"Wer mich stört - stört mich?!" Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS ...
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34 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann Empirische Sonderpädagogik, 2021, Nr. 1, S. 34-55 ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet) „Wer mich stört – stört mich?!“ Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS Philipp Abelein¹ & Sophie C. Holtmann² ¹ Universität Regensburg; ² Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg Zusammenfassung Der Aufbau und die kontinuierliche Gestaltung einer positiven Lehrer-Schüler-Beziehung gelten in schul- und sonderpädagogischen Handlungsfeldern als zentrales Fundament für die professionelle pädagogisch-didaktische Arbeit. Allerdings zeigt sich bei Schulkindern mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oftmals ein sehr konfliktträchtiges Beziehungs- und Interaktionsverhältnis mit der Lehrkraft. Daher wurde in der vorliegenden Studie die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung von N = 238 Grund- schulkindern der 3. und 4. Klasse (n = 68 SchülerInnen mit Symptomen von ADHS, n = 52 SchülerInnen mit Symptomen von Unaufmerksamkeit (ADS), n = 118 Kinder in der Kontrollgruppe) und N = 44 Klassenlehrkräften mittels Skalen des FEESS 3-4 bzw. des FBB- ADHS sowie selbst entworfener Fragen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die SchülerInnen selbst einschätzten, dass Schulkinder mit ADHS der Lehrkraft signifikant weniger sympathisch sind als Kinder mit ADS bzw. der Kontrollgruppe. Gleichzeitig beanspruchten Schulkinder der Gruppe ADHS signifikant mehr Aufmerksam- keit von der Klassenlehrkraft und wurden häufiger von ihr geschimpft als die Schulkinder der Gruppe ADS bzw. die Peers der Kontrollgruppe. Außerdem empfanden sich die Schü- lerInnen mit ADHS signifikant weniger angenommen als SchülerInnen der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse sprechen insgesamt für eine sehr negative und zugleich unterschiedliche Ausprägung der Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Klassenlehrkräften und Schulkindern mit ADHS und ADS. Schlüsselwörter: ADHS, ADS, Lehrer-Schüler-Beziehung, Sympathie, Interaktion, Kommu- nikation.
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 35 Differences in the quality of the relationship with teachers of schoolchildren with ADD and ADHD Abstract In educational circles, nurturing a positive student-teacher relationship is seen as a cen- tral tenant of academic and behavioral success in the classroom. Students with Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD), however, have been shown to experience more conflict and less emotional closeness in their interactions and relationships with their teachers as compared to their neurotypical peers. This study investigates the quality of the student-teacher relationship in N = 238 schoolchildren in years 3 and 4 (n = 68 students with symptoms of ADHD, n = 52 students with symptoms of Attention Deficit Disorder (ADD), n = 118 in the control group) and N = 44 teachers using scales based on the FEESS 3-4, FBB-ADHS, as well as questionnaires developed by the authors. The results show that teachers were judged, by students and teachers alike, to be markedly less sympathetic to- ward students with ADHD than toward the control group or those with ADD. Despite this, students with ADHD demanded considerably more attention from their teachers and were scolded more often than their peers in the ADD and control groups. Students with ADHD also felt significantly less accepted in the classroom than those in the control group. These results indicate a distinctly negative expression in the student-teacher relationship between schoolteachers and schoolchildren with ADHD or ADD. Keywords: ADHD, ADD, student-teacher relationship, sympathy, interaction, communica- tion. „Die Lehrperson ist froh, wenn es keinen sens et al., 2017; Cornelius-White, 2007; Ärger mit dem ADHS-Kind gibt, und wird Granot, 2016; Hattie, 2008; Mikami, Smit dann erst wieder auf das Kind aufmerksam, & Johnston, 2019; Prino, Pasta, Gastaldi & wenn es stört oder nicht bei der Sache ist“ Longobardi, 2016; Roorda, Koomen, Spilt (Walitza, Drechsler & Ball, 2012, S. 469). & Oort, 2011). Empirische Untersuchungs- Im Rahmen ihrer Übersichtsarbeit skizzie- ergebnisse zeigen auf, dass die Qualität der ren Walitza et al. (2012) ein sehr konflikt- Lehrer-Schüler-Beziehung den schulischen trächtiges Interaktionsverhältnis zwischen Lernerfolg von SchülerInnen entscheidend Lehrkräften und Schulkindern mit Aufmerk- beeinflusst (u.a. Hattie, 2008; Hughes, Luo, samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Kwok & Loyd, 2008; Durlak et al., 2011). (ADHS). Es scheint für Lehrkräfte besonders Des Weiteren deuten nationale Forschungs- herausfordernd zu sein, gegenüber dieser befunde aus der Fachdisziplin Sonderpäda- Gruppe von SchülerInnen eine professio- gogik, die den gemeinsamen Unterricht von nelle Haltung einzunehmen und eine päd- SchülerInnen mit und ohne sonderpädago- agogisch tragfähige Beziehung zu gestalten gischem Förderbedarf empirisch untersucht (Beckerle & Mackowiak, 2016). haben, auf unterschiedliche Zusammen- Die hohe Bedeutung einer positiven hänge zwischen der Lehrer-Schüler-Be- Lehrer-Schüler-Beziehung1 konnte in ver- ziehung und der sozialen Integration von schiedenen internationalen Studien nach- SchülerInnen hin (Huber, 2011; Huber & gewiesen werden (u. a. Aldrup, Klusmann, Wilbert, 2012; Preuss-Lausitz, 2005; Vock, Lüdtke, Göllner & Trautwein, 2018; Claes- Gronostaj, Kretschmann & Westphal, 2018). 1 Da es sich hierbei um einen feststehenden Begriff handelt, wurde dieser nicht gegendert. Es sind sowohl Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen als auch Lehrer gemeint
