Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt - der hat Kultur. Für solche besteht noch Hoffnung. Oscar Wilde - Kulturbrief
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Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt - der hat Kultur. Für solche besteht noch Hoffnung. Oscar Wilde M Ä R Z 2 0 2 2
PRÄLUDIUM Wieder mal geschafft! von Frank Piontek N un haben sie‘s doch wieder geschafft, angenehm aufzufallen. Tatsächlich: die eindeutige Mehr- heit des Bayreuther Stadtrats hat sich in dessen letzten Haushaltsverabschiedung dafür entschie- den, die sinn(e)öffnende, beglückende und herr- lich klingende und ausschauende Kultur mit einem Riesenbatzen zu fördern. Die Majorität hat einfach begriffen, dass Bayreuth Baroque neben den Fest- spielen das Gütesiegel der überörtlich wahrgenom- menen und geschätzten wie touristisch relevanten Bayreuther Hochkultur und die beste Werbung für das nichtmuseale markgräfliche Bayreuth ist. Gut also, dass es die Stadtväter und -mütter mehr- heitlich gut finden, dass eine gute Summe dort einen guten Platz findet, wo ansonsten gähnende Theaterleere herrschen würde. Sie hat eben kein ge- spanntes Verhältnis zu dem, was man sinnvoller- weise als Hochkultur zu bezeichnen pflegt. Sie hat sich für einen lebendigen Bayreuther Kulturraum namens Bayreuth Baroque entschieden, der, über die internationalen Rundfunk- und Fernsehkanä- le, weit über Bayreuth hinaus das Bild der Stadt zu verbreiten vermag und Menschen aus der Ferne an- zieht, für die die Stadt ansonsten vielleicht kaum interessant wäre. Nein, ein Festival wie Bayreuth Baroque ist nicht elitär. Es wird für Bayreuth ge- macht, und es ist relevant für die Bayreuther Stadt- kultur, die noch viele hundert Kilometer jenseits des Bayreuther Tellerrands wahrgenommen werden kann – auch jenseits der anderen Festspiele, die das zweite historisch einzigartige Theatergebäude be- spielen. Das erste aber bleibt das Markgräfliche Opernhaus. Wie schön also, dass sich die meisten Stadträte nicht gegen, sondern für diesen sehr be- sonderen, sehr schönen Raum und seine einzige vernünftige Nutzung entschieden haben. 3
Anzeige „Ein starker Gedanke teilt auch dem, der anderer Meinung ist, von seiner Kraft etwas mit.“ Marcel Proust
Inhalt Ausgabe N°15 PRÄLUDIUM3 BAYREUTH LEUCHTET 6 NAIS VOM HEINER 7 IM BILDE 8 HAIKU8 AUS BAYREUTHS KÜCHEN 9 DAS NEUE BUCH 10 WAR HIER 12 VOM GRÜNEN HÜGEL 13 DAS GUTE BUCH 15 ABSCHWEIFUNGEN18 HEIMATLICHES19 BLICK IN DIE BLÄTTER 21 KULTURVEREIN24 DAS NEUE ALBUM 28 HINTER DEN KULISSEN 29 AUSSTELLUNGEN31 AUS DEM MUSEUM 33 BOTANIK35 GESCHICHTEN AUS DEM WALD 36 DENKAUFGABE37 KULTURTERMINE 38 VIELEN DANK! Wir danken unseren Mäzenen für ihr Engagement. Durch Sie wird der Kulturbrief erst möglich. UNTERNEHMEN Alexander von Humboldt Kulturforum Schloss Goldkronach e.V., Kanzlei Treibert, Kunstmuseum Bayreuth, Musica Bayreuth Orgelwoche Bayreuth e. V., Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland, Zahnärzte am Opernhaus PRIVATPERSONEN Angelika Beck, Wolfgang Hammon, Gudrun Hartmann, Klaus Höreth, Irmintraut Jasorka, Dr. Rainer-Maria Kiel, Dr. Dieter Schweingel, Ulrike Volland 5
BAYREUTH LEUCHTET In naher Zukunft Markgrafenkultur D er Reichtum der Markgrafenkultur Bayreuth-Kulmbachs, die unser Land zwei Jahrhunderte lang geprägt hat, wird W arum nicht mal ins Kino gehen, wenn man Ballett sehen will? Am 1. Mai wird es im Bayreuther Cineplex auf einer einzigartigen und laufend er- weiterten Seite genau aufbereitet und anschaulich präsentiert. Nicht weniger einen Leckerbissen geben, der auf west- als zwölf Oberthemen (vom Opernhaus lichen Bühnen kaum geschaut werden über all die scheinbar „nebensächlichen“ kann: Die Tochter des Pharaos, eine Arbeit Brücken, Mühlen und Taubenhäuser etc. nach der Choreographie des großen Ma- zu den repräsentativen Prachtbauten) rius Petipa, ein orientalisches Fantasybal- bilden die vielen noch bestehenden und lett aus dem 19. Jahrhundert, eine Pro- rekonstruierbaren, in dieser Fülle an- duktion des (echten!) Bolschoi Balletts sonsten kaum präsenten Schönheiten in mit der Musik Cesare Pugnis – und hin- Stadt und Region augenöffnend ab. In- reißenden Tänzern. Genau eine Woche formationen über die einstige Markgraf- später, am 8. Mai, wird dann Donizet- schaft und ihre Herrscher ergänzen per- tis Oper Der Liebestrank im Nürnberger fekt die Schau in eine reiche Kultur. Zu Staatstheater ihre Premiere erleben – ein verdanken ist diese Seite Karla Fohrbeck, Klassiker der heiteren wie tiefsinnigen die gerade – nicht zuletzt aufgrund der Oper über den Krieg der Geschlechter, erstklassigen Seite – mit dem Kulturpreis der an keinem 8. Mai zum Stillstand der Stadt Bayreuth geehrt wurde. kommt. 6
NAIS VOM HEINER Eds geht’s nauswärts von Reinhold Hartmann Immer zwischa März und Mai machn alla Leit a Gschrei alla schreia in der Stubn Am Haamwech dann, ach is des sche trinktma wo bloß an Kaffee und danooch, des sooch iech Dir wann is denn die Kält ball rum. manchmol nuch a Seidla Bier. Frieh um sechsa oder später Dahaam do hocksti dann in Gartn schaua sa aufs Thermometer wo Deina Leit scho alla wartn wall do waaßma ebrament der Hund, die Kinner und die Fraa wosma heit wohl ozieng kennt. so schee konn Feierohmd fei saa. Im Fernseh hamsa Sunna gmeld Der Wecker schellt am andern Frieh, ober naa, bei dera Kält schaust ons Thermometer hie do hilft ja ka großes Frong und des zeicht fei net vill oo mußma a worms Golla trong. ja do ieberlechtma scho. Handschich nuch und festa Schuh Handschich brauchtma und an Schol isa fertig dann, der Bu an Mantl aa, des is normool frierts di net, ach is des sche, und dazu nuch festa Schuh so komma auf die Ärbert geh. isa fertich dann der Bu. Bei dera Kält, des soochi fei Bloß der Mantl is net do hocktma si ins Auto nei wall der hängt ja im Büro des Bleeda ober, ein Verdruß, also schnell den zweitn gnumma daßma vorher kratzn muß. sunst wärma ball zu spät nuch kumma. Also läßt des Auto steh Zum Feierohmd, des is ka Wunner laafn is ja aa recht sche scheint scho widder fort die Sunna wall die frischa Luft, die hot der Mantl also bleibt im Schronk werkli wohr nuch kann wos gschod. wennst zuvill schwitzt, do werst ja kronk. Im Büro dann, so ein Graus Mit der Manier, wie des oft wär schautma ausn Fenster naus dahaam machst Du Dein Schronk ball bloß die Sunna komma sehng leer und im Büro, des is ja dumm ka Wolkn und ka bißla Reng. hänga Deina Mäntl rum. Der Feierohmd kummt aa ganz schnell Drum is des ja bloß zu lobn und drum gehtma auf der Stell ma konn nie zuvill Mäntl hobn, bloß im Hemm dann fei davo iech glaab, iech wird jetz aa glei laafn den Mantl läßtma im Büro. und mir nuch an Mantl kaafn. 7
IM BILDE Wo ist das zu finden? HAIKU Beim Acker seh ich Am niedren Erdwall Zedern Im Frühlingsregen Shiki (1867 - 1912) 8
