schwierige Aufgaben zu lösen und an die dazu dienen, diese Glaubwürdigkeit herzustel- den Ausgangspunkt zurückzukehren als veränderter len, sind der Einsatz von Materialien wie Interviews, Mensch. In einem solchen Prozess wird Spannung Fotografien, Dokumenten, das Filmen von gewöhn- aufgebaut, zu ihrem Höhepunkt geführt und wieder lichen Alltagssituationen sowie die Verwendung au- abgebaut. So entsteht die Glaubwürdigkeit der Erzäh- thentischer Sprache, von Dialekten und Geräusch- lung und die Möglichkeit des Publikums, sich in die kulissen. Situation hineinzuversetzen, sich mit dem Held oder der Heldin oder zu identifizieren und das Zuschauen Wie im Spielfilm arbeiten Dokumentarfilmer:innen mit als ebensolche Reise zu entdecken, wie die Akteure dramaturgischen Mustern. Häufige Anwendung findet und Akteurinnen im Film. Da der Dokumentarfilm die sogenannte Helden- oder Heldinnenreise. Dabei nicht mit einer Fiktion arbeitet, in welcher die Schau- handelt es sich um ein Erzählmuster, das erstmals in spieler:innen zugewiesene Rolle übernehmen, sondern der Mitte des 20. Jahrhunderts von dem amerikani- die Erzählung aus dem Material gewinnt, welches schen Mythenforscher Joseph Campbell und in den im Zuge der Dreharbeiten entsteht, besteht für die späten 1990er Jahren in etwas abgeänderter Form von Filmemacher:innen die Aufgabe darin, nach den oben dem Drehbuchautor Christopher Vogler beschrieben vorgestellten, dem Publikum bis zu einem gewissen wurde. Die Idee dahinter ist, dass gewisse Strukturen, Maße vertrauten Mustern, die Erzählung aus dem die wir aus alten Mythen und Legenden kennen, in der vorhandenen Material zu konstruieren. Der kreative modernen Literatur und im Film immer wieder bedient Akt liegt darin, das Publikum von der Erzählstrategie werden. Dabei lassen sich die Helden und Heldinnen zu überzeugen und das Identifikationspotential der mit den Hauptfiguren gleichsetzen. Die Zuseher:in- Akteure und Akteurinnen so zu verteilen, wie es der nen sind aufgerufen, sich mit den Hauptpersonen zu von den Filmschaffenden intendierten Glaubwürdig- identifizieren und mit ihnen gemeinsam ‚auf die Reise’ keit entspricht. zu gehen. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist der Ruf, der die Heldin oder den Held ereilt, damit diese:r die Es ist also davon auszugehen, „dass eine emotionale gewohnte Umgebung verlässt und sich auf die Reise Bindung zwischen Zuschauer und Zeitzeuge nicht von macht. Auf dieser Reise gilt es, Hindernisse zu über- allein entsteht. Nicht die bloße Anwesenheit eines Zeit- Weina ist im Film alleine im Bad (TC: 00:39:25) 21
zeugen in einer historischen Dokumentation erzeugt Angst und Tod zusammenhängen und Handlungen eine empathische Beziehung. Der Filmemacher muss, thematisieren, die oft nicht die positiven Seiten der wenn er eine solche Beziehung wünscht, etwas dafür Menschen offenbaren. Wie gelingt es dem Film trotz- tun – und er kann ihr entgegenwirken.“ ● 3 dem, unsere Aufmerksamkeit zu erwecken und uns in die Geschichte hineinzuziehen? In dem Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ sprechen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen über ihr Leben, das sie Die Brücke zwischen der fremden Erzählung und dem unter Umständen geführt haben, die dem Publikum Publikum ist die Erzählerin und Protagonistin des Films, außerhalb der VR China weitgehend unbekannt sind. Weina Zhao. Mit ihr können wir uns identifizieren, mit Zugleich sprechen sie über Begebenheiten, die nicht ihr können wir uns auf die Reise in die unbekannte Welt durch ihre Exotik oder ihre außergewöhnliche Schön- der Geschichte unserer eigenen Familie begeben, und heit das Interesse des Publikums gewinnen, sondern mit ihr können wir erfahren was es bedeutet, diese Welt sprechen Sachverhalte an, die mit Schmerzen, Verlust, zu erkunden. Arbeitsaufgaben Die Schüler:innen lesen den Hintergrundtext und diskutieren in Kleingrup- pen, welchen der dort vorgestellten Erzählmuster der Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ folgt. Ein Dokumentarfilm kann in unterschiedlichen Sequenzen unterschiedliche Erzählmuster bedienen. Die Schüler:innen erzählen Szenen aus dem Film nach, die sie beeindruckt haben, und finden dabei heraus, ob und inwiefern diese Teile eines Erzählmusters sind und welche Erzählmuster im Film nicht bedient werden. Jede Erzählung hat eine Struktur. Zunächst wird Spannung aufgebaut und dann, nachdem diese ihren Höhepunkt erreicht hat, wieder abgebaut. In welcher Szene erreicht der Film seinen Höhepunkt? Wer steht in dieser Sze- ne im Vordergrund? Was unterscheidet sie von anderen Szenen? Wer ist der Held oder die Heldin, die sich in diesem Film auf die Reise be- gibt? Wo beginnt diese Reise und wo endet sie? Die Schüler:innen schreiben für ein Filmmagazin eine Rezension über den Film. Warum sollten sich Zuschauer:innen den Film ansehen? Was ist gut ge- lungen und was nicht? 22 ●3 Vogler, 1998, S.89
Making-of von Badezimmerszene Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm? 23
Unterrichtseinheit 4: Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China Einleitung Zwei Ereignisse aus der jüngeren chinesischen Geschichte haben für „Weiyena – ein Heimatfilm“ eine besondere Bedeutung. Das eine ist der Zweite Sino-Japanische Krieg (1937–1945), das andere die Kulturrevolution (1966–1976). Diese beiden Er- eignisse werden von den Kleingruppen diskutiert, wobei jede Gruppe ein Thema übernehmen und Gelegenheit haben sollte, über das Thema vor dem Klassenver- band zu berichten. Die jeweiligen Arbeitsaufgaben werden hinter den Texten zu den jeweiligen Schwerpunkten formuliert. Sie beziehen sich darauf, den Schülerinnen und Schülern den Film und die in ihm angesprochenen historischen Ereignisse näher- zubringen und verständlich zu machen, wie diese das Leben der Menschen geprägt haben. Geschichte wird dadurch zu einem vielschichtigen Prozess, der Menschen unterschiedlicher Herkunft auf unterschiedliche Weise involviert. Das Nachdenken über Geschichte ist genauso vielfältig wie Geschichte selbst. 24
I. Was passierte während des Unterrichtseinheit 4 • Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China Zweiten Sino-Japanischen Kriegs? Lernziele Die Schüler:innen lernen anhand des Textes zum Zweiten Sino-Japanischen Krieg etwas über die im Film angesprochenen Situation der japanischen Besetzung. Sie lernen, den Begriff „Blumenmädchen“ zu verstehen und beschäftigen sich damit, was es bedeutet, als „Trostfrau“ durch japanische Truppen zur Prostitution gezwun- gen zu sein. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Problematik reflektieren die Schüler:innen , welches Leid der Krieg der Zivilbevölkerung zufügt und wie die Er- fahrung dieses Leids die spätere Entwicklung der Menschen prägt. Mit dem Zweiten Sino-Japanischen Krieg bezeichnet Als die japanischen Streitkräfte die chinesische man den Krieg, der am 7. Juli 1937 mit dem „Zwischen- Armee auch in Shanghai besiegt hatten, zogen die fall an der Marco Polo Brücke“ in der Nähe von Peking Soldaten weiter nach Nanjing. Nanjing war damals begann und mit der Kapitulation Japans am 9. Sep- die Hauptstadt der Republik China, und die japani- tember 1945 endete. Dieser Krieg ist das Ergebnis von sche Regierung plante, diese einzunehmen, um die Spannungen zwischen Japan und China, die sich seit chinesische Regierung in die Knie zu zwingen. Als die der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgebaut Truppen im Dezember 1937 Nanjing erreichten, muss- hatten. 1931 besetzte Japan einen großen Teil des chi- ten sie erfahren, dass die chinesische Regierung die nesischen Territoriums, die Mandschurei, und etablierte Stadt aufgegeben und eine provisorische Regierung dort einen Staat, der sich für unabhängig erklärte, de an anderer Stelle etabliert hatte. Die japanischen Sol- facto aber in großer Abhängigkeit zu Japan stand. Von daten rächten sich an der Zivilbevölkerung und den dort aus versuchte das japanische Militär, seinen Ein- wenigen Soldaten, die noch in der Stadt waren. Das fluss auf China zu vergrößern und unternahm immer darauffolgende Wüten in der früheren Hauptstadt wieder militärische Vorstöße in Gebiete unter chinesi- wird heute als das Massaker von Nanjing bezeichnet. scher Souveränität. Allein in Nanjing wurden nach chinesischen Angaben 300 000 Zivilisten getötet und über 10 000 Frauen In dieser angespannten Situation kam es in der Umge- sexuell missbraucht. Einige von ihnen wurden auch bung der Marco Polo Brücke außerhalb von Peking zu unter dem Begriff der „Trostfrauen“ oder „Blumen- Feuergefechten zwischen chinesischen und japanischen mädchen“ zu Zwangsprostituierten der japanischen Truppen. Bis heute ist nicht geklärt, ob hier bewusst ein Soldaten gemacht. Krieg ausgelöst wurde und, wenn ja, welche der beiden Seiten den ersten Schritt unternahm. Zunächst sah es Die Großmutter väterlicherseits ist im Norden Chinas danach aus, als sollte es nicht zum Krieg kommen, doch aufgewachsen, wo die japanischen Truppen große die Regierung der Republik China unter Tschiang Kai- Landstriche besetzten und in den Dörfern Mädchen schek entschied, den Widerstandskrieg gegen Japan zu dazu zwangen, den japanischen Soldaten als eben- eröffnen, und die japanische Armee wurde angewiesen, solche „Blumenmädchen“ zu dienen. In vielen dieser mit Peking und Tianjin zwei der wichtigsten Städte im Dörfer wurde der Widerstand gegen die japanische Norden Chinas zu besetzen. Armee von der Kommunistischen Partei organisiert, weshalb die japanischen Soldaten dort mit beson- Obwohl die japanische Armee wesentlich besser aus- derer Brutalität gegen die Einheimischen vorgingen, gerüstet und die Soldaten sehr gut ausgebildet waren, vermuteten sie doch in jeder Familie Mitglieder der entschied die chinesische Militärführung, nicht nur im kommunistisch geführten Guerillatruppen. Die Groß- Norden Chinas Widerstand zu leisten, sondern die japa- mutter berichtet von ihren Erlebnissen und verweist nischen Truppen auch in Shanghai, also weiter im Süden, auch darauf, dass die japanischen Truppen in ihrem direkt anzugreifen. Im Norden erzielten die japanischen Dorf „Blumenmädchen“ verschleppt und die Getrei- Streitkräfte eine Reihe von Siegen, doch im Süden kam es devorräte der Familien mitgenommen haben. Unter zu einem erbitterten Kampf um Shanghai, der drei Mona- diesen Bedingungen lebten die Menschen im Norden te andauerte und beiden Seiten große Verluste zufügte. Chinas sieben Jahre lang. 25
Während China zu Beginn des Krieges gegen Japan Die Großmutter väterlicherseits hat ihre Kindheit und international wenig Unterstützung erhielt, änderte Jugend in einer von Angst, Unterdrückung und Gewalt sich die Situation mit dem japanischen Angriff auf geprägten Umgebung verbracht. Sie spricht dieses den US Marine Stützpunkt in Pearl Harbour, Hawaii, Thema unvermittelt an, als sie mit Weina Zhao in ihr und der Ausweitung der japanischen Militäraktio- Heimatdorf reist, das sie lange nicht besucht hat. nen auf Südostasien. Der Krieg zwischen Japan und China war damit Teil des Zweiten Weltkriegs gewor- Der Krieg schwächte die damalige Regierung der den, und die Republik China kämpfte auf Seite der Republik China militärisch, ökonomisch und politisch, Alliierten unter der Führung der USA. Dieser Krieg obwohl China zu den Siegermächten des Zweiten Welt- endete nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee kriegs gehörte. Die Kommunistische Partei konnte in in die Mandschurei und dem Abwurf von zwei Atom- der Kriegssituation ihren Einfluss vor allem in den ländli- bomben auf die japanischen Städte Hiroshima und chen Gebieten ausbauen. In diesem Sinne war der Krieg Nagasaki durch die US-amerikanischen Streitkräfte eine wichtige Voraussetzung für den späteren Sieg der am 9. September 1945. KPCh und ihre Machtübernahme im Oktober 1949. „Wir konnten nirgends mehr hin, überall waren japanische Soldaten. Wir waren umzingelt […] Sie haben uns alle schmutzig angemalt. Manche haben sie entführt und zu Blumenmädchen gemacht.“ ● Nainai, TC: 00:48:30 Arbeitsaufgaben Die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Blumenmädchen“ (so die Bezeich- nung im Film) oder „Trostfrauen“ (so die Bezeichnung, die heute im Vordergrund der diesbezüglichen akademischen Diskussion steht) wird durch folgende Arbeitsaufgaben strukturiert: Die Schüler:innen suchen im Internet Informationen zu den Stichwörtern „Trostfrauen“ und „Blumenmädchen“. Sie bereiten zusammen eine Präsenta- tion vor, um den anderen zu erklären, was sich hinter dem Wort „Blumen- mädchen“, das von der Großmutter väterlicherseits im Film verwendet wird, verbirgt. Sie diskutieren in der Kleingruppe, warum die Großmutter plötzlich auf die Situation in ihrem Dorf während des Krieges gegen Japan zu sprechen kommt und gehen dabei auf folgende Fragen ein: Möchte sie ihrer Enkelin etwas erklären? Oder erinnert sie sich spontan an diese Zeit, weil sie wieder an dem Ort ist, an dem diese Erinnerungen ent- standen sind? Sieht sie einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen im Krieg und dem, was sich später in ihrem Leben ereignete? 26
Unterrichtseinheit 4 • Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China Aufmarsch von Jugendlichen am Tiananmenplatz zu Beginn der Kulturrevolution II. Was ist die Kulturrevolution? Lernziele Die Schüler:innen beschäftigen sich anhand des Textes über die Kulturrevolution mit der Situation in China während der Jahre zwischen 1966 und 1976. Im Unterschied zu den Erzählungen im Film setzen sie sich mit der Kulturrevolution als einer radikalen Jugendbewegung auseinander und erkennen, zu welchen schrecklichen Konsequen- zen jugendlicher Idealismus führen kann, wenn er für politische Kämpfe missbraucht wird. Zugleich lernen sie nachzuvollziehen, warum im Film das Reden über die Erleb- nisse aus der Kulturrevolution so wichtig ist. Die Kulturrevolution wurde offiziell am 16. Mai 1966 feind:innen, Revisionist:innen und Machthaber:innen, ausgerufen. Der damalige Führer der KPCh, Mao die „einen kapitalistischen Weg gehen“, zu säubern. Zedong, rief die Bevölkerung und insbesondere die Zunächst nur in Peking, dann auch in vielen anderen junge Generation dazu auf, sich auf die Grundwerte Städten im ganzen Land, gründeten Jugendliche eige- der sozialistischen Gesellschaft zu besinnen und alle, ne Organisationen, „Rote Garden“ genannt, die, von die dagegen verstießen, öffentlich zu kritisieren. Zu Maos Aufforderungen angespornt, andere Menschen Beginn richteten sich diese Angriffe gegen Intellek- öffentlich demütigten, denunzierten, folterten oder tuelle, Lehrer:innen an Schulen und Lehrende in den sogar töteten. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich Universitäten, Künstler:innen und Schriftsteller:innen, um Nachbarn und Nachbarinnen, Lehrer:innen, Freun- später aber auch gegen Funktionäre und Funktionärin- de und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen oder nen innerhalb der Partei. Der Kultur- und Lehrbetrieb Familienmitglieder handelte. Jede:r konnte an den kam zum völligen Stillstand. Jugendliche, Studierende Pranger gestellt werden, und jede:r wollte dies ver- und letztlich die gesamte Bevölkerung wurden dazu meiden und unter Beweis stellen, zum revolutionären aufgerufen, die Partei von sogenannten Klassen- Lager zu gehören. 27
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