36 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann Sowohl in früheren als auch aktuellen For- pirische Studienergebnisse legen nahe, dass schungsstudien konnte außerdem mehrfach SchülerInnen mit hyperaktiv-impulsiven belegt werden, dass die Komponenten so- Verhaltensweisen aufgrund ihrer externali- ziale Integration und Schulleistungen posi- sierenden Symptomatik einen Großteil der tiv miteinander korrelieren (u. a. Gebhardt, Lehreraufmerksamkeit für sich beanspru- 2013; Huber & Wilbert, 2012; Oswald & chen und dabei häufiger negative Rück- Krappmann, 1991; Petillon, 2006). Nationa- meldungen von ihren Klassenlehrkräften als le und internationale Forschungsergebnisse andere SchülerInnen erhalten (Campbell, zeigen sehr deutlich, dass SchülerInnen mit Endman & Bernfeld, 1977; Erhardt & Hins- ADHS im Vergleich zu Gleichaltrigen eine haw, 1994; Gargaro, 2009; Kos, Richdale & geringere soziale Integration aufweisen und Hay, 2006; Madan-Swain & Zentall, 1990; schlechtere Schulleistungen erzielen (Ab- Ozdemir, 2009). Campbell et al. (1977) so- elein, 2017; Faraone et al., 2015). Beckerle wie Madain-Swain und Zentall (1990) zeig- und Mackowiak (2016) zufolge benötigen ten außerdem in früheren Untersuchungen, gerade SchülerInnen mit ADHS eine intak- dass sich das negativ geprägte Kommunika- te Beziehung zur Lehrkraft, da sie durch tionsverhalten von Lehrkräften gegenüber ihr abweichendes (Sozial-)Verhalten von SchülerInnen mit hyperaktiv-impulsiven KlassenkameradInnen weniger Toleranz er- Verhaltensweisen auch auf MitschülerInnen fahren. Auf Grundlage einer umfassenden ausweitet (z.B. durch vermehrtes Schimp- Datenbankrecherche für den angloame- fen). rikanischen Forschungsraum kommt Ewe Aus Perspektive der Lehrkraft kann die (2019) im Hinblick auf das Störungsbild Vermutung geäußert werden, dass vorwie- ADHS zu dem Urteil, dass es zwar zahl- gend unaufmerksame Kinder mit eher inter- reiche Forschungsbeiträge zu den Aspekten nalisierenden sozialen Verhaltensweisen “Lehrer-Schüler-Beziehung” und “ADHS” weniger auffällig in Erscheinung treten und gäbe, jedoch kaum empirische Untersu- dementsprechend das Kommunikationsver- chungsergebnisse vorliegen würden, in halten sowie die Sympathie der Lehrkraft denen die Qualität der Lehrer-Schüler-Be- nicht ähnlich negativ beeinflussen. Dies be- ziehung von Lernenden mit ADHS erhoben tont die Notwendigkeit einer differenzier- worden wäre. ten Betrachtungsweise von Schulkindern Unberücksichtigt bleibt in Literatur- und mit vorwiegend unaufmerksamen Verhal- Forschungsbeiträgen zumeist ein diffe- tensweisen und Schulkindern, bei denen renzierter Vergleich zwischen den beiden (zusätzlich) Hyperaktivität und Impulsivität Symptomdimensionen „Hyperaktivität/Im- zu beobachten sind. In diesem Zusammen- pulsivität“ und „Unaufmerksamkeit“ (vgl. hang sei zu erwähnen, dass die Internatio- bspw. Roos & Stetinova-Popitz, 2020). Ins- nale statistische Klassifikation der Krankhei- besondere bei Kindern mit hyperaktiv-im- ten und verwandter Gesundheitsprobleme pulsivem Verhalten seien regelverletzende (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation und teilweise auch aggressive Handlungen (WHO) (2012, 2015) im Hinblick auf die zu beobachten (Hoza, 2007). Als typischer- Kategorie der „Hyperkinetischen Störun- weise störende Verhaltensweisen werden gen“ (F90) insbesondere zwei Subtypen z. B. (lautes) Schreien, zielloses Rennen unterscheidet: die Vergabe der Diagnose im Raum, Sprechen zu unangemessenen F90.0 „Einfache Aktivitäts- und Aufmerk- Zeitpunkten, andere Kinder unterbrechen samkeitsstörung“ erfolgt, wenn aus allen sowie mit verbalen und körperlichen Aus- drei Kardinalbereichen Symptomkriterien einandersetzungen beginnen, genannt (Er- erfüllt sind. Konkret müssen wenigstens hardt & Hinshaw, 1994; Pelham & Bender, sechs Kriterien von Unaufmerksamkeit, drei 1982; Ronk, Hund & Landau, 2011; Zee, Kriterien des Bereichs Hyperaktivität und de Bree, Hakvoort & Koomen, 2020). Em- ein Kriterium aus dem Gebiet Impulsivität
