"Wer mich stört - stört mich?!" Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS ...

 
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Empirische Sonderpädagogik, 2021, Nr. 1, S. 34-55
ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet)

„Wer mich stört – stört mich?!“
Unterschiede in der Qualität der Beziehung
zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS
und ADHS

Philipp Abelein¹ & Sophie C. Holtmann²

¹ Universität Regensburg; ² Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Zusammenfassung
Der Aufbau und die kontinuierliche Gestaltung einer positiven Lehrer-Schüler-Beziehung
gelten in schul- und sonderpädagogischen Handlungsfeldern als zentrales Fundament für
die professionelle pädagogisch-didaktische Arbeit. Allerdings zeigt sich bei Schulkindern
mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oftmals ein sehr
konfliktträchtiges Beziehungs- und Interaktionsverhältnis mit der Lehrkraft. Daher wurde in
der vorliegenden Studie die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung von N = 238 Grund-
schulkindern der 3. und 4. Klasse (n = 68 SchülerInnen mit Symptomen von ADHS, n =
52 SchülerInnen mit Symptomen von Unaufmerksamkeit (ADS), n = 118 Kinder in der
Kontrollgruppe) und N = 44 Klassenlehrkräften mittels Skalen des FEESS 3-4 bzw. des FBB-
ADHS sowie selbst entworfener Fragen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl die
Lehrkräfte als auch die SchülerInnen selbst einschätzten, dass Schulkinder mit ADHS der
Lehrkraft signifikant weniger sympathisch sind als Kinder mit ADS bzw. der Kontrollgruppe.
Gleichzeitig beanspruchten Schulkinder der Gruppe ADHS signifikant mehr Aufmerksam-
keit von der Klassenlehrkraft und wurden häufiger von ihr geschimpft als die Schulkinder
der Gruppe ADS bzw. die Peers der Kontrollgruppe. Außerdem empfanden sich die Schü-
lerInnen mit ADHS signifikant weniger angenommen als SchülerInnen der Kontrollgruppe.
Die Ergebnisse sprechen insgesamt für eine sehr negative und zugleich unterschiedliche
Ausprägung der Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Klassenlehrkräften und Schulkindern
mit ADHS und ADS.

Schlüsselwörter: ADHS, ADS, Lehrer-Schüler-Beziehung, Sympathie, Interaktion, Kommu-
nikation.
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS                                 35

Differences in the quality of the relationship with teachers of schoolchildren
with ADD and ADHD

Abstract
In educational circles, nurturing a positive student-teacher relationship is seen as a cen-
tral tenant of academic and behavioral success in the classroom. Students with Attention
Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD), however, have been shown to experience more
conflict and less emotional closeness in their interactions and relationships with their
teachers as compared to their neurotypical peers. This study investigates the quality of the
student-teacher relationship in N = 238 schoolchildren in years 3 and 4 (n = 68 students
with symptoms of ADHD, n = 52 students with symptoms of Attention Deficit Disorder
(ADD), n = 118 in the control group) and N = 44 teachers using scales based on the FEESS
3-4, FBB-ADHS, as well as questionnaires developed by the authors. The results show that
teachers were judged, by students and teachers alike, to be markedly less sympathetic to-
ward students with ADHD than toward the control group or those with ADD. Despite this,
students with ADHD demanded considerably more attention from their teachers and were
scolded more often than their peers in the ADD and control groups. Students with ADHD
also felt significantly less accepted in the classroom than those in the control group. These
results indicate a distinctly negative expression in the student-teacher relationship between
schoolteachers and schoolchildren with ADHD or ADD.

Keywords: ADHD, ADD, student-teacher relationship, sympathy, interaction, communica-
tion.

„Die Lehrperson ist froh, wenn es keinen                             sens et al., 2017; Cornelius-White, 2007;
Ärger mit dem ADHS-Kind gibt, und wird                               Granot, 2016; Hattie, 2008; Mikami, Smit
dann erst wieder auf das Kind aufmerksam,                            & Johnston, 2019; Prino, Pasta, Gastaldi &
wenn es stört oder nicht bei der Sache ist“                          Longobardi, 2016; Roorda, Koomen, Spilt
(Walitza, Drechsler & Ball, 2012, S. 469).                           & Oort, 2011). Empirische Untersuchungs-
Im Rahmen ihrer Übersichtsarbeit skizzie-                            ergebnisse zeigen auf, dass die Qualität der
ren Walitza et al. (2012) ein sehr konflikt-                         Lehrer-Schüler-Beziehung den schulischen
trächtiges Interaktionsverhältnis zwischen                           Lernerfolg von SchülerInnen entscheidend
Lehrkräften und Schulkindern mit Aufmerk-                            beeinflusst (u.a. Hattie, 2008; Hughes, Luo,
samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung                              Kwok & Loyd, 2008; Durlak et al., 2011).
(ADHS). Es scheint für Lehrkräfte besonders                          Des Weiteren deuten nationale Forschungs-
herausfordernd zu sein, gegenüber dieser                             befunde aus der Fachdisziplin Sonderpäda-
Gruppe von SchülerInnen eine professio-                              gogik, die den gemeinsamen Unterricht von
nelle Haltung einzunehmen und eine päd-                              SchülerInnen mit und ohne sonderpädago-
agogisch tragfähige Beziehung zu gestalten                           gischem Förderbedarf empirisch untersucht
(Beckerle & Mackowiak, 2016).                                        haben, auf unterschiedliche Zusammen-
   Die hohe Bedeutung einer positiven                                hänge zwischen der Lehrer-Schüler-Be-
Lehrer-Schüler-Beziehung1 konnte in ver-                             ziehung und der sozialen Integration von
schiedenen internationalen Studien nach-                             SchülerInnen hin (Huber, 2011; Huber &
gewiesen werden (u. a. Aldrup, Klusmann,                             Wilbert, 2012; Preuss-Lausitz, 2005; Vock,
Lüdtke, Göllner & Trautwein, 2018; Claes-                            Gronostaj, Kretschmann & Westphal, 2018).
1    Da es sich hierbei um einen feststehenden Begriff handelt, wurde dieser nicht gegendert. Es sind sowohl Schülerinnen, Schüler,
     Lehrerinnen als auch Lehrer gemeint
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Sowohl in früheren als auch aktuellen For-     pirische Studienergebnisse legen nahe, dass
schungsstudien konnte außerdem mehrfach        SchülerInnen mit hyperaktiv-impulsiven
belegt werden, dass die Komponenten so-        Verhaltensweisen aufgrund ihrer externali-
ziale Integration und Schulleistungen posi-    sierenden Symptomatik einen Großteil der
tiv miteinander korrelieren (u. a. Gebhardt,   Lehreraufmerksamkeit für sich beanspru-
2013; Huber & Wilbert, 2012; Oswald &          chen und dabei häufiger negative Rück-
Krappmann, 1991; Petillon, 2006). Nationa-     meldungen von ihren Klassenlehrkräften als
le und internationale Forschungsergebnisse     andere SchülerInnen erhalten (Campbell,
zeigen sehr deutlich, dass SchülerInnen mit    Endman & Bernfeld, 1977; Erhardt & Hins-
ADHS im Vergleich zu Gleichaltrigen eine       haw, 1994; Gargaro, 2009; Kos, Richdale &
geringere soziale Integration aufweisen und    Hay, 2006; Madan-Swain & Zentall, 1990;
schlechtere Schulleistungen erzielen (Ab-      Ozdemir, 2009). Campbell et al. (1977) so-
elein, 2017; Faraone et al., 2015). Beckerle   wie Madain-Swain und Zentall (1990) zeig-
und Mackowiak (2016) zufolge benötigen         ten außerdem in früheren Untersuchungen,
gerade SchülerInnen mit ADHS eine intak-       dass sich das negativ geprägte Kommunika-
te Beziehung zur Lehrkraft, da sie durch       tionsverhalten von Lehrkräften gegenüber
ihr abweichendes (Sozial-)Verhalten von        SchülerInnen mit hyperaktiv-impulsiven
KlassenkameradInnen weniger Toleranz er-       Verhaltensweisen auch auf MitschülerInnen
fahren. Auf Grundlage einer umfassenden        ausweitet (z.B. durch vermehrtes Schimp-
Datenbankrecherche für den angloame-           fen).
rikanischen Forschungsraum kommt Ewe              Aus Perspektive der Lehrkraft kann die
(2019) im Hinblick auf das Störungsbild        Vermutung geäußert werden, dass vorwie-
ADHS zu dem Urteil, dass es zwar zahl-         gend unaufmerksame Kinder mit eher inter-
reiche Forschungsbeiträge zu den Aspekten      nalisierenden sozialen Verhaltensweisen
“Lehrer-Schüler-Beziehung” und “ADHS”          weniger auffällig in Erscheinung treten und
gäbe, jedoch kaum empirische Untersu-          dementsprechend das Kommunikationsver-
chungsergebnisse vorliegen würden, in          halten sowie die Sympathie der Lehrkraft
denen die Qualität der Lehrer-Schüler-Be-      nicht ähnlich negativ beeinflussen. Dies be-
ziehung von Lernenden mit ADHS erhoben         tont die Notwendigkeit einer differenzier-
worden wäre.                                   ten Betrachtungsweise von Schulkindern
   Unberücksichtigt bleibt in Literatur- und   mit vorwiegend unaufmerksamen Verhal-
Forschungsbeiträgen zumeist ein diffe-         tensweisen und Schulkindern, bei denen
renzierter Vergleich zwischen den beiden       (zusätzlich) Hyperaktivität und Impulsivität
Symptomdimensionen „Hyperaktivität/Im-         zu beobachten sind. In diesem Zusammen-
pulsivität“ und „Unaufmerksamkeit“ (vgl.       hang sei zu erwähnen, dass die Internatio-
bspw. Roos & Stetinova-Popitz, 2020). Ins-     nale statistische Klassifikation der Krankhei-
besondere bei Kindern mit hyperaktiv-im-       ten und verwandter Gesundheitsprobleme
pulsivem Verhalten seien regelverletzende      (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation
und teilweise auch aggressive Handlungen       (WHO) (2012, 2015) im Hinblick auf die
zu beobachten (Hoza, 2007). Als typischer-     Kategorie der „Hyperkinetischen Störun-
weise störende Verhaltensweisen werden         gen“ (F90) insbesondere zwei Subtypen
z. B. (lautes) Schreien, zielloses Rennen      unterscheidet: die Vergabe der Diagnose
im Raum, Sprechen zu unangemessenen            F90.0 „Einfache Aktivitäts- und Aufmerk-
Zeitpunkten, andere Kinder unterbrechen        samkeitsstörung“ erfolgt, wenn aus allen
sowie mit verbalen und körperlichen Aus-       drei Kardinalbereichen Symptomkriterien
einandersetzungen beginnen, genannt (Er-       erfüllt sind. Konkret müssen wenigstens
hardt & Hinshaw, 1994; Pelham & Bender,        sechs Kriterien von Unaufmerksamkeit, drei
1982; Ronk, Hund & Landau, 2011; Zee,          Kriterien des Bereichs Hyperaktivität und
de Bree, Hakvoort & Koomen, 2020). Em-         ein Kriterium aus dem Gebiet Impulsivität
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS   37

vorliegen. Sofern zusätzlich zu diesen Vo-               Granot, 2016; Greene et al., 2002; Kapal-
raussetzungen eine Störung des Sozialver-                ka, 2008; Mulholland, Cumming & Jung,
haltens festzustellen ist, wird sich in der              2015; Nurmi, 2012; Ohan et al., 2011). Ein
klinischen Diagnostik für eine „Hyperkine-               kombiniertes Auftreten von Hyperaktivität,
tische Störung des Sozialverhaltens“ (F90.1)             Impulsivität und Unaufmerksamkeit wird
entschieden (Schramm, 2016). Lediglich                   als größte Herausforderung auffälligen Ver-
unter F98.8 „sonstige näher bezeichnete                  haltens von SchülerInnen wahrgenommen
Verhaltens- und emotionale Störungen mit                 (Kapalka, 2008; Nurmi, 2012; Prino et al.,
Beginn in der Kindheit und Jugend“ wird in               2016). Sowohl Jungen als auch Mädchen
der ICD-10 eine „Aufmerksamkeitsstörung                  mit ADHS werden von ihren Lehrkräften
ohne Hyperaktivität” geführt. Aufgrund der               signifikant häufiger geschimpft (Vile Junod,
unterschiedlichen diagnostischen und de-                 DuPaul, Jitendra, Volpe & Cleary, 2006).
finitorischen Voraussetzungen stellt diese               Internationale Studienergebnisse deuten
Diagnosebezeichnung allerdings kein Sy-                  darauf hin, dass das negative Kommunika-
nonym zur vorwiegend unaufmerksamen                      tionsverhalten von Lehrkräften gegenüber
Symptompräsentation des Diagnostischen                   Jungen und Mädchen mit ADHS dadurch
und statistischen Leitfadens psychischer                 bestimmt werde, dass sie im Vergleich zu
Störungen (DSM-5) (American Psychiatric                  Kindern der Kontrollgruppe signifikant
Association, 2015) dar (Abelein & Stein,                 häufiger den Unterricht stören und Anwei-
2017).                                                   sungen nicht ausführen (Mautone, Lefler
   Im Rahmen einer nationalen Untersu-                   & Power, 2011; Rogers, Bélanger-Lejars,
chung von Lauth-Lebens und Lauth (2019)                  Toste & Heath, 2015). In einer kürzlich er-
konnte gezeigt werden, dass sich Schulkin-               schienenen angloamerikanischen Studie
der mit gesicherter ADHS-Diagnose sowohl                 von Zendarski et al. (2020) wurden die
in ihrer Auffälligkeit im Unterricht als auch            Belastungen der Lehrer-Schüler-Beziehung
in der Lehrkraftbelastung durchgängig von                von Schulkindern mit ADHS-typischen Ver-
den unauffälligen Schulkindern unterschei-               haltensweisen im Unterricht anhand von
den (jeweils p < .001). Unerwartet für die               zwei zentralen kategorialen Dimensionen
Autoren war allerdings, dass Schulkinder                 definiert und untersucht: „closeness“ und
mit gesicherter ADHS-Diagnose eine signi-                „conflict“. Die Untersuchungsergebnisse
fikant geringere Lehrkraftbelastung hervor-              legen nahe, dass ein vermehrtes Auftreten
riefen als Schulkinder der Risikogruppe, die             von ADHS-typischen Verhaltensweisen bei
(ebenfalls) die Grundmerkmale einer ADHS                 Schulkindern eine vertrauensvolle und trag-
erfüllten, jedoch zusätzlich starke oppositi-            fähige Beziehung zwischen Lehrkraft und
onelle Verhaltensweisen zeigten (p < .001).              Schulkind beeinträchtigt und zugleich mit
Ein Großteil der aufgeklärten Varianz im                 einem höheren Anteil an Konflikten in der
Hinblick auf den Aspekt Lehrkraftbelastung               Lehrer-Schüler-Beziehung einhergeht.
ergab sich in der Studie für Anforderungssi-                Batzle, Weyand, Janusis und DeVietti
tuationen, welche die Lehrer-Schüler-Inter-              (2010) gingen in einer US-amerikanischen
aktion betreffen. Die höchsten Ladungen                  Studie mit 294 Lehrkräften von der ersten
konnten dabei für die Items „Konflikte mit               bis zur zwölften Klassenstufe in Form von
anderen Kindern“ und „Konflikte mit dem                  Fallvignetten von SchülerInnen mit und
Lehrer“ festgestellt werden.                             ohne ADHS der Frage nach, ob den Lehr-
   Analog dazu weisen auch die Ergebnis-                 kräften eine der beiden Gruppen hinsicht-
se internationaler Studien darauf hin, dass              lich deren Verhalten und Persönlichkeit
das Verhalten von SchülerInnen mit ADHS                  sympathischer ist. Die Ergebnisse dieser
negative Emotionen bzw. Wahrnehmun-                      Studie belegten, dass SchülerInnen mit
gen und Stress bei Lehrkräften auslöst (u.a.             ADHS signifikant geringere Sympathiewer-
DuPaul & Weyandt, 2006; Gargaro, 2009;                   te aufwiesen als SchülerInnen ohne ADHS.
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Weiterhin wurden SchülerInnen mit ADHS,             Peers mit und ohne ADHS unterschei-
die medikamentös behandelt wurden, als              det.
positiver bzw. gefälliger in ihrem Verhalten    3. Das Verhalten von Schulkindern mit
und ihrer Persönlichkeit bewertet als die           ADHS wirkt sich auf das Kommunikati-
Gruppe von SchülerInnen mit ADHS, die               onsverhalten der Klassenlehrkraft gegen-
keine medikamentöse Therapie erhielten:             über anderen Kindern der Klasse aus.
„Interestingly teachers rated the children      4. Die Sympathie der Klassenlehrkraft für
with ADHD and stimulant treatment label             SchülerInnen mit ADHS ist deutlich ge-
more favorably than the children with the           ringer ausgeprägt als für SchülerInnen
ADHD label“ […] Therefore, these chil-              ohne ADHS.
dren may be perceived more negatively by        Die Analyse des aktuellen Forschungsstan-
their teachers because they are not taking      des zeigt weiterhin zwei Desiderata auf.
stimulant medication” (Batzle et al., 2010,     Erstens wurde die subjektive Wahrnehmung
S. 162).                                        der Lehrer-Schüler-Beziehung von Schul-
   Im Rahmen der Eruierung des For-             kindern mit AD(H)S bisher kaum gezielt
schungsstandes konnte hingegen nur eine         und im deutschsprachigen Raum noch gar
einzige Studie identifiziert werden, in der     nicht untersucht. Daher wird in der vor-
die subjektive Wahrnehmung der Lehrer-          liegenden Untersuchung die Qualität der
Schüler-Beziehung aus Sicht der SchülerIn-      Lehrer-Schüler-Beziehung auf der Basis von
nen mit ADHS erfasst wurde. Rogers et al.       Fremd- und Selbsturteilen erhoben.
(2015) fanden in einer kanadischen Studie          Zweitens mangelt es an empirischen
mit 71 Grundschulkindern heraus, dass so-       Forschungsbefunden, in denen die beiden
wohl Mädchen als auch Jungen mit ADHS           Symptomkomplexe Hyperaktivität/Impulsi-
von einer schlechteren Beziehung zu ihren       vität und Unaufmerksamkeit getrennt vonei-
Lehrkräften berichten als die Kinder der        nander untersucht und verglichen wurden.
Kontrollgruppe. Bei Mädchen mit ADHS            In der vorliegenden Untersuchung werden
war der Unterschied zu Schulkindern glei-       daher die SchülerInnen in drei Untersu-
chen Geschlechts ohne ADHS sogar hoch           chungsgruppen eingeteilt: SchülerInnen mit
signifikant.                                    Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivität/
                                                Impulsivität (ADHS), SchülerInnen mit Auf-
                                                merksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität/
Ableitung der Hypothesen                        Impulsivität (ADS) und eine Kontrollgruppe
                                                ohne AD(H)S-typische Verhaltensweisen.
Die Analyse des vorliegenden internationa-         Auf Grundlage des skizzierten For-
len empirischen Forschungsstands mittels        schungsstandes ergeben sich somit die fol-
der durchgeführten Datenbankrecherche           genden fünf Hypothesen: die erste Hypo-
verdeutlicht vor allem vier zentrale Unter-     these (H1) besagt, dass zwischen Kindern
schiede hinsichtlich der Qualität der Lehrer-   mit ADHS, ADS und einer Kontrollgruppe
Schüler-Beziehung zwischen Schulkindern         signifikante Unterschiede bezüglich der
mit ADHS und SchülerInnen aus einer Kon-        empfundenen Sympathie durch die Klassen-
trollgruppe:                                    lehrkräfte bestehen. Es wird angenommen,
1. Die Aufmerksamkeit der Klassenlehr-          dass Klassenlehrkräfte – wohl aufgrund
    kraft wird durch SchülerInnen mit ADHS      eines unmittelbaren Zusammenhangs von
    deutlich höher beansprucht.                 hyperaktiv-impulsiven und regelverletzen-
2. Schulkinder mit ADHS werden deutlich         den Verhaltensweisen im Unterricht – eine
    häufiger von ihren Klassenlehrkräften       signifikant geringere Sympathie für Schü-
    geschimpft, womit sich das Interaktions-    lerInnen mit ADHS empfinden als für die
    verhalten der Klassenlehrkräfte gegen-      Peers der anderen beiden Untersuchungs-
    über dem einzelnen Schulkind zwischen       gruppen. Hypothese zwei (H2) besagt, dass
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS                          39

Schulkinder mit ADHS sowohl in der Wahr-                         Methode
nehmung der Klassenlehrkräfte als auch
nach Wahrnehmung der MitschülerInnen                             Studiendesign
womöglich stärker den Unterrichtsfluss und
die Interaktionen im Klassenraum stören                          Bei der vorliegenden Studie handelt es sich
und damit die Aufmerksamkeit der Klassen-                        um eine explorative Studie im Querschnitt-
lehrkräfte signifikant stärker beanspruchen                      Design. Es wurden sowohl die Klassenlehr-
als SchülerInnen mit ADS und SchülerInnen                        kräfte als auch die SchülerInnen befragt. Die
der Kontrollgruppe. Die dritte Hypothese                         unabhängige Variable stellt die jeweilige
(H3) bezieht sich auf den Vergleich nega-                        Gruppe der Schulkinder dar (Symptomgrup-
tiver Rückmeldungen durch die Klassen-                           pe2 vorwiegend ADHS vs. Symptomgruppe
lehrkraft und besagt, dass Schulkinder mit                       vorwiegend ADS vs. Kontrollgruppe), die
ADHS aufgrund ihres eher externalisieren-                        abhängige Variable das jeweilige Urteil
den auffälligen (Sozial-)Verhaltens signifi-                     auf der Selbst- bzw. Fremdauskunftsskala
kant häufiger geschimpft werden als Schü-                        zu den Bereichen Sympathie der Klassen-
lerInnen mit ADS und der Kontrollgruppe                          lehrkraft, beanspruchte Aufmerksamkeit
und sich insofern das Interaktionsverhalten                      der Klassenlehrkraft, Interaktionsverhalten
der Klassenlehrkräfte gegenüber dem ein-                         gegenüber dem einzelnen Schulkind, Aus-
zelnen Schulkind unterscheidet. Im Rahmen                        wirkungen von SchülerInnenverhalten auf
der vierten Hypothese (H4) soll untersucht                       das Kommunikationsverhalten der Klassen-
werden, ob Kinder mit ADHS signifikant                           lehrkraft gegenüber anderen Kindern der
häufiger dafür verantwortlich gemacht wer-                       Klasse und Gefühl des Angenommenseins
den, dass (auch) MitschülerInnen von ihrer                       von der Klassenlehrkraft.
Klassenlehrkraft geschimpft werden. Es wird
angenommen, dass Schulkinder mit ADHS                            Stichprobe
mit ihrem Verhalten vermeintlich stärker
den Unterricht, die Klassenlehrkraft und an-                     Die Untersuchung wurde insgesamt mit
dere MitschülerInnen stören als Kinder mit                       924 SchülerInnen und 44 Klassenlehrkräf-
ADS und der Kontrollgruppe. Dies könnte                          ten in 44 Schulklassen der 3. und 4. Jahr-
sich auf das Kommunikationsverhalten der                         gangsstufe an bayerischen Grundschulen
Klassenlehrkraft gegenüber anderen Kin-                          durchgeführt. Maßgeblich für die Gruppen-
dern aus der Klasse negativ auswirken. Die                       zuordnung der Untersuchung waren die
fünfte und letzte Hypothese (H5) untersucht                      Kennwerte, die mittels des Fremdbeurtei-
das Gefühl des Angenommenseins von                               lungsbogens ADHS (FBB-ADHS; Döpfner,
der Klassenlehrkraft. Sie überprüft, ob sich                     Görtz-Dorten, & Lehmkuhl, 2008) durch
Schulkinder mit ADHS – vermutlich auf-                           die Klassenlehrkraft erzielt wurden. Von
grund von einer erhöhten Anzahl an nega-                         den 924 an der Untersuchung teilnehmen-
tiven Rückmeldungen – durch die Klassen-                         den SchülerInnen wiesen nach Einschät-
lehrkraft weniger gut von ihr angenommen                         zung der Lehrkräfte über den FBB-ADHS
fühlen als Lernende mit ADS bzw. Peers aus                       120 SchülerInnen auffällige (1.0 – 1.49)
der Kontrollgruppe.                                              bis sehr auffällige Kennwerte (> 1.49) in
                                                                 den Subskalen (von 0 - 3) Unaufmerksam-
                                                                 keit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität
                                                                 auf (Döpfner et al. 2008). Von diesen 120
                                                                 SchülerInnen wiesen 52 Schulkinder auffäl-
                                                                 lige bis sehr auffällige Kennwerte allein in
                                                                 der Subskala Unaufmerksamkeit auf, diese
2    Von der Symptomgruppe wird in diesem Fall gesprochen, da diese Kinder zwar AD(H)S-typische Verhaltensweisen aufwiesen,
     diese allerdings nicht in der vorliegenden Studie klinisch-diagnostisch überprüft wurden.
40                                                                Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann

Kinder wurden der Gruppe ADS zugeord-             Material
net. Insgesamt 68 Kinder, die auffällige bis
sehr auffällige Kennwerte in allen drei Sub-      Zur Erhebung von Selbst- und Fremdwahr-
skalen aufwiesen, erhielten die Gruppen-          nehmung wurden sowohl die Klassenlehr-
zugehörigkeit ADHS. Für die Auswahl der           kräfte als auch die SchülerInnen mittels ei-
Kontrollgruppe wurde ein Matching vorge-          nes Fragebogens befragt, der im Folgenden
nommen: von der Klassenlehrkraft wurde            skizziert wird.
ein Kind gleichen Geschlechts aus der Klas-
se ausgewählt, dessen Familienname alpha-         Material zur Befragung der Lehrkräfte
betisch direkt auf das Kind mit einer Grup-
penzugehörigkeit ADS bzw. ADHS folgte.            Neben persönlichen Angaben zur Lehrkraft
Durch diese zufällige Zusammensetzung             selbst und zum Schüler bzw. zur Schüle-
der Kontrollgruppe wurde eine Passung von         rin (jeweils Alter und Geschlecht) werden
Anzahl, Alter und Geschlecht der drei Un-         mittels einer vierstufigen Likert-Skala vier
tersuchungsgruppen erreicht. Mit Ausnah-          Items beantwortet, welche die Beziehung
me von zwei SchülerInnen konnte von den           zwischen Schulkind und Klassenlehrkraft
Lehrkräften nach diesem Verfahren pro Kind        und insbesondere das Interaktionsverhalten
mit AD(H)S ein entsprechendes Kind in der         der LehrerInnen betreffen. Mithilfe dieser
Kontrollgruppe zugeordnet werden, sodass          Items sollen die folgenden vier genannten
sich die Kontrollgruppe aus insgesamt 118         Hypothesen zur Lehrer-Schüler-Beziehung
SchülerInnen, die Gruppe mit ADHS- bzw.           untersucht werden: beanspruchte Auf-
ADS-Symptomatik aus 120 SchülerInnen              merksamkeit der Klassenlehrkraft, Interak-
zusammensetzt. Die Identitäten der Kinder         tionsverhalten gegenüber einem einzelnen
wurden durch Codierungen anonymisiert.            Schulkind, Auswirkungen von SchülerIn-
Die Zusammensetzung der insgesamt N =             nenverhalten auf das Kommunikationsver-
238 in die Untersuchung eingeschlossenen          halten der Klassenlehrkraft gegenüber ande-
SchülerInnen ist Tabelle 1 zu entnehmen.          ren Kindern der Klasse und Sympathie der
Das mittlere Alter betrug M = 9.16 Jahre          Klassenlehrkraft.
(SD = .69, Min = 8, Max = 11). Die 44 Lehr-          Mittels des Items „Dieses Kind steht mit
kräfte (davon 2 männlich) waren im Schnitt        seinem Verhalten im Mittelpunkt und be-
42.84 Jahre alt.                                  ansprucht meine Aufmerksamkeit“ soll
                                                  untersucht werden, ob sich nach Einschät-
                                                  zung der Klassenlehrkräfte zwischen den
                                                  drei Untersuchungsgruppen Unterschiede
                                                  hinsichtlich der Beanspruchung von Leh-
                                                  reraufmerksamkeit ergeben. Zweitens soll
                                                  mittels des Items „Dieses Kind wird von mir

Tabelle 1: Die Zusammensetzung der Stichprobe von den teilnehmenden Schulkindern, aufgeteilt
          nach Symptomgruppen und Geschlecht

                            ADHS                ADS                   KG              Gesamt
Männlich                     58                  31                    86              175
Weiblich                     10                  21                    32               63
Gesamt                       68                  52                   118              238

Anmerkungen: ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung;
ADS = Aufmerksamkeitsdefizitstörung; KG = Kontrollgruppe
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS   41

geschimpft“ erhoben werden, ob sich das                  Überaktivität (7 Items) und Impulsivität
Interaktionsverhalten der Klassenlehrkräf-               (4 Items; Döpfner et al., 2008). Die Items
te gegenüber einem einzelnen Schulkind                   bzw. Symptomkriterien werden auf einer
zwischen den drei Untersuchungsgruppen                   vierstufigen Likert-Skala hinsichtlich ihres
unterscheidet. Drittens wird mithilfe des                Zutreffens beurteilt von 0 = gar nicht bis 3
Items „Dieses Kind sorgt mit seinem Ver-                 = besonders. Des Weiteren werden die Kri-
halten dafür, dass ich auch andere Kinder                terien für die klinische Bedeutsamkeit nach
schimpfe“ der Frage nachgegangen, ob sich                DSM-IV bzw. ICD-10 sowie der Genera-
nach Einschätzung der Klassenlehrkräf-                   lisierungsgrad der Symptomatik auf ver-
te das Verhalten von SchülerInnen auf das                schiedene Lebensbereiche erfasst. Die Ob-
Kommunikationsverhalten der Klassenlehr-                 jektivität des FBB-ADHS kann im Hinblick
kraft gegenüber anderen Kindern der Klasse               auf die Durchführung, Auswertung und
auswirkt. Zuletzt wurde zur Erfassung der                Interpretation als gewährleistet angesehen
Sympathie der Klassenlehrkraft für einzel-               werden. Die interne Konsistenz weist gute
ne SchülerInnen die Frageformulierung                    bis sehr gute Konsistenzen zwischen α =
von Huber (2011, S. 29) im Wortlaut über-                0.81 - 0.94 auf. Die Faktorenanalysen ent-
nommen. Er erhob in einer Studie mit 325                 sprechend den Vorgaben des ICD-10 erga-
SchülerInnen der dritten und vierten Jahr-               ben vier Faktoren Aufmerksamkeitsstörung,
gangsstufe die Sympathie der Lehrkraft für               Hyperaktivität, Impulsivität und Kompe-
einzelne SchülerInnen mit folgender Frage:               tenz und erreichten eine Varianzaufklärung
„Wie schwer fällt es Ihnen, den Schüler X                von 62.4%. Bezüglich der Struktur des
sympathisch zu finden?“. Obwohl im Rah-                  DSM-IV konnte eine Varianzaufklärung
men des Forschungsartikels nicht erläutert               von 58.1% für die Faktoren Kompe-
wird, weshalb sich für diese Formulierung                tenz,     Aufmerksamkeitsstörungen      und
entschieden wurde, kann vermutet werden,                 Hyperaktivität/Impulsivität erzielt werden.
dass die Frage nach der Sympathie der Klas-              Eine Normierung des FBB-ADHS liegt für
senlehrkraft mit der Antworttendenz der so-              das Elternurteil bei Kindern und Jugend-
zialen Erwünschtheit einhergehen könnte.                 lichen im Alter von 4 bis 18 Jahren vor.
   Für die Einteilung der Stichprobe wurde               Da für das Lehrerurteil keine Normierung
sich, wie skizziert, auf die Bewertung der               vorliegt, wird hier auf die entsprechenden
AD(H)S-typischen Verhaltensweisen mit-                   Interpretationshinweise von Döpfner et al.
tels des FBB-ADHS gestützt (Döpfner et al.,              (2008) zurückgegriffen. Mittels dieser Me-
2008): Der FBB-ADHS umfasst 20 Items und                 thode konnte der Problematik entgegen-
ist Bestandteil des Diagnostik-Systems für               gewirkt werden, dass SchülerInnen zwar
psychische Störungen (DISYPS-II) nach ICD-               eine ADHS-Diagnose haben, diese sich
10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche.               aber möglicherweise durch entsprechende
Dieses Testverfahren wird zur Beurteilung                Medikation nicht oder kaum mehr im unter-
durch Eltern, ErzieherInnen oder Lehrkräfte              richtlichen Setting zeigt (vgl. Lauth-Lebens
eingesetzt, um Diagnosekriterien für Hyper-              & Lauth, 2019; Batzle et al., 2010).
kinetische Störungen (F90.0/ F90.1) nach
ICD-10 und für Aufmerksamkeitsdefizit- /                 Verfahren zur Befragung der SchülerIn-
Hyperaktivitätsstörungen (F 90.1/ F98.8)               nen
nach DSM-IV einzustufen. Der FBB-ADHS
enthält alle 18 Symptomkriterien zur Dia-                Die SchülerInnen wurden ebenfalls nach
gnose einer hyperkinetischen Störung nach                Geschlecht und Alter befragt. Parallel zur
ICD-10 bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizit-                Befragung der Klassenlehrkräfte betraf dies
/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV. Die              die bereits skizzierten vier Aspekte der Leh-
20 Items werden drei Skalen wie folgt zuge-              rer-Schüler-Beziehung: beanspruchte Auf-
ordnet: Aufmerksamkeitsstörungen (9 Items),             merksamkeit der Klassenlehrkraft, Interak-
42                                                              Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann

tionsverhalten gegenüber einem einzelnen         strengungsbereitschaft, Lernfreude und
Schulkind, Auswirkungen von SchülerIn-           Gefühl des Angenommenseins (TF-SALGA
nenverhalten auf das Kommunikationsver-          3-4) sind in vier Skalen unterteilt: Schulein-
halten der Klassenlehrkraft gegenüber an-        stellung (SE), Anstrengungsbereitschaft (AB),
deren Kindern der Klasse und Sympathie           Lernfreude (LF) und Gefühl des Angenom-
der Klassenlehrkraft. Die Items, nach denen      menseins (GA). Die zuletzt genannte Skala
in der SchülerInnenbefragung gefragt wur-        erhebt mit 13 Items, inwieweit sich ein Kind
de, decken sich in den Formulierungen mit        von seinen Lehrkräften angenommen, ver-
denen des Fragebogens für die Klassen-           standen und unterstützt fühlt. Im Rahmen
lehrkräfte, sodass die Beurteilungen von         der vorliegenden Untersuchung wird ledig-
Klassenlehrkräften und Schulkindern direkt       lich diese Skala eingesetzt, welche die Be-
miteinander verglichen werden können.            ziehung zur Lehrperson sowie die subjektiv
Analog zum Fragebogen für die Klassen-           wahrgenommene Beliebtheit eines Schülers
lehrkräfte wurde den Schulkindern eine           bzw. einer Schülerin bei seiner bzw. ihrer
vierstufige Ratingskala vorgelegt, mit der sie   Klassenlehrkraft wiedergibt. Höhere Wer-
die Beziehung und das Interaktionsverhal-        te gehen mit einem stärkeren Gefühl des
ten der Klassenlehrkraft zu einem bestimm-       Angenommenseins einher. Das Gefühl des
ten Mitschüler bzw. einer bestimmten Mit-        Angenommenseins hat nach Ansicht von
schülerin bewerten.                              Rauer und Schuck (2003) bedeutende Aus-
   Auf der Basis des Fragebogens zur Erfas-      wirkungen auf das Lern- und Leistungsver-
sung emotionaler und sozialer Schulerfah-        mögen der Schüler bzw. der Schülerinnen
rungen von Grundschulkindern dritter und         und kann daher als zentrales Ziel pädagogi-
vierter Klassen (FEESS; Rauer & Schuck,          scher Bemühungen angesehen werden: Die
2003) wurde den Schulkindern die Skala           pädagogische Wertschätzung „gehört zu
Gefühl des Angenommenseins durch die             den ganz wichtigen Sozialerfahrungen der
Lehrkraft vorgelegt. Der FEESS 3-4 „ist ein      Grundschulkinder“ (ebd., S. 45). Das Ver-
Verfahren zur Erfassung der psychologisch        fahren kann als ausreichend normiert ange-
bedeutsamen und pädagogisch relevanten           sehen werden. Die internen Konsistenzen
Sichtweisen, Einschätzungen, Bewertun-           der einzelnen Skalen liegen im sehr guten
gen und Einstellungen von Grundschul-            bis befriedigenden Bereich. Die Retest-Re-
kindern“ (Rauer & Schuck, 2003, S. 9). Er        liabilität kann ebenfalls als stabil angesehen
besteht aus zwei Teilfragebögen (TF-SIKS,        werden. Die Objektivität ist hinsichtlich der
TF-SALGA), in denen die im schulischen           Durchführung, Auswertung und Interpreta-
Kontext erworbenen situationsunabhängi-          tion gewährleistet. Außerdem wurden die
gen Überzeugungen der Kinder über die            inhaltliche, differenzielle, konstrukt- sowie
eigene Person per Selbstauskunft auf einer       kriterienbezogene Validität ermittelt. Insge-
vierstufigen Likert-Skala (von 0 = stimmt        samt weisen die von den Autoren dargeleg-
gar nicht bis 3 = stimmt genau) ermittelt        ten Angaben darauf hin, dass die Validität
werden. Außerdem werden personale und            des FEESS 3-4 gegeben ist (ebd.).
soziale Aspekte der SchülerInnen sowie
die Beziehungen zwischen Lehrkräften und         Ablauf
SchülerInnen und den Schulkindern unter-
einander überprüft (ebd.). Der Teilfragebo-      Insgesamt nahmen an der Hauptuntersu-
gen zur sozialen Integration, zum Klassen-       chung 20 verschiedene bayerische Grund-
klima und zum Selbstkonzept (TF-SIKS 3-4)        schulen mit 44 Grundschulklassen teil,
erfasst auf drei Skalen Soziale Integration      neun Schulen konnten dem Stadtgebiet und
(SI), Klassenklima (KK) und Selbstkonzept        elf einem Landkreis zugeordnet werden.
der Schulfähigkeit (SK). Die 53 Items des        Acht Grundschulen, die durch den Untersu-
Teilfragebogens zur Schuleinstellung, An-        chungsleiter kontaktiert wurden, sagten ihre
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS   43

Teilnahme im Vorfeld der Untersuchung ab                 Bühner & Ziegler, 2009). Für die gesamte
bzw. baten um eine Nichtbeteiligung an der               Auswertung wurde das Signifikanzniveau
Studie.                                                  von p = .05 auf p = .0167 nach Bonfer-
  Die Hauptuntersuchung erfolgte im Zeit-                roni korrigiert, da pro Hypothese je 3 Be-
raum von März bis Juli 2014. Die Befragung               rechnungen am Datensatz erfolgten. Die
der Klassenlehrkräfte wurde im Vorfeld zur               erzielten Mittelwerte (M) und Standardab-
SchülerInnenbefragung durchgeführt. Sie                  weichungen (SD) sind in Tabelle 2 einzuse-
dauerte, abhängig von der Anzahl an zu                   hen. Zusätzlich wurden die Effektstärken (r)
beurteilenden Schulkindern, zwischen 15 -                mittels der Formel        berechnet und nach
60 Minuten. Den Lehrkräften wurde, unab-                 Cohen (1992) interpretiert: Effektstärken
hängig von der Gruppenzugehörigkeit des                  unter r = .10 sprechen für schwache, ab r
Kindes, immer der identische Fragebogen                  = .30 für mittlere und ab r = .50 für starke
vorgelegt.                                               Effekte. Die festgestellten AD(H)S-typischen
  Für die Befragung der SchülerInnen wur-                Verhaltensweisen stellten die Gruppierung
de die elterliche Einverständniserklärung                bzw. die unabhängige Variable dar (ADHS
vorab eingeholt. Die Befragung der Schul-                vs. ADS vs. Kontrollgruppe). Folgende Kon-
kinder wurde separat im Rahmen einer                     traste wurden berechnet: ADHS vs. ADS,
Gruppenbefragung mit den dargestellten                   ADHS vs. Kontrollgruppe und ADS vs. Kon-
Untersuchungsverfahren durchgeführt. Die                 trollgruppe. Die Ergebnisdarstellung erfolgt
Untersuchung fand mit allen Kindern der                  hypothesengeleitet, jeweils zuerst für die
jeweiligen Schulklasse gleichzeitig statt.               Einschätzung der Klassenlehrkräfte, dann
Nach Instruktion des Untersuchungsleiters                für die Einschätzung der SchülerInnen.
wurde der Fragebogen von jedem Schul-
kind einzeln bearbeitet. Die Auswahl der
Kinder, über die andere MitschülerInnen                  Ergebnisse
urteilen, erfolgte mittels zufälliger Ziehung
durch den Untersuchungsleiter. Pro Schul-                H1: Sympathie der Klassenlehrkraft
kind wurden maximal drei Fremdurteile er-
hoben.                                                   Die erste Hypothese, dass zwischen Schul-
  Pro Schulklasse dauerte die Befragung der              kindern mit ADHS, ADS und einer Kontroll-
SchülerInnen etwa 45 Minuten. Da teilweise               gruppe signifikante Unterschiede bezüglich
einige der ausgewählten Kinder am jeweili-               der empfundenen Sympathie durch die
gen Testtag fehlten, musste die Erhebung in              Klassenlehrkräfte bestehen, konnte teilwei-
einigen Fällen über mehrere Tage hinweg                  se bestätigt werden.
erfolgen. So gelang es, die Auskünfte über                  Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So-
die ausgewählten Kinder vollständig zu er-               wohl zwischen Kindern mit ADHS und
fassen (orientiert an Schwab, 2014) und die              ADS (t(112.846) = 3.017, p = .001, r = .27),
Klassen konnten grundsätzlich vollständig                ADHS und der Kontrollgruppe (t(89.753) =
erhoben werden, es gab keine Missings in-                7.703, p < .001, r = .63) als auch ADS und
nerhalb der ausgewählten Population.                     der Kontrollgruppe (t(66.040) = 3.364, p <
                                                         .001, r = .38) bestehen signifikante Unter-
Statistische Auswertung                                  schiede bezüglich der Sympathie von Klas-
                                                         senlehrkräften, wobei die LehrerInnen an-
Die statistische Auswertung erfolgte mittels             gaben, dass es ihnen am schwersten falle,
der Statistiksoftware SPSS 26.0. Aufgrund                SchülerInnen mit ADHS sympathisch zu
von fehlender Varianzhomogenität wurden                  finden, gefolgt von Kindern mit ADS und
die Unterschiedsanalysen mittels t-Test mit              der Kontrollgruppe.
Welch Korrektur statt durch univariate Va-
rianzanalyse (ANOVA) durchgeführt (vgl.
44                                                             Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann

  SchülerInneneinschätzung:        Zwischen     Schulkindern mit ADS und der Kontroll-
Schulkindern mit ADHS und ADS (t(81.184)        gruppe (t(61.333) = 6.755, p < .001, r = .65)
= 2.415, p = .018, r = .25) besteht kein si-    ein signifikanter Unterschied bezüglich der
gnifikanter Unterschied hinsichtlich der        SchülerInneneinschätzung, wie stark die
Sympathie der Klassenlehrkraft, zwischen        MitschülerInnen die Aufmerksamkeit der
ADHS und der Kontrollgruppe hingegen            Klassenlehrkräfte beanspruchen.
schon (t(67.600) = 5.187, p < .001, r = .53).
Ebenso gibt es zwischen SchülerInnen mit        H3: Interaktionsverhalten der Klas-
ADS und der Kontrollgruppe (t(60.365) =         senlehrkraft gegenüber dem einzel-
7.342, p < .001, r = .69) einen signifikanten   nen Schulkind
Unterschied bezüglich des Eindrucks der
SchülerInnen, wie sympathisch die Klassen-      Die dritte Hypothese, dass SchülerInnen mit
lehrkraft die Schulkinder findet. Dabei ga-     ADHS häufiger geschimpft werden und si-
ben die SchülerInnen an, dass Schulkinder       gnifikant häufiger negative Rückmeldungen
mit ADHS die geringsten Sympathiewerte          bekommen als Gleichaltrige mit ADS, ge-
von der Klassenlehrkraft erhalten.              folgt von der Kontrollgruppe, konnte eben-
                                                falls bestätigt werden.
H2: Beanspruchte Aufmerksamkeit                    Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So-
der Klassenlehrkraft                            wohl zwischen Schulkindern mit ADHS
                                                und ADS (t(102.790) = 5.037, p < .001, r
Die zweite Hypothese, dass SchülerInnen         = .44) als auch zwischen SchülerInnen mit
mit ADHS sowohl nach Wahrnehmung der            ADHS und der Kontrollgruppe (t(110.261)
Klassenlehrkräfte als auch nach Wahrneh-        = 14.002, p < .001, r = .80) besteht ein si-
mung der MitschülerInnen mit ihrem Ver-         gnifikanter Unterschied. Zudem lässt sich
halten signifikant häufiger im Mittelpunkt      zwischen Kindern mit ADS und der Kont-
stehen und dadurch größere Aufmerksam-          rollgruppe (t(71.510) = 5.618, p < .001, r =
keit als SchülerInnen mit ADS gefolgt von       .55) ein signifikanter Unterschied bezüglich
SchülerInnen der Kontrollgruppe beanspru-       der Einschätzung der Klassenlehrkraft, wie
chen, konnte bestätigt werden.                  häufig SchülerInnen negative Rückmeldung
   Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So-      erhalten, feststellen.
wohl zwischen Schulkindern mit ADHS                SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi-
und ADS (t(104.217) = 5.105, p < .001, r        schen SchülerInnen mit ADHS und ADS
= .45) als auch zwischen SchülerInnen mit       (t(99.164) = 5.650, p < .001, r = .49) als
ADHS und der Kontrollgruppe (t(96.355) =        auch zwischen Lernenden mit ADHS und
13.249, p < .001, r = .80) besteht ein si-      der Kontrollgruppe (t(94.258) = 16.964, p
gnifikanter Unterschied. Außerdem zeigt         < .001, r = .87) ergibt sich ein signifikanter
sich zwischen Schulkindern mit ADS und          Unterschied. Ebenso zeigt sich zwischen
der Kontrollgruppe (t(65.299) = 4.781, p <      Schulkindern mit ADS und der Kontroll-
.001, r = .51) ein signifikanter Unterschied    gruppe (t(62.405) = 6.665, p < .001, r =
bezüglich der Einschätzung durch die Klas-      .64) ein signifikanter Unterschied bezüglich
senlehrkraft, wie stark die SchülerInnen ihre   der Einschätzung der MitschülerInnen, wie
Aufmerksamkeit beanspruchen.                    häufig ihre Peers negative Rückmeldung er-
   SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi-        halten.
schen Schulkindern mit ADHS und ADS
(t(97.154) = 7.662, p < .001, r = .61) als
auch zwischen Kindern mit ADHS und der
Kontrollgruppe (t(93.497) = 20.609, p <
.001, r = .91) liegt ein signifikanter Unter-
schied vor. Daneben ergibt sich zwischen
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS   45

H4: Auswirkungen von SchülerInnen-                       H5: Gefühl des Angenommenseins
verhalten auf das Kommunikations-                        von der Klassenlehrkraft
verhalten der Klassenlehrkraft ge-
genüber anderen Kindern der Klasse                       Die letzte Hypothese untersucht, ob sich
                                                         SchülerInnen mit ADHS weniger gut von
Die vierte Hypothese, dass SchülerInnen                  der Klassenlehrkraft angenommen fühlen
mit ADHS durch ihr Verhalten signifikant                 als Peers mit ADS bzw. aus der Kontroll-
häufiger als Kinder mit ADS bzw. der Kon-                gruppe. Die Hypothese konnte teilweise
trollgruppe dafür sorgen, dass Lehrkräf-                 bestätigt werden: zwischen Schulkindern
te auch andere SchülerInnen schimpfen,                   mit ADHS und ADS (t(116.927) = -.654, p =
konnte ebenfalls bestätigt werden.                       .515) besteht kein signifikanter Unterschied,
   Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So-               zwischen SchülerInnen mit ADHS und der
wohl zwischen Schulkindern mit ADHS                      Kontrollgruppe hingegen schon (t(104.655)
und ADS (t(111.256) = 5.420, p < .001,                   = -7.582, p < .001, r = .60). Weiterhin zeigt
r = .46) als auch zwischen Kindern mit                   sich zwischen Kindern mit ADS und der
ADHS und der Kontrollgruppe (t(89.842) =                 Kontrollgruppe (t(82.985) = -6.998, p <
11.479, p < .001, r = .77) besteht ein signi-            .001, r = .61) ein signifikanter Unterschied
fikanter Unterschied. Außerdem zeigt sich                der subjektiven Wahrnehmung, wie sehr
nach Einschätzung der Klassenlehrkräfte,                 sich eine Schülerin bzw. ein Schüler von
dass Kinder mit ADS signifikant häufiger                 der Klassenlehrkraft angenommen fühlt.
dafür verantwortlich gemacht werden, dass                Demnach fühlten sich die SchülerInnen mit
MitschülerInnen von der Klassenlehrkraft                 Symptomen von ADHS und ADS signifikant
geschimpft werden, als dies bei Lernenden                weniger gut von der Klassenlehrkraft an-
der Kontrollgruppe der Fall ist (t(65.131) =             genommen als SchülerInnen der Kontroll-
3.608, p = .001, r = .41).                               gruppe.
   SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi-
schen Schulkindern mit ADHS und ADS
(t(115.388) = 5.749, p < .001, r = .47) als
auch zwischen Lernenden mit ADHS und
der Kontrollgruppe (t(94.430) = 9.883, p <
.001, r = .71) liegt ein signifikanter Unter-
schied vor. So werden nach Wahrnehmung
der MitschülerInnen Schulkinder mit ADHS
im Vergleich zu Peers aus der Kontrollgrup-
pe signifikant häufiger dafür verantwortlich
gemacht, dass die Klassenlehrkraft auch an-
dere SchülerInnen aus der Klasse schimpft.
Weiterhin sorgen – nach Wahrnehmung der
MitschülerInnen – Schulkinder mit ADS,
verglichen mit Peers der Kontrollgruppe,
signifikant häufiger dafür, dass SchülerIn-
nen aus der Klasse von der Klassenlehrkraft
geschimpft werden (t(75.125) = 2.879, p =
.005, r = .32).
46                                                                     Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann

Tabelle 2: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Items unterteilt nach
          Gruppenzugehörigkeiten

                                                                 Gruppe
                                           ADHS             ADS          KG                  Gesamt
 Item
                                          (n = 68)        (n = 52)    (n = 118)             (N = 238)
 Sympathie der                   KL     1.16 (.91)²       .67 (.86)¹       .25 (.49)³        .60 (.81)
 Klassenlehrkraft                S     1.98 (2.57)²       1.18 (.78)       .34 (.37)³       .99 (1.60)

 Aufmerksamkeit der              KL     1.78 (.86)²      .92 (.95)¹        .25 (.53)³        .84 (.98)
 Klassenlehrkraft                 S     2.10 (.65)²      1.07 (.78)¹       .30 (.39)³        .98 (.96)

 negative Rückmeldung            KL     1.66 (.70)²       .96 (.79)¹       .29 (.53)³       .83 (.87)
 der Klassenlehrkraft             S     2.11 (.68)²      1.33 (.78)¹       .56 (.41)³       1.17 (.89)

 andere SchülerInnen             KL     1.52 (.86)²       .67 (.83)¹       .23 (.46)³        .69 (.87)
 werden geschimpft                S     1.07 (.66)²       .43 (.54)¹       .19 (.40)³        .49 (.64)

 Gefühl des                      S     1.79 (0.61)²       1.86 (.51)      2.42 (.58)³       2.12 (.58)
 Angenommenseins

Anmerkungen. Das Signifikanzniveau wurde auf p < .0167 festgelegt; ADHS = Aufmerksamkeitsde-
fizit-/Hyperaktivitätsstörung; ADS = Aufmerksamkeitsdefizitstörung; KG = Kontrollgruppe; S = mitt-
lere Einschätzung seitens der SchülerInnen; KL = mittlere Einschätzung seitens der Klassenlehrkräfte;
¹ = signifikanter Effekt zwischen ADHS und ADS; ² = signifikanter Effekt zwischen ADHS und KG;
³ = signifikanter Effekt zwischen ADS und KG

Diskussion                                            sie aufgrund ihres eher externalisierenden
                                                      auffälligen Verhaltens (Hyperaktivität/Im-
Auf Basis der Hypothesenprüfungen ist fest-           pulsivität) häufiger die Klassenlehrkraft und
zustellen, dass sich die Qualität der Lehrer-         den Unterricht stören, während SchülerIn-
Schüler-Beziehung zwischen Schulkindern               nen mit ADS eher internalisierendes auffäl-
mit ADHS, ADS und Peers der Kontrollgrup-             liges Verhalten (Unaufmerksamkeit) zeigen,
pe in verschiedener Hinsicht (signifikant)            welches vermutlich weniger die Umwelt
zuungunsten von SchülerInnen mit ADHS                 und den Unterricht stört. Es ist davon auszu-
und ADS unterscheidet.                                gehen, dass hyperaktiv-impulsives Verhal-
  Den Klassenlehrkräften fällt es einer-              ten ein höheres Maß an Regelverletzungen
seits signifikant schwerer, SchülerInnen mit          impliziert, als dies bei vorwiegend unauf-
ADHS bzw. ADS im Vergleich zu SchülerIn-              merksamen SchülerInnenverhalten der Fall
nen der Kontrollgruppe sympathisch zu fin-            ist. Dies mag vermutlich erklären, weshalb
den. Andererseits erzielen Schulkinder mit            Schulkinder mit ADS zwar im Vergleich zur
ADHS signifikant geringere Beliebtheitswer-           Kontrollgruppe geringere Beliebtheitswer-
te bei ihren Klassenlehrkräften als Peers mit         te, jedoch im Vergleich zu ihren Peers mit
ADS (H1). Die signifikant geringeren Sym-             ADHS höhere Sympathiewerte erreichen.
pathiewerte von SchülerInnen mit ADHS                 Der Zusammenhang von Regelkonformität
könnten darauf zurückzuführen sein, dass              im SchülerInnenverhalten und Sympathie
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS   47

durch die Lehrkraft wurde bereits in bishe-              schlechter wahr, als dies Kinder der Kont-
rigen wissenschaftlichen Studien bestätigt               rollgruppe tun (H5). Diese Befunde im Hin-
(Huber, 2011; Huber & Wilbert, 2012; Pe-                 blick auf das Gefühl des Angenommenseins
tillon, 1978) und wird in der vorliegenden               von der Lehrkraft decken sich mit den Er-
Untersuchung durch die Ergebnisse von                    gebnissen von H1: Offenbar steht sowohl
H2, H3 und H4 nachdrücklich unterstützt.                 das Gefühl des Angenommenseins aus
   Schulkinder mit ADHS beanspruchen in                  Perspektive der SchülerInnen als auch die
der Wahrnehmung ihrer Klassenlehrkräfte                  Sympathie der Klassenlehrkräfte in einem
und MitschülerInnen signifikant mehr die                 engen Zusammenhang mit dem Auftreten
Aufmerksamkeit der Klassenlehrkraft, als                 von AD(H)S-typischen Verhaltensweisen im
dies bei Lernenden mit ADS und der Kon-                  Unterricht.
trollgruppe festzustellen ist (H2). Auf Basis              Limitierend ist anzumerken, dass sich im
der Untersuchungsergebnisse ist festzustel-              Rahmen dieser empirischen Untersuchung
len, dass sowohl Klassenlehrkräfte als auch              bei der Einteilung der Stichprobe auf das
MitschülerInnen signifikant häufiger davon               Urteil der Klassenlehrkräfte gestützt wurde
berichten, dass Gleichaltrige mit ADHS von               und die Erhebung ausschließlich auf einer
ihren Klassenlehrkräften geschimpft werden               bayerischen Stichprobe beruht. Insofern ist
(H3). Diese Untersuchungsergebnisse stim-                nicht auszuschließen, dass für die Grup-
men mit angloamerikanischen Forschungs-                  pen von SchülerInnen mit ADHS bzw. ADS
studien überein, wonach Lehrkräfte in den               ProbandInnen ausgewählt wurden, obwohl
sozialen Interaktionen mit SchülerInnen mit             ihre Symptomatik einer klinischen Diagno-
AD(H)S, (v. a. im Hinblick auf hyperaktiv-               se nicht genügen würde, da die Gruppen-
impulsive Verhaltensweisen) mehr Stress er-              zuteilung auf dem LehrerInnenurteil und
leben und dazu neigen, diese vermehrt zu                 keiner systematischen und psychiatrischen
schimpfen und ihnen ihre Aufmerksamkeit                  Diagnosestellung beruht (A. Müller, Can-
zu widmen (Mikami & Hinshaw, 2003; Mi-                   drian, & Kroptov, 2011). Entgegen einer
kami et al., 2019). Es ist zu erwarten, dass             umfassenden ADHS-Diagnostik wird in
sich das negative Kommunikationsverhalten                der vorliegenden Untersuchung durch das
von Lehrkräften gegenüber SchülerInnen                Urteil der Lehrkräfte nur ein Lebensbereich
mit AD(H)S auch von anderen SchülerIn-                   erfasst und somit eine wesentliche Voraus-
nen beobachten lässt (Brook, Watemberg,                  setzung für die (valide) Diagnosestellung
& Geva, 2000). Interessanterweise scheint                einer ADHS nicht erfüllt. Zudem muss an-
sich dieses negativ ausgerichtete Kommu-                 gesichts einiger Forschungsbefunde darauf
nikationsverhalten von Lehrkräften in Be-                hingewiesen werden, dass die Häufigkeits-
zug auf das Verhalten von SchülerInnen                   angaben von ADHS durch das LehrerInnen-
mit ADHS auch auf andere Schulkinder                     urteil in der Regel die Epidemiologie von
auszuweiten und zu etablieren (H4). Eine                 klinischen ADHS-Diagnosen deutlich über-
naheliegende Interpretation dieses Auswer-               steigen (Lauth & Mackowiak, 2004; Ruhm-
tungsergebnisses wäre, dass sich das eher                land & Christiansen, 2017; Snider, Busch,
externalisierende auffällige Verhalten von               & Arrowood, 2003). Allerdings sei zu be-
SchülerInnen mit ADHS besonders stark                    tonen, dass sich im Kontext dieser Studie
auf andere Schulkinder überträgt, wodurch                analog zu aktuellen angloamerikanischen
auch diese ein geringeres aufgabenbezoge-                Studien, in denen die Lehrer-Schüler-Bezie-
nes Verhalten zeigen und sie dementspre-                 hung empirisch untersucht wurde, bewusst
chend von ihren Klassenlehrkräften (auch)                gegen die klinische Diagnose ADHS als
häufiger geschimpft werden.                              Kategorie entschieden wurde und vielmehr
   Auch subjektiv nehmen SchülerInnen                    das zutage tretende auffällige, AD(H)S-ty-
mit ADHS und ADS die Qualität ihrer Be-                  pische Verhalten und dessen Auswirkungen
ziehung zur Klassenlehrkraft signifikant                 auf die Lehrer-Schüler-Beziehung als hin-
48                                                              Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann

reichendes Kriterium betrachtet wurde (vgl.      heit von SchülerInnen mit ADHS im Ver-
Zendarski et al., 2020).                         gleich zu ihren Peers möglicherweise auch
   Das Geschlechterverhältnis der Klassen-       eine Folge der schulbasierten Maßnahmen
lehrkräfte kann in dieser Untersuchung           bei ADS und ADHS sein. Die Handlungs-
nicht als ausgeglichen angesehen werden,         strategien von pädagogischen Fachkräften
wenngleich diese Verteilung dem tatsäch-         sind, kritisch betrachtet, zumeist primär auf
lichen Stand von 89.5% weiblichen Lehr-          die Reduktion von ADHS-typischen Verhal-
kräften an deutschen Grundschulen nahe-          tensweisen und damit auf die Verhaltens-
kommt (Statistisches Bundesamt (Destatis),       steuerung ausgerichtet (Abelein & Stein,
2018). Auch stützt sich das diagnostische        2017; Mikami et al., 2019). Analog zu den
Instrument auf DSM-IV, das nicht mehr als        empirischen Untersuchungen von Ruhm-
aktuelles Klassifikationssystem angesehen        land und Christiansen (2017) sowie Dort et
werden kann. Abschließend sei noch die           al. (2020) kann angenommen werden, dass
fehlende Geschlechterdifferenzierung bei         Lehrkräfte beim Störungsbild ADHS primär
der Analyse zu nennen, diese wurde je-           auf korrektive Maßnahmen zurückgreifen.
doch auf Grund von vorherigen Befunden           Vernachlässigt erscheinen dabei insbeson-
von beispielsweise Mautone et al. (2011),        dere professionelle Handlungsstrategien zu
Rogers et al. (2015), Vile Junod et al. (2006)   sein, welche eine strukturierte Zusammen-
und Zendarski et al. (2020) vernachlässigt.      arbeit mit den Eltern intendieren (Ruhmland
                                                 & Christiansen, 2017). Die pädagogischen
                                                 Bemühungen beschränken sich offenbar
Ausblick                                         (zu sehr) auf das zutage tretende auffällige
                                                 Verhalten und vernachlässigen dabei wo-
Die hier ermittelte geringere Qualität der       möglich auch zugrundeliegende emotional-
Lehrer-Schüler-Beziehung von SchülerIn-          sozial relevante biographische Vorerfahrun-
nen mit ADS bzw. ADHS könnte einerseits          gen, den aktuellen Entwicklungsstand, das
darauf zurückzuführen sein, dass schulba-        aktuelle subjektive Erleben des Schulkindes
sierte bzw. evidenzbasierte Maßnahmen            sowie die komplexen Beziehungsdynami-
bei ADHS (Richard, Eichelberger, Döpfner,        ken und Interaktionen innerhalb der Klas-
& Hanisch, 2015), welche analog zu Meta-         sengruppe. Analog zu den KMK-Empfeh-
Analysen zu starken Verbesserungen auf           lungen zum Förderschwerpunkt emotionale
der Verhaltensebene beitragen können (Du-        und soziale Entwicklung ist für die Lehrkräf-
Paul, Eckert & Vilardo, 2012; Pyle & Fabia-      te eine theoriegeleitete Reflexion eigener
no, 2017), von Grundschullehrkräften zu          Denk- und Handlungsmuster „unabding-
wenig berücksichtigt werden. Eine fehlen-        bar, um unbewusste Handlungsmuster auf-
de Etablierung evidenzbasierter schulischer      zudecken, eigene Anteile bei schwierigen
Strategien wird zudem als eine zentrale          Interaktionen bewusst zu machen und nach
Erklärung für die vergleichsweise schlech-       Möglichkeit Veränderungen einzuleiten“
ten schulischen Leistungen von Schulkin-         (Kultusministerkonferenz (KMK), 2000, S.
dern mit ADHS angesehen (Dort, Strelow,          14). Ahrbeck (2014, S. 274) zufolge bietet
Schwinger & Christiansen, 2020). Darüber         insbesondere die psychoanalytische Be-
hinaus scheinen vor allem im Hinblick auf        trachtungsweise „einen differenzierten Ein-
die Symptombereiche Hyperaktivität/Impul-        blick in die innere Erlebenswelt von Kindern
sivität Trainings und Interventionen erfolgs-    und Jugendlichen und kann ein wesentli-
versprechend zu sein, welche eine gezielte       ches Hilfsmittel sein, um Unterrichts- und
Steuerung der körperlichen Aktivität im Un-      Erziehungsprozesse gehaltvoll zu gestal-
terricht intendieren (Casale, Brüggemann         ten“. In Bezug auf Kinder mit ADHS scheint
& Hennemann, 2019; Mahar et al., 2006).          eine (veränderte) professionell-reflexive
Andererseits könnte die geringere Beliebt-       Haltung von Lehrkräften vonnöten zu sein,
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