AUS BAYREUTHS KÜCHEN Lachssuppe von Ulrike Volland Für 4 Personen 500 g Lachsfilet, 2 Möhren, 4 Kartoffeln, 1 Stange Lauch, 2 Esslöffel Butter, 2 Lorbeerblätter, 2 Zitronenscheiben, 1 l Fischfond oder Ge- müsebrühe, 1 Bund Dill, 300 ml Sahne Salz, frisch gemahlener weißer Pfeffer, 1 Prise Zucker Möhren und Kartoffeln schälen, waschen und in ½ cm große Würfel schneiden. Den Lauch putzen, längs aufschneiden, waschen und in feine Ringe schneiden. Die Butter in einem Topf erhitzen und das Gemüse und die Kar- toffeln darin 2-3 Minuten anschwitzen. Die Lorbeerblätter und die Zitronenscheiben zugeben und alles mit dem Fischfond oder der Ge- müsebrühe auffüllen. Bei mittlerer Hitze 10 Minuten kochen lassen. Inzwischen den Lachs trockentupfen und in 1 cm große Würfel schneiden. Den Dill waschen und trockentupfen. 4 kleine Stiele zur Dekoration beiseite legen. Den restlichen Dill fein hacken. Sobald die Kartoffeln gar sind, die Lorbeerblätter und die Zitronen- scheiben herausnehmen und die Sahne zugeben. Dann den Lachs und die Hälfte vom Dill in die heiße Suppe geben und darin 2-3 Minuten gar ziehen lassen. Danach die Suppe 6-8 Minuten nochmals erhitzen. Die Suppe mit Salz, Pfeffer, Zucker und restlichem Dill abschme- cken. Dazu passt frisches Baguette. 9
DD AA SS N G EUUT EE BB U U CC H H Nähertreten von Benjamin Breuer „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Allein der Titel ist ein Buch wert. Jetzt wurde dieses Buch bereits hundertmal besprochen und ist inzwischen auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Vielleicht werden Sie sich jetzt fragen, ob man dieses Buch noch einmal besprechen muss. Die Antwort ist simpel: Man muss. Warum, will ich gerne erklären. Aber fangen wir von vorne an. Mein Interesse an Literatur über Re- ligionen begann bereits während des Studiums und seitdem habe ich umfangreiche Lektüre gelesen, die sich Religions- vermittlung zur Aufgabe macht. Es handelt sich dabei nicht um die sogenannte Erbauungsliteratur, die relativ häufig in die Esoterik abdriftet, sondern teils um Einführungen, teils um Primärtexte und nicht zuletzt um Abhandlungen kluger Geister aus allen Jahrhunderten. Die Einführungen in den katholischen Glauben, das Judentum, den Buddhismus, den Islam oder den Taoismus sind entweder reine Sachbücher mit Fakten, Dogmen und Daten oder sehr anspruchsvolle theolo- gische Abhandlungen. Vor allem sind sie eines nicht: zugäng- lich. Selbst der Kinderkatechismus mit dem coolen Namen Youcat ist trotz der vielen Zeichnungen und Illustrationen nur ein missglückter Versuch, Religion sinnvoll zu vermitteln. 10
Und dann gibt es da noch ein Buch, das wir vermutlich alle kennen. Gespräche mit Gott von N.D. Walsch. Dieses Buch ist zugänglich, ja beinahe unterhaltend. Vielleicht das einzi- ge Buch, das das Prädikat „zugänglich“ unter den Büchern zur Religion verdient. Und das seit 1996. Nun, 28 Jahr spä- ter, erscheint Kermanis Buch und hier ist alles ganz anders. Statt Gespräche mit Gott zu führen, geht es den Fragen nach Gott nach. Diese Fragen stellt sich Kermani gemeinsam mit seiner Tochter, beide Muslime, und sie betreffen das Gottes- bild des Islam. Die Beantwortung der Fragen, die teils profan wirken, teils theologisch hochanspruchsvoll sind, kreist um eine Mitte: Die Suren aus dem Koran. Allein mit der Aus- wahl der Suren gelingt Kermani Wunderbares. Die Klarheit und Reinheit, vor allem aber die Melodie dieser Dichtung, verblüffen den Lesenden. Und diese Verblüffung führt zu den Fragen, die Kermani mit viel Geduld und Reflexion beant- wortet. Und es würde sich nicht um ein hervorragendes Werk handeln, würde der Autor nicht über den Tellerrand schau- en. Er bezieht andere Religionen, vorrangig das Christentum, mit ein und erschafft eine grundlegende Begegnung zwischen den Theologien. Im Laufe der Lektüre entwickelt sich eine gemeinsame Basis, nämlich der Glaube an Gott, ohne die Unterschiede der Religionen auflösen zu wollen. Genau das macht dieses Buch so stark. Ein starkes Buch eines mutigen Autors. Und es stimmt einen doch zuversichtlich, dass dieses Buch, diese sehr ernstzunehmende Einführung in den islami- schen Glauben, gerade jetzt einen solchen Erfolg verbucht. Die Menschen sind auf der Suche nach dem Guten. Schön, dass sie sich dabei dem derzeit besten Buch zuwenden. T I TD EALSI LGLUUTSET R BAU TCIHO N Natürlich ließ es sich Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen nicht nehmen, seinen waghalsigen Ritt auf der Kanonenkugel auch mitten durch das Bayreuther Wahrzeichen hindurch zu steuern. Über etwaige Schäden am Bauwerk wurde nichts überliefert. 11
WAR HIER Hans Neuenfels von Frank Piontek Foto: Bayreuther Festspiele M anchmal waren sie wirr, manchmal etwas langweilig, manchmal bril- lant und bewegend, mit einem Wort: oft der Regisseure, die ebenso gute Dichter sind, denn man merkte nicht allein dem Regisseur, sondern auch dem Autor Neu- einfach gut und unterhaltsam. Egal, ob enfels an, dass er beim Surrealisten Max sie immer durchgehend „gelungen“ wa- Ernst in die Schule gegangen war, dem ren (sie waren oft gelungen) - vergessen er assistiert hatte. Seine Inszenierungen konnte man keinen dieser Abende. Wir zu verstehen hieß: sich auf die Fanta- verdankten diese Theatererlebnisse dem sie, das Überreale, auch den Humor zu Regisseur Hans Neuenfels, der zu den verlassen, der auch ein Teil von Wagner Erfindern des „Regietheaters“ zählte. In ist. Wie Neuenfels es den Meister selbst, Bayreuth hat er spät, doch nicht zu spät dem er im Büro der Festspiele persönlich inszeniert: mit einem Lohengrin, in dem begegnete, sagen ließ: „Das dramatische sich die zwischen Ratten und Menschen Kunstwerk braucht die ständige Verän- changierenden Wesen tummelten, hat er derung durch den lebendigen Menschen, eine der bemerkenswertesten Wagner- den wechselnden Raum und die wech- Inszenierungen der letzten Jahre auf die selnde Zeit.“ Nun ist er, kurz nach sei- Bühne gestellt. Wagners Musik sei voller nem 80. Geburtstag, gestorben. Ihn zu „Witz, Zärtlichkeit, umwerfendem Mut ehren und sich an ihn zu erinnern, heißt zur Trivialität und Haltung, Skepsis“, auch, sich ein paar Gläser Weißwein zu schrieb er 2007 Besuch in Bayreuth. Der gönnen – Prosit, Hans. Regisseur gehörte zur seltenen Spezies 12
VOM GRÜNEN HÜGEL Erinnerungen an Bayreuth 1984 von Raymond Tholl Foto: Programmzettel Holländer 1984 Foto: Bayreuther Festspiele N ie werde ich den Augenblick ver- gessen, als ich das Festspielhaus am 4.August 1984 ein erstes Mal betrat. Und den David, Marga Schiml die Magdalena. Der unvergessene Hermann Prey sollte den Beckmesser singen, Siegfried Jerusa- als ich den Klang des unsichtbaren Or- lem den Walther von Stolzing, aber die chesters hörte, hatte ich den Eindruck, Enttäuschung für mich und meine Frau jemand würde die perfektionierteste und war groß, wegen plötzlicher Erkrankung teuerste Stereoanlage der Welt vorführen wurden ihre Rollen von Hans Günter Nö- mit einer CD-Aufnahme des Fliegenden cker und Jean Cox gesungen. Trotzdem Holländers. Die Protagonisten waren Si- wurde die Vorstellung auch mit diesen mon Estes und Lisbeth Balslev, Harry Sängern ein Highlight. Kupfer inszenierte und Woldemar Nels- Die Festwiese z.B. zeigte ein traumhaftes son stand am Pult. Bühnenbild mit der Tanzlinde im Mit- Die Aufführung der Oper Die Meistersin- telpunkt. Bei dieser Inszenierung stimm- ger von Nürnberg in der Inszenierung und te alles und später konnte mich nie eine mit Bühnenbild von Wolfgang Wagner Aufführung in egal welchem Opernhaus einen Tag später wurde mein zweitesBay- vollständig befriedigen. reutherlebnis. Mein drittes Erlebnis kam ein Jahr später Die Besetzung war hochkarätig mit dem beim Besuch des Friedhofes in Bayreuth. wunderbaren Bernd Weikl in der Rol- Da stand ich nun vor der letzten Ruhe- le des Schusterpoeten Hans Sachs, Mari stätte des ungarischen Komponisten, Anne Häggander sang die Eva, Manfred Dirigenten und Pianisten Franz Liszt. Schenk den Veit Pogner, Graham Clark Zwölf Tage vor seinem Tod hatte Liszt im 13
Bürgerkasino der Stadt Luxemburg nach dem Namen Tannhäuser erklang sehr oft einem Wohltätigkeitskonzert, das ihm zu der Name Maria Müller und nun stand Ehren gespielt wurde, drei Klavierstücke ich vor dem verlassenen Grab dieser ein- interpretiert. Ich sah das Grab des großen Bayreuther Dichters Johann Paul Friedrich Richter, Foto : mit Wolfgang Wagner 1985 genannt Jean Paul, besuchte das Grab der Familie Wagner, in Stein gemeisselt die Namen von Siegfried und Winifred Wagner neben dem zu früh verstorbenen Wieland Wagner. Ich erblickte das Grab von Dr. Hans Richter, der im Jahre 1876 zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele die Uraufführung des Ring des Nibelungen maligen Stimme. Ich wollte näheres über dirigierte. die Geschichte dieser Sängerin erfahren Plötzlich stand ich vor einem kleinen ver- und so gelang es mir, im darauffolgenden lassenen Grab, mit Moos und Unkraut Jahr ein erstes Mal vor dem Mikrofon bedeckt. Schlecht leserlich erblickte ich Wolfgang Wagner, Komponistenenkel, einen Namen, der mich faszinierte und zu begegnen. Nach einer ersten beeindru- gleichzeitig erschütterte. Vor mir lag das ckenden Begegnung meinerseits, erklärte verlassene Grab einer großen Bayreuth- sich Wolfgang Wagner einverstanden, in Sängerin, deren historische Aufnahmen den darauffolgenden Jahren regelmäßig bei mir den grössten Eindruck hinterlas- in Bayreuth Gespräche mit mir aufzu- sen hatten, deren Namen ich immer wie- zeichnen. Diese Tonbandgespräche über der gehört hatte, zuhause im Kreis meiner Künstler, die in Bayreuth Geschichte Eltern, denn mein Vater war ein begeister- schrieben, sollten über zwei Jahrzehnte ter Zuhörer des französichen Klassiksen- lang zu einer fast freundschaftlichen Ge- ders France Musique. Aus unserem UKW- wohnheit werden. Empfänger der Marke Nordmende mit Anzeige Industrie- und Glasmuseum Fichtelgebirge e.V. Das Museum sucht einfache Staffleien Telefon: 09276-787 14
DD AA SS GG U U TT EE BB U U CC H H Petronius: Das Gastmahl des Trimalchio von Frank Piontek Toll trieben es die alten Römer – natürlich fällt einem der Spruch ein, wenn man des Petronius‘ Gastmahl des Trimalchio liest. Denn was der Autor hier an Deftigkeiten, buchstäbli- chen Schweinereien, Zoten und Obszönitäten festgehalten hat, ist kaum zu beschreiben, oder anders: Es bedurfte eines Federico Fellini, der das Satyricon des römischen Dichters Ende der 60er Jahre in einer opulenten Verfilmung populari- siert hat: als wär‘s ein Stück der Pop- und Hippiekultur, der Exzesse der „freien Liebe“ und der allmählich legalisierten Pornographie. Obwohl: In Vergleich zu den Freizügigkeiten der jüngeren Vergangenheit wirken die Szenen, die Petronius uns literarisch überliefert hat, wie feinsinnig gezügelte und sprachmächtige Deliziositäten, wie altrömisches Hochbarock eben. Petronius Arbiter schuf mit dem Gastmahl des Trimal- chio den berühmtesten Teil seines Romans, der zu etwa zwei Dritteln verloren ist; der Rest ist eine Ansammlung mal mehr, mal weniger umfangreicher Fragmente, die sich um die Aben- teuer der Hallodri von „Studenten“ Giton und Eumolpus dre- hen, woran man sieht, dass früher, zu Zeiten Neros, alles so schlimm und so gut war wie heute. So treffen sich am Hof des Trimalchio – keinem Parvenü, sondern einem zu ungeheuren 15
Reichtümern gekommenen Freigelassenen, also einem ehe- maligen Sklaven, der sein Glück durch Raffinesse und Zu- fall machen konnte – die Freunde, Tagediebe, Schlemmer, Prasser, décadents, Ehefrauen und Geliebten des heiteren Großsprechers, der es wahrlich krachen lässt: verbal und ku- linarisch. „Du Säugling“, lässt Petronius einen seiner Maul- helden schimpfen, „sagst nicht mu noch ma, du schundiger Henkeltopf, vielmehr du Schlappschwanz, schlapper als ein Riemen im Wasser, aber nicht besser!“ Und so geht‘s weiter: „Ich treffe dich nachher auf der Straße, du Maus, vielmehr du Morschel! Ich werde dafür sorgen, dass Dir deine acht Zoll langen Locken nichts helfen, und dein Herr auch nicht, der Zweibatzenheld...“ Wer zuletzt lacht, lacht auch beim Gast- mahl zuletzt, dieser Feier auf das Leben und auf das Sterben, das weise zu erwarten ist. Dem Erdichter dieser wohl nur um ein Geringes übersteigerten Wirklichkeit der Epoche Kaiser 16
Neros aber war ein früher Tod beschieden; er gehörte zu den Opfern des Imperators, dem er als „Schiedsrichter des feinen Geschmacks“ arbiter elegantiae diente: bevor er, verleumdet, die Pisonische Verschwörung gegen den Kaiser unterstützt zu haben, verurteilt wurde, nahm er sich selbst das Leben. Er starb, heißt es, seelenruhig, Witze machend und freundlich. Durch das Gastmahl des Trimalchio schillert jene Freundlich- keit dem guten Leben vor dem gewissen Tod gegenüber, die, bei aller „Dekadenz“, die Götter Götter und die Menschen Menschen sein lässt. In der Satire, auf die sich gerade die Rö- mer und gerade der Petronius so brillant verstanden, steckt mehr als die lustvolle und grelle Malerei eines sybaritischen Gastmahls - wer lesend an ihm teilhat, spürt die Kunstfertig- keit, mit der der unsterbliche Autor die köstlichen Schweine- reien adelte, ohne ihnen den Saft abzulassen. Anzeige An der Feuerwache 19 95445 Bayreuth Telefon: 0921 / 1510824-0 E-Mail: info@stiftung-verbundenheit.de www.stiftung-verbundenheit.de @stiftungverbundenheit @stiftung_verbundenheit @StiftungVerbund 17
AB DSAC S HGWUETIEF UB NU GC EHN Trinkkultur von Salvatore Solinas Pinna Die sardischen Weine haben eine ganz besondere Note und diese Note lassen sie sich eine Menge kosten. Wir wollen aber nicht über den schnöden Mammon reden, das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken, sagte schon Konfuzius. Ja, natürlich hat Goethe diesen Satz wiederholt. Das wissen wir doch alle. Der Wein, den ich heute verkoste, hört auf den schö- nen Namen Tanca Farra und kommt aus dem Hause Sella & Mosca. Kann man sich gut merken: Tanca Mosca, Sella Farra. Zwei schöne nichtliterarische Geminationen. Aber genug der Wortspiele. Der Wein ist ernst zu nehmen. Und zwar bei Zim- mertemperatur. Aber bitte nicht zu warm. Die 14% sind zwar inzwischen nicht mehr am Rande des Spektrums, aber sie wer- den mit steigender Temperatur zu dominant. Meine Empfeh- lung: Aus dem Keller geholt erst mal gemeinsam mit dem Wein tief Luft holen, eine gute halbe Stunde. Dann in ein voluminö- ses Glas füllen, den wundervoll rubinroten Tropfen ein wenig schwenken und in einem Zug runterkippen. Kleiner Scherz. Genießen Sie jeden Schluck, der Wein hat es verdient. Es ist eine Mischung aus der sardischen Canonau- und der Cabernet- Sauvignon-Traube. Und die ist gelungen. Ein zarter Duft von reifen roten Früchten wird ergänzt von leichten Ledernoten. Geschmacklich ist er erstaunlich frisch, ja fast schmeckt man frische Kräuter heraus. Dann ist‘s aber auch gut. Bevorzugt nach drei bis vier Jahren Lagerung genießbar. 18
HEIMATLICHES Goethische Wollsackverwitterung von Adrian Roßner Foto: GertGer Quelle Wikimedia Foto: Bayreuther Festspiele W er als Wanderer durch das Fichtel- gebirge reist, sieht an manchen Or- ten einen allzu bekannten Namen auffla- diums aller möglichen Wissenschaften noch immer keinen blassen Dunst von der Antwort auf jene alles umfassende ckern. Oftmals sind die Buchstaben, die Frage hatte, zeichnet er damit auch das man vor über 200 Jahren in den Felsen Menschengeschlecht an sich. Wir alle ritzte, bereits stark verwittert oder von haben etwas Faustisches in uns, das in der üppigen Vegetation überwuchert, manchen Situationen über die Vernunft doch bilden sie dennoch unverkennbar obsiegt und uns dazu antreibt, immer das Wort GOETHE. Tatsächlich weil- wieder Neues entdecken zu wollen. Es te das Universalgenie insgesamt dreimal darf vermutet werden, dass Goethe sich in der Fichtelgebirgsregion, was die Be- auch selbst in seinem Faust erkannte, da wohner dazu trieb, seine Wirkungs- und er, der große Literat, ebenfalls auf unzäh- Wohnstätten in den nachfolgenden Jahr- ligen akademischen Gebieten bewandert zehnten durch Inschriften und Hinweis- war und sich neben der Arbeit an seinen tafeln zu markieren. Was aber führte ihn, Monumentalwerken auch mit der Geo- den Schöpfer des deutschen National- logie und Botanik beschäftigte. epos Faust, in das granitene Hufeisen? Forschungen auf eben diesen Gebieten Nun, es war das Urmenschliche: Wenn brachten ihn, den Fragenden, 1785 nach Goethe „seinen“ Doktor als von der Nordostoberfranken. Eigentlich war Neugierde und dem Wissensdurst Ge- er auf dem Weg vom heimischen Wei- triebenen darstellt, der trotz des Stu- mar ins böhmische Karlsbad, bog zum 19
30. Juni jedoch in Hof nach Süden ab te - spannende Verbindung! Immerhin und reiste über Marktleuthen nach Wun- symbolisiert der Irrgang mit seinen un- siedel, wo er für einige Tage verweilte. überschaubaren Wegen und den sponta- Seine Zeit im Fichtelgebirge nutzte er al- nen Richtungswechseln, die den Suchen- lerdings nicht zur Entspannung, sondern den vom eigentlich anvisierten Zentrum für ausgiebige Forschungen auf dem Ge- fern halten, auch par excellence eben biet der Geologie, wobei ihn vor allem jenes niemals endende Streben, das Goe- die seltsam anmutenden Granittürme the als das „Urmenschliche“ anerkannte. faszinierten. Die sogenannte „Woll- Allzu erfreut zeigte er sich demnach, dass sackverwitterung“ findet sich an vielen das wirre Naturgebilde, das er bei seinem Stellen des Gebirges und ist, wie man Besuch „mühsam durchkrochen“ hatte zwischenzeitlich herausgefunden hat, nun „durch architektonische Garten- vulkanischen Ursprungs. Zu Goethes kunst spazierbar“ gemacht worden war. Zeiten stellten die scheinbar aufeinan- Vor 200 Jahren, am 13. August 1822, der gestapelten Matratzen aber noch ein kam Goethe ein letztes Mal ins Fichtel- großes Mysterium dar, dessen sich der gebirge. Gut eine Woche lang blieb er Meister nur allzu gerne annahm. Nach damals, um sich die neuartige Chemische Abstechern zum „Zechenhaus“, dem Fabrik des Wolfgang Kaspar Fikentscher heutigen Seehaus, und zur Luxburg, die zu besehen und die Quecksilberherstel- mittlerweile den Namen der Preußenkö- lung zu bewundern. Auch die Glasfabrik nigin Luise führt, entschwand er am 4. bei Brand, wo für die damalige Zeit mit Juli nach Karlsbad. modernster Technik gigantische Fenster- 71jährig kehrte er 1820 am 25. April platten produziert wurden, faszinierten zum zweiten Mal in das granitene Huf- den Gelehrten, der letztendlich auch eisen zurück, blieb jedoch nur gut zwei selbst aktiv wurde und einige Versuche Tage in Bad Alexandersbad, ehe er am durchführte. Goethe, jener Große, hat 26. erneut nach Karlsbad weiterreiste. demnach unsere Heimat als eben das Den kurzen Zwischenstopp nutzte er Mysterium erkannt, das sie in manchen für eine erneute Besichtigung der Lui- Teilen bis heute darstellt, andererseits senburg, deren schroffe Felsen und weit aber auch verstanden, dass bei allem Stre- ausladenden Granitmeere die Wunsied- ben, bei aller Jagd nach Erkenntnis, der ler Bürger zwischenzeitlich touristisch Genuss der ganz einfachen, alltäglichen erschlossen hatten. Insofern hat Goethe Dinge nicht zu kurz kommen darf. So beides, die ursprüngliche Form und das „ergötzte“ er sich auch oftmals „auf die- daraus entstandene „Felsenlabyrinth“ be- sen herrlichen Granitmassen“ und besah sucht; eine - wenngleich nur konstruier- sich das „abendlich[e] Bischofsgrün“. 20
B L I CD K A SI NG UD TI EE BB LUÄCTHT E R MUH - Vom Weltbayerntum von Frank Piontek C annabis – Antisemitismus in Bayern – die Zeile unter dem Titel fällt schon durch die fetten Kursive auf. „Bayerische Aspekte“, so lautet der Untertitel der Zeitschrift, die unter „Kultur“ nicht die Folklore, sondern eine liberale Politik ver- steht, die Kunst und Kritik, Tradition und Erneuerung ineins setzt. MUH heißt das Blatt; Rinder sind aufmerksame Zeitge- nossen, und Bayern wird als Weltbayerntum verstanden. Von einem solchen Weltbayern, Sixtus Lampl, wird auch berichtet. Der alte Herr hat Dutzende von historischen Orgeln gerettet und sich als vergleichsloser Orgel-Artenschützer bewährt. In Valley tümelts nicht, es wird gearbeitet. Geschichten wie die vom Lampl machen selbst dann Mut, wenn man weiß, dass der Kampf gegen die Bayerische Kulturvernichtung nicht immer erfolgreich ist. Der Versuch des Sammlerehepaares Grill um eine „Bayerische Pinakothek“ in der Landeshauptstadt endete mit dem Verkauf der Kollektion nach Österreich. Chance ver- tan, denkt sich der Leser, der sich nicht darüber wundert, dass ökonomisch-soziale Interessen oft niedriger gehandelt werden als wirtschafts- und kommunalpolitische Egoismen. Bayern ist ein Kulturstaat (O-Ton der Bayerischen Verfassung)? Jein. MUH macht klar, wo es hakelt – und dass die „Gemütlich- keit“ der großen Volksschauspieler ein Irrtum ist, der im Auge 21
des tümelnden Betrachters liegt. Gustl Bayrhammer wird im Heft eine ausführliche-bilderreiche und problembewusste Stu- die gewidmet, die das Biographische, Künstlerische und Politi- sche parallelisieren kann, weil eben alles parallel lief bei diesem Schauspieler: die Arbeitswut wie die Wut gegen die Republika- ner und die neuen Nazis. Sein Text von 1993 ist, sagt Christian Selbherr, „von einer großen Wucht, der leider nur wenig von seiner Aktualität eingebüßt hat.“ „Wir haben“, schrieb Bayr- hammer, „an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, ja, eines neuen Jahrtausends, im Zeichen der Satelliten und TV-Ka- näle, die große Chance, geistig zusammenzurücken, die Kul- turen und Völker dieser Erde kennenzulernen, neugierig über frühere und jetzige Grenzen hinauszuschauen. Nicht ein Land sei uns heilig oder über alles, unsere Erde sei uns heilig, denn ohne sie gäbe es kein Land und auch nicht uns und auch nicht die anderen.“ Die höchste Kulturstufe wird sicher nicht dort erklimmt, wo eine Chiemgauer Felsenkellerdiskothek seiner Existenz beraubt wird, weil ein staatlich gebauter und gefei- erter Tunnelbau dem Musik- und Tanzclub nicht das Wasser abgräbt, sondern dasselbe geradezu in ihn hineinpumpt – wer die Macht hat, haftet im „Kulturstaat“ Bayern nicht einmal für solche Katastrophen. Von selben Qualitäten zeugen einige Le- serbriefe, in denen unnötige Flächenversiegelungen aufs Korn genommen werden – auch die „Post an die MUH“ ist Kultur, denn auch Lebensflächen müssen, wie alte Orgeln, geschützt werden: so wie das Licht. „Lichtverschmutzung“, was für ein Wort! Die Chiemgauer Initiative Paten der Nacht verschrieb sich dem Kampf gegen den antiökologischen Unsinn, übri- gens auch einem Bayern-Rekord, woran wir sehen, dass Bayern schon sehr besonders ist. Schade also, aber auch konsequent, dass Walter Sedlmayer (die Reihe Charakterköpfe entwirft ein feinfühliges Porträt) zunächst in eine falsche Ecke gestellt wur- de: „Weil dicke Mimen“, schreibt Michael Zametzer, „in der Nachkriegszeit zunächst noch dünn gesät sind, wird der junge, damals schon korpulente Schauspieler mit Halbglatze konse- quent fehlbesetzt, in oft lächerlichen Nebenrollen.“ Der Leser ist dankbar für solche Tiefenschnitte. MUH bietet aber auch das Ineinander von „Bierkultur und Kleinkunst“, von Kinderseite und einem „Wohlstandsleuch- ten“, das so anheimelnd anmutet, bis wir mit dem Hinweis 22
auf Fotodokus und Filme in die Gegenwart des russisch-uk- rainischen Kriegs gestoßen werden. Auch das ist echt bayerisch, weil es sich die bayerischen Fotografen, Autoren und Filme- macher nie nehmen ließen, den Finger auf die wunden Welt- punkte zu weisen. Es ist vieles schiach, aber hübsch schiach sind die dunklen Bilder eines Benjamin König, denen die Bay- erwaldmenschengesichterfotos des Analogfotografen Martin Waldbauer und Barbara Niggl Radloffs Fotoreportage aus dem Bauernleben anno 1976 an die Seite gestellt werden können. „Gmiatlich“ ist hier nichts, eindrücklich alles. MUH gelingt es, in einem Heft auf die ökosoziale Transformation und auf die zeitlos scheinenden Innen- und Außenwelten des tiefsten Bayern hinzuweisen. Waldbauer druckt seine Fotos auf Papier, das bis zu 80 Jahre alt ist, während Sebastian Gift von der Münchner Suchthilfeorgansisation Condrobs e.V. gut begrün- det für die Entkriminalisierung der in Bayern strafverfolgten Drogenkonsumenten argumentiert. Bayern ist auch Franken, doch für fränkische Leser hat MUH in seinem Winterheft nur wenig übrig: die Diskussion um das in die Jahre gekommene Nürnberger Opernhaus und die Ersatzspielstätte NS-Gelände wird wirsch und nicht besonders kundig kommentiert, denn was sollte man, wenn man einen Neubau eröffnen sollte, mit dem Theateraltbau anfangen? Die Frage wird nicht gestellt, stattdessen ausgeteilt: „Mit dieser erwartbar mutlosen, aber teuren Schwerpunktsetzung [der Sanierung des Altbaus] wird Nürnberg auf Jahrzehnte ein kultureller Elefantenfriedhof blei- ben.“ Man wundert sich nicht, wenn man den Herkunftsort des wurdelnden Peter Kunz liest: er lebt im verfeindeten Fürth, daher weht also der Wind. Was MUH jedoch an optischer und inhaltlicher Qualität und Fülle, an Bayerischen Aspekten jen- seits einer bloßen Goaßgschau bietet, die den Sinn fürs Ganze und für die schönen und unschönen Dinge schärfen, ist viel. Wie „Gustl der Große“ sagte: „Dass das Bairische nicht nur fürs volkstümliche Kasperltheater taugt, sondern echte Drama- tik und tiefe Abgründe beschreiben kann“. Insofern gehören ein Gespräch mit den Münchner Gründerinnen des jüdischen Onlinemagazins Hagalil und Thomas Heilige Nacht durchaus zusammen. MUH 43 (Winter 2021/22). 96 Seiten. 8 Euro. 23
KULTURVEREIN Der Historische Verein für Oberfranken e.V. von Frank Piontek E r ist – darauf ist man stolz - der ältes- te bayerische Geschichtsverein. Was ist „Geschichte“? Geschichte war und ist von den denkmalzerstörenden Exzessen der Säkularisation von 1803 (die Auf- hebung der Klöster und die Verschleu- immer noch ein bisschen das, was in pa- derung des kirchlichen Kulturguts) er- triotischem Sinn erforscht werden kann; holt hatten, tief in der Findung einer schon das Feld, das in Oberfranken be- deutschen Nation wurzelten. Plötzlich ackert werden kann, ist riesig: von den besannen sich nicht allein die Brüder ersten Spuren menschlicher Besiedlung Grimm auf historische Überreste dessen, bis zu den letzten Verwerfungen des spä- was man als „Heimat“ zu bezeichnen ten 20. Jahrhunderts. „Ältere kirchliche pflegte. Man gründete Museen, Archive Geschichte von Kulmbach“, so lautet der – und Vereine, die die noch existieren- Titel des ersten Aufsatzes in der ersten den Dokumente der Vergangenheit be- Nummer der vereinseigenen Zeitschrift. wahren und wissenschaftlich bearbeiten „Demarkationslinie – Grenze – Todes- wollten. 1827 ging also eine Einladung streifen. Zwei ehemalige Bundesgrenz- an die Freunde der vaterländischen Ge- schutzbeamte berichten“, unter dieser schichte heraus. So kamen 260 Unter- Über- und Unterschrift berichteten im stützer zusammen, die unter der Stab- Januar 2022 zwei ehemalige Grenzschüt- führung des Bayreuther Bürgermeisters zer über das, was sie an der deutsch-deut- Christian Erhard von Hagen und einiger schen Grenze erlebt hatten. Begonnen anderer honoriger Vertreter der Gesell- hat die Vereinsgeschichte nicht mit bru- schaft den Verein für Baireuthische Ge- talen, sondern eher mit romantischen schichte und Altertumskunde gründeten: Vorstellungen, die, kurz nachdem sich für eine umfassende Geschichtsschrei- die deutschen Länder von Napoleon und bung für „den großen Wechsel der man- seinen kriegerischen Folgen, aber auch nigfaltigen Formen des Landeigentums 24
und der Gewohnheiten des Landbaus, nen“ höchst rege gestalte – woran man die Geschichte der Kirche, die Gerichts- sieht, dass die Bayreuther Geschichtswis- verfassung, die Rechte und Ordnungen senschaftler weit über den Tellerrand des der Städte und Märkte, die Geschichte Obermainkreises hinausblickten. der Kunst, des Handels und der Gewerbe Die stärksten Einschnitte musste man im und dergleichen“. Mit diesem „Aufruf“ 20. Jahrhundert registrieren, als die Pro- beginnt auch die Geschichte der Samm- tagonisten des ersten Weltkrieg die inter- lungen des Vereins, die auch den Grund- nationalen Beziehungen kappten und in stock für das Bayreuther Stadtmuseum der NS-Zeit der Verein mit dem Auftrag bildeten. Schon 1828 kam das erste Heft betraut wurde, die germanischen Ge- des Archivs für Bayreuthische Geschichte schichte zu erforschen, was an sich nur und Altertumskunde zustande. Beschirmt heißen konnte, historische Tatsachen zu vom kulturliebenden, -bewahrenden und verfälschen. Die Titel der zwischen 1933 -schaffenden König Ludwig I., konnte und 1944 erschienenen Jahrbücher las- 1830 ein Verein für die Heimatpflege sen allerdings keinen vertiefteren Hang des gesamten Obermainkreises ins Leben zur Nazifizierung erkennen. 1947 wurde gerufen werden, worauf sich zunächst der Verein dann quasi wiedergegründet, ein (noch bestehender) Bamberger Ge- um bis heute mit einem äußerst breiten schichtsverein gründete, der Bayreuther Spektrum, zwischen der Landes,- Stadt,- Verein offiziell zum Historischen Verein Politik-, Kirchen-, Mühlen-, Musik-, des Obermainkreises bzw. zum Verein für Bergwerks-, Brunnen-, Bau-, Fest- und Geschichte und Altertumskunde, Geogra- Theatergeschichte etc. etc., mit den auch phie und Statistik des Obermainkreises er- außerhalb des Jahrbuchs publizierten nannt wurde und aus dem wissenschaft- Buchveröffentlichungen die Geschichts- lichen Blatt das Archiv für Geschichte freunde zu erfreuen. Damit nicht ge- und Altertumskunde des Obermainkreises nug: der Verein betreibt ein archäologi- wurde, dessen Nachfolge, das Archiv für sches Museum, das im Italienischen Bau die Geschichte von Oberfranken, als statt- des Bayreuther Neuen Schloss residiert liches Werk jährlich mit Aufsätzen zur (kleiner Tipp: der Kulturfreund sollte Regionalgeschichte erscheint. Seit 1837 es schon aufgrund der herausragenden trägt der Verein den heutigen Namen Raumausstattungen des Obergeschosses – seinerzeit waren schon zwei Jahre ins besuchen) und – neben der Außenstelle Land gegangen, in denen die Bayerische der Archäologischen Staatssammlung in Akademie der Wissenschaften und die Forchheim – das einzige in Oberfranken Historischen Vereine des Bayerischen befindliche Spezialmuseum für vor- und Vaterlandes auf den Wunsch Ludwigs I. frühgeschichtliche Funde ist; Schwer- eng zusammenarbeiteten. 1842 konnte punkte: Fränkische Schweiz und Bay- man vermelden, dass sich der Austausch reuther Umland. Während die Vereins- mit „sämtlichen inländischen Vereinen“ Bibliothek in der Universitätsbibliothek und „sechs ausländischen Organisatio- verwahrt wird, kann man im Bayreuther 25
Anzeige J Ü R G E N BRO DW O LF PARAPHRASEN 20. MÄRZ – 19. JUNI 2022 Kunstmuseum Bayreuth Altes Barockrathaus Maximilianstraße 33 95444 Bayreuth Geöffnet: Di – So 10 – 17 Uhr www.kunstmuseum-bayreuth.de
Foto: Frank Piontek Stadtarchiv die ungedruckten Doku- Familienführungen im Neuen Schloss auf mente und Archivalien des Historischen den Spuren der Markgräfin Wilhelmine, Vereins einsehen – damit noch immer oder in den unterirdischen Kasematten nicht genug: Der Verein verfügt auch der Plassenburg. Nein, der Historische über eine graphische Sammlung, eine Verein für Oberfranken ist kein Privatclub Landkarten- und eine Münzsammlung. für Nostalgiker, sondern ein im Sinne „Seit seiner Gründung“, heißt es auf der der Aufklärung agierender, lebens- und Homepage, „ist es der Zweck des Ver- menschennaher Kulturverein, in dem so- eins, die Geschichte Oberfrankens wis- wohl der einstige Todesstreifen als auch senschaftlich zu erforschen, das Interesse „Teufelsapfel und Gottesgeschenk“ be- breiter Kreise der Bevölkerung dafür zu leuchtet werden. So jedenfalls heißt der wecken, das Geschichtsbewusstsein zu Vortrag, den Adrian Roßner, Autor des pflegen, die kulturelle Überlieferung zu Kulturbriefs, am 28. April im Vortrags- bewahren und den Heimatgedanken zu raum der VHS Pegnitz halten wird, wo vertiefen. Wir wollen Menschen zusam- er uns mitteilen wird, dass es nicht der menführen, die sich für die oberfränki- Preußenkönig Friedrich II., sondern der sche Geschichte interessieren.“ Schüler- Pilgramsreuther Bauer Hans Rogler war, aktionen im Archäologische Museum der den Kartoffelanbau in den deutschen bieten „Archäologie zum Anfassen“. Landen einführte. Das Veranstaltungsprogramm ermög- Sage keiner, dass sog. alte Geschichten licht auch den „niederschwelligen Ein- nicht immer wieder neu wären! stieg in die Regionalgeschichte“, z.B. mit 27
DAS NEUE ALBUM The Rolling Chocolate Band: - sunny side up - von Frank Piontek Boom boom boom boom… In der Tat: ein Garagenrock vor, der so unaufgeregt Es beginnt auf der Black Street mit boom daherkommt wie Everybody‘s gotta live – boom boom, aber die Bayreuther Jungs mit wenigen Akkorden und einem Tem- können auch anders. Nicht, dass Va- po und Rhythmus lässt sich gute Musik lentin Weintritt, Dominik Adler, Jonas machen, die uns am Ende (Egg sunny Kuhn, das Trio der rollenden Schokola- side up) zu einer Fahrt in einen ewigen den-Band, Spezialisten für softe Balla- Sonnenuntergang begleitet, diesmal und den wären, gewiss nicht, aber wer sich endlich ausgedimmt, denn es kann nicht so schön, immerhin 30 Sekunden kurz, anders sein in der Welt des gezähmten mit einem Blues in Escape begibt, mit Protests, der inzwischen aus Spaß an der einer Coolness sondergleichen Jump this Freud aus dem Studio tönt. Integral da- train tonight beginnt und einem Mund- zugehörend im auch äußerlich perfekten harmonika-Solo (Toots Thielemans lässt (kein Wunder: audiotransit) Produkt: die grüßen) Split through the cracks eröffnet, Silberscheibe, Egg sunny side up, in Pappe hat ein bisschen mehr zu bieten als den gehüllt, versehen mit entzückenden Pop- Folk- und Punkrock, der den schöns- zeichnungen und dem Logo der Scho- ten Soundtrack zu einem US-amerika- kofabrik, in dem sich die drei Musiker nischen Spielfilm der späten Siebziger 2014 beim Skaten begegneten, um nie abgeben könnte. Wer bei Cherry love wieder auseinander zu gehen: Move on, genauer in den Hallraum hineinhört, selbst, wenn‘s auf einer schwarzen Straße vernimmt gelegentlich einen schönen ist. Dauergrundsound, ansonsten herrscht Label: audiotransit. 28
HINTER DEN KULISSEN Giacomo Casanova „Geschichte meines Lebens“ 2. Teil Textauswahl von Stephan Jöris Foto: Bayreuther Festspiele Auszüge aus dessen Vorrede - 2. Teil Mein sanguinisches Temperament mach- I ch habe nach und nach alle Tempera- te mich sehr empfänglich für die Lo- mente gehabt: in meiner Kindheit war ckungen der Sinnlichkeit; ich war stets ich phlegmatisch, in meiner Jugend san- fröhlich und immer geneigt, von einem guinisch; später wurde ich cholerisch Genusse zu einem neuen überzugehen; und endlich melancholisch, und das dabei war ich zugleich sehr erfinderisch werde ich wahrscheinlich bleiben. Indem im Ersinnen neuer Genüsse. Daher ich meine Nahrung meiner Leibesbe- stammt ohne Zweifel meine Neigung, schaffenheit anpaßte, habe ich mich stets neue Bekanntschaften anzuknüpfen, einer guten Gesundheit erfreut. Schon und meine große Geschicklichkeit, sol- frühzeitig lernte ich, daß jede Schädi- che wieder abzubrechen; doch geschah gung der Gesundheit stets von einem dieses stets mit voller Überlegung und Übermaß in der Ernährung oder in der niemals aus bloßer Leichtfertigkeit. Tem- Enthaltsamkeit herrührt. Darum habe peramentsfehler sind unverbesserlich, ich niemals einen anderen Arzt gehabt weil das Temperament nicht von unse- als mich selber. ren Kräften abhängt. Etwas anderes ist es 29
mit dem Charakter. Diesen bilden Geist Neufundländer Stockfisch, Wildpret im und Herz; das Temperament hat fast gar höchsten Stadium des Duftes und von nichts damit zu tun. Darum hängt der Käse gerade diejenigen Sorten, deren Charakter von der Erziehung ab und läßt Vollendung sich dadurch zeigt, daß die sich folglich bessern und gestalten. Tierchen, die sich in ihnen bilden, sicht- Ich habe eingesehen, daß ich mein Leben bar werden. Stets fand ich süß den Ge- lang mehr nach der Eingebung meines ruch der Frauen, die ich geliebt habe. Gefühls als aus Überlegung gehandelt Was für ein verderbter Geschmack! wird habe; ich glaube daraus folgern zu dür- man sagen; welche Schamlosigkeit, ihn fen, daß mein Verhalten mehr von mei- ohne Erröten einzugestehen! Diese Kri- nem Charakter als von meinem Verstan- tik macht mich lachen; denn ich glaube, de abhängig gewesen ist. Mein Verstand dank meinem derben Geschmack glück- und mein Charakter liegen beständig im licher zu sein als andere Menschen; ich Kriege miteinander, und bei ihren fort- bin überzeugt, daß er mich genußfähiger währenden Zusammenstößen habe ich macht. Glücklich, wer sich Genüsse zu stets gefunden, daß ich nicht Verstand verschaffen weiß, ohne anderen zu scha- genug für meinen Charakter und nicht den! Charakter genug für meinen Verstand Ich aber erkenne gerne stets in mir selber besaß. die Hauptursache des Guten oder Bösen, Der Kultus der Sinneslust war mir immer das mir zustößt. Daher sah ich mich stets die Hauptsache: niemals hat es für mich mit Behagen imstande, mein eigener etwas Wichtigeres gegeben. Ich fühlte Schüler zu sein, und machte es mir zur mich immer für das andere Geschlecht Pflicht, meinen Lehrer zu lieben. geboren; daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel Giacomo Casanova wurde 1725 in Venedig ich nur konnte. Auch die Freuden der geboren. Er nannte sich Chevalier de Seingalt Tafel habe ich leidenschaftlich geliebt, und studierte Theologie und Jura. 1755 wur- und ich habe mich für alles begeistert, de er in Venedig wegen Gottlosigkeit einge- kerkert. 1756 gelang ihm die Flucht aus den was meine Neugier erregte. Bleikammern des Dogenpalastes. 1757 Lotte- Wenn man mich sinnlich nennt, so tut riedirektor in Paris. Hielt sich an den Höfen man mir unrecht; denn meiner Sinne Friedrichs des Großen, Josephs II. und Katha- wegen habe ich niemals Pflichten ver- rinas der Großen auf. Ab 1785 Bibliothekar nachlässigt, so oft ich deren hatte. Aus des Grafen Waldstein in Dux (Böhmen). Dort demselben Grunde hätte man niemals starb Casanova. Seine umfangreichen Memoi- ren sind von hohem kulturhistorischem Wert. Homer einen Trinker nennen dürfen: - Berühmt wurde er durch die Beschreibung Laudibus arguitur vini vinosus Home- seiner Flucht aus den Bleikammern. Aufsehen rus.- * Ich liebte alle scharfgewürzten erregten jedoch in erster Linie seine beschriebe- Speisen: Makkaronipastete von einem nen erotischen Abenteuer. * Weil er den Wein guten neapolitanischen Koch, die Ol- gelobt, gilt Homer als weinselig (Horaz). lapotrida der Spanier, recht klebrigen 30
AUSSTELLUNGEN Deutsche Kinemathek: Frame by Frame – Film restaurieren von Frank Piontek Foto: Deutsche Kinemathek D er Film stinkt. Der Geruch der säu- rehaltigen Nitrokopie sticht derart scharf in die Nase, dass man unwillkür- gelegentlichen Glücksmomente der wis- senschaftlich orientierten Filmrestaurie- rung demonstriert. lich zurückschreckt. Der Film stinkt na- Filmrestaurierung ist auch immer Film- türlich nicht, nur die alten Filmrollen rekonstruktion. Der Riss im fragilen, sind‘s, die den Filmfreunden – und den stets feuergefährdeten und durch ver- Filmrestauratoren Sorgen bereiten. Dass schiedenste Einwirkungen beschädigten es absolut nicht selbstverständlich ist, oder bis zur Unkenntlichkeit zersetzten auch die berühmten Filmmeisterwerke Filmmaterial betrifft nicht allein physi- der Vergangenheit in jenen Fassungen sche, mehr noch manuelle Eingriffe. Die zu Gesicht zu bekommen, in denen sie präzise Szenenfolge von Das alte Gesetz, einst das Licht der Leinwand erblick- einem bewegenden Stummfilm über das ten, hat sich beim größeren Publikum Problem der jüdischen Assimilation im spätestens herumgesprochen, seit 2010 19. Jahrhundert, konnte also nur des- Metropolis nach dem spektakulären Fund halb wiederhergestellt werden, weil die einer unbekannten argentinischen Kopie Zensurkarte, auf der seinerzeit die Texte einer zeitgenössischen Verleihfassung in des Films fixiert wurden, aus den Tiefen einer fast kompletten Langfassung wie- der Archive wiederauftauchte. Für Me- deraufgeführt werden konnte. Die Re- tropolis lagen nicht allein verschiedene konstruktion war das Werk der Leute Kopien, auch die Orchesterpartitur und der Deutschen Kinemathek, die in einer der Klavierauszug der Filmmusik vor, beeindruckenden Ausstellung – anhand die uns wichtige Daten mitteilen – in von wenigen, aber aussagekräftigen Fil- anderen Fällen muss „nur“ eine vorlie- men – nun die Prinzipien, Probleme und gende Kopie vom Analogen ins Digitale 31
gebracht, geklebt, gesäubert und retou- derherstellung, die noch kurz vor dem chiert werden; das Ergebnis kann ästhe- Tod der Regisseurin ins Werk gesetzt tisch so überwältigend sein wie die Neu- wurde, in seiner 2,5 Stunden langen Ur- fassung von Der Katzensteg von 1927. fassung besichtigt werden, die bei den Die Ausstellung lädt dringend dazu ein, Kritikern von 1980 so schlecht ankam, sich tief in die verschiedensten, auch dass der Verleih das Werk damals um ethischen Überlegungen und Techniken eine satte halbe Stunde kürzte. Wer es hineinzubegeben, die aus einem trauri- heute anschaut, sieht auch das Produkt gen Nitrorest ein neues Juwel machen – einer Rekonstruktion der ursprünglichen dass es nicht nur Vorkriegsfilme sind, die Farbfassung – wie gesagt: analog aufge- des Schutzes (durch Umkopieren) und nommene Filme in ihrer Originalfassung der Sichtbarmachung (durch restaurato- zu erleben, ist alles andere als selbstver- rische Maßnahmen) bedürfen, sondern ständlich. Die Berliner Schau aber macht auch viele jüngere: auch dies ist eine klar, wieso es beglückend sein kann, sich der Erkenntnisse der Ausstellung, in der bis zu zwei Jahre mit einem Film zu be- man problemlos drei Stunden zubringen schäftigen. kann, bevor man sich im Heimkino ei- nige der ausgewählten Streifen anschaut. Deutsche Kinemathek / Museum für Film Helma Sanders-Brahms‘ Deutschland, und Fernsehen. Potsdamer Str. 2, Berlin. bleiche Mutter kann heute dank der Wie- Bis 2.5. 2022. Anzeige 32
AUS DEM MUSEUM Das verschollene Buntglasfenster des Stenohauses von Dr. Rainer-Maria Kiel, Bibliotheksdirektor i. R. „C urrant verba licet, manus est veloci- or illis“ [= Mögen die Worte auch eilen, die Hand ist schneller als sie] – die- schen Kurzschrift konkurrierten im 19. und 20. Jahrhundert noch andere Kurz- schriftsysteme. Jahrzehntelang rangen die se lateinischen Worte sind auf dem Grab- jeweiligen Vereinigungen um eine einheit- stein Franz Xaver Gabelsbergers (1789- liche Stenographie. Selbst die deutschen 1849) eingemeißelt. Der Erfinder der Länder- und Reichsregierungen waren modernen Stenographie liegt im Alten an diesem Ringen beteiligt. 1924 einigte Südlichen Friedhof von München begra- man sich schließlich auf die sog. Deutsche ben, und da ich unweit dieses Friedhofs Einheitskurzschrift (DEK). Nach 1933 aufwuchs, sind mir Grab und Inschrift glaubten die unterlegenen Richtungen, von Jugend an vertraut. Freilich dachte den Kampf nochmals aufnehmen zu kön- ich damals nicht im Traum daran, dass nen, sahen sich aber schon bald um ihre ich später einmal im Stenohaus zu Bay- Hoffnungen betrogen. Das Dritte Reich reuth, dem einstigen Domizil der Deut- hielt trotz einiger Modifizierungen an der schen Stenografenschaft, meinen Amtseid Deutschen Einheitskurzschrift fest. Auch leisten würde. in diesem, nur scheinbar unpolitischen Das Stenohaus, unterhalb des Alten Bereich wollte man keine Pluralität, son- Schlosses gelegen und von der Kanalstra- dern setzte auf Gleichschaltung. ße begrenzt, ist älteren Bayreuthern sicher Stenohaus und Haus der Deutschen Er- noch gut in Erinnerung. Errichtet wurde ziehung wurden bei den alliierten Bom- der Sandsteinbau in den Anfangsjahren benangriffen im April 1945 gleicherma- des Dritten Reiches. 1936 fertiggestellt er- ßen beschädigt, aber nach dem Kriege hielt er den Namen „Haus der deutschen wieder aufgerichtet. Aus dem Haus der Kurzschrift“ und wurde der Deutschen Deutschen Erziehung wurde der Sitz der Stenografenschaft als Domizil zugewie- BELG bzw. ihrer Nachfolgeunterneh- sen. Der Volksmund verkürzte den sper- men EVO und EON. Die Stenografen- rigen Namen zum griffigen „Stenohaus“. schaft – nach dem Krieg umbenannt in Auf der gegenüberliegenden Seite der Deutscher Stenografenbund – erhielt ihr Kanalstraße entstand etwa zeitgleich das Haus wieder zurück und nutzte es bis „Haus der Deutschen Erziehung“ mit sei- zum Bezug eines neuen Quartiers im Jah- ner Weihehalle, in der bis Kriegsende re- re 1974. Damals galt das Gebäude bereits gelmäßig Gedenkakte für Gauleiter Hans als baufällig. Das hinderte aber nicht, dass Schemm (1891-1935) stattfanden, der eben dort die Verwaltung der neu ge- bei einem Flugzeugunglück ums Leben gründeten Universität Bayreuth und Teile gekommen war. Mit der Gabelsberger- der Universitätsbibliothek (Rechts- und 33
Wirtschaftswissenschaften) einquartiert Zerschlagung zu bewahren und für das wurden, bis sie auf dem Campus eigene Museum zu sichern. Leider scheint man Neubauten (Teilbibliothek Rechts- und Wirtschaftswissenschaften 1980, Univer- sitätsverwaltung 1994) erhielten. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre riss man das Stenohaus schließlich ab und gestalte- te auch das umliegende Areal völlig neu. Als frischgebackener Bibliotheksrat in Bayreuth hatte ich 1979 meinen Amts- eid noch im Stenohaus zu leisten. Vor dem Gebäude befand sich damals eine Eisdiele, davor ein rechteckiges Wasser- becken, aus dem munter kleine Fontä- meine Anregung nicht aufgegriffen zu nen plätscherten. Mit dem alten Baum- haben, denn weder in den Schauräumen bestand ringsherum bot das Ganze einen noch im Depot des Museums findet sich idyllischen Anblick. Von Sparsamkeit und heute ein Glasfenster aus dem ehemaligen unbefangenem Umgang mit der jüngeren Stenohaus oder ein Hinweis auf seinen Vergangenheit legte das Innere des Ste- Verbleib. Es hätte auf jeden Fall erhalten nohauses Zeugnis ab. Im Treppenhaus werden sollen – nicht als NS-Devotiona- befanden sich Buntglasfenster, die den lie, jedoch als letzter Überrest eines abge- Bombenhagel überstanden hatten und gangenen historischen Gebäudes und als auf die früheren Nutzer des Gebäudes markantes Symbol für die Gleichschal- hinwiesen. Mindestens eines davon zeigte tungspolitik des Dritten Reiches. Aber einen geflügelten Bleistift, dessen Spitze wer weiß, vielleicht taucht das Fenster ja nach unten wies. Um das obere Stiften- doch noch einmal auf? Hat doch erst un- de schlang sich das Hakenkreuz. Letzteres längst das Historische Museum aus Privat- hatte man zwar mit schwarzer Farbe über- besitz ein Buntglasbild (1,20 m x 1,20 m) strichen, doch konnte es selbst ein unge- geschenkt bekommen, das einem wenig übtes Auge kaum übersehen. In seinem bekannten, ehemals zwölfteiligen Bilder- Internet-Artikel Bayreuth – ein virtueller zyklus entstammt, der im Haus der Deut- Rundgang hat Markus Barnick zwar nicht schen Erziehung seinen Platz hatte. Hof- das ganze Fenster, aber doch das entschei- fentlich erhält das Historische Museum dende Motiv abgebildet, leider nur in in nächster Zeit auch weiteren, dringend Schwarz-Weiß. So blieb es bis zum Abriss notwendigen Ausstellungsraum, um seine des Stenohauses. Als ich vom unmittelbar Sammlungen großzügig ausstellen und bevorstehenden Abbruch erfuhr, rief ich auch bemerkenswerte Neuzugänge zeigen beim Stadtmuseum (heute: Historisches zu können, statt sie aus Platzgründen ins Museum der Stadt Bayreuth) an und Depot verbannen oder gar ihre Annahme bat, die Buntglasfenster doch ja vor der ablehnen zu müssen. 34
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