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 37 vorliegen. Sofern zusätzlich zu diesen Vo- Granot, 2016; Greene et al., 2002; Kapal- raussetzungen eine Störung des Sozialver- ka, 2008; Mulholland, Cumming & Jung, haltens festzustellen ist, wird sich in der 2015; Nurmi, 2012; Ohan et al., 2011). Ein klinischen Diagnostik für eine „Hyperkine- kombiniertes Auftreten von Hyperaktivität, tische Störung des Sozialverhaltens“ (F90.1) Impulsivität und Unaufmerksamkeit wird entschieden (Schramm, 2016). Lediglich als größte Herausforderung auffälligen Ver- unter F98.8 „sonstige näher bezeichnete haltens von SchülerInnen wahrgenommen Verhaltens- und emotionale Störungen mit (Kapalka, 2008; Nurmi, 2012; Prino et al., Beginn in der Kindheit und Jugend“ wird in 2016). Sowohl Jungen als auch Mädchen der ICD-10 eine „Aufmerksamkeitsstörung mit ADHS werden von ihren Lehrkräften ohne Hyperaktivität” geführt. Aufgrund der signifikant häufiger geschimpft (Vile Junod, unterschiedlichen diagnostischen und de- DuPaul, Jitendra, Volpe & Cleary, 2006). finitorischen Voraussetzungen stellt diese Internationale Studienergebnisse deuten Diagnosebezeichnung allerdings kein Sy- darauf hin, dass das negative Kommunika- nonym zur vorwiegend unaufmerksamen tionsverhalten von Lehrkräften gegenüber Symptompräsentation des Diagnostischen Jungen und Mädchen mit ADHS dadurch und statistischen Leitfadens psychischer bestimmt werde, dass sie im Vergleich zu Störungen (DSM-5) (American Psychiatric Kindern der Kontrollgruppe signifikant Association, 2015) dar (Abelein & Stein, häufiger den Unterricht stören und Anwei- 2017). sungen nicht ausführen (Mautone, Lefler Im Rahmen einer nationalen Untersu- & Power, 2011; Rogers, Bélanger-Lejars, chung von Lauth-Lebens und Lauth (2019) Toste & Heath, 2015). In einer kürzlich er- konnte gezeigt werden, dass sich Schulkin- schienenen angloamerikanischen Studie der mit gesicherter ADHS-Diagnose sowohl von Zendarski et al. (2020) wurden die in ihrer Auffälligkeit im Unterricht als auch Belastungen der Lehrer-Schüler-Beziehung in der Lehrkraftbelastung durchgängig von von Schulkindern mit ADHS-typischen Ver- den unauffälligen Schulkindern unterschei- haltensweisen im Unterricht anhand von den (jeweils p < .001). Unerwartet für die zwei zentralen kategorialen Dimensionen Autoren war allerdings, dass Schulkinder definiert und untersucht: „closeness“ und mit gesicherter ADHS-Diagnose eine signi- „conflict“. Die Untersuchungsergebnisse fikant geringere Lehrkraftbelastung hervor- legen nahe, dass ein vermehrtes Auftreten riefen als Schulkinder der Risikogruppe, die von ADHS-typischen Verhaltensweisen bei (ebenfalls) die Grundmerkmale einer ADHS Schulkindern eine vertrauensvolle und trag- erfüllten, jedoch zusätzlich starke oppositi- fähige Beziehung zwischen Lehrkraft und onelle Verhaltensweisen zeigten (p < .001). Schulkind beeinträchtigt und zugleich mit Ein Großteil der aufgeklärten Varianz im einem höheren Anteil an Konflikten in der Hinblick auf den Aspekt Lehrkraftbelastung Lehrer-Schüler-Beziehung einhergeht. ergab sich in der Studie für Anforderungssi- Batzle, Weyand, Janusis und DeVietti tuationen, welche die Lehrer-Schüler-Inter- (2010) gingen in einer US-amerikanischen aktion betreffen. Die höchsten Ladungen Studie mit 294 Lehrkräften von der ersten konnten dabei für die Items „Konflikte mit bis zur zwölften Klassenstufe in Form von anderen Kindern“ und „Konflikte mit dem Fallvignetten von SchülerInnen mit und Lehrer“ festgestellt werden. ohne ADHS der Frage nach, ob den Lehr- Analog dazu weisen auch die Ergebnis- kräften eine der beiden Gruppen hinsicht- se internationaler Studien darauf hin, dass lich deren Verhalten und Persönlichkeit das Verhalten von SchülerInnen mit ADHS sympathischer ist. Die Ergebnisse dieser negative Emotionen bzw. Wahrnehmun- Studie belegten, dass SchülerInnen mit gen und Stress bei Lehrkräften auslöst (u.a. ADHS signifikant geringere Sympathiewer- DuPaul & Weyandt, 2006; Gargaro, 2009; te aufwiesen als SchülerInnen ohne ADHS.
38 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann Weiterhin wurden SchülerInnen mit ADHS, Peers mit und ohne ADHS unterschei- die medikamentös behandelt wurden, als det. positiver bzw. gefälliger in ihrem Verhalten 3. Das Verhalten von Schulkindern mit und ihrer Persönlichkeit bewertet als die ADHS wirkt sich auf das Kommunikati- Gruppe von SchülerInnen mit ADHS, die onsverhalten der Klassenlehrkraft gegen- keine medikamentöse Therapie erhielten: über anderen Kindern der Klasse aus. „Interestingly teachers rated the children 4. Die Sympathie der Klassenlehrkraft für with ADHD and stimulant treatment label SchülerInnen mit ADHS ist deutlich ge- more favorably than the children with the ringer ausgeprägt als für SchülerInnen ADHD label“ […] Therefore, these chil- ohne ADHS. dren may be perceived more negatively by Die Analyse des aktuellen Forschungsstan- their teachers because they are not taking des zeigt weiterhin zwei Desiderata auf. stimulant medication” (Batzle et al., 2010, Erstens wurde die subjektive Wahrnehmung S. 162). der Lehrer-Schüler-Beziehung von Schul- Im Rahmen der Eruierung des For- kindern mit AD(H)S bisher kaum gezielt schungsstandes konnte hingegen nur eine und im deutschsprachigen Raum noch gar einzige Studie identifiziert werden, in der nicht untersucht. Daher wird in der vor- die subjektive Wahrnehmung der Lehrer- liegenden Untersuchung die Qualität der Schüler-Beziehung aus Sicht der SchülerIn- Lehrer-Schüler-Beziehung auf der Basis von nen mit ADHS erfasst wurde. Rogers et al. Fremd- und Selbsturteilen erhoben. (2015) fanden in einer kanadischen Studie Zweitens mangelt es an empirischen mit 71 Grundschulkindern heraus, dass so- Forschungsbefunden, in denen die beiden wohl Mädchen als auch Jungen mit ADHS Symptomkomplexe Hyperaktivität/Impulsi- von einer schlechteren Beziehung zu ihren vität und Unaufmerksamkeit getrennt vonei- Lehrkräften berichten als die Kinder der nander untersucht und verglichen wurden. Kontrollgruppe. Bei Mädchen mit ADHS In der vorliegenden Untersuchung werden war der Unterschied zu Schulkindern glei- daher die SchülerInnen in drei Untersu- chen Geschlechts ohne ADHS sogar hoch chungsgruppen eingeteilt: SchülerInnen mit signifikant. Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivität/ Impulsivität (ADHS), SchülerInnen mit Auf- merksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität/ Ableitung der Hypothesen Impulsivität (ADS) und eine Kontrollgruppe ohne AD(H)S-typische Verhaltensweisen. Die Analyse des vorliegenden internationa- Auf Grundlage des skizzierten For- len empirischen Forschungsstands mittels schungsstandes ergeben sich somit die fol- der durchgeführten Datenbankrecherche genden fünf Hypothesen: die erste Hypo- verdeutlicht vor allem vier zentrale Unter- these (H1) besagt, dass zwischen Kindern schiede hinsichtlich der Qualität der Lehrer- mit ADHS, ADS und einer Kontrollgruppe Schüler-Beziehung zwischen Schulkindern signifikante Unterschiede bezüglich der mit ADHS und SchülerInnen aus einer Kon- empfundenen Sympathie durch die Klassen- trollgruppe: lehrkräfte bestehen. Es wird angenommen, 1. Die Aufmerksamkeit der Klassenlehr- dass Klassenlehrkräfte – wohl aufgrund kraft wird durch SchülerInnen mit ADHS eines unmittelbaren Zusammenhangs von deutlich höher beansprucht. hyperaktiv-impulsiven und regelverletzen- 2. Schulkinder mit ADHS werden deutlich den Verhaltensweisen im Unterricht – eine häufiger von ihren Klassenlehrkräften signifikant geringere Sympathie für Schü- geschimpft, womit sich das Interaktions- lerInnen mit ADHS empfinden als für die verhalten der Klassenlehrkräfte gegen- Peers der anderen beiden Untersuchungs- über dem einzelnen Schulkind zwischen gruppen. Hypothese zwei (H2) besagt, dass
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 39 Schulkinder mit ADHS sowohl in der Wahr- Methode nehmung der Klassenlehrkräfte als auch nach Wahrnehmung der MitschülerInnen Studiendesign womöglich stärker den Unterrichtsfluss und die Interaktionen im Klassenraum stören Bei der vorliegenden Studie handelt es sich und damit die Aufmerksamkeit der Klassen- um eine explorative Studie im Querschnitt- lehrkräfte signifikant stärker beanspruchen Design. Es wurden sowohl die Klassenlehr- als SchülerInnen mit ADS und SchülerInnen kräfte als auch die SchülerInnen befragt. Die der Kontrollgruppe. Die dritte Hypothese unabhängige Variable stellt die jeweilige (H3) bezieht sich auf den Vergleich nega- Gruppe der Schulkinder dar (Symptomgrup- tiver Rückmeldungen durch die Klassen- pe2 vorwiegend ADHS vs. Symptomgruppe lehrkraft und besagt, dass Schulkinder mit vorwiegend ADS vs. Kontrollgruppe), die ADHS aufgrund ihres eher externalisieren- abhängige Variable das jeweilige Urteil den auffälligen (Sozial-)Verhaltens signifi- auf der Selbst- bzw. Fremdauskunftsskala kant häufiger geschimpft werden als Schü- zu den Bereichen Sympathie der Klassen- lerInnen mit ADS und der Kontrollgruppe lehrkraft, beanspruchte Aufmerksamkeit und sich insofern das Interaktionsverhalten der Klassenlehrkraft, Interaktionsverhalten der Klassenlehrkräfte gegenüber dem ein- gegenüber dem einzelnen Schulkind, Aus- zelnen Schulkind unterscheidet. Im Rahmen wirkungen von SchülerInnenverhalten auf der vierten Hypothese (H4) soll untersucht das Kommunikationsverhalten der Klassen- werden, ob Kinder mit ADHS signifikant lehrkraft gegenüber anderen Kindern der häufiger dafür verantwortlich gemacht wer- Klasse und Gefühl des Angenommenseins den, dass (auch) MitschülerInnen von ihrer von der Klassenlehrkraft. Klassenlehrkraft geschimpft werden. Es wird angenommen, dass Schulkinder mit ADHS Stichprobe mit ihrem Verhalten vermeintlich stärker den Unterricht, die Klassenlehrkraft und an- Die Untersuchung wurde insgesamt mit dere MitschülerInnen stören als Kinder mit 924 SchülerInnen und 44 Klassenlehrkräf- ADS und der Kontrollgruppe. Dies könnte ten in 44 Schulklassen der 3. und 4. Jahr- sich auf das Kommunikationsverhalten der gangsstufe an bayerischen Grundschulen Klassenlehrkraft gegenüber anderen Kin- durchgeführt. Maßgeblich für die Gruppen- dern aus der Klasse negativ auswirken. Die zuordnung der Untersuchung waren die fünfte und letzte Hypothese (H5) untersucht Kennwerte, die mittels des Fremdbeurtei- das Gefühl des Angenommenseins von lungsbogens ADHS (FBB-ADHS; Döpfner, der Klassenlehrkraft. Sie überprüft, ob sich Görtz-Dorten, & Lehmkuhl, 2008) durch Schulkinder mit ADHS – vermutlich auf- die Klassenlehrkraft erzielt wurden. Von grund von einer erhöhten Anzahl an nega- den 924 an der Untersuchung teilnehmen- tiven Rückmeldungen – durch die Klassen- den SchülerInnen wiesen nach Einschät- lehrkraft weniger gut von ihr angenommen zung der Lehrkräfte über den FBB-ADHS fühlen als Lernende mit ADS bzw. Peers aus 120 SchülerInnen auffällige (1.0 – 1.49) der Kontrollgruppe. bis sehr auffällige Kennwerte (> 1.49) in den Subskalen (von 0 - 3) Unaufmerksam- keit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität auf (Döpfner et al. 2008). Von diesen 120 SchülerInnen wiesen 52 Schulkinder auffäl- lige bis sehr auffällige Kennwerte allein in der Subskala Unaufmerksamkeit auf, diese 2 Von der Symptomgruppe wird in diesem Fall gesprochen, da diese Kinder zwar AD(H)S-typische Verhaltensweisen aufwiesen, diese allerdings nicht in der vorliegenden Studie klinisch-diagnostisch überprüft wurden.
40 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann Kinder wurden der Gruppe ADS zugeord- Material net. Insgesamt 68 Kinder, die auffällige bis sehr auffällige Kennwerte in allen drei Sub- Zur Erhebung von Selbst- und Fremdwahr- skalen aufwiesen, erhielten die Gruppen- nehmung wurden sowohl die Klassenlehr- zugehörigkeit ADHS. Für die Auswahl der kräfte als auch die SchülerInnen mittels ei- Kontrollgruppe wurde ein Matching vorge- nes Fragebogens befragt, der im Folgenden nommen: von der Klassenlehrkraft wurde skizziert wird. ein Kind gleichen Geschlechts aus der Klas- se ausgewählt, dessen Familienname alpha- Material zur Befragung der Lehrkräfte betisch direkt auf das Kind mit einer Grup- penzugehörigkeit ADS bzw. ADHS folgte. Neben persönlichen Angaben zur Lehrkraft Durch diese zufällige Zusammensetzung selbst und zum Schüler bzw. zur Schüle- der Kontrollgruppe wurde eine Passung von rin (jeweils Alter und Geschlecht) werden Anzahl, Alter und Geschlecht der drei Un- mittels einer vierstufigen Likert-Skala vier tersuchungsgruppen erreicht. Mit Ausnah- Items beantwortet, welche die Beziehung me von zwei SchülerInnen konnte von den zwischen Schulkind und Klassenlehrkraft Lehrkräften nach diesem Verfahren pro Kind und insbesondere das Interaktionsverhalten mit AD(H)S ein entsprechendes Kind in der der LehrerInnen betreffen. Mithilfe dieser Kontrollgruppe zugeordnet werden, sodass Items sollen die folgenden vier genannten sich die Kontrollgruppe aus insgesamt 118 Hypothesen zur Lehrer-Schüler-Beziehung SchülerInnen, die Gruppe mit ADHS- bzw. untersucht werden: beanspruchte Auf- ADS-Symptomatik aus 120 SchülerInnen merksamkeit der Klassenlehrkraft, Interak- zusammensetzt. Die Identitäten der Kinder tionsverhalten gegenüber einem einzelnen wurden durch Codierungen anonymisiert. Schulkind, Auswirkungen von SchülerIn- Die Zusammensetzung der insgesamt N = nenverhalten auf das Kommunikationsver- 238 in die Untersuchung eingeschlossenen halten der Klassenlehrkraft gegenüber ande- SchülerInnen ist Tabelle 1 zu entnehmen. ren Kindern der Klasse und Sympathie der Das mittlere Alter betrug M = 9.16 Jahre Klassenlehrkraft. (SD = .69, Min = 8, Max = 11). Die 44 Lehr- Mittels des Items „Dieses Kind steht mit kräfte (davon 2 männlich) waren im Schnitt seinem Verhalten im Mittelpunkt und be- 42.84 Jahre alt. ansprucht meine Aufmerksamkeit“ soll untersucht werden, ob sich nach Einschät- zung der Klassenlehrkräfte zwischen den drei Untersuchungsgruppen Unterschiede hinsichtlich der Beanspruchung von Leh- reraufmerksamkeit ergeben. Zweitens soll mittels des Items „Dieses Kind wird von mir Tabelle 1: Die Zusammensetzung der Stichprobe von den teilnehmenden Schulkindern, aufgeteilt nach Symptomgruppen und Geschlecht ADHS ADS KG Gesamt Männlich 58 31 86 175 Weiblich 10 21 32 63 Gesamt 68 52 118 238 Anmerkungen: ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; ADS = Aufmerksamkeitsdefizitstörung; KG = Kontrollgruppe
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 41 geschimpft“ erhoben werden, ob sich das Überaktivität (7 Items) und Impulsivität Interaktionsverhalten der Klassenlehrkräf- (4 Items; Döpfner et al., 2008). Die Items te gegenüber einem einzelnen Schulkind bzw. Symptomkriterien werden auf einer zwischen den drei Untersuchungsgruppen vierstufigen Likert-Skala hinsichtlich ihres unterscheidet. Drittens wird mithilfe des Zutreffens beurteilt von 0 = gar nicht bis 3 Items „Dieses Kind sorgt mit seinem Ver- = besonders. Des Weiteren werden die Kri- halten dafür, dass ich auch andere Kinder terien für die klinische Bedeutsamkeit nach schimpfe“ der Frage nachgegangen, ob sich DSM-IV bzw. ICD-10 sowie der Genera- nach Einschätzung der Klassenlehrkräf- lisierungsgrad der Symptomatik auf ver- te das Verhalten von SchülerInnen auf das schiedene Lebensbereiche erfasst. Die Ob- Kommunikationsverhalten der Klassenlehr- jektivität des FBB-ADHS kann im Hinblick kraft gegenüber anderen Kindern der Klasse auf die Durchführung, Auswertung und auswirkt. Zuletzt wurde zur Erfassung der Interpretation als gewährleistet angesehen Sympathie der Klassenlehrkraft für einzel- werden. Die interne Konsistenz weist gute ne SchülerInnen die Frageformulierung bis sehr gute Konsistenzen zwischen α = von Huber (2011, S. 29) im Wortlaut über- 0.81 - 0.94 auf. Die Faktorenanalysen ent- nommen. Er erhob in einer Studie mit 325 sprechend den Vorgaben des ICD-10 erga- SchülerInnen der dritten und vierten Jahr- ben vier Faktoren Aufmerksamkeitsstörung, gangsstufe die Sympathie der Lehrkraft für Hyperaktivität, Impulsivität und Kompe- einzelne SchülerInnen mit folgender Frage: tenz und erreichten eine Varianzaufklärung „Wie schwer fällt es Ihnen, den Schüler X von 62.4%. Bezüglich der Struktur des sympathisch zu finden?“. Obwohl im Rah- DSM-IV konnte eine Varianzaufklärung men des Forschungsartikels nicht erläutert von 58.1% für die Faktoren Kompe- wird, weshalb sich für diese Formulierung tenz, Aufmerksamkeitsstörungen und entschieden wurde, kann vermutet werden, Hyperaktivität/Impulsivität erzielt werden. dass die Frage nach der Sympathie der Klas- Eine Normierung des FBB-ADHS liegt für senlehrkraft mit der Antworttendenz der so- das Elternurteil bei Kindern und Jugend- zialen Erwünschtheit einhergehen könnte. lichen im Alter von 4 bis 18 Jahren vor. Für die Einteilung der Stichprobe wurde Da für das Lehrerurteil keine Normierung sich, wie skizziert, auf die Bewertung der vorliegt, wird hier auf die entsprechenden AD(H)S-typischen Verhaltensweisen mit- Interpretationshinweise von Döpfner et al. tels des FBB-ADHS gestützt (Döpfner et al., (2008) zurückgegriffen. Mittels dieser Me- 2008): Der FBB-ADHS umfasst 20 Items und thode konnte der Problematik entgegen- ist Bestandteil des Diagnostik-Systems für gewirkt werden, dass SchülerInnen zwar psychische Störungen (DISYPS-II) nach ICD- eine ADHS-Diagnose haben, diese sich 10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche. aber möglicherweise durch entsprechende Dieses Testverfahren wird zur Beurteilung Medikation nicht oder kaum mehr im unter- durch Eltern, ErzieherInnen oder Lehrkräfte richtlichen Setting zeigt (vgl. Lauth-Lebens eingesetzt, um Diagnosekriterien für Hyper- & Lauth, 2019; Batzle et al., 2010). kinetische Störungen (F90.0/ F90.1) nach ICD-10 und für Aufmerksamkeitsdefizit- / Verfahren zur Befragung der SchülerIn- Hyperaktivitätsstörungen (F 90.1/ F98.8) nen nach DSM-IV einzustufen. Der FBB-ADHS enthält alle 18 Symptomkriterien zur Dia- Die SchülerInnen wurden ebenfalls nach gnose einer hyperkinetischen Störung nach Geschlecht und Alter befragt. Parallel zur ICD-10 bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizit- Befragung der Klassenlehrkräfte betraf dies / Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV. Die die bereits skizzierten vier Aspekte der Leh- 20 Items werden drei Skalen wie folgt zuge- rer-Schüler-Beziehung: beanspruchte Auf- ordnet: Aufmerksamkeitsstörungen (9 Items), merksamkeit der Klassenlehrkraft, Interak-
42 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann tionsverhalten gegenüber einem einzelnen strengungsbereitschaft, Lernfreude und Schulkind, Auswirkungen von SchülerIn- Gefühl des Angenommenseins (TF-SALGA nenverhalten auf das Kommunikationsver- 3-4) sind in vier Skalen unterteilt: Schulein- halten der Klassenlehrkraft gegenüber an- stellung (SE), Anstrengungsbereitschaft (AB), deren Kindern der Klasse und Sympathie Lernfreude (LF) und Gefühl des Angenom- der Klassenlehrkraft. Die Items, nach denen menseins (GA). Die zuletzt genannte Skala in der SchülerInnenbefragung gefragt wur- erhebt mit 13 Items, inwieweit sich ein Kind de, decken sich in den Formulierungen mit von seinen Lehrkräften angenommen, ver- denen des Fragebogens für die Klassen- standen und unterstützt fühlt. Im Rahmen lehrkräfte, sodass die Beurteilungen von der vorliegenden Untersuchung wird ledig- Klassenlehrkräften und Schulkindern direkt lich diese Skala eingesetzt, welche die Be- miteinander verglichen werden können. ziehung zur Lehrperson sowie die subjektiv Analog zum Fragebogen für die Klassen- wahrgenommene Beliebtheit eines Schülers lehrkräfte wurde den Schulkindern eine bzw. einer Schülerin bei seiner bzw. ihrer vierstufige Ratingskala vorgelegt, mit der sie Klassenlehrkraft wiedergibt. Höhere Wer- die Beziehung und das Interaktionsverhal- te gehen mit einem stärkeren Gefühl des ten der Klassenlehrkraft zu einem bestimm- Angenommenseins einher. Das Gefühl des ten Mitschüler bzw. einer bestimmten Mit- Angenommenseins hat nach Ansicht von schülerin bewerten. Rauer und Schuck (2003) bedeutende Aus- Auf der Basis des Fragebogens zur Erfas- wirkungen auf das Lern- und Leistungsver- sung emotionaler und sozialer Schulerfah- mögen der Schüler bzw. der Schülerinnen rungen von Grundschulkindern dritter und und kann daher als zentrales Ziel pädagogi- vierter Klassen (FEESS; Rauer & Schuck, scher Bemühungen angesehen werden: Die 2003) wurde den Schulkindern die Skala pädagogische Wertschätzung „gehört zu Gefühl des Angenommenseins durch die den ganz wichtigen Sozialerfahrungen der Lehrkraft vorgelegt. Der FEESS 3-4 „ist ein Grundschulkinder“ (ebd., S. 45). Das Ver- Verfahren zur Erfassung der psychologisch fahren kann als ausreichend normiert ange- bedeutsamen und pädagogisch relevanten sehen werden. Die internen Konsistenzen Sichtweisen, Einschätzungen, Bewertun- der einzelnen Skalen liegen im sehr guten gen und Einstellungen von Grundschul- bis befriedigenden Bereich. Die Retest-Re- kindern“ (Rauer & Schuck, 2003, S. 9). Er liabilität kann ebenfalls als stabil angesehen besteht aus zwei Teilfragebögen (TF-SIKS, werden. Die Objektivität ist hinsichtlich der TF-SALGA), in denen die im schulischen Durchführung, Auswertung und Interpreta- Kontext erworbenen situationsunabhängi- tion gewährleistet. Außerdem wurden die gen Überzeugungen der Kinder über die inhaltliche, differenzielle, konstrukt- sowie eigene Person per Selbstauskunft auf einer kriterienbezogene Validität ermittelt. Insge- vierstufigen Likert-Skala (von 0 = stimmt samt weisen die von den Autoren dargeleg- gar nicht bis 3 = stimmt genau) ermittelt ten Angaben darauf hin, dass die Validität werden. Außerdem werden personale und des FEESS 3-4 gegeben ist (ebd.). soziale Aspekte der SchülerInnen sowie die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Ablauf SchülerInnen und den Schulkindern unter- einander überprüft (ebd.). Der Teilfragebo- Insgesamt nahmen an der Hauptuntersu- gen zur sozialen Integration, zum Klassen- chung 20 verschiedene bayerische Grund- klima und zum Selbstkonzept (TF-SIKS 3-4) schulen mit 44 Grundschulklassen teil, erfasst auf drei Skalen Soziale Integration neun Schulen konnten dem Stadtgebiet und (SI), Klassenklima (KK) und Selbstkonzept elf einem Landkreis zugeordnet werden. der Schulfähigkeit (SK). Die 53 Items des Acht Grundschulen, die durch den Untersu- Teilfragebogens zur Schuleinstellung, An- chungsleiter kontaktiert wurden, sagten ihre
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 43 Teilnahme im Vorfeld der Untersuchung ab Bühner & Ziegler, 2009). Für die gesamte bzw. baten um eine Nichtbeteiligung an der Auswertung wurde das Signifikanzniveau Studie. von p = .05 auf p = .0167 nach Bonfer- Die Hauptuntersuchung erfolgte im Zeit- roni korrigiert, da pro Hypothese je 3 Be- raum von März bis Juli 2014. Die Befragung rechnungen am Datensatz erfolgten. Die der Klassenlehrkräfte wurde im Vorfeld zur erzielten Mittelwerte (M) und Standardab- SchülerInnenbefragung durchgeführt. Sie weichungen (SD) sind in Tabelle 2 einzuse- dauerte, abhängig von der Anzahl an zu hen. Zusätzlich wurden die Effektstärken (r) beurteilenden Schulkindern, zwischen 15 - mittels der Formel berechnet und nach 60 Minuten. Den Lehrkräften wurde, unab- Cohen (1992) interpretiert: Effektstärken hängig von der Gruppenzugehörigkeit des unter r = .10 sprechen für schwache, ab r Kindes, immer der identische Fragebogen = .30 für mittlere und ab r = .50 für starke vorgelegt. Effekte. Die festgestellten AD(H)S-typischen Für die Befragung der SchülerInnen wur- Verhaltensweisen stellten die Gruppierung de die elterliche Einverständniserklärung bzw. die unabhängige Variable dar (ADHS vorab eingeholt. Die Befragung der Schul- vs. ADS vs. Kontrollgruppe). Folgende Kon- kinder wurde separat im Rahmen einer traste wurden berechnet: ADHS vs. ADS, Gruppenbefragung mit den dargestellten ADHS vs. Kontrollgruppe und ADS vs. Kon- Untersuchungsverfahren durchgeführt. Die trollgruppe. Die Ergebnisdarstellung erfolgt Untersuchung fand mit allen Kindern der hypothesengeleitet, jeweils zuerst für die jeweiligen Schulklasse gleichzeitig statt. Einschätzung der Klassenlehrkräfte, dann Nach Instruktion des Untersuchungsleiters für die Einschätzung der SchülerInnen. wurde der Fragebogen von jedem Schul- kind einzeln bearbeitet. Die Auswahl der Kinder, über die andere MitschülerInnen Ergebnisse urteilen, erfolgte mittels zufälliger Ziehung durch den Untersuchungsleiter. Pro Schul- H1: Sympathie der Klassenlehrkraft kind wurden maximal drei Fremdurteile er- hoben. Die erste Hypothese, dass zwischen Schul- Pro Schulklasse dauerte die Befragung der kindern mit ADHS, ADS und einer Kontroll- SchülerInnen etwa 45 Minuten. Da teilweise gruppe signifikante Unterschiede bezüglich einige der ausgewählten Kinder am jeweili- der empfundenen Sympathie durch die gen Testtag fehlten, musste die Erhebung in Klassenlehrkräfte bestehen, konnte teilwei- einigen Fällen über mehrere Tage hinweg se bestätigt werden. erfolgen. So gelang es, die Auskünfte über Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So- die ausgewählten Kinder vollständig zu er- wohl zwischen Kindern mit ADHS und fassen (orientiert an Schwab, 2014) und die ADS (t(112.846) = 3.017, p = .001, r = .27), Klassen konnten grundsätzlich vollständig ADHS und der Kontrollgruppe (t(89.753) = erhoben werden, es gab keine Missings in- 7.703, p < .001, r = .63) als auch ADS und nerhalb der ausgewählten Population. der Kontrollgruppe (t(66.040) = 3.364, p < .001, r = .38) bestehen signifikante Unter- Statistische Auswertung schiede bezüglich der Sympathie von Klas- senlehrkräften, wobei die LehrerInnen an- Die statistische Auswertung erfolgte mittels gaben, dass es ihnen am schwersten falle, der Statistiksoftware SPSS 26.0. Aufgrund SchülerInnen mit ADHS sympathisch zu von fehlender Varianzhomogenität wurden finden, gefolgt von Kindern mit ADS und die Unterschiedsanalysen mittels t-Test mit der Kontrollgruppe. Welch Korrektur statt durch univariate Va- rianzanalyse (ANOVA) durchgeführt (vgl.
44 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann SchülerInneneinschätzung: Zwischen Schulkindern mit ADS und der Kontroll- Schulkindern mit ADHS und ADS (t(81.184) gruppe (t(61.333) = 6.755, p < .001, r = .65) = 2.415, p = .018, r = .25) besteht kein si- ein signifikanter Unterschied bezüglich der gnifikanter Unterschied hinsichtlich der SchülerInneneinschätzung, wie stark die Sympathie der Klassenlehrkraft, zwischen MitschülerInnen die Aufmerksamkeit der ADHS und der Kontrollgruppe hingegen Klassenlehrkräfte beanspruchen. schon (t(67.600) = 5.187, p < .001, r = .53). Ebenso gibt es zwischen SchülerInnen mit H3: Interaktionsverhalten der Klas- ADS und der Kontrollgruppe (t(60.365) = senlehrkraft gegenüber dem einzel- 7.342, p < .001, r = .69) einen signifikanten nen Schulkind Unterschied bezüglich des Eindrucks der SchülerInnen, wie sympathisch die Klassen- Die dritte Hypothese, dass SchülerInnen mit lehrkraft die Schulkinder findet. Dabei ga- ADHS häufiger geschimpft werden und si- ben die SchülerInnen an, dass Schulkinder gnifikant häufiger negative Rückmeldungen mit ADHS die geringsten Sympathiewerte bekommen als Gleichaltrige mit ADS, ge- von der Klassenlehrkraft erhalten. folgt von der Kontrollgruppe, konnte eben- falls bestätigt werden. H2: Beanspruchte Aufmerksamkeit Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So- der Klassenlehrkraft wohl zwischen Schulkindern mit ADHS und ADS (t(102.790) = 5.037, p < .001, r Die zweite Hypothese, dass SchülerInnen = .44) als auch zwischen SchülerInnen mit mit ADHS sowohl nach Wahrnehmung der ADHS und der Kontrollgruppe (t(110.261) Klassenlehrkräfte als auch nach Wahrneh- = 14.002, p < .001, r = .80) besteht ein si- mung der MitschülerInnen mit ihrem Ver- gnifikanter Unterschied. Zudem lässt sich halten signifikant häufiger im Mittelpunkt zwischen Kindern mit ADS und der Kont- stehen und dadurch größere Aufmerksam- rollgruppe (t(71.510) = 5.618, p < .001, r = keit als SchülerInnen mit ADS gefolgt von .55) ein signifikanter Unterschied bezüglich SchülerInnen der Kontrollgruppe beanspru- der Einschätzung der Klassenlehrkraft, wie chen, konnte bestätigt werden. häufig SchülerInnen negative Rückmeldung Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So- erhalten, feststellen. wohl zwischen Schulkindern mit ADHS SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi- und ADS (t(104.217) = 5.105, p < .001, r schen SchülerInnen mit ADHS und ADS = .45) als auch zwischen SchülerInnen mit (t(99.164) = 5.650, p < .001, r = .49) als ADHS und der Kontrollgruppe (t(96.355) = auch zwischen Lernenden mit ADHS und 13.249, p < .001, r = .80) besteht ein si- der Kontrollgruppe (t(94.258) = 16.964, p gnifikanter Unterschied. Außerdem zeigt < .001, r = .87) ergibt sich ein signifikanter sich zwischen Schulkindern mit ADS und Unterschied. Ebenso zeigt sich zwischen der Kontrollgruppe (t(65.299) = 4.781, p < Schulkindern mit ADS und der Kontroll- .001, r = .51) ein signifikanter Unterschied gruppe (t(62.405) = 6.665, p < .001, r = bezüglich der Einschätzung durch die Klas- .64) ein signifikanter Unterschied bezüglich senlehrkraft, wie stark die SchülerInnen ihre der Einschätzung der MitschülerInnen, wie Aufmerksamkeit beanspruchen. häufig ihre Peers negative Rückmeldung er- SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi- halten. schen Schulkindern mit ADHS und ADS (t(97.154) = 7.662, p < .001, r = .61) als auch zwischen Kindern mit ADHS und der Kontrollgruppe (t(93.497) = 20.609, p < .001, r = .91) liegt ein signifikanter Unter- schied vor. Daneben ergibt sich zwischen
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 45 H4: Auswirkungen von SchülerInnen- H5: Gefühl des Angenommenseins verhalten auf das Kommunikations- von der Klassenlehrkraft verhalten der Klassenlehrkraft ge- genüber anderen Kindern der Klasse Die letzte Hypothese untersucht, ob sich SchülerInnen mit ADHS weniger gut von Die vierte Hypothese, dass SchülerInnen der Klassenlehrkraft angenommen fühlen mit ADHS durch ihr Verhalten signifikant als Peers mit ADS bzw. aus der Kontroll- häufiger als Kinder mit ADS bzw. der Kon- gruppe. Die Hypothese konnte teilweise trollgruppe dafür sorgen, dass Lehrkräf- bestätigt werden: zwischen Schulkindern te auch andere SchülerInnen schimpfen, mit ADHS und ADS (t(116.927) = -.654, p = konnte ebenfalls bestätigt werden. .515) besteht kein signifikanter Unterschied, Einschätzung der Klassenlehrkräfte: So- zwischen SchülerInnen mit ADHS und der wohl zwischen Schulkindern mit ADHS Kontrollgruppe hingegen schon (t(104.655) und ADS (t(111.256) = 5.420, p < .001, = -7.582, p < .001, r = .60). Weiterhin zeigt r = .46) als auch zwischen Kindern mit sich zwischen Kindern mit ADS und der ADHS und der Kontrollgruppe (t(89.842) = Kontrollgruppe (t(82.985) = -6.998, p < 11.479, p < .001, r = .77) besteht ein signi- .001, r = .61) ein signifikanter Unterschied fikanter Unterschied. Außerdem zeigt sich der subjektiven Wahrnehmung, wie sehr nach Einschätzung der Klassenlehrkräfte, sich eine Schülerin bzw. ein Schüler von dass Kinder mit ADS signifikant häufiger der Klassenlehrkraft angenommen fühlt. dafür verantwortlich gemacht werden, dass Demnach fühlten sich die SchülerInnen mit MitschülerInnen von der Klassenlehrkraft Symptomen von ADHS und ADS signifikant geschimpft werden, als dies bei Lernenden weniger gut von der Klassenlehrkraft an- der Kontrollgruppe der Fall ist (t(65.131) = genommen als SchülerInnen der Kontroll- 3.608, p = .001, r = .41). gruppe. SchülerInneneinschätzung: Sowohl zwi- schen Schulkindern mit ADHS und ADS (t(115.388) = 5.749, p < .001, r = .47) als auch zwischen Lernenden mit ADHS und der Kontrollgruppe (t(94.430) = 9.883, p < .001, r = .71) liegt ein signifikanter Unter- schied vor. So werden nach Wahrnehmung der MitschülerInnen Schulkinder mit ADHS im Vergleich zu Peers aus der Kontrollgrup- pe signifikant häufiger dafür verantwortlich gemacht, dass die Klassenlehrkraft auch an- dere SchülerInnen aus der Klasse schimpft. Weiterhin sorgen – nach Wahrnehmung der MitschülerInnen – Schulkinder mit ADS, verglichen mit Peers der Kontrollgruppe, signifikant häufiger dafür, dass SchülerIn- nen aus der Klasse von der Klassenlehrkraft geschimpft werden (t(75.125) = 2.879, p = .005, r = .32).
46 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann Tabelle 2: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Items unterteilt nach Gruppenzugehörigkeiten Gruppe ADHS ADS KG Gesamt Item (n = 68) (n = 52) (n = 118) (N = 238) Sympathie der KL 1.16 (.91)² .67 (.86)¹ .25 (.49)³ .60 (.81) Klassenlehrkraft S 1.98 (2.57)² 1.18 (.78) .34 (.37)³ .99 (1.60) Aufmerksamkeit der KL 1.78 (.86)² .92 (.95)¹ .25 (.53)³ .84 (.98) Klassenlehrkraft S 2.10 (.65)² 1.07 (.78)¹ .30 (.39)³ .98 (.96) negative Rückmeldung KL 1.66 (.70)² .96 (.79)¹ .29 (.53)³ .83 (.87) der Klassenlehrkraft S 2.11 (.68)² 1.33 (.78)¹ .56 (.41)³ 1.17 (.89) andere SchülerInnen KL 1.52 (.86)² .67 (.83)¹ .23 (.46)³ .69 (.87) werden geschimpft S 1.07 (.66)² .43 (.54)¹ .19 (.40)³ .49 (.64) Gefühl des S 1.79 (0.61)² 1.86 (.51) 2.42 (.58)³ 2.12 (.58) Angenommenseins Anmerkungen. Das Signifikanzniveau wurde auf p < .0167 festgelegt; ADHS = Aufmerksamkeitsde- fizit-/Hyperaktivitätsstörung; ADS = Aufmerksamkeitsdefizitