Wer bin ich, und wenn ja, warum? - Hans Christian Jurceka

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T H E R A P I E P R A X I S

     Hans Christian Jurceka
     Wer bin ich, und
     wenn ja, warum?
     Die Generation Y in der psycho-
     therapeutischen Praxis

     EINLEITUNG: WARUM EIN ARTIKEL                              Ich bin nun seit über zwei Jahren als Psychotherapeut
     ÜBER DIE GENERATION Y?                                     (anfangs in Ausbildung unter Supervision) in eigener
                                                                Praxis tätig und habe dabei viel mit Klient*innen zu

     A
                   ls Generation Y oder auch Millennials        tun, die man als Millennials bezeichnen könnte. In der
                   wird die Altersgruppe der zwischen 1980      Arbeit mit diesen Menschen habe ich viele wertvolle
                   und 2000 geborenen Menschen bezeich-         Erfahrungen gesammelt und hoffentlich hilfreiche
                   net. Diese Generation ist in der öffentli-   therapeutische Prozesse gestalten können. Dabei habe
                   chen Diskussion seit Jahren stark präsent    ich bei aller Individualität persönlicher Lebensge-
     und so gibt es auch eine Menge an medialen Beiträgen       schichten auch manche Gemeinsamkeiten feststellen
     und Literatur zu den aktuell 20- bis 40-Jährigen.          können, die im Kontext einer Psychotherapie als hilf-
     Aus den unterschiedlichsten Perspektiven, wie bei-         reiche Leitlinien dienen könnten.
     spielsweise der Verhaltenspsychologie oder der Perso-      Somit ist mein Gedanke, dass auch durch die Zusam-
     nalführung, erklären uns diverse Autor*innen die Be-       menfassung und Verkürzung einiger meiner Erfahrun-
     sonderheiten dieser Alterskohorte und, daraus abge-        gen ein Erkenntnisgewinn und Diskussionsbeitrag
     leitet, Ideen über den ‚richtigen Umgang‘ mit dieser       entstehen kann. Als solcher möge der vorliegende Ar-
     Generation. Die Fülle von Material, die sich dazu vor      tikel verstanden werden. Dabei möchte ich auch im-
     allem online findet, bestätigt auch schon das erste Kli-   mer bewusst eine Gegenposition im systemisch-konst-
     schee über die Generation Y: Ihre offensichtliche Ein-     ruktivistischen Sinne mitdenken, denn „es könnte im-
     zigartigkeit und besondere Unterschiedlichkeit, die ei-    mer auch ganz anders sein“.
     nen individuellen Zugang zu dieser speziellen Gruppe       Die Altersgruppe der (jungen) Erwachsenen zwischen
     notwendig erscheinen lässt.                                20 und 40 Jahren weist einerseits beträchtliche Unter-
     Und dabei muss natürlich – gerade in einem systemi-        schiede auf, was ihre Position im Familienlebenszyk-
     schen therapeutischen Kontext – vor Verallgemeine-         lus sowie individuellen Werthaltungen und Lebens-
     rungen gewarnt werden: Jeder Mensch und jedes Welt-        konzepte betrifft. Dennoch soll andererseits die Frage
     bild sind einzigartig und jede Zusammenfassung von         erlaubt sein, ob und wie sich einige der Charakteristi-
     Charakteristika ist somit eine Verkürzung, die per se      ka, die der Generation Y zugeschrieben werden, in der
     vieles auslassen wird.                                     psychotherapeutischen Arbeit zeigen und wie diese
     Was also ist die Idee bzw. Motivation hinter diesem        hilfreich utilisiert werden könnten. Zielsetzung ist so-
     Beitrag?                                                   mit, den Blick auf die Generation Y zu schärfen und zu

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überprüfen, wo einerseits übergeordnete Bilder und          kann man zum Beispiel bei der Namensgebung begin-
Konzepte über Millennials nützlich sein können und          nen:
wo andererseits Verallgemeinerungen einem hilfrei-          Millennials ist zunächst eine simple deskriptive Refe-
chen Arbeiten vielleicht im Wege stehen.                    renz auf die Zeit, in der diese Menschen geboren wur-
                                                            den und aufgewachsen sind, nämlich vor der Jahrtau-
UM WEN SOLL ES HIER GEHEN?                                  sendwende. Wenn man sich einige Jahre zurückerin-
EINE ANNÄHERUNG AN DIE GENERATION Y                         nert, dann fällt auf, dass der Zeitenwende rund um das
                                                            Jahr 2000 in der öffentlichen Diskussion eine große
Die Ausprägung von Unterschieden zwischen einzel-           Bedeutung zugeschrieben wurde. Zum einen gab es
nen Generationen bzw. Alterskohorten, die sich psy-         IT-Spezialist*innen und Technologieskeptiker*innen,
chologisch und soziologisch feststellen lassen, ist         die sich vor einem Zusammenbruch von technischen
durch eine Vielzahl von Effekten begründet. Zu diesen       Systemen aufgrund eines Y2K-Bugs fürchteten. Auch
zählen:                                                     in esoterischen Zirkeln schien der Wechsel vom Jahr
■ Soziale, gesellschaftliche und politische Rahmen-         1999 auf das Jahr 2000 mit einer – je nach Lesart – be-
   bedingungen, in denen die untersuchte Generation         deutsamen oder auch dunklen Vorahnung erfüllt zu
   aufwächst.                                               sein.
■ Eine Auseinandersetzung mit und eine Abgren-              Heute wissen wir, dass es aufgrund des Millenniums
   zung von der Vorgängergeneration.                        zu keinen größeren Katastrophen gekommen ist und
■ Die Zusammenfassung von Charakteristika von               dennoch scheint das Konzept eines Zeitenwandels
   Hunderttausenden oder gar Millionen Individuen,          eine Bedeutung zu besitzen. Wir stellen also fest: Die
   die Gemeinsamkeiten sichtbar macht, dabei aber           Millennials sind die letzten Menschen, die noch in
   immer auch statistisch verkürzt.                         den 1900er-Jahren geboren wurden.
■ Besonderes Augenmerk gebührt in diesem Zusam-             Generation Y ist die andere übliche Bezeichnung für
   menhang den prägenden Jahren zwischen 11 bis 15          diese Alterskohorte. Der Name stammt zunächst aus
   Jahren, in denen Menschen den Übergang von der           der Logik der Generationenfolge: Nach ihren Vorgän-
   Kindheit zum Erwachsenwerden vollziehen. In die-         gern, der Generation X, folgen alphabetisch die Ys. Bei
   sen Jahren entwickeln sich persönliche Eigenschaf-       der Erforschung typischer Charakteristika wurde die
   ten und Werthaltungen. Mitglieder einer Generati-        Namensgebung dann mit einer zweiten Bedeutung er-
   on teilen dadurch ein kollektives Erleben innerhalb      füllt: Lautmalerisch wird der Buchstabe Y im Engli-
   bestimmter gesellschaftlicher-sozialer-politischer       schen wie das Wort why ausgesprochen und dies
   Rahmenbedingungen.                                       scheint gut zu einer Generation zu passen, die sich die
Die einfachste Art sich der Generation Y zu nähern, ist     Frage nach dem Why, dem Warum, in vielen Lebensla-
jene der Namensgebung. In der Literatur wird die Al-        gen stellt. Auf dieser Lesart beruht auch die paradoxe
terskohorte als „Generation Y“ bezeichnet, weil sie auf     Frage im Titel dieses Beitrags, die natürlich eine Ab-
die zuvor definierte Generation X gefolgt ist. Die zweite    wandlung des bekannten Buchtitels von Richard Da-
verbreitete Bezeichnung „Millennials“ bezieht sich auf      vid Precht „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ dar-
die Tatsache, dass diese Menschen noch vor dem neu-         stellt (vgl. Precht, 2007).
en Millennium geboren wurden. Mit diesen beiden             Die beiden Bezeichnungen Millennials und Generati-
Charakteristika stellen wir somit fest, dass es um die      on Y werden in der Folge abwechselnd und synonym
Geburtenjahrgänge 1980 bis 1999 geht. Manchmal wird         verwendet.
dieser Zeitraum auch von 1980 bis 1995 defi-
niert, doch für diesen Artikel sollen die                               AUSGEWÄHLTES UND WEGGELASSE-
Jahrgänge 1980 bis 1999 betrachtet werden,                              NES: DIE CHARAKTERISIERUNG VON
da mir diese Generationseinteilung stimmi-                              MERKMALEN – EIN SYSTEMISCH-
ger erscheint. Die betroffenen Menschen                                 KONSTRUKTIVISTISCHER HINWEIS
sind somit zum Zeitpunkt des Verfassens
dieses Textes (2020) zwischen 21 und 40                                 In den folgenden Abschnitten geht es um
Jahre alt (vgl. Mangelsdorf, 2015, S. 13–14).                           charakteristische Eigenschaften, Haltungen
                                                                        und Verhaltensausprägungen, die der Gene-
WHAT’S IN A NAME? EINE                           MAG. HANS CHRIS-       ration Y zugeschrieben werden. Aus Grün-
                                                 TIAN JURCEKA ist
ANNÄHERUNG AN BENENNUNGEN                        Psychotherapeut (SF)
                                                                        den der Lesbarkeit beschreibe ich diese als
                                                 und Coach in eigener
                                                                        deskriptive, phänomenologische Zuschrei-
Will man sich einer Beschreibung der Gene-       Praxis in Wien.        bungen in der Gegenwart. Da dies der Kom-
ration Y bzw. der Millennials annähern, so       Kontakt: www.wie-      plexität von individuellen Lebensentwürfen
                                                 nercoaching.at

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     natürlich nicht gerecht werden kann, möchte ich zu      zur Reflexion und eine Lust an der Beschäftigung mit
     Beginn Folgendes vorausschicken: Wir betrachten Zu-     der persönlichen Weiterentwicklung. Eigene Lebens-
     sammenfassungen, statistische Auffälligkeiten und       entwürfe werden gerne kritisch hinterfragt und verän-
     Auslassungen, die in Summe ein Bild einer Generation    dert.
     zeichnen. Dieses beruht zum Teil auf soziologischen
     Studien, zum Teil auf medialen Diskussionen oder        – EINFLÜSSE DER ERZIEHUNG
     auch auf Selbstbeschreibungen von Millennials. Nicht    Die Eltern der Millennials haben in ihrer eigenen
     zuletzt fließen auch meine persönlichen Erfahrungen     Kindheit oftmals abwesende Eltern erlebt. Sie haben
     mit ein. In jedem Fall haben wir es mit individuellen   dadurch sowohl Aufmerksamkeit als auch Zeit ver-
     Perspektiven und Bedeutungs-Zuschreibungen zu tun.      misst. Bei den eigenen Kindern sollte dies anders wer-
     An dieser Stelle sei noch eine kulturelle Einschrän-    den und so wurden Millennials oft mit sehr viel Auf-
     kung erwähnt, die den Beobachter-Bias auch prägt:       merksamkeit bedacht. In vielen Medien wurde in den
     Die Studien und Diskussionsbeiträge, die sich im        letzten Jahren das Phänomen der Helikoptereltern be-
     deutsch- und englischsprachigen Raum finden, bezie-     sprochen: Die eigenen Kinder werden als Erfolgspro-
     hen sich in den meisten Fällen auf Untersuchungen       jekt betrachtet und benötigen umfassenden Schutz
     aus ebendiesen Kulturkreisen, d.h. sie sind geprägt     und intensive Förderung. Einerseits, um sie vor einer
     von einer nordamerikanischen oder westeuropäischen      Umwelt zu bewahren, die voller Gefahren steckt, ande-
     Perspektive. Meine daran angeschlossene praktische      rerseits, um sie fit für den Überlebens- und Karriere-
     Erfahrung bezieht sich in den überwiegenden Fällen      kampf in einer volatilen Zukunft zu machen.
     auf österreichische Klient*innen aus meiner Praxis in   So finden sich Erziehungskonzepte, in denen Genera-
     Wien.                                                   tion Y-Kids helikoptergleich umschwärmt, betreut und
     Aus den genannten Gründen möchte ich vorweg noch-       gefördert wurden. Teilweise wurden sie auch von klein
     mals diesen Hinweis geben: Die folgenden Beschrei-      auf wie Erwachsene auf Augenhöhe in den familiären
     bungen sind immer im systemisch-konstruktivisti-        Diskurs einbezogen. Als Folge wird Millennials oft
     schen Sinne zu verstehen. Das heißt, sie stammen von    nachgesagt, dass sie ein überhöhtes Konzept ihrer Ein-
     Beobachter*innen, die in ihre Beobachtungen immer       zigartigkeit sowie einen unerschütterlichen Glauben
     auch ihre eigenen Haltungen und Verhaltensweisen        an vielfältige optimistische Zukunftsmöglichkeiten
     mit einbringen. Dabei ist jede Beobachtung grundsätz-   entwickelten. Wenn beides auf dem weiteren Lebens-
     lich eine Einschränkung: Dort, wo zugeschrieben und     weg auf den Prüfstand gestellt wird, kann dies ein ho-
     ausgewählt wird, wird immer auch weggelassen. So-       hes Maß an Verunsicherung und Frustration hervorru-
     mit möchte ich diesen Artikel mit systemischer Ambi-    fen. Psychodynamische Ansätze würden hier feststel-
     valenz und einem kritischen Beobachter-Abstand ver-     len, dass offenbar eine narzisstische Störung entstan-
     standen wissen: Es könnten sich darin nützliche und     den ist. Auch wenn ich als Systemiker dies nicht so
     sinnstiftende Informationen befinden – es könnte je-    ausdrücken würde, so kann es doch sinnvoll sein, das
     doch im Einzelfall immer auch ganz anders sein!         in solchen Situationen vorhandene Potenzial für tiefe
                                                             Kränkungen mitzudenken (vgl. Miller, 1979, S. 20;
     RELEVANTE BESCHREIBENDE MERKMALE                        Mangelsdorf, 2015, S. 27–28).
     DER GENERATION Y
                                                             – FOKUS AUF FEEDBACK
     – DIE FRAGE NACH DEM WARUM                              Wie erwähnt, genossen viele Millennials eine partner-
     Wie erwähnt, stellen Millennials die Frage nach dem     schaftliche Erziehung auf Augenhöhe, in der ein er-
     Warum besonders laut und klar. Sie sind es gewohnt,     wachsener Diskurs und permanente Feedbackschlei-
     die Welt erklärt zu bekommen – egal ob im familiären    fen eine wichtige Rolle spielten. Durch einen intensi-
     Bereich oder durch eine immer unüberschaubarer          ven kommunikativen Austausch in der Familie erleb-
     werdende Zahl an Meinungsführer*innen in (sozia-        ten sie eine starke Wirksamkeit mit viel Mitbestim-
     len) Medien. Dazu gehört auch, Dinge verstehen zu       mung im Familienleben. Ebenso wurden dadurch die
     wollen und kritisch zu hinterfragen. Nicht alles wird   Diskursfähigkeit und die Orientierung auf Feedback
     gleich akzeptiert, wenn sich die tiefere Bedeutung      und Außenwirkung geschult. In Familie und Peer
     nicht erschließt oder wenn neue Informationen nicht     Group wird diese Erfahrung oftmals weiterhin erfüllt,
     in bisherige Zusammenhänge passen. Dies gilt sowohl     nicht jedoch in anderen sozialen Kontexten. Vor allem
     für Meinungen und Haltungen wie auch für Verhal-        die Arbeitswelt ist hier als eine Umgebung zu nennen,
     tensweisen: Es muss einen Sinn ergeben, sonst lohnt     in der Ansprüche an Feedbackkultur und Mitbestim-
     sich die Beschäftigung damit nicht. In vielen Fällen    mung nicht immer eingelöst werden – auch wenn es
     zeigen Millennials auch eine ausgeprägte Fähigkeit      hier in den letzten Jahren zu einem Umdenken in vie-

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len Organisationen kommt (vgl. Mangelsdorf, 2015, S.      habe, wirklich gut genug?“ Oder wie Millenials es sa-
53-54).                                                   gen würden: „Fear of Missing Out“, d. h. die Angst, et-
                                                          was (Besseres) zu versäumen.
– SCHNELLLEBIGKEIT UND HOHE ERWARTUNGEN                   Diese Frage kann Stress und große (Selbst-)Zweifel in
In der Zeit, in der die Generation Y geprägt wurde, hat   allen Lebensbereichen verursachen, die sich in Refle-
sich der technologische Fortschritt enorm beschleu-       xionen wie diesen aus meiner therapeutischen Praxis
nigt. Vor allem Entwicklungen im Bereich der Digitali-    äußern:
sierung haben das Alltagsleben stark verändert. Dies      – Habe ich den richtigen Job oder kann ich noch er-
hat auf der einen Seite zu einer extrem raschen Verfüg-       folgreicher werden?
barkeit von Informationen, Waren und Dienstleistun-       – Sollte ich bei der Arbeit noch mehr Spaß haben /
gen geführt. Eine Lieferkultur ist entstanden, die            noch mehr Sinn erleben?
höchste Ansprüche erzeugte: Wenn Amazon Prime das         – Ist meine Partner*in attraktiv genug oder kann ich
bestellte Paket einmal nicht gleich am nächsten Tag           eine*n bessere*n finden – das Angebot auf Tinder
liefert oder bei der Mjam-Essensbestellung die                sieht doch recht verlockend aus?
Asia-Noodles in der Packung verrutschen, reagieren        – Mache ich genug Sport oder sind mir die Influen-
Millennials schnell mit negativen Bewertungen im In-          cer auf Instagram schon wieder voraus?
ternet oder erbosten Anrufen beim Customer Service.       – Bin ich noch ein guter Mensch, wenn ich mich
Auf der anderen Seite hat diese Schnelllebigkeit auch         nicht vegan ernähre wie der Rest meiner Peer
zu der (unterschwelligen) Verpflichtung geführt,              Group?
selbst immer rasch reagieren zu müssen. Egal ob es        (vgl. Rosa, 2017, S. 10–11; Heinzlmaier und Ikrath,
sich um die Antwort auf ein berufliches E-Mail oder       2013, S. 76–77).
einen WhatsApp-Chat unter Freunden handelt: Die
Idee, immer online zu sein und Kommunikation              – WETTBEWERB IN ARBEITSWELT UND PRIVATLEBEN
schnellstmöglich erledigen zu müssen, erzeugt bei         Ein geflügeltes Wort aus der Werbung war einst: „Der
Millennials viel Stress. Dieser wirkt sich nicht nur im   Vergleich macht Sie sicher!“ Im Fall der Millennials
beruflichen Kontext, sondern auch privat aus. In dem      gilt oft das Gegenteil: Der Vergleich im permanenten
Maß, in dem Informationen schneller verfügbar wer-        Wettbewerb macht sehr unsicher. Die typische Vertre-
den und man dadurch „Zeit
spart“, steigt der eigene An-
spruch, diese Zeit bestmöglich
nutzen zu müssen und immer        Wenn alles möglich ist, dann steigt der
weiter zu optimieren. Gleich-
zeitig wird es durch die Viel-
                                  Druck, dass auch immer das Bestmögliche
zahl an Möglichkeiten quasi       verwirklicht werden muss. Ein permanenter
unmöglich, in einem einzigen
Leben alles, was sinnerfüllend    Optimierungszwang, der sich in der Frage
oder auch nur interessant         widerspiegelt: „Ist das, was ich gerade ver-
wäre, jemals auszuschöpfen.
Durch     das     zwangsläufige   wirklicht habe, wirklich gut genug?“
Scheitern an diesem Anspruch
richtet sich der Fokus auf einen schnellen Wechsel        ter*in der Generation Y ist jeden Tag auf den sozialen
zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Geist             Medien mit unzähligen perfekt in Szene gesetzten
schafft es immer weniger, im Hier und Jetzt präsent zu    Traumkörpern (junger) Influencer konfrontiert, die
sein.                                                     als digitale Nomaden um die Welt reisen und dabei
Die Belastung, die hier entstehen kann, wird durch ei-    scheinbar mühelos Geld verdienen, schöne Menschen
nen paradoxen Widerspruch weiter verstärkt: Es ist        kennenlernen und Cocktails schlürfen.
zwar scheinbar alles jederzeit und überall verfügbar,     Gleichzeitig ist das Tempo in der Arbeitswelt in den
doch durch die volatile Umgebung ist es äußerst unsi-     letzten Jahren weiter gestiegen. Der Wettbewerb ist so-
cher, dass ich auch wirklich das bekomme, was ich mir     mit nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch im
erträume – sei es beruflich oder privat. Zudem, wenn      Bereich Karriere hart geworden. Und der Arbeitsmarkt
alles möglich ist, dann steigt der Druck, dass auch im-   wird härter. Millennials reagieren ambivalent auf die-
mer das Bestmögliche verwirklicht werden muss. Ein        sen Belastungsfaktor: Einerseits sind sie bereit, Leis-
permanenter Optimierungszwang, der sich in der Fra-       tung zu erbringen, andererseits ist der Erfolg um jeden
ge widerspiegelt: „Ist das, was ich gerade verwirklicht   Preis nicht mehr attraktiv. Sinn und Selbstverwirkli-

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     chung werden deutlich höher bewertet als in den Ge-       von Kindesbeinen an mit digitalen Technologien und
     nerationen zuvor. Nur wenn eine tiefere Bedeutung in      dem Internet vertraut geworden. Dadurch haben sich
     einer Tätigkeit erkennbar ist, will die Generation Y im   viele ihrer Interaktionen in die virtuelle Welt verla-
     Job die extra Meile gehen. Denn sie hat auch erfahren,    gert. Gleichzeitig treffen sie die Unterscheidung zwi-
     dass überdurchschnittlicher Einsatz gerade im beruf-      schen äußerer Welt und Online-Umgebungen weniger
     lichen Kontext nicht immer belohnt wird. So optimie-      strikt als ältere Zeitgenossen. Es geht nicht um ein
     ren Millennials ihre persönliche Work-Life-Balance        Entweder-Oder, sondern das Virtuelle ist eine selbst-
     bewusster als die vorigen Generationen, was aber nicht    verständliche Erweiterung der physischen Realität, in
     heißt, dass es keinen Einsatz bis zum Burnout mehr        der sich Millennials mit Leichtigkeit bewegen. Immer
                                                                                      online zu sein und das Smart-
                                                                                      phone als Überlebenswerkzeug
                                                                                      in allen Lebenslagen zu benut-
Während es in ihrer Elterngeneration                                                  zen, ist eine Selbstverständlich-
noch üblich war, viele Jahre bei einem                                                keit.
                                                                                      Millennials geben an, dass sie
Unternehmen tätig zu sein, ist die Arbeits-                                           eher auf Sex, Alkohol und
welt nun von deutlich höherer Fluktuation                                             Fleisch als auf ihr Smartphone
                                                                                      verzichten würden und checken
geprägt. Häufige Jobwechsel sind für die                                              ihr Handy 50 bis 80 Mal pro Tag.
Generation Y selbstverständlich und von                                               Bei aller Nützlichkeit bietet die-
                                                                                      ser Umgang mit Technologie na-
langfristiger Planung haben sich viele                                                türlich auch neue Herausforde-

Millennials verabschiedet.                                                            rungen: Cybermobbing ist zum
                                                                                      Beispiel ein Thema, das bekann-
                                                                                      te soziale Probleme verschärft
     gibt. Gerade im wachsenden Segment der Start-Up-Un-       hat. Virtuelle Welten und digitale Tools weisen ein ge-
     ternehmer finden sich viele Selbstständige, die beim      wisses Suchtpotential auf. Auch der soziale Druck,
     Arbeitseinsatz langfristig über ihre Grenzen hinausge-    permanent mit Technologie interagieren zu müssen,
     hen – mit negativen Folgen für die physische und psy-     kann Belastungen hervorrufen. Phänomene wie digi-
     chische Gesundheit.                                       tale Desinformationskampagnen, Fake News und ein-
     Dass die Zukunft insgesamt volatiler wird, bekommen       geschränkte Informationsblasen sind über die Gene-
     die Millennials ebenso im Arbeitsleben zu spüren:         ration Y im Mainstream unserer Gesellschaft ange-
     Während es in ihrer Elterngeneration noch üblich war,     kommen (vgl. Kobza, Chang, Schwabl, 2018, S. 39–40,
     viele Jahre bei einem Unternehmen tätig zu sein, ist      51).
     die Arbeitswelt nun von deutlich höherer Fluktuation
     geprägt. Häufige Jobwechsel sind für die Generation Y     – SELBSTVERWIRKLICHUNG
     selbstverständlich und von langfristiger Planung ha-      Einige der folgenden Punkte wurden bereits angespro-
     ben sich viele Millennials verabschiedet. Flexibilität    chen, sollen aber hier nochmals vertieft werden, weil
     lautet die Devise und diese wird durchaus optimis-        dieses Thema für die Generation Y besonders wichtig
     tisch und freudvoll gelebt. Frühere Generationen mö-      zu sein scheint. Millennials sind in vielen Fällen von
     gen sich noch Sorgen über Lücken oder Brüche im Le-       einem Wunsch nach Verstehen und Sinnstiftung ange-
     benslauf gemacht haben, für die Generation Y ist es       trieben, der sich durch alle Lebensbereiche zieht. Dazu
     durchaus üblich, zwischen Anstellung und Selbststän-      gehört die Idee, sich selbst in seinem Sein und Tun zu
     digkeit hin und her zu wechseln, dazwischen auf eine      verwirklichen, seine persönliche Vorstellung von
     sechsmonatige Weltreise zu gehen oder das Berufsfeld      Glück zu realisieren und durch fortwährende Weiter-
     mehrmals im Leben zu wechseln. Die sozialen Fakto-        entwicklung seine Möglichkeiten maximal auszu-
     ren einer Tätigkeit und die Möglichkeit zur Sinnstif-     schöpfen. Dies äußert sich durch eine große Offenheit
     tung sind wichtiger geworden als langfristige Stabili-    gegenüber Weiterbildungs- und Selbstreflexionsange-
     tät oder steile Karriereversprechen (vgl. Heinzlmaier     boten. Egal ob Coaching und Seminare im beruflichen
     und Ikrath, 2013, S. 67–70; Kobza, Chang, Schwabl,        Kontext oder Selbsterfahrung, Psychotherapie und
     2018, S. 32-33; Huber und Rauch, 2013, S. 22).            verwandte Angebote im privaten Umfeld – persönliche
                                                               Entwicklung steht hoch im Kurs. Manchmal kann die-
     – UMGANG MIT TECHNOLOGIE                                  se jedoch auch zu Desorientierung oder Stressbelas-
     Die Generation Y ist als erste Generation überhaupt       tung führen. Wenn die Idee, zur besten Version seiner

16   S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 3 / 2 0
Selbst zu werden, starken Leistungsdruck erzeugt,            zu haben sind, stellt sich die Frage nach dem Wie und
führt der Weiterentwicklungsimpuls im Extremfall in          Warum einer festen Beziehung. So zeigt es sich, dass
ein Burnout. Millennials schielen auf Mitglieder ihrer       romantische Beziehungen zunehmend wie ökonomi-
sozialen Referenzgruppen (die heutzutage durch die           sche Austauschprozesse wahrgenommen und bewertet
Digitalisierung weltweite Communities umfassen),             werden (vgl. Heinzlmaier und Ikrath, 2013, S. 44–45).
vergleichen sich mit anderen und erleben oft Gefühle         „Fear of Missing Out“ ist ein Begriff für das Gefühl der
von Konkurrenz oder Unzulänglichkeit (vgl. Heinzlm-          Millennials, immer auf der Suche nach dem Nächst-
aier und Ikrath, 2013, S. 78–80).                            besseren zu sein, weil man Angst hat, etwas zu versäu-
Ebenso kann der hohe persönliche Anspruch beim               men. Das wirkt sich auch auf Partnerschaften aus: Die-
Streben nach Glück eine Belastung darstellen, frei           se werden häufig schnell angebahnt, aber bei Kompli-
nach John Stuart Mill: „Frage dich selbst, ob du glück-      kationen auch schnell wieder losgelassen. Das führt
lich bist, und du hörst auf, es zu sein“ (vgl. Watt Smith,   bei Betroffenen zu Unsicherheit und Frustration.
2017, S. 136–137).                                           Durch den permanenten Wettbewerb auf Social Media
                                                             entsteht oft das Gefühl, dass es andere besser machen
– FLEXIBILITÄT UND FREIHEIT                                  als man selbst und dass die nächste noch attraktivere
Diese beiden Grundwerte stehen bei Millennials hoch          Partner*in nur einen Click entfernt ist. Als Folge die-
im Kurs und machen einen wichtigen Teil ihres Selbst-        ser Wettbewerbssituation zeigt sich zum Beispiel, dass
verständnisses aus. „Leben und leben lassen“ als Ideo-       Störungen der Sexualität häufiger als früher und bei
logie der zuvor angesprochenen Selbstverwirklichung          immer jüngeren Menschen auftreten.
ist das Motto. Dazu gehört in vielen Fällen die Äch-
tung jeder Form von Diskriminierung.                         – SOZIALE GRUNDWERTE
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht spielen Flexibilität       Neben der beschriebenen Oberflächlichkeit in der vir-
und Freiheit eine große Rolle. Statussymbole voriger         tuellen Welt und bei manchen Beziehungen gibt es in
Generationen, wie zum Beispiel ein eigenes Auto zu           der Generation Y aber auch den starken Wunsch nach
besitzen, wurden abgelöst von der Idee der Sharing           tiefgehendem sozialen Austausch. Die Stabilität und
Economy. Das Konzept, Güter flexibel und smart zu            das Vertrauen, welche Millennials oft in der Her-
nutzen, hat eigenen Besitz als attraktive Idee in vielen     kunftsfamilie erfahren haben, wollen sie auch in
Bereichen abgelöst. In einer Welt, die zunehmend un-         Freundschaften verwirklichen. Dabei sind Verantwor-
sicher ist und sich immer rascher verändert, ist das         tung füreinander und Integrität wichtige Kriterien. In
Festhalten an etablierten Sichtweisen oder auch physi-       dem Maß, in dem die Welt und ihre Zukunftsaussich-
schen Gegenständen unpraktisch und nicht mehr op-            ten unsicherer werden, suchen junge Menschen ver-
portun.                                                      stärkt Halt in ihrer Peer Group und bauen dort stabile
Gleichzeitig stellt sich bei großer Freiheit und Flexibi-    soziale Netzwerke auf. Diese dienen oft auch als Fami-
lität für viele junge Menschen die Frage nach etablier-      lien- oder Partnerschafts-Ersatz, während man noch
ten Grundwerten, an denen man sich festhalten kann.          auf der Suche nach der oder dem Richtigen ist (vgl.
Wenn alles frei und flexibel ist, kann dies natürlich        Huber und Rauch, 2013, S. 15, 18).
auch große Unsicherheit hervorrufen. Einerseits fallen
die Orientierung und auch die Auswahl schwer, wenn           AUSWIRKUNGEN AUF DIE
zu viele Optionen offen stehen, andererseits stellt sich     PSYCHOTHERAPEUTISCHE PRAXIS
die Frage nach der langfristigen Gültigkeit und Stabili-
tät von Werten (vgl. Williams, 2018; Heinzlmaier und         Zusammenfassend kann man sagen, dass gewisse Di-
Ikrath, 2013, S. 16; Huber und Rauch, 2013, S. 15).          chotomien das Erleben der Generation Y prägen. Diese
                                                             Gegensatzpaare finden sich wohl in vielen Lebensge-
– DATING, SEXUALITÄT UND BEZIEHUNGEN                         schichten, scheinen aber bei jungen Erwachsenen die-
Der allgemeine Trend zur Selbstoptimierung wirkt             ser Generation besonders stark ausgeprägt zu sein:
sich auch auf Beziehungen aus. Millennials sehen sich        ■ Nähe vs. Distanz
beim Dating und bei der Anbahnung von partner-               ■ Sicherheit vs. Volatilität
schaftlichen Beziehungen oft unter Druck gesetzt.            ■ Chancen vs. Desorientierung durch viele Optionen
Eine schier endlose Auswahl an potenziellen Part-            ■ Wunsch nach Flexibilität und Freiheit vs. Bedürfnis
ner*innen und Dating-Apps wie Tinder, die schnell,              nach Eindeutigkeit und festen Wertestrukturen
unverbindlich und nach den Regeln eines einfachen            Ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit zeigt auch
Austausches funktionieren, haben Liebesbeziehungen           Auswirkungen bei psychischen Leidenszuständen. In
verkompliziert. Wenn sexuelle Kontakte in einer über-        den USA wurde der Begriff der „Millennial Anxiety“
sexualisierten Gesellschaft rasch und unkompliziert          geprägt, denn es zeigte sich bei Untersuchungen unter

                                                                                S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 3 / 2 0   17
H A N S    C H R I S T I A N       J U R C E K A

     amerikanischen Student*innen, dass Angststörungen                    grundlegenden Lebensthemen und Fragen dar, denen
     gemeinsam mit depressiven Episoden die meistge-                      sich die Klient*innen in meiner Praxis häufig konfron-
     stellten klinischen Diagnosen sind. Im Unterschied zu                tiert sehen. Diese zeigen sich bei einzelnen Generatio-
     einer Generation davor, wo Depressionen noch deut-                   nen meist sehr unterschiedlich.
     lich häufiger als Ängste aufgetreten sind. In diesem                 Zusammenfassend zeigt sich aus meiner Erfahrung,
     Zusammenhang weisen einige Autor*innen auch dar-                     dass Angehörige der älteren Generationen oft an der
     auf hin, dass die „Millennial Anxiety“ auf Einsamkeit                Vergangenheit leiden, das heißt, an Lebensthemen, die
     und Entfremdung wie auch auf einem Gefühl der Des-                   zu einem früheren Zeitpunkt entstanden sind: Etwas
     orientierung durch zu viel Auswahl beruhen kann                      Ungünstiges ist passiert oder etwas Günstiges ist nicht
     (vgl. Watt Smith, 2017, S. 34, 40-41; Scheffler et al.,              passiert. Das Leiden der Generation Y stammt hinge-
     2018).                                                               gen zum überwiegenden Ausmaß aus Quellen, die in
     Im therapeutischen Kontakt zeigt sich, dass Mitglieder               der Zukunft liegen. Das können oft Lebensbereiche
     der Generation Y besonders therapieaffin sind. Sie                   sein, die (noch) unsicher sind und/oder Themen, die
     kommen häufig ohne konkretes Anliegen, dafür je-                     Angst machen.
     doch mit einer generellen Unzufriedenheit und großer                 In der Literatur ist oft von „Nachreifung“ die Rede, das
     Veränderungsbereitschaft. Was kann dies nun für die                  heißt, dass bei jungen Erwachsenen ein Bedarf be-
     psychotherapeutische Arbeit mit Klient*innen dieser                  steht, nach der Pubertät und dem Eintritt ins Erwach-
     Generation bedeuten?                                                 senenleben gewisse Themen und Ressourcen noch
                                                                          weiter zu entwickeln. Ich mag diesen Begriff nicht be-
     EINE HYPOTHESE: DER AKTUELLE GENERATION                              sonders, weil er die Idee von einem Defizit mittrans-
     GAP IN DER THERAPEUTISCHEN PRAXIS                                    portiert. Gleichzeitig erlebe ich aber bei vielen jungen
                                                                          Menschen doch den Wunsch, an diesem Punkt in ih-
     Auf Basis der erwähnten Erkenntnisse über die Gene-                  rem Leben wichtige Fragestellungen genauer zu be-
     ration Y und meiner persönlichen Erfahrungen aus                     leuchten. Dabei besteht die Vorstellung, danach er-
     mehreren hundert Therapiesitzungen mit jungen Kli-                   leichtert und gerüstet für die nächsten Entwicklungs-
     ent*innen möchte ich eine Hypothese zur Diskussion                   schritte zu sein.
     stellen. Natürlich gilt auch hier wieder, dass jedes Er-             Die Unterschiedlichkeit der Themen aus der sich der
     leben und somit auch jedes Geworden-Sein von Men-                    Generation Gap ergibt, ist zu einem gewissen Grad na-
     schen gänzlich individuell ist und jede Zusammenfas-                 türlich auch durch das durchschnittliche Alter der
     sung immer nur eine Möglichkeit darstellt, die auch                  beiden Gruppen begründet. Wenn man von einer
     vieles – bewusst und unbewusst – auslässt.                           durchschnittlichen Lebenserwartung ausgeht, haben
     In meiner persönlichen Praxis hat sich gezeigt, dass es              Millennials einen kleineren Teil ihrer Lebenszeit
     einen grundlegenden Generationsunterschied zwi-                      schon gelebt und einen größeren noch vor sich. Somit
     schen Millennials und älteren Generationen gibt, der                 ist es nachvollziehbar, dass sie sich mehr auf das kon-
     zu einer hilfreichen Unterscheidung beitragen kann.                  zentrieren, was noch vor ihnen liegt. Klient*innen aus
     Ich möchte diesen als Generation Gap bezeichnen und                  der Generation X und darüber haben im Durchschnitt
     in der Tabelle unten verdeutlichen. Sie stellt die                   mehr als die Hälfte ihres Lebens schon gelebt und der

     Generation Gap – Grundlegende Lebensthemen und Fragen, die sich in meiner Praxis häufig unterschiedlich bei Millennials vs. älteren
     Generationen zeigen

       MILLENNIALS                                                           ÄLTERE GENERATIONEN
       ■ Weite und Endlosigkeit                                              ■ Vergänglichkeit und Endlichkeit
       ■ Freiheit und Sinnfrage                                              ■ Engstellen von früher schränken ein
       ■ Zu viele Optionen machen Angst                                      ■ Zu wenige Optionen machen depressiv
       ■ Was soll ich tun?                                                   ■ Was ist geschehen?
       ■ Worauf darf ich hoffen?                                             ■ Was hat gefehlt?
       ■ Welche Versprechen wurden noch nicht eingelöst?                     ■ Was kam zu kurz?
       ■ Was könnte mir entgehen?                                            ■ Was wurde verletzt?
                                                                             ■ Was habe ich versäumt?

       >   Leiden an der Zukunft                                             >   Leiden an der Vergangenheit

18   S Y S T E M I S C H E   N O T I Z E N   0 3 / 2 0
noch zu lebende Teil wird statistisch gesehen immer        FALLVIGNETTE 1: ANGELIKA
kleiner. Da mag es nachvollziehbar sein, dass es eine      Die Klientin ist 24 Jahre alt und absolviert ein Studium
größere Anzahl an Themen in der Vergangenheit gibt,        im künstlerischen Bereich. Sie hat als Künstlerin ei-
die schwer wiegen und somit in der Therapie bearbei-       nen sehr erfolgreichen Instagram-Auftritt und jobbt
tet werden.                                                nebenbei als Model. Der kreative Ausdruck ist ihr sehr
Ich möchte den ausgeprägten Generation Gap dennoch         wichtig, gleichzeitig ist sie unsicher, wie sie in diesem
als Arbeitshypothese hier vorschlagen, weil ich – auch     Bereich weitermachen will. Der Erfolg, den sie bisher
aufgrund der zuvor erwähnten Erkenntnisse aus Lite-        hatte, erscheint ihr schal und bedeutungslos.
ratur und Medien – der Meinung bin, dass Millennials       Sie beschriebt gute Beziehungen zu ihren Eltern und
in einem größeren Ausmaß „an der Zukunft leiden“.          einen großen Freundeskreis, mit dem sie viel unter-
Dies auch im Vergleich zu
dem „Zukunftsleid“, das die
Generationen, die vor ih-
nen kamen, in ihrer eige-       Diese unsichere Perspektive betrifft in der
nen Jugend erlebt haben.
Die zunehmende Volatilität
                                Generation Y Menschen, die meist mit gro-
von     Zukunftsaussichten      ßen Erwartungen und einer engen familiären
(die derzeitigen Effekte der
COVID-19-Pandemie sind
                                Fürsorge aufgewachsen sind. Gerade weil
hier das aktuellste Beispiel    dieser Altersgruppe alle Wahlmöglichkeiten
in einer langen Reihe) be-
lastet Millennials ganz be-
                                offenstehen, leidet sie oftmals durch die
sonders. Denn diese unsi-       Vielzahl ebendieser Optionen unter Gefühlen
chere Perspektive betrifft
in der Generation Y Men-        von Desorientierung und Angst.
schen, die meist mit gro-
ßen Erwartungen und einer engen familiären Fürsorge        nimmt. Seit ca. 2 Jahren ist sie in einer On-Off-Bezie-
aufgewachsen sind. Gerade weil dieser Altersgruppe         hung mit einem Studienfreund, die als angenehm,
alle Wahlmöglichkeiten offenstehen, leidet sie oftmals     aber nicht sehr tiefgehend geschildert wird.
durch die Vielzahl ebendieser Optionen unter Gefüh-        Die Klientin leidet in den letzten Monaten unter
len von Desorientierung und Angst.                         Schlaflosigkeit, Gedankenkreisen und einer diffusen
                                                           Zukunftsangst. Sie ist sich nicht klar, wie es privat
FALLVIGNETTEN AUS DER                                      und mit dem Studium bzw. ihrer künstlerischen Tätig-
THERAPEUTISCHEN PRAXIS                                     keit weitergehen soll und das macht sie sehr unsicher
                                                           und traurig. Das positive äußere Feedback, das sie von
Ich möchte zum Abschluss meine zuvor entwickelte           vielen Menschen zu ihrem scheinbar perfekten Leben
Hypothese mit drei kommentierten Fallbeispielen aus        bekommt, bedeutet ihr nichts mehr und verstärkt nur
der eigenen therapeutischen Praxis illustrieren. Diese     den Leidensdruck ihrer eigenen Gefühle von Sinnlo-
sollen als Diskussionsgrundlage dienen und zeigen,         sigkeit und Desorientierung.
was aus meiner Sicht hilfreich gewesen sein könnte         Sie möchte für sich Klarheit erreichen, wie es in ihrem
und welche Erkenntnisse sich daraus für die psycho-        beruflichen und privaten Leben weitergehen soll und
therapeutische Arbeit mit jungen Erwachsenen ziehen        dabei wieder zu mehr Lebensfreude und Motivation
lassen.                                                    finden.
Alle Beispiele wurden anonymisiert bzw. wurden ein-        In den ersten Therapiestunden arbeiten wir vor allem
zelne nicht fallrelevante Details verändert, um die Ver-   an der Unterschiedsbildung bezogen auf konkrete all-
schwiegenheit und Anonymität sicherzustellen. Ich          tägliche Situationen, in denen die Klientin belastende
erwähne hier bewusst keine klinischen Diagnosen,           Gefühle und Gedanken erlebt. Es zeigt sich, dass diese
weil mir der systemisch-konstruktivistische Zugang         viel mit sozialem Druck zu tun haben. Die wahrge-
wichtig ist. Es geht mir um Erlebnisinhalte und Verän-     nommenen Erwartungen ihrer Umwelt verstärken ihre
derungswünsche in Bezug auf Denken, Fühlen und             eigenen perfektionistischen Anteile. Die Angst, bezüg-
Verhalten und deren Entwicklung im psychotherapeu-         lich ihrer Zukunft eine falsche Entscheidung zu tref-
tischen Prozess im Gegensatz zu einer präzisen wis-        fen, verstellt den Blick auf vorhandene Ressourcen
senschaftlichen Einordnung im Kontext von Diagno-          und lähmt ihre Entscheidungskraft. Über die Arbeit
se-Etiketten.                                              mit inneren Anteilen kann die Klientin zu der bisher

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      dominierenden Idee von Perfektionismus andere An-          Bindung nicht erfüllen können. Die enge Bindung und
      teile dazustellen: Ihre kreative Seite, die gerne neue     die liebevolle Verbundenheit, die sie in ihrer Her-
      Möglichkeiten erforscht sowie den sozialen Anteil,         kunftsfamilie immer erlebt hat, scheint ihr zuneh-
      der im Austausch mit anderen Menschen auf neue             mend als ein Ideal, das sie in Paarbeziehungen nicht
      Ideen kommt und sich gerne mehr zeigen möchte.             erreichen kann.
      Die Klientin nutzt bereitwillig den Vorschlag, ihre kre-   Dadurch leidet sie unter starken Selbstzweifeln und
      ative Seite in den Therapieprozess einzubringen und        einer großen Traurigkeit, begleitet von der Angst, dass
      schreibt zwischen den Sitzungen viel über ihre Erleb-      Sie nicht mehr den Mann fürs Leben finden wird und
      nisse. Diese Notizen verdichten wir dann zu einer al-      sich dadurch ihr Wunsch nach einer eigenen Familie
      ternativen Erzählung ihres Lebens. Sie fokussiert dar-     nicht erfüllen kann. Sie fühlt sich immer mehr mut-
      auf, ihrer eigenen Intuition zu vertrauen, im Unter-       und antriebslos und in sozialen Situationen zuneh-
      schied zu Rückmeldungen aus ihrem Umfeld, die bis-         mend unsicher sowie von Selbstzweifeln geplagt. Ihre
      her viele Entscheidungen im Leben der Klientin be-         Herkunftsfamilie gibt ihr viel Rückhalt, doch außer-
      stimmt haben. Zusammen mit der Stärkung der bisher         halb dieser engen sozialen Bezüge erlebt sie sich als
                                                                                         wenig kompetent und zieht
                                                                                         sich immer weiter zurück. Die-
                                                                                         se Dynamik beschreibt sie als
     Es stellt sich im Leben eine Herausforde-                                           Teufelskreis: Dadurch, dass sie
     rung, welche die derzeitigen Kräfte und                                             immer weniger unternimmt,
                                                                                         wird sie auch immer unsiche-
     Lösungsmöglichkeiten übersteigt. Diese                                              rer.
     Belastungssituation ist meist mit einer                                             Wir beginnen mit einem vor-
                                                                                         sichtigen Verhandlungsprozess
     gewissen Desorientierung und Gefühlen                                               darüber, wozu die Therapie die-
     von Angst, was die Perspektive für die                                              nen kann. Das vordergründige
                                                                                         Ziel „einen guten Partner zu
     Zukunft betrifft, verbunden. Symptoma-                                              finden“ kann vom Therapeuten
     tisch zeigen sich Anzeichen einer depres-                                           nicht wörtlich angenommen
                                                                                         werden. Die Klientin formuliert
     siven Verstimmung oder Angststörung.                                                daraufhin den Wunsch, sich
                                                                                         selbst besser kennenzulernen
      weniger genutzten Anteile erreicht die Klientin damit      und sich in sozialen Situationen weiterzuentwickeln,
      eine neue Perspektive: Ihre bisherige Lebenserzäh-         um tiefere Beziehungen mit Menschen eingehen zu
      lung, die sie „Die perfekte Prinzessin“ nennt, wird zu     können. Daneben scheint auch die Balance zwischen
      einem neuen Narrativ, nämlich „Meine Abenteuerrei-         Beruf und Privatleben wichtig zu sein.
      se“. Dieser andere Blick auf ihren Lebensweg ermög-        Zu Beginn der Therapie explorieren wir das System
      licht einen besseren Zugang zu vielen Ressourcen und       Herkunftsfamilie genauer: Es zeigt sich, dass die Kli-
      einen konstruktiven Umgang mit der Unsicherheit,           entin die Familie als einen starken Rückhalt erlebt, der
      die in der Zukunft liegt. Am Ende eines offenbar hilf-     auch mit vielen Verpflichtungen verbunden ist. Als
      reichen Therapieprozesses sieht sich die Klientin in       jüngste von drei Geschwistern, die alle bereits ausge-
      einer guten Balance zwischen ihren weiterhin hohen         zogen sind und ihr eigenes Leben führen, fühlt sie
      Ansprüchen und einer neuen Lust am Ausprobieren            sich dafür verantwortlich, die Familie zusammenzu-
      unterschiedlicher Erfahrungen.                             halten. Konkret bedeutet dies, dass sie Zusammen-
                                                                 künfte organisiert und ihren Eltern und den beiden äl-
      FALLVIGNETTE 2: SABINE                                     teren Schwestern bei Sorgen mit Rat und Tat zur Seite
      Die Klientin ist 28 Jahre alt und arbeitet als Managerin   steht. Bei der Exploration dieser Zusammenhänge mit
      in einem großen Konzern. Sie beschreibt sich selbst        dem Familienbrett entwickelt die Klientin eine neue
      als besonders karriereorientiert und nimmt ihren Job       Perspektive: Das vertraute System beginnt nun, allzu
      sehr ernst, was auch einiges an Stress verursacht. Sie     eng zu wirken und sie nimmt sich vor, sich in Zukunft
      ist seit ca. 5 Jahren Single und findet einfach nicht      mehr abzugrenzen, Zuständigkeiten für andere abzu-
      den richtigen Mann, obwohl sie sehr aktiv sucht.           geben und verstärkt auf ihre Autonomie zu achten.
      Durch ihren Freundeskreis und Online-Kontakte erge-        Dies führt in der Folge zu Konflikten: Da die Klientin
      ben sich regelmäßig kurze Affären, die aber ihr Be-        gewohnte Aufgaben nicht übernimmt, fühlen sich vor
      dürfnis nach Sicherheit, Beziehung und langfristiger       allem ihre Schwestern mit manchen Herausforderun-

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gen allein gelassen und auch die Eltern sehen bisheri-     überrascht wie sie. Durch die zirkuläre Reflexion die-
ge Erwartungen an die Tochter nicht mehr erfüllt. Wir      ses Unterschiedes gewinnt die Klientin neue Perspek-
arbeiten in dieser Phase viel mit dem Gefühl der Am-       tiven und formuliert für sich ein neues Ziel: Wie kann
bivalenz. Einerseits spürt die Klientin eine Entlastung    eine erwachsene Beziehung zu ihren Eltern aussehen,
und die neu gewonnene Autonomie macht Lust auf             in der wieder eine wertschätzende Kommunikation
mehr, andererseits hat sie ein schlechtes Gewissen,        möglich wird, aber bei der sie zunehmend auf eine er-
weil sie ihre bisherige Rolle in der Familie nicht mehr    wachsene Abgrenzung zu ihnen achtet?
wie gewohnt ausfüllen will.                                In diesem Prozess arbeiten wir viel mit zirkulären Fra-
Soziale Kontakte außerhalb der Familie intensivieren       gen und Perspektivwechseln sowie Rollenübungen.
sich in dieser Phase und dies hilft der Klientin, eine     Diese helfen der Klientin, einen ganzheitlicheren Blick
gute Balance zwischen den Familienkontakten und Er-        auf die neue Familienkonstellation zu gewinnen und
fahrungen im Freundeskreis und mit neuen Bekannt-          ihre Rolle als erwachsene Tochter für sich zu definie-
schaften zu finden. Sie beendet die Therapie nach 8        ren.
Sitzungen mit dem persönlichen Resümee, dass sie           In der Abschlussphase der Therapie geht es vor allem
sich nun befreit fühlt, neue Wege zu gehen und wieder      um den gelingenden kommunikativen Austausch: Die
Vertrauen in eine lebenswerte, aufregende Zukunft ge-      Klientin hat bewusst weniger Kontakt zu ihren Eltern
wonnen hat.                                                als vor der Trennung und beschreibt diesen als zuneh-
                                                           mend gut passend. Wir besprechen viele der aktuellen
FALLVIGNETTE 3: ASTRID                                     familiären Gesprächs- und Konflikt-Situationen und
Die Klientin ist 33 Jahre alt und lebt mit ihrem Partner   arbeiten dabei mit dem Modell der Gewaltfreien Kom-
in Wien. Die Partnerschaft wird als sehr harmonisch        munikation nach Rosenberg, welches die Klientin als
beschrieben. Sie arbeitet als Projektleiterin in einem     sehr hilfreich empfindet. Sie nimmt sich zum Ab-
Technikunternehmen, ist erfolgreich und mag ihren          schluss der Therapie vor, die bisherige Balance von
Job. Ihre Herkunftsfamilie lebt im Burgenland, wo sie      Nähe und Distanz in der Beziehung zu ihrer Her-
auch aufgewachsen ist. Die Eltern haben sich vor kur-      kunftsfamilie weiterhin gut zu pflegen und dabei auf
zem überraschend getrennt und leben beide bereits          ihr Wohlbefinden zu achten.
bei neuen Partnern. Durch die Trennung ist es in der
Familie zu starken Konflikten gekommen.                    CONCLUSIO
Die Klientin fühlt sich durch die überraschende Tren-
nung ihrer Eltern, zu der es aus ihrer Sicht keine be-     In meiner Arbeit mit Mitgliedern der Generation Y, die
friedigende Erklärung gibt, überrumpelt. Es kommt          hier beispielhaft durch drei Fallvignetten illustriert
dadurch zu ständigen Konflikten und vertauschten           wird, zeigen sich viele individuelle Effekte. Gleichzei-
Rollen, da sie die Eltern in ihrem Verhalten sehr re-      tig gibt es jedoch Gemeinsamkeiten, die mir bedeut-
gressiv erlebt. Sie möchte die neuen Partner ihrer El-     sam scheinen.
tern nicht kennenlernen und dadurch hat sich das           Die Ausgangssituation der Psychotherapie ist oft ge-
vormals enge und harmonische Familienleben in ein          prägt durch die starke Zukunftsorientierung dieser
permanentes Konfliktfeld verwandelt. Sie ist darüber       Gruppe von Klient*innen: Es stellt sich im Leben eine
sehr traurig und verwirrt und klagt über Schlaflosig-      Herausforderung, welche die derzeitigen Kräfte und
keit und generelle Unzufriedenheit. Dies beginnt auch      Lösungsmöglichkeiten übersteigt. Diese Belastungssi-
die bisher sehr schöne Beziehung zu ihrem Partner zu       tuation ist meist mit einer gewissen Desorientierung
beeinträchtigen. Ziel der Klientin ist es, diese aktuell   und Gefühlen von Angst, was die Perspektive für die
sehr belastende Situation für sich gut zu verarbeiten      Zukunft betrifft, verbunden. Symptomatisch zeigen
und wieder eine bessere Kommunikation mit ihren El-        sich Anzeichen einer depressiven Verstimmung oder
tern im Kontext der neuen Patchwork-Familie herzu-         Angststörung. Klient*innen stellen sich oft die Frage
stellen.                                                   „Wie soll es nur weitergehen?“ und bringen damit ihre
Um das Familiensystem, das sich ja in den letzten Mo-      aktuellen Gefühle von Hilflosigkeit oder Verzweiflung
naten radikal verändert hat, besser kennenzulernen,        auf den Punkt.
arbeiten wir zu Beginn intensiv mit dem Familien-          Der von mir zuvor beschriebene Generation Gap zeigt
brett. Es zeigt sich, dass bis vor wenigen Monaten eine    sich somit vor allem beim Einstieg in die Therapie. Für
sehr enge Beziehung zwischen der Klientin und ihren        die Fragen und Nöte, mit denen Klient*innen zu mir
Eltern sowie den beiden älteren Geschwistern bestan-       in die Praxis kommen, scheint es einen bedeutsamen
den hat (regelmäßige Besuche, viele Telefonate). Die       Unterschied zwischen „Leiden an der Vergangenheit“
Geschwister zeigen aktuell mehr Verständnis für die        auf der einen Seite und „Leiden an der Zukunft“ auf
Trennung als die Klientin und waren auch nicht so          der anderen Seite zu geben.

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     Im therapeutischen Prozess ist der Unterschied zwi-                    neration-z-babyboomer-unterschiede-chancen/#Hauptmerkma-
     schen den Generationen dann weniger bedeutsam,                         le_der_Generation_Z (abgerufen am 06.07.2020).
                                                                          Miller, Alice. Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach
     wobei es bei der Generation Y doch einige Merkmale                     dem wahren Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.
     gibt, die auffallen. Es zeigt sich oft eine große Flexibi-           Precht, Richard David. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
     lität der Millennials und eine Vertrautheit mit einer                  München: Wilhelm Goldmann, 2007.
     systemischen Denkweise: Klient*innen sind gerne be-                  Rosa, Hartmut. Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstruktu-
     reit, familiäre und andere soziale Einflüsse zu be-                    ren in der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2017.
                                                                          Scheffler, Richard et al. The Anxious Generation: Causes and
     leuchten. Sie lassen sich bereitwillig auf die Reise zwi-
                                                                            Consequences of Anxiety Disorder Among Young Americans.
     schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein,                        Berkeley: Berkeley Institute for the Future of Young Americans,
     wenn es darum geht, die eigene Geschichte zu erfor-                    2018.
     schen, zu verstehen und neu zu schreiben. Bei vielen                 Scholz, Christian. Generation Z. Wie sie tickt, was sie verändert
     Millennials öffnen sich schnell neue Perspektiven und                  und warum sie uns alle ansteckt. Weinheim: Wiley, 2014.
                                                                          Watt Smith, Tiffany. Das Buch der Gefühle. München: dtv, 2017.
     Vergangenes wird ebenso wie Zukünftiges für die Ar-
                                                                          Williams, Robert. Forrester: Millennials boost growth of sharing
     beit in der Gegenwart bedeutsam.                                       economy, 2018, unter: www.mobilemarketer.com/news/
     Wesentlich scheint mir auch die Bereitschaft von Mil-                  forrester-millennials-boost-growth-of-sharing-economy/515851/
     lennials, sich den Lebensfragen im Hier und Jetzt zu                   (abgerufen am 30.06.2020).
     stellen. Ich habe viele Klient*innen aus der Generation
     Y kennengelernt, die mutig und entschlossen auf ihre
     seelische Not blicken und sich auf die therapeutische
     Reise einlassen. Diese Menschen kommen häufig mit
     einem grundlegenden Vorwissen über Psychologie,
     Psychotherapie oder lebensgeschichtliche Entwick-
     lungstheorien. Dazu kommt eine große Lust an der Re-
     flexion und eine gewisse Erfahrung in der Beschäfti-
     gung mit der eigenen Persönlichkeit und Lebensge-
     schichte. Beides hilft oft bei einem schnellen Einstieg
     in den therapeutischen Prozess. Gleichzeitig kann bei-
     des jedoch auch hinderlich sein, wenn ein allzu star-
     ker Leistungs- oder Optimierungsgedanke in die The-
     rapie eingebracht wird.
     In diesem Spannungsfeld sehe ich den Schwerpunkt
     meiner Arbeit vor allem mit jungen Erwachsenen. Es
     scheint mir wichtig, auf die Balance zwischen einer
     fokussierten und manchmal auch schnellen Lösungs-
     orientierung und einer konstruktivistischen Langsam-
     keit zu achten. Erstere ist hilfreich, um das Ziel nicht
     aus den Augen zu verlieren. Letztere schafft durch be-
     wusstes Nicht-Wissen genügend Zeit und Raum für
     Reflexion und neue Wirklichkeitskonstruktionen.

     LITERATUR
     Heinzlmaier, Bernhard und Ikrath, Philipp. Generation Ego. Die
       Werte der Jugend im 21. Jahrhundert. Wien: Promedia, 2013.
     Huber, Thomas und Rauch, Christian. Generation Y. Das Selbstver-
       ständnis der Manager von morgen. Düsseldorf: Signium Inter-
       national, 2013.
     Kobza, Rudi. Chang, Kaitlyn. Schwabl, Thomas. Austrian Millennial
       Report 2018. Wien: Kobza and the Hungry Eyes & Marketagent,
       2018.
     Mangelsdorf, Martina. 30 Minuten Generation Y. Offenbach: Gabal,
       2015.
     Mihovilovic, Julia und Knebel, Kassandra. Generation Y, Generation
       X, Generation Z – Unterschiede & Chancen, 2017, unter:
       www.berlinerteam.de/magazin/generation-y-generation-x-ge-

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