Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht

Die Seite wird erstellt Günter Richter
 
WEITER LESEN
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Weiyena – Ein Heimatfilm:
Begleitmaterial für den
Unterricht
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
„Auf Chinesisch kann man das Zuhause gar nicht von
 der Familie trennen. Beides steckt in einem Wort – 家 JIA.
Ein Ort und ein Zustand zugleich – konkret und doch
 kaum greifbar.“
● Weina Zhao
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Didaktische Hinweise zur Verwendung                                 Altersstufe
des Begleitmaterials                                                Ab 13 Jahren

Das vorliegende Begleitmaterial enthält sieben Unterrichtseinhei-   Fächer
ten mit Aufgaben zur vertiefenden Auseinandersetzung mit den        Geschichte und Sozialkunde,
Motiven des Films.                                                  Geographie und Wirtschaftskunde,
                                                                    Deutsch, Politische Bildung,
Die Unterrichtseinheiten bauen aufeinander auf, können aber         Psychologie, Philosophie, Englisch,
auch einzeln oder fächerübergreifend verwendet werden. Die          Ethik, Bildnerische Erziehung,
ersten zwei Einheiten eignen sich zur Vorbereitung auf den Film,    Medienkunde
bieten Hintergrundinformationen und setzen sich mit den Haupt-
figuren auseinander. Damit kann das Interesse der Schüler:innen     Themen
im Vorfeld geweckt und eine höhere Aufmerksamkeit für den           China, Familie, Migration, Heimat,
Film im Unterricht erzielt werden. Die Arbeitsaufgaben sollen       Vergangenheitsaufarbeitung,
zur Diskussion und Selbstreflexion anregen und darüber hinaus       Kulturrevolution, Sino-Japanischer
selbstständige Arbeit und kritisches Denken fördern.                Krieg, Biographie, Ethik,
                                                                    Filmgeschichte, Dokumentarfilm,
Im Text wird auf weiterführende Literatur und Filme verwiesen,      Film als politisches Mittel
die sich zu einer schwerpunktmäßigen Beschäftigung mit der
chinesischen Zeitgeschichte eignen.

Zeichenerklärung

    Lernziele           Arbeitsaufgaben
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Inhalt

 5 Einleitung

 6 Unterrichtseinheit 1: Die Filmemacherinnen und ihre Ziele

10 Unterrichtseinheit 2: Der Film und seine Hauptfiguren

18 Unterrichtseinheit 3: Was ist ein Dokumentarfilm?

24 Unterrichtseinheit 4: Zwei wichtige Ereignisse aus der
    Geschichte der VR China

30 Unterrichtseinheit 5: Wie wird in China mit der
    Erinnerung an die Kulturrevolution umgegangen?

34 Unterrichtseinheit 6: Wie geht die KPCh mit ihrer Rolle
    in der Kulturrevolution um?

38 Unterrichtseinheit 7: Ist „Weiyena – Ein Heimatfilm“
    eigentlich ein Heimatfilm?

42 Chronologie der Familiengeschichte

45 Danksagung

46 Quellen und weiterführende Literatur

47 Über das Bildungsnetzwerk China

48 Impressum

                                                               3
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
4
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Einleitung

Der Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ wurde von zwei       genheit, insbesondere mit bestimmten Elementen der
Filmemacherinnen konzipiert und über mehrere Jahre       Geschichte seit der Gründung der Volksrepublik China
hinweg in China aufgenommen. Eine der beiden Auto-       im Jahre 1949. Viele Ereignisse dieser Zeit werden aus
rinnen heißt Weina Zhao, sie wurde in China geboren      heutiger Sicht als negativ oder problematisch be-
und ist in Wien aufgewachsen. Weiyena 维也纳 ist die        urteilt, haben Menschenleben gekostet und stehen der
chinesische Bezeichnung für Wien, daran erinnert         Kommunistischen Partei nicht gut zu Gesicht. Doch
Weina Zhaos Vorname.                                     nicht nur der Staat, auch viele Menschen selbst bli-
                                                         cken lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit, um
Weina Zhao ist zweisprachig aufgewachsen und spricht negative und mit Schmerzen verbundene Erfahrungen
Deutsch und Chinesisch. Zur Schule gegangen ist sie      zu verdrängen und vergessen. Diejenigen, die andere
in Österreich und hat später in Wien studiert, doch mit verletzt haben, schämen sich manchmal ihrer Taten
ihren Verwandten unterhält sie sich auf Chinesisch. Ihre oder empfinden sie immer noch als gerechtfertigt.
Sommerferien verbrachte sie als Kind und Jugendliche Auch diese Menschen sind wenig daran interessiert,
regelmäßig in China, vor allem seitdem ihr Vater nach    die Vergangenheit aufzuarbeiten. Viele Täter betrach-
einiger Zeit in Wien wieder dorthin zurückgekehrt ist,   ten sich als Opfer, und Menschen, die in einer Phase
um ein Unternehmen zu gründen. Weina Zhao ist also       der Geschichte Opfer waren, wurden in einer anderen
zwischen zwei Ländern und Kulturen aufgewachsen          Phase selbst zu Tätern. Kaum jemand kann das Privileg
und hat diesen Film unter anderem gedreht, um mehr       in Anspruch nehmen, an all den Geschehnissen gänz-
über die Geschichte ihrer eigenen Familie zu erfahren. lich unbeteiligt gewesen zu sein.

                                                        Weina Zhao hat es mit der Kamera, ihrer Co-Regisseu-
 So ist ein Film entstanden, in dem verschiedene Mitglie-
                                                        rin Judith Benedikt und ihrem Team geschafft, eine
 der ihrer Familie – die Mutter, der Vater, die Großeltern
 mütterlicherseits und die Großeltern väterlicherseits  Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Die Mit-
– ihren Blick auf die Geschichte des Landes darlegen,   glieder ihrer Familie überwinden sich, sie erzählen aus
 in dem sie leben, eine Geschichte, die jeweils eng mit ihrem Leben und davon, wie sie mit der Vergangenheit
 ihrem persönlichen Schicksal verbunden ist. Weina      leben. Der Film legt Zeugnis davon ab, wie schwierig
Zhao versucht, durch diesen Prozess des Erzählens zu    und schmerzhaft eine solche Auseinandersetzung ist,
 einer eigenen Sichtweise zu finden, um sich trotz der  wie wenig wir aber darauf verzichten können, wenn
 geographischen Distanz und der unterschiedlichen       es darum geht, unseren Platz in der Gesellschaft und
 Lebenswelten innerhalb der Familie zu positionieren.   in der Welt zu finden. „Weiyena“ ist ein Film über die
                                                        Geschichte als Heimat des modernen Menschen. Wir
Es ist gar nicht so leicht, als Mitglied einer jüngeren können in verschiedenen Ländern leben und arbeiten,
Generation von den Eltern oder Großeltern etwas über uns immer wieder an neue Situationen anpassen,
deren Vergangenheit zu erfahren. In der Volksrepublik unsere eigene Geschichte aber wandert immer mit uns,
China ist das besonders schwierig. Der Staat vermei-    sie gehört zu uns. Sie wegzulegen hieße, einen Teil von
det eine allzu intensive Beschäftigung mit der Vergan- uns selbst zu missachten.

                                                                                                                   5
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Unterrichtseinheit 1:
    Die Filmemacherinnen
    und ihre Ziele

      Lernziele   Bevor sich die Schüler:innen den Film anschauen, lernen sie die beiden Regisseurin-
                  nen kennen und setzen sich mit dem Hintergrund und den Zielsetzungen des Filmes
                  auseinander. Sie reflektieren, inwieweit die Anliegen der Regisseurinnen auch ihre
                  eigenen Anliegen sein könnten. Dadurch wird die Fremdheit des Themas – die Ge-
                  schichte einer chinesischen Familie – näher an die Erfahrungswelt der Schüler:innen
                  herangerückt. Sie erkennen, dass es in ihrer eigenen Familiengeschichte möglicher-
                  weise Parallelen gibt.

                  Die beiden Regisseurinnen nennen persönliche und politische Gründe dafür, warum
                  die Arbeit an dem Film für sie wichtig war. Weina Zhao spricht von Selbstfindung,
                  Judith Benedikt spricht die Notwendigkeit an, sich mit der Vergangenheit auseinan-
                  derzusetzen, um ein Wiederholen der Geschichte, insbesondere historischer Ent-
                  wicklungen, die zu großem Leid für die Menschen geführt haben, zu verhindern.
                  Eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Aussagen soll die Schüler:innen dazu
                  anregen, Geschichte nicht als eines von vielen Fächern in der Schule zu begreifen,
                  sondern es auf sich persönlich und auf die gegenwärtige Situation in dem Land, in
                  dem sie leben, zu beziehen.

                  Die Schüler:innen

                      denken darüber nach, inwiefern sie Teil ihrer Familie sind oder sich von dieser
                      distanziert haben oder distanzieren wollen.

                      erkennen, dass sich eine Familie auch über ihre gemeinsame Geschichte defi-
                      nieren kann und dass diese gemeinsame Geschichte oft nicht Gegenstand von
                      Familiengesprächen ist.

                      denken über die Geschichte ihres jeweiligen Herkunftslandes nach und versu-
                      chen, einen Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischen Ereignissen der
                      letzten Jahre und ihrer Familie herzustellen.

6
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Unterrichtseinheit 1 • Die Filmemacherinnen und ihre Ziele
Weina, Nainai und Judith, April 2019

Ein Gespräch mit den
Filmemacherinnen
Weina Zhao wurde 1986 in Peking geboren und kam             Großmutter als Regisseurin und Filmeditorin gearbei-
als Kind mit ihren Eltern nach Wien. Als Jugendliche        tet hat, ist es für Weina alles andere als selbstver-
interessiert sie sich für Star Trek und Fußball, fährt im   ständlich, diesen Beruf zu ergreifen. Nach ihrer ersten
Sommer mit ihren Eltern nach China und besucht die          Zusammenarbeit mit Judith Benedikt wird ihr bewusst,
Schule in Wien. Am Wochenende bringt ihr die Mutter         dass sie eine berufliche Karriere als Filmemacherin ver-
das Lesen und Schreiben chinesischer Schriftzeichen         folgen möchte. Sie schlägt Judith Benedikt vor, einen
bei. Nach der Matura absolviert Weina an der Universi-      Film über ihre eigene Familie zu drehen. Das Ergebnis
tät Wien ein Studium der Sinologie, also der Chinakun-      ist „Weiyena – Ein Heimatfilm“.
de, und schließt dieses mit einem Bachelor und einem
Master Titel ab.                                            Judith Benedikt, 1977 in Lienz geboren, hat Bild-
                                                            technik, Kamera und Schnitt an der Universität für
Ihre ersten Erfahrungen als Filmemacherin sammelt           Musik und Darstellende Kunst in Wien studiert und
sie in der Zusammenarbeit mit Judith Benedikt. Judith       als Kamerafrau an zahlreichen Dokumentar- und
Benedikt suchte für einen Film über Chinesinnen und         Spielfilmen mitgewirkt. Dabei hat sie ein ausgepräg-
Chinesen in Wien jemanden, der die chinesische Spra-        tes Interesse für China und Ostasien entwickelt und
che beherrschte, Kontakte zur chinesischen Bevölke-         in vielen Ländern der Welt, insbesondere in Ländern
rung in Wien herstellen und sie bei den Dreharbeiten        des globalen Südens, gearbeitet. Ihr Regiedebüt
unterstützen konnte. Obwohl schon Weinas Urgroßvater        war „China Reverse“, ein Film über Chinesinnen und
ein berühmter Filmemacher in China war und auch ihre        Chinesen in Wien.

                                                                                                                            7
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Sigrid Rehak und Stefan Wackerlig, Studierende des Masterstudiengangs Sinologie
    an der Universität Wien, fragten die beiden Filmemacherinnen, wie die Arbeit an
    dem Film sie verändert hat und ob sie durch die Gespräche mit Weinas Familie ein
    neues Verständnis für die chinesische Geschichte gewonnen haben.

    Weina Zhao : Für mich war es auf jeden Fall eine            Judith Benedikt : Das war bei uns schon ein sehr gro-
    Selbstfindungsreise, das habe ich aber erst mit der Zeit     ßer Wunsch, von der Familiengeschichte von Weinas
    realisiert. Bei meiner Mutter habe ich gefühlt, dass sich    Familie zu erzählen, die in diesem Fall zwar eine chine-
    schon etwas getan hat. Und in den Jahren, in denen wir       sische Geschichte ist, aber trotzdem haben in vielen
    den Film gedreht haben, ist meine Oma richtig aufge-         Ländern der Welt Menschen eine ähnliche Familien-
    blüht. Sie hat sich geöffnet und man hat gemerkt, dass       geschichte. Natürlich sind die politischen Zusammen-
    es ihr ein Anliegen ist, über diese Dinge zu reden. Sie      hänge ein bisschen anders, aber es gibt eben fast keine
    hat sich geschmeichelt gefühlt, dass sich endlich je-        Länder – mit Ausnahme der Schweiz vielleicht [lacht]
    mand für sie und die Ereignisse aus ihrer Vergangenheit     – in denen es in den letzten Jahrzehnten keine Kriege
    interessiert, und das war auch ein Entwicklungsprozess       gegeben hat. In unserer Generation und in den zwei,
    für sie. Bei dem Interview am Anfang des Films hat die       drei, vier Generationen zuvor hat es mit Sicherheit in
    Oma sehr kurz und knapp ihr Leben zusammengefasst            den meisten Ländern der Welt politisch schwierige
    und wäre nicht auf die Idee gekommen, mehr Details zu       Zeiten gegeben, die die Menschen traumatisiert haben,
    erzählen. Das hat sich mit der Zeit geändert.                in denen ganz viele Menschen auch von einem transge-
                                                                 nerationalen Trauma betroffen sind. Deswegen war uns
    Ich habe durch die Auseinandersetzung mit meiner             das wichtig, dass das eigentlich eine Geschichte ist, die
    Familiengeschichte erst Geschichte und viele Zusam-          weltweit gültig ist. Weil es auch noch sehr viel Bedarf
    menhänge verstanden. Zu der Zeit, als wir angefangen         gibt, gerade auch in Österreich, wo die Geschichte des
    haben, zu recherchieren, begann ich, das politische          Nationalsozialismus noch nicht so lange her ist und viel
    Tagesgeschehen in China genauer zu verfolgen, und            zu wenig aufgearbeitet worden ist. Das war uns natür-
    plötzlich hat einfach alles so viel Sinn gemacht. Wir        lich auch bewusst, und wir wollten dazu anregen, sich
    haben geschaut, wie die Zensur gerade ist, wie sensibel      mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen und zu
    das Thema Kulturrevolution gerade ist, ob man darüber        fragen: Was war vorher? Auch um zu verhindern, dass
    reden kann oder wo wir noch hinfahren können, um             Geschichte sich wiederholt. Deswegen finden wir es
    Dinge festzuhalten, die damit zu tun haben. Das war im       wichtig, sich damit zu beschäftigen. In China wie in
    Jahr 2015. 2016 begann die strikte Zensur von Themen,        Österreich gibt es auch jetzt wieder Tendenzen, dass
    die mit der Kulturrevolution zu tun hatten. Das Wenige,      sich zumindest Teile der Geschichte wiederholen oder
    das es dazu gab, verschwand immer weiter. So gesehen         annähernd wiederholen, natürlich in einer anderen
    standen Geschichte und Politik plötzlich in einem direk-     Form, weil es eine andere Zeit ist.
    ten Zusammenhang mit unserem Leben, und das war
    schon eine sehr interessante Erfahrung. Das war auch
    ein Grund für die Idee, mit euch gemeinsam das Mate-
    rial zum Film zu machen. Weil das so ein Punkt war, der
    mir während meines Studiums gefehlt hatte, dass es so
    abstrakt war. Für mich war es weniger greifbar während
    des Studiums, damals gab es auch soziale Medien noch
    nicht in dem heutigen Ausmaß. Aber es macht viel mehr
    Spaß, etwas zu studieren, wenn man versteht, was das
    mit einem selbst zu tun hat.

8
Weiyena - Ein Heimatfi lm: Begleitmaterial für den Unterricht
Unterrichtseinheit 1 • Die Filmemacherinnen und ihre Ziele
Arbeitsaufgaben   Die Schüler:innen bilden kleine Diskussionsgruppen. Da in der Diskussion zum
                  Teil sehr persönliche Fragen angesprochen werden, sollten die Diskussions-
                  gruppen so zusammengestellt sein, dass die Schüler:innen Vertrauen zueinander
                  entwickeln können. Folgende Fragen können diskutiert werden:

                      Welche Ereignisse aus deinem Leben sind dir besonders wichtig? Hast du
                      darüber schon einmal mit deiner Familie und deinen Freunden und Freun-
                      dinnen gesprochen? Sind das Ereignisse, an die du dich gerne erinnerst, weil
                      sie schöne Ereignisse sind? Oder hast du eher ein schlechtes Gefühl, wenn
                      du darüber nachdenkst?

                      Welches Ereignis aus der Geschichte des Landes, aus dem du stammst,
                      kommt dir besonders wichtig vor? Woher weißt du, dass es wichtig ist? Ist
                      es ein Ereignis, mit dem du etwas Positives verbindest? Oder bedrückt es
                      dich, wenn du an dieses Ereignis denkst?

                     Weißt du, was Deine Familie erlebt hat, als sich dieses Ereignis abspielte?
                     Wenn du es nicht weißt, wen in deiner Familie könntest du fragen, um eine
                     Antwort auf diese Frage zu erhalten?

                      Die Diskussion der vorgeschlagenen Fragen lässt die Schüler:innen eine Ant-
                      wort auf die Frage suchen, ob es gut und richtig ist, sich mit der Familienge-
                      schichte auseinanderzusetzen. Im Anschluss können sie eine Stellungnahme
                      zu folgender Aussage von Weina Zhao verfassen, die aus dem Film stammt:

            „Will ich das alles wissen? Geht es mir nun besser, nachdem mir die vielen
            Grausamkeiten bekannt sind, die meine Familie durchleben musste?“
            ● Weina, TC: 01:06:03

                  Für die Ergebnissicherung und Reflexion können

                      Wandzeitungen erstellt werden. Diese werden im Klassenzimmer aufgehängt
                      und während der Beschäftigung mit dem Film laufend ergänzt und korrigiert.
                      Wandzeitungen enthalten nicht nur Texte, sie können auch Zeichnungen oder
                      sonstige graphische Elemente nutzen.

                      bei Verfügbarkeit digitaler Infrastruktur und mobiler Endgeräte alternativ
                      auch ein Padlet als digitale Wandzeitung erstellt werden.

                      Lerntagebücher geführt werden. Die Lehrkraft kann selbst festlegen, wer
                      welche Texte lesen und Feedback geben soll.

                                                                                                        9
Unterrichtseinheit 2:
     Der Film und seine Hauptfiguren
                                                                                               Urgroßvater
                                                                                                1904 1967

                 Großvater                       Großmutter                       Großvater                  Großmutter
                 1927 2019                           1930                         1925 2018                  1928 2005

                                    Vater                                                          Mutter
                                     1954                                                           1955

                                                                   Weina Zhao
                                                                       1986

     Einleitung                       Weina Zhao erzählt in dem Film die Geschichte ihrer Familie aus unterschiedlichen
                                      Perspektiven. Sie bezieht die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits in die
                                      Erzählung ein und gewinnt dadurch eine historische Tiefe, die bis in die dreißiger
                                      Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgreift. Der Film fängt fast 100 Jahre und damit
                                      die Erfahrungen von drei Generationen ein: das Leben der Großeltern, der Eltern und
                                      das Leben von Weina Zhao.●1

     Lernziele                        In dieser Einheit machen sich die Schüler:innen mit den Hauptfiguren des Films und
                                      ihren Lebensgeschichten vertraut. Die Erzählung dieser Geschichten folgt keiner
                                      linearen Chronologie; die Schüler:innen gewinnen einen ersten Einblick in den Ab-
                                      lauf der historischen Ereignisse und vergleichen sie mit bestehenden Vorkenntnissen.
                                      Sie erkennen dabei, dass innerhalb einer Familie viele unterschiedliche Erfahrungen
                                      weiterleben und die Familie ein Ort sein kann, in dem sich diese Unterschiedlichkeit
                                      und ein gemeinsames Leben nicht gegenseitig ausschließen. Die Schüler:innen wer-
                                      den sich der Tatsache bewusst, dass die Familie mehrere Versionen der Geschichte der
                                      VR China seit 1949 erzählt. Außerhalb Chinas und in der westlichen Berichterstattung
                                      wird oft der Eindruck vermittelt, dass die Menschen in China alle so denken müssen,
                                      wie es die Partei von ihnen verlangt.

                                      In der im Film dargestellten Familie leben Opfer und Täter:innen aus der Zeit der
                                      Kulturrevolution, Menschen, die durch die Machtübernahme der Kommunistischen
                                      Partei Chinas (KPCh) sozial abgestiegen, und Menschen, die aufgestiegen sind,
                                      nebeneinander. Trotz dieser zum Teil diametral entgegengesetzten Erfahrungen
                                      bilden sie eine Familie.

10   ●1
     In der begleitenden Powerpoint Präsentation werden alle
     Familienmitglieder vorgestellt und die Beziehungen in einem
     Familienstammbaum dargestellt.
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren
                         „Ich mochte Mao nicht. Er hat über alle gerichtet. Jeden
                         hat er gequält. Ärzte und alle, die eine schlechte Herkunft
                         hatten, wurden malträtiert. [...] Ohne ihn [Mao] wäre auch
                         nichts gegangen. Ohne einen Anführer geht es ja nicht.“
                         ● Nainai, TC: 01:09:52 / 01:10:42

Die Großmutter väterlicherseits
(chinesisch: „Nainai“ 奶奶)
Die Großmutter väterlicherseits ist in einem Dorf       schen miterlebt hat, wirkt sie nicht bedrückt und
aufgewachsen, das während des Zweiten Welt-             nimmt keine Opferrolle ein. Sie ist eine starke Frau,
kriegs von japanischen Truppen besetzt war. Ob-         die den Konflikt mit ihrem Mann ebenso wenig
wohl sie nur zwei Jahre die Schule besuchen konnte,     scheut wie eine klare Ausdrucksweise. Im Film
ergriff sie nach der Gründung der VR China im Jahr      wird deutlich, dass sie bisweilen andere Menschen
1949 den Beruf der Kindergärtnerin. Sie lebte mit ih-   durch ihre Äußerungen vor den Kopf stößt.
rem Mann an verschiedenen Orten in der VR China,
zuletzt in Peking. Während der Kulturrevolution von     Die Aussagen der Großmutter über Maos Politik
1966 bis 1976 beteiligte sie sich nach eigenen Aus-     und über die Politik der Kommunistischen Partei
sagen wenig an den turbulenten politischen Kampa-       scheinen sich zu widersprechen. Obwohl sie unter
gnen, sondern ging ihrer beruflichen Tätigkeit.         der Regierung von Mao nicht gelitten hat, äußert
                                                        sie eine negative Meinung über ihn. Gleichzeitig
Die Großmutter hat in ihrem Dorf eine schwere           betrachtet sie aber Maos Führung als notwendig
Kindheit und Jugend erlebt. Trotzdem scheint sie        für die Entwicklung des Staates. Der Widerspruch
besonders entspannt und geradezu stolz, als sie         zwischen diesen zwei Aussagen der Großmutter
mit ihrer Enkeltochter in ihr Heimatdorf fährt. Ob-     zeigt nicht nur ihre eigene Haltung, diese kann auch
wohl sie Krieg und Bürgerkrieg, den Tod ihrer Eltern    stellvertretend für eine Meinung gesehen werden,
und das gewaltsame Sterben von vielen Mitmen-           die viele Menschen in China teilen

                                                                                                                11
Der Großvater väterlicherseits
     (chinesisch: „Yeye“ 爷爷)
     Der Großvater väterlicherseits stammt aus der           in der Hauptstadt leben zu dürfen. Er ist stolz da-
     Stadt Tangshan, die 1976 während eines schreck-         rauf, ein Langstreckenläufer zu sein und betreibt
     lichen Erdbebens zerstört wurde. Er besucht mit         bis ins hohe Alter Sport.
     den Regisseurinnen seine Heimatstadt und fühlt
     sich dort vollkommen fremd. Die Stadt sieht nach        Der kritischen Haltung der Großmutter gegenüber
     dem Wiederaufbau ganz anders aus als zu seinen          der Kommunistischen Partei entgegnet er:
     Jugendzeiten. Außerdem ist er in seinem Berufs-        „Nachdem es dir jetzt gut geht, solltest du dich bei
     leben viel herumgekommen und hat sich von               der Partei und dem Staat bedanken. Dafür, dass sie
     seinem Ursprungsort entfernt. Überhaupt scheint         sich so gut um die Pensionäre kümmern.“
     er in einer Welt zu leben, die nicht die seine ist. Im ● Yeye, TC: 00:18:53
     Laufe des Filmes wird er immer wortkarger und
     weltabgewandter. Er stirbt, bevor der Film fertig-     Zwischen ihm und seiner Frau gibt es viele Mei-
     gestellt wird.                                          nungsunterschiede. So haben sie auch über ihre
                                                             jeweilige Beteiligung an der Kulturrevolution unter-
     Die Geschichte der VR China ist für den Großvater schiedliche Ansichten. Die Großmutter wirft ihrem
     eine Geschichte des sozialen Aufstiegs. Aus ein-        Mann vor, sich an Grausamkeiten während der
     fachen Verhältnissen stammend wird er Ingenieur Kulturrevolution beteiligt zu haben und stellt sich
     und auf einem für die ökonomische Entwicklung           demgegenüber als weitgehend unbeteiligt dar. Er
     in China wichtigen Ölfeld eingesetzt. Um dieser         akzeptiert diese Erzählung nicht.
     Verpflichtung nachzukommen, lässt er seine Frau
     zurück und – so berichtet er im Film – ist froh, sie Der Großvater väterlicherseits ist das einzige Fami-
     zurücklassen zu können. Eigentlich will er sich         lienmitglied, das als Täter in der Kulturrevolution
     scheiden lassen, doch die Partei lässt das nicht zu. bezeichnet werden kann, und seine Aussagen illust-
     Für seine gute Arbeit wird er zuletzt nach Peking       rieren, wie er mit dieser Erinnerung umgeht und wie
     versetzt und erhält das Privileg, mit seiner Familie er seine Rolle als Täter beurteilt.

           „Halte dich an die Fakten, das [die Behauptung,
           dass viele Konterrevolutionäre von seiner Fraktion
           erschlagen wurden] ist so nicht passiert.“
           ● Yeye, TC: 00:59:34

12
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren
                          „Viele Tragödien setzen sich hier [in China] fort, auch die
                          Politik der systematischen Volksverdummung. [...] Die
                          Machthaber haben das Volk an der Nase herumgeführt.
                          In der jüngeren chinesischen Geschichte wurden viele
                          Tatsachen vor den meisten Menschen geheim gehalten.“
                          ● Baba, TC: 01:21:29 / 01:23:00

Der Vater
(chinesisch: „Baba“ 爸爸)
Weina Zhaos Vater ist 1985 nach Österreich ausge-        was dieser begonnen hat. Dieser Aufstieg erfolgt
wandert. Er ist der Erste in seiner Familie, der China   unter neuen Bedingungen. Dabei hat er – anders
verlässt. Für ihn war es wichtig, im Ausland tun zu      als sein Vater – sich nicht den Anliegen von Partei
können, was er für richtig hielt, und damit auch         und Staat unterworfen, sondern hat die im Zeit-
finanzielle Freiheit zu gewinnen, die ihm in China       alter von Reform und Öffnung neu entstandenen
damals nicht gewährt war. Seine Tochter und seine        Möglichkeiten genutzt, um zunächst ins Ausland
Ehefrau bleiben zunächst in China. Als Weina Zhao        zu gehen und dann als erfolgreicher Unterneh-
vier Jahre alt ist, folgen sie dem Vater. Doch es hält   mer zurückzukehren. Beides wäre vorher nicht
ihn nicht in Wien. Als er erkennt, dass sich China als   möglich gewesen. Wie sein Vater spricht er nicht
ein Ort anbietet, an dem er sich doch noch verwirk-      viel, zeigt aber in seinen Aussagen, dass er sich
lichen kann, kehrt er dorthin zurück und baut ein        viele Gedanken darüber gemacht hat, was in den
Unternehmen auf. Das Publikum lernt ihn als einen        letzten Jahrzehnten in seinem Land vor sich ge-
vergleichsweise wohlhabenden Mann im Ruhestand           gangen ist.
kennen, der gerne im Garten arbeitet.
                                                         Der Vater ist neben seiner Tochter der einzige in der
Der Vater hat einen sozialen Aufstieg verwirk-           Familie, der die politischen Verhältnisse in China
licht, der dem Großvater einerseits fremd ist, der       offen kritisiert. Trotzdem ist er im Gegensatz zu
gleichzeitig aber eine Fortsetzung dessen ist,           seiner Frau nach China zurückgekehrt.

                                                                                                                 13
„Schließlich haben sie eine Untersuchung eingeleitet. Der
          Untersuchungsleiter hat dann zu mir gesagt: Du hast nichts
          gemacht, du warst nur ein Reichensöhnchen und hast mit denen
          nichts zu tun gehabt. Du bist unschuldig. Du hast dich nur mit
          anderen vergnügt.“
          ● Gonggong, TC: 00:21:36

                    „Ich bin ein Mensch, der sich
                    sehr gut anpassen kann.“
                    ● Gongong, TC: 00:48:30

     Der Großvater mütterlicherseits
     (chinesisch: „Gonggong“ 公公)
     Der Großvater mütterlicherseits stammt aus            Filmeditorin und Regisseurin von Wochenschau-
     einem völlig anderen gesellschaftlichen Milieu. In    Filmen in der staatlichen Filmindustrie. Sie war
     Shanghai aufgewachsen, der internationalsten und      hoch angesehen und erhielt Preise für ihre Arbeit.
     modernsten Stadt im China der Dreißiger- und Vier- Es ist erstaunlich, dass sie trotz ihrer Verbindung zu
     zigerjahre, war er durch seine Tätigkeit am Thea-     einem Ehemann, dem die KPCh skeptisch gegen-
     ter und seinen Schwiegervater Ying Yunwei, der        überstand, ein unbeschwertes Leben führen konnte.
     damals als Vorreiter des modernen Films in China      In der Kulturrevolution wird sie jedoch als Agentin
     galt, eng mit Kunstschaffenden und Intellektuellen    Amerikas verdächtigt und 1967 eingesperrt. Als sie
     verbunden und ein Leben in Wohlstand gewöhnt.         1974 zu ihrer Familie zurückkehren darf, leidet sie
     Mit der Machtübernahme durch die KPCh im Jahr         an Schizophrenie. Der Großvater hält ihr die Treue,
     1949 verliert er nicht nur seine Privilegien, er gilt obwohl er weiß, dass sie unter dem Druck ihrer An-
     auch als potentieller Feind. Er muss lernen, sich den kläger viele Menschen zu Unrecht beschuldigt hat.
     Bedingungen anzupassen und zu beweisen, dass er
     nicht gegen die Partei arbeitet. Er wird einer ent-   Der Großvater mütterlicherseits gehört eindeutig
     sprechenden Untersuchung unterzogen und schafft zu den Opfern der Kulturrevolution und zu jener ge-
     es, sie von seinen guten Absichten zu überzeugen.     sellschaftlichen Gruppe, die durch die Machtergrei-
     Er zieht nach Peking und arbeitet dort in der Kultur- fung der KPCh einen sozialen Abstieg erfuhr, der
     industrie, gerät jedoch 1966 erneut unter Verdacht    insbesondere die ökonomische Seite ihres Lebens
     und muss während der Kulturrevolution durch           betraf, aber auch mit einem hohen Ansehensverlust
     körperliche Arbeit unter Beweis stellen, dass er sich verbunden ist. Dem Verlust von Reichtum und An-
     der Herrschaft der KPCh unterwirft.                   sehen begegnet der Großvater mit Anpassung und
                                                           Hinnahme vieler Schicksalsschläge. Er berichtet von
     Das Schicksal des Großvaters mütterlicherseits ist    seiner Angewohnheit, immer kalt zu duschen. Dies
     auch dadurch geprägt, was seiner Frau widerfahren kann auch als Symbol für Anpassung und Abhär-
     ist. Sie stammte, wie er, aus Shanghai und arbeitete tung verstanden werden. Über seine Erfahrungen
     nach der kommunistischen Machtübernahme als           spricht er beinahe emotionslos.

14
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren
Die Mutter
(chinesisch: „Mama“ 妈妈)
Weina Zhaos Mutter, in Peking geboren, wuchs              wie ihre Großmutter, Karriere in der Filmbranche
in einer Familie auf, in der ihr Vater die KPCh von       gemacht. Doch so ist aus dem Kind einer Künst-
seiner Loyalität überzeugen musste und die Mutter         lerfamilie eine „Proletarierin“ geworden. Nach
in einem Bereich tätig war, der für die Herrschaft        maoistischer Ideologie wurde sie damit in eine
der KPCh wichtig war. Die Kinder, Weinas Mutter           gesellschaftliche Klasse aufgenommen, deren
und ihre Schwester, sind so erzogen worden, dass          Loyalität zur KPCh nicht in Frage steht. Damit hat
kein Zweifel an der Legitimität der KPCh und ihres        sie das Bestreben ihrer Eltern, sich anzupassen,
Herrschaftsanspruches aufkommen konnte. Doch              vollendet.
während der Kulturrevolution werden die Kinder
von ihren Eltern getrennt. Zu dieser Zeit ist Weina       Nach ihrer Heirat ändern sich die Verhältnisse,
Zhaos Mutter erst 12 Jahre alt und muss sich alleine      und sie entschließt sich, ihrem Ehemann mit
durchs Leben schlagen. Als die Mutter davon be-           ihrer Tochter nach Österreich zu folgen. Als der
richtet, bricht sie in Tränen aus. Sie ist die einzige,   Ehemann beschließt, nach China zurückzukehren,
die ihre Schmerzen und ihre Wunden zu erkennen            entscheidet sie sich für den Verbleib in Wien. Sie
gibt und das Publikum daran teilhaben lässt.              erklärt im Film, dass es die Freiheit ist, die sie in
                                                          Österreich genießen kann, die sie dazu bewogen
Mit 17 Jahren erhält die Mutter Arbeit in einer Uh-       hat. Sie wollte ihrer Tochter ein besseres Leben
renfabrik. Eigentlich hätte sie gerne studiert und,       ermöglichen.

                „Unsere Erfahrungen sind etwas, die nur
                wenige Menschen in ihrem Leben gemacht
                haben.“
                ● Mama, TC: 01:02:59

                                                                                                                  15
Die Großmutter mütterlicherseits
         (chinesisch: „Abu“ 阿婆 ●2) und der
         Urgroßvater
         Weina Zhaos Großmutter mütterlicherseits und         als diese in Shanghai durch die damalige Regie-
         der Urgroßvater sind bereits verstorben, spielen     rung grausam verfolgt wurde. Doch das zählt
         aber dennoch eine wichtige Rolle für den Film. Ihr   während der Kulturrevolution nicht. Er wird,
         Urgroßvater Ying Yunwei war einer der frühesten      obwohl schon hoch betagt, öffentlich angeklagt.
         Filmemacher Chinas und drehte 1934 den ersten        Dabei bricht er zusammen und fällt während des
         chinesischen abendfüllenden Tonfilm „Taolijie“       Abtransports von der Pritsche. Er stirbt auf offener
         (engl.: „Plunder of Peach and Plum“). Er kommt je-   Straße und unter den Augen seiner Ankläger.
         doch während der Kulturrevolution ums Leben. Bis
         dahin hatte er alle Anfeindungen überstanden und     Seine Tochter Ying Xuan, Weina Zhaos Großmutter,
         sogar Filme gedreht, die von der KPCh und der        tritt in seine Fußstapfen. Die Geschichte der beiden
         Zensur positiv rezipiert wurden. Eigentlich müsste   wird durch Weina Zhao und die noch lebenden
         er große Anerkennung im neu gegründeten kommu-       Familienmitglieder erzählt. Szenen ihrer filmischen
         nistischen Staat genießen, hatte er sich doch noch   Arbeiten werden mit der Erzählung des Films ver-
         zu Zeiten der KPCh angeschlossen,                    woben.

16   ●2
     Im Shanghai Dialekt wird 阿婆 („Apo“), Großmutter
     mütterlicherseits, als „Abu“ ausgesprochen.
Unterrichtseinheit 2 • Der Film und seine Hauptfiguren
Arbeitsaufgaben   In der begleitenden Powerpoint Präsentation wird den Schüler:innen die Familie
                  von Weina Zhao vorgestellt. Sie erhalten die Texte über die Familienmitglieder
                  aus diesem Begleitheft zum Nachlesen und beantworten in Partnerarbeit oder
                  Kleingruppen folgende Fragen:

                      Wer aus der Familie hat aus heutiger Sicht ein zufriedenes
                      und erfülltes Leben geführt?

                      Wer betrachtet sich als Opfer der Entwicklung in der VR China seit 1949?
                      Wer ist Opfer der Entwicklungen?

                      Wer betrachtet sich als Täter:in, der/die andere Menschen aus
                      politischen Gründen gequält hat? Wer ist Täter:in?

                      Ist die Anpassung an politische Verhältnisse eine Garantie für ein
                      sorgenfreies Leben?

                  Die Schüler:innen erstellen eine Tabelle auf der Grundlage der Diskussionsergeb-
                  nisse und unterscheiden zwischen der Selbstwahrnehmung der Familienmitglie-
                  der und der Einschätzung, die aus den Kurzbiographien hervorgeht. Sie lassen
                  eine Spalte in der Tabelle offen, in der sie ihre eigenen Einschätzungen eintragen
                  können.

                      Dann sehen sich die Schüler:innen den Film an.

                                                                                                       17
Unterrichtseinheit 3:
     Was ist ein Dokumentarfilm?

     Einleitung   Der Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ ist ein Dokumentarfilm, der nicht einfach die
                  Wirklichkeit abbildet, sondern ästhetisch und inhaltlich künstlerisch gestaltet ist. In
                  dieser Unterrichtseinheit geht es darum, das Genre des Dokumentarfilms genauer
                  kennenzulernen und sich damit auseinanderzusetzen, wie die Regisseurinnen die
                  Geschichte der Familie von Weina Zhao erzählen, gestalten und dem Publikum
                  näherbringen.

     Lernziele    Die Schüler:innen hinterfragen die angebliche Objektivität des Dokumentarfilmgenres
                  und erwerben Wissen darüber, wie Erzählstrategien in Dokumentarfilmen umgesetzt
                  werden. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit das Publikum eines
                  Dokumentarfilmes davon überzeugt werden muss, die Glaubwürdigkeit der Erzäh-
                  lung anzunehmen, überprüfen sie ihr eigenes Identifikationsverhalten und gewinnen
                  jenseits der Fremdheit des Stoffes ein tieferes Verständnis für die im Film darge-
                  stellten Zusammenhänge. Sie entdecken die Filmemacherin als Protagonistin des
                  Films und überprüfen, inwieweit sie sich mit ihr identifizieren können.

18
Was ist ein Dokumentarfilm?

                                                                                                                         Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm?
Am einfachsten lässt sich das damit ausdrücken, was       Für viele Dokumentationen der 1930er und 1940er
ein Dokumentarfilm nicht ist: er ist kein Spielfilm. Er   Jahre war der Einsatz einer auktorialen Erzählstimme
erzählt keine ‚erfundene‘ Geschichte, sondern aus         charakteristisch. Diese:r auktoriale, ‚allwissende‘ Erzäh-
dem ‚wahren Leben‘, etwas Authentisches. Trotzdem ler:in wird auch ‚voice of God‘ genannt, wird optisch
ist er aber kein Sach- bzw. Unterrichtsfilm, da er nicht  nicht dargestellt und erweckt den Anschein, außerhalb
nur informiert, sondern beansprucht, den Gegenstand des Films zu stehen.
ästhetisch zu gestalten. In der frühen Filmgeschichte
wurde jeder Film als dokumentarisch bezeichnet. Ein       In den 1950er und 1960er Jahren bestimmten techni-
Film bestand aus Bildern, die Geschehnisse dokumen- sche Neuerungen die Entwicklung des Dokumentar-
tierten. Die Filme der Brüder Lumière am Ende des         films. Leichtere, tragbare Kameras führten zur Heraus-
19. Jahrhunderts zeigten beispielsweise kurze Szenen      bildung neuer Filmstile wie Direct Cinema und Cinema
aus dem Alltag, wie in ihrem Film „Arbeiter verlassen     verité. Diese Filmstile zielten auf die objektive, wirklich-
die Lumière-Werke“ von 1895. Wichtig für das Ver-         keitsgetreue Darstellung des Gezeigten ab. Zum ersten
ständnis des Begriffs Dokumentarfilm war dann vor         Mal war es möglich, Menschen ohne deren Mitwissen
allem der Film „Moana“ von Robert Flaherty aus dem        zu filmen. Die Erzählstimme wurde etwas zurückge-
Jahr 1926, der von der Lebensweise der Pazifik-Insu-      drängt und war nicht mehr so allwissend wie in frühe-
laner auf der Insel Samoa handelte. Von der Filmkritik ren Dokumentarfilmen.
wurde dieser Film als dokumentarisch bezeichnet,
doch Flaherty hatte bewusst Schauspieler:innen unter In den 1960ern festigte der Dokumentarfilm seine
den Bewohnern von Samoa gecastet, die bestimmte           Stellung als Genre auch durch seinen Einsatz im Me-
Rollen spielten, so wie es bei Spielfilmen üblich ist. In dium des Fernsehens. Dokumentationen konnten einer
den 1920er Jahren entstanden auch avantgardistische, Reportage ähnlich sein oder einen didaktischen Zweck
impressionistische Filme, die ebenfalls dem Doku-         verfolgen. In den 1980er Jahren kamen verstärkt Filme
mentarfilm zugeordnet werden. Dazu gehören Filme          mit dem Einsatz von Zeitzeugen-Interviews auf, und
des sowjetischen Filmemachers Dziga Vertov und des seit den späten 1990er Jahren gibt es das sogenannte
Niederländers Joris Ivens, in denen die ästhetische       Reality-TV, welches als von der dokumentarischen Film-
Gestaltung der abgebildeten Wirklichkeit eine beson- sorte abgegrenzt aber auch als ihr zugehörig angese-
dere Rolle spielt.                                        hen werden kann.

                                                                                                                         19
Der Filmkritiker Bill Nichols identifiziert sechs Erzählstrategien oder
        Modi, die für den Dokumentarfilm charakteristisch sind:

        Poetischer Modus : Lineare Kontinuität wird ver-         Beobachtender Modus : Dieser Dokumentarfilmstil
        mieden, dafür wird die ästhetische Gestaltung mit-       wurde vor allem von der oben genannten Cinema
        hilfe von Stimmung, Ton und Komposition der Bilder       Verité-Bewegung genutzt. Die Filmemacher:innen
        betont. Da rein poetische Dokumentarfilme oft nur        sind bestrebt, die Wahrheit ihres Filmthemas zu
        wenig oder gar keinen erzählerischen Inhalt haben,       entdecken. Das reale Leben soll beobachtet werden,
        wird es zur Aufgabe der Kameraperson, hoch kom-          wobei die Kamera unauffällig sein soll, um einen
        ponierte, visuell auffällige Bilder aufzunehmen, die     möglichst authentischen Zustand festzuhalten.
        auch ohne Text eine Geschichte erzählen können.          Auch die Anwesenheit der filmenden Personen soll
                                                                 möglichst wenig Einfluss nehmen.
        Expositorischer Modus : Hier vermittelt die all-
        wissende, auktoriale Erzählstimme ein bestimmtes         Reflexiver Modus : Hier machen die Filmema-
        Thema. Es wird eine spezifische Sichtweise ver-          cher:innen deutlich, dass sie nicht die Realität
        treten, die durch das Kameramaterial illustriert wird.   abbilden, sondern bewusst einen Film herstellen.
        Der Film hat eine belehrende oder propagandisti-         Filmmaterial, das Szenen hinter der Kulisse oder
        sche Funktion.                                           technische Apparaturen zeigt, findet Eingang in
                                                                 den Film. Das Publikum wird dadurch auf die gestal-
        Partizipativer Modus : Kennzeichnend für den par-        terische Rolle der Filmemacher:innen aufmerksam
        tizipativen Erzählmodus ist die Interaktion zwischen     gemacht.
        Dokumentarfilmer:in und Akteuren und Akteurinnen
        des Films. Die Filmemacher:innen stehen nicht nur        Performativer Modus : Dieser Modus ist dem parti-
        hinter der Kamera, sie kommen selbst im Film vor,        zipatorischen Modus ähnlich. Auch hier interagie-
        beispielsweise indem sie ein Interview führen oder       ren die Filmemacher:innen mit den Akteurinnen und
        ihre Stimme im Hintergrund hörbar ist. Dieser Mo-        Akteuren in ihrem Film, beispielsweise in Form von
        dus ähnelt dem, weiter unten genannten, performa-        Interviews. Dabei legt der performative Modus ein
        tivem Modus. Der Unterschied besteht darin, dass         größeres Augenmerk auf die persönliche, subjektive
        im partizipativen Modus die interviewten Personen        Sichtweise der gefilmten Personen.
        z.B. als Expertinnen und Experten von Dingen, die
        allgemeine Gültigkeit besitzen, erzählen, während
        im performativen Modus die subjektive Sichtweise
        der interviewten Personen wichtiger ist.

     Diese Erzählstrategien schließen sich gegenseitig nicht     tät schon allein dadurch nicht gegeben sein kann,
     aus. Während der Entwicklung des Dokumentarfilms            dass das Kameramaterial immer nur einen Aus-
     gab es unterschiedliche Trends, doch keiner der Erzähl-     schnitt der Wirklichkeit zeigt. Die Filmemacher:in-
     modi hörte je auf zu existieren, und auch in einem ein-     nen müssen eine Reihe von Entscheidungen über
     zigen Film können mehrere dieser Modi nebeneinander         das Thema des Films und darüber, wer oder was im
     angewendet werden.                                          Mittelpunkt stehen wird, welche Aspekte beleuchtet
                                                                 werden und wie sie dies realisieren sollen, tref-
     Die Vielfalt dieser Erzählstrategien macht deutlich,        fen. Deshalb fließen immer gewollt oder ungewollt
     wie unterschiedlich die Auffassungen davon sind,            subjektive Auffassungen in die im Film dargestellte
     wie sich ‚Wahrheit’ so authentisch wie möglich dar-         Wirklichkeit ein. Durch die Art und Weise, wie der
     stellen lässt. Inzwischen herrscht die Ansicht vor,         Film erzählt wird und wie Bilder und Musik ein-
     dass es sich beim Dokumentarfilm um ein subjekti-           gesetzt werden, wird das wichtigste Merkmal des
     ves Medium handelt, da der Anspruch auf Objektivi-          Dokumentarfilms, seine Glaubwürdigkeit, erzeugt

20
und dem Publikum vermittelt, das diese wiederum        winden, Verbündete oder Mentoren und Mentorin-

                                                                                                                  Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm?
subjektiv annimmt und für sich interpretiert. Mittel,  nen zu treffen, schwierige Aufgaben zu lösen und an
die dazu dienen, diese Glaubwürdigkeit herzustel-      den Ausgangspunkt zurückzukehren als veränderter
len, sind der Einsatz von Materialien wie Interviews,  Mensch. In einem solchen Prozess wird Spannung
Fotografien, Dokumenten, das Filmen von gewöhn-        aufgebaut, zu ihrem Höhepunkt geführt und wieder
lichen Alltagssituationen sowie die Verwendung au-     abgebaut. So entsteht die Glaubwürdigkeit der Erzäh-
thentischer Sprache, von Dialekten und Geräusch-       lung und die Möglichkeit des Publikums, sich in die
kulissen.                                              Situation hineinzuversetzen, sich mit dem Held oder
                                                       der Heldin oder zu identifizieren und das Zuschauen
Wie im Spielfilm arbeiten Dokumentarfilmer:innen mit als ebensolche Reise zu entdecken, wie die Akteure
dramaturgischen Mustern. Häufige Anwendung findet und Akteurinnen im Film. Da der Dokumentarfilm
die sogenannte Helden- oder Heldinnenreise. Dabei      nicht mit einer Fiktion arbeitet, in welcher die Schau-
handelt es sich um ein Erzählmuster, das erstmals in   spieler:innen zugewiesene Rolle übernehmen, sondern
der Mitte des 20. Jahrhunderts von dem amerikani-      die Erzählung aus dem Material gewinnt, welches
schen Mythenforscher Joseph Campbell und in den        im Zuge der Dreharbeiten entsteht, besteht für die
späten 1990er Jahren in etwas abgeänderter Form von Filmemacher:innen die Aufgabe darin, nach den oben
dem Drehbuchautor Christopher Vogler beschrieben       vorgestellten, dem Publikum bis zu einem gewissen
wurde. Die Idee dahinter ist, dass gewisse Strukturen, Maße vertrauten Mustern, die Erzählung aus dem
die wir aus alten Mythen und Legenden kennen, in der vorhandenen Material zu konstruieren. Der kreative
modernen Literatur und im Film immer wieder bedient Akt liegt darin, das Publikum von der Erzählstrategie
werden. Dabei lassen sich die Helden und Heldinnen     zu überzeugen und das Identifikationspotential der
mit den Hauptfiguren gleichsetzen. Die Zuseher:in-     Akteure und Akteurinnen so zu verteilen, wie es der
nen sind aufgerufen, sich mit den Hauptpersonen zu     von den Filmschaffenden intendierten Glaubwürdig-
identifizieren und mit ihnen gemeinsam ‚auf die Reise’ keit entspricht.
zu gehen. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist der Ruf,
der die Heldin oder den Held ereilt, damit diese:r die Es ist also davon auszugehen, „dass eine emotionale
gewohnte Umgebung verlässt und sich auf die Reise      Bindung zwischen Zuschauer und Zeitzeuge nicht von
macht. Auf dieser Reise gilt es, Hindernisse zu über-  allein entsteht. Nicht die bloße Anwesenheit eines Zeit-

Weina ist im Film alleine im Bad (TC: 00:39:25)

                                                                                                                  21
zeugen in einer historischen Dokumentation erzeugt      Angst und Tod zusammenhängen und Handlungen
     eine empathische Beziehung. Der Filmemacher muss,       thematisieren, die oft nicht die positiven Seiten der
     wenn er eine solche Beziehung wünscht, etwas dafür      Menschen offenbaren. Wie gelingt es dem Film trotz-
     tun – und er kann ihr entgegenwirken.“ ● 3              dem, unsere Aufmerksamkeit zu erwecken und uns in
                                                             die Geschichte hineinzuziehen?
     In dem Film „Weiyena – Ein Heimatfilm“ sprechen
     Zeitzeugen und Zeitzeuginnen über ihr Leben, das sie    Die Brücke zwischen der fremden Erzählung und dem
     unter Umständen geführt haben, die dem Publikum         Publikum ist die Erzählerin und Protagonistin des Films,
     außerhalb der VR China weitgehend unbekannt sind.       Weina Zhao. Mit ihr können wir uns identifizieren, mit
     Zugleich sprechen sie über Begebenheiten, die nicht     ihr können wir uns auf die Reise in die unbekannte Welt
     durch ihre Exotik oder ihre außergewöhnliche Schön-     der Geschichte unserer eigenen Familie begeben, und
     heit das Interesse des Publikums gewinnen, sondern      mit ihr können wir erfahren was es bedeutet, diese Welt
     sprechen Sachverhalte an, die mit Schmerzen, Verlust,   zu erkunden.

         Arbeitsaufgaben            Die Schüler:innen lesen den Hintergrundtext und diskutieren in Kleingrup-
                                    pen, welchen der dort vorgestellten Erzählmuster der Film „Weiyena – Ein
                                    Heimatfilm“ folgt. Ein Dokumentarfilm kann in unterschiedlichen Sequenzen
                                    unterschiedliche Erzählmuster bedienen. Die Schüler:innen erzählen Szenen
                                    aus dem Film nach, die sie beeindruckt haben, und finden dabei heraus, ob
                                    und inwiefern diese Teile eines Erzählmusters sind und welche Erzählmuster
                                    im Film nicht bedient werden.

                                     Jede Erzählung hat eine Struktur. Zunächst wird Spannung aufgebaut und
                                     dann, nachdem diese ihren Höhepunkt erreicht hat, wieder abgebaut. In
                                     welcher Szene erreicht der Film seinen Höhepunkt? Wer steht in dieser Sze-
                                     ne im Vordergrund? Was unterscheidet sie von anderen Szenen?

                                    Wer ist der Held oder die Heldin, die sich in diesem Film auf die Reise be-
                                    gibt? Wo beginnt diese Reise und wo endet sie?

                                    Die Schüler:innen schreiben für ein Filmmagazin eine Rezension über den
                                    Film. Warum sollten sich Zuschauer:innen den Film ansehen? Was ist gut ge-
                                    lungen und was nicht?

22   ●3
     Vogler, 1998, S.89
Making-of von Badezimmerszene
                                     Unterrichtseinheit 3 • Was ist ein Dokumentarfilm?

23
Unterrichtseinheit 4:
     Zwei wichtige Ereignisse aus
     der Geschichte der VR China

     Einleitung   Zwei Ereignisse aus der jüngeren chinesischen Geschichte haben für „Weiyena – ein
                  Heimatfilm“ eine besondere Bedeutung. Das eine ist der Zweite Sino-Japanische
                  Krieg (1937–1945), das andere die Kulturrevolution (1966–1976). Diese beiden Er-
                  eignisse werden von den Kleingruppen diskutiert, wobei jede Gruppe ein Thema
                  übernehmen und Gelegenheit haben sollte, über das Thema vor dem Klassenver-
                  band zu berichten. Die jeweiligen Arbeitsaufgaben werden hinter den Texten zu den
                  jeweiligen Schwerpunkten formuliert. Sie beziehen sich darauf, den Schülerinnen
                  und Schülern den Film und die in ihm angesprochenen historischen Ereignisse näher-
                  zubringen und verständlich zu machen, wie diese das Leben der Menschen geprägt
                  haben. Geschichte wird dadurch zu einem vielschichtigen Prozess, der Menschen
                  unterschiedlicher Herkunft auf unterschiedliche Weise involviert. Das Nachdenken
                  über Geschichte ist genauso vielfältig wie Geschichte selbst.

24
I. Was passierte während des

                                                                                                                    Unterrichtseinheit 4 • Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China
   Zweiten Sino-Japanischen Kriegs?

Lernziele                   Die Schüler:innen lernen anhand des Textes zum Zweiten Sino-Japanischen Krieg
                            etwas über die im Film angesprochenen Situation der japanischen Besetzung. Sie
                            lernen, den Begriff „Blumenmädchen“ zu verstehen und beschäftigen sich damit,
                            was es bedeutet, als „Trostfrau“ durch japanische Truppen zur Prostitution gezwun-
                            gen zu sein. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Problematik reflektieren die
                            Schüler:innen , welches Leid der Krieg der Zivilbevölkerung zufügt und wie die Er-
                            fahrung dieses Leids die spätere Entwicklung der Menschen prägt.

Mit dem Zweiten Sino-Japanischen Krieg bezeichnet         Als die japanischen Streitkräfte die chinesische
man den Krieg, der am 7. Juli 1937 mit dem „Zwischen-     Armee auch in Shanghai besiegt hatten, zogen die
fall an der Marco Polo Brücke“ in der Nähe von Peking     Soldaten weiter nach Nanjing. Nanjing war damals
begann und mit der Kapitulation Japans am 9. Sep-         die Hauptstadt der Republik China, und die japani-
tember 1945 endete. Dieser Krieg ist das Ergebnis von     sche Regierung plante, diese einzunehmen, um die
Spannungen zwischen Japan und China, die sich seit        chinesische Regierung in die Knie zu zwingen. Als die
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgebaut         Truppen im Dezember 1937 Nanjing erreichten, muss-
hatten. 1931 besetzte Japan einen großen Teil des chi-    ten sie erfahren, dass die chinesische Regierung die
nesischen Territoriums, die Mandschurei, und etablierte   Stadt aufgegeben und eine provisorische Regierung
dort einen Staat, der sich für unabhängig erklärte, de    an anderer Stelle etabliert hatte. Die japanischen Sol-
facto aber in großer Abhängigkeit zu Japan stand. Von     daten rächten sich an der Zivilbevölkerung und den
dort aus versuchte das japanische Militär, seinen Ein-    wenigen Soldaten, die noch in der Stadt waren. Das
fluss auf China zu vergrößern und unternahm immer         darauffolgende Wüten in der früheren Hauptstadt
wieder militärische Vorstöße in Gebiete unter chinesi-    wird heute als das Massaker von Nanjing bezeichnet.
scher Souveränität.                                       Allein in Nanjing wurden nach chinesischen Angaben
                                                          300 000 Zivilisten getötet und über 10 000 Frauen
In dieser angespannten Situation kam es in der Umge-      sexuell missbraucht. Einige von ihnen wurden auch
bung der Marco Polo Brücke außerhalb von Peking zu        unter dem Begriff der „Trostfrauen“ oder „Blumen-
Feuergefechten zwischen chinesischen und japanischen mädchen“ zu Zwangsprostituierten der japanischen
Truppen. Bis heute ist nicht geklärt, ob hier bewusst ein Soldaten gemacht.
Krieg ausgelöst wurde und, wenn ja, welche der beiden
Seiten den ersten Schritt unternahm. Zunächst sah es      Die Großmutter väterlicherseits ist im Norden Chinas
danach aus, als sollte es nicht zum Krieg kommen, doch aufgewachsen, wo die japanischen Truppen große
die Regierung der Republik China unter Tschiang Kai-      Landstriche besetzten und in den Dörfern Mädchen
schek entschied, den Widerstandskrieg gegen Japan zu dazu zwangen, den japanischen Soldaten als eben-
eröffnen, und die japanische Armee wurde angewiesen, solche „Blumenmädchen“ zu dienen. In vielen dieser
mit Peking und Tianjin zwei der wichtigsten Städte im     Dörfer wurde der Widerstand gegen die japanische
Norden Chinas zu besetzen.                                Armee von der Kommunistischen Partei organisiert,
                                                          weshalb die japanischen Soldaten dort mit beson-
Obwohl die japanische Armee wesentlich besser aus-        derer Brutalität gegen die Einheimischen vorgingen,
gerüstet und die Soldaten sehr gut ausgebildet waren, vermuteten sie doch in jeder Familie Mitglieder der
entschied die chinesische Militärführung, nicht nur im    kommunistisch geführten Guerillatruppen. Die Groß-
Norden Chinas Widerstand zu leisten, sondern die japa-    mutter berichtet von ihren Erlebnissen und verweist
nischen Truppen auch in Shanghai, also weiter im Süden, auch darauf, dass die japanischen Truppen in ihrem
direkt anzugreifen. Im Norden erzielten die japanischen   Dorf „Blumenmädchen“ verschleppt und die Getrei-
Streitkräfte eine Reihe von Siegen, doch im Süden kam es devorräte der Familien mitgenommen haben. Unter
zu einem erbitterten Kampf um Shanghai, der drei Mona- diesen Bedingungen lebten die Menschen im Norden
te andauerte und beiden Seiten große Verluste zufügte.    Chinas sieben Jahre lang.

                                                                                                                    25
Während China zu Beginn des Krieges gegen Japan       Die Großmutter väterlicherseits hat ihre Kindheit und
     international wenig Unterstützung erhielt, änderte    Jugend in einer von Angst, Unterdrückung und Gewalt
     sich die Situation mit dem japanischen Angriff auf    geprägten Umgebung verbracht. Sie spricht dieses
     den US Marine Stützpunkt in Pearl Harbour, Hawaii,    Thema unvermittelt an, als sie mit Weina Zhao in ihr
     und der Ausweitung der japanischen Militäraktio-      Heimatdorf reist, das sie lange nicht besucht hat.
     nen auf Südostasien. Der Krieg zwischen Japan und
     China war damit Teil des Zweiten Weltkriegs gewor-    Der Krieg schwächte die damalige Regierung der
     den, und die Republik China kämpfte auf Seite der     Republik China militärisch, ökonomisch und politisch,
     Alliierten unter der Führung der USA. Dieser Krieg    obwohl China zu den Siegermächten des Zweiten Welt-
     endete nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee      kriegs gehörte. Die Kommunistische Partei konnte in
     in die Mandschurei und dem Abwurf von zwei Atom-      der Kriegssituation ihren Einfluss vor allem in den ländli-
     bomben auf die japanischen Städte Hiroshima und       chen Gebieten ausbauen. In diesem Sinne war der Krieg
     Nagasaki durch die US-amerikanischen Streitkräfte     eine wichtige Voraussetzung für den späteren Sieg der
     am 9. September 1945.                                 KPCh und ihre Machtübernahme im Oktober 1949.

                    „Wir konnten nirgends mehr hin, überall waren japanische
                    Soldaten. Wir waren umzingelt […] Sie haben uns alle
                    schmutzig angemalt. Manche haben sie entführt und zu
                    Blumenmädchen gemacht.“
                    ● Nainai, TC: 00:48:30

        Arbeitsaufgaben        Die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Blumenmädchen“ (so die Bezeich-
                               nung im Film) oder „Trostfrauen“ (so die Bezeichnung, die heute im Vordergrund
                               der diesbezüglichen akademischen Diskussion steht) wird durch folgende
                               Arbeitsaufgaben strukturiert:

                                   Die Schüler:innen suchen im Internet Informationen zu den Stichwörtern
                                  „Trostfrauen“ und „Blumenmädchen“. Sie bereiten zusammen eine Präsenta-
                                   tion vor, um den anderen zu erklären, was sich hinter dem Wort „Blumen-
                                   mädchen“, das von der Großmutter väterlicherseits im Film verwendet wird,
                                   verbirgt.

                                   Sie diskutieren in der Kleingruppe, warum die Großmutter plötzlich auf
                                   die Situation in ihrem Dorf während des Krieges gegen Japan zu sprechen
                                   kommt und gehen dabei auf folgende Fragen ein:

                                   Möchte sie ihrer Enkelin etwas erklären? Oder erinnert sie sich spontan an
                                   diese Zeit, weil sie wieder an dem Ort ist, an dem diese Erinnerungen ent-
                                   standen sind?

                                   Sieht sie einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen im Krieg und dem,
                                   was sich später in ihrem Leben ereignete?

26
Unterrichtseinheit 4 • Zwei wichtige Ereignisse aus der Geschichte der VR China
Aufmarsch von Jugendlichen am Tiananmenplatz zu Beginn der Kulturrevolution

II. Was ist die Kulturrevolution?

Lernziele                      Die Schüler:innen beschäftigen sich anhand des Textes über die Kulturrevolution mit
                               der Situation in China während der Jahre zwischen 1966 und 1976. Im Unterschied zu
                               den Erzählungen im Film setzen sie sich mit der Kulturrevolution als einer radikalen
                               Jugendbewegung auseinander und erkennen, zu welchen schrecklichen Konsequen-
                               zen jugendlicher Idealismus führen kann, wenn er für politische Kämpfe missbraucht
                               wird. Zugleich lernen sie nachzuvollziehen, warum im Film das Reden über die Erleb-
                               nisse aus der Kulturrevolution so wichtig ist.

Die Kulturrevolution wurde offiziell am 16. Mai 1966           feind:innen, Revisionist:innen und Machthaber:innen,
ausgerufen. Der damalige Führer der KPCh, Mao                  die „einen kapitalistischen Weg gehen“, zu säubern.
Zedong, rief die Bevölkerung und insbesondere die              Zunächst nur in Peking, dann auch in vielen anderen
junge Generation dazu auf, sich auf die Grundwerte             Städten im ganzen Land, gründeten Jugendliche eige-
der sozialistischen Gesellschaft zu besinnen und alle,         ne Organisationen, „Rote Garden“ genannt, die, von
die dagegen verstießen, öffentlich zu kritisieren. Zu          Maos Aufforderungen angespornt, andere Menschen
Beginn richteten sich diese Angriffe gegen Intellek-           öffentlich demütigten, denunzierten, folterten oder
tuelle, Lehrer:innen an Schulen und Lehrende in den            sogar töteten. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich
Universitäten, Künstler:innen und Schriftsteller:innen,        um Nachbarn und Nachbarinnen, Lehrer:innen, Freun-
später aber auch gegen Funktionäre und Funktionärin-           de und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen oder
nen innerhalb der Partei. Der Kultur- und Lehrbetrieb          Familienmitglieder handelte. Jede:r konnte an den
kam zum völligen Stillstand. Jugendliche, Studierende          Pranger gestellt werden, und jede:r wollte dies ver-
und letztlich die gesamte Bevölkerung wurden dazu              meiden und unter Beweis stellen, zum revolutionären
aufgerufen, die Partei von sogenannten Klassen-                Lager zu gehören.

                                                                                                                         27
Sie können auch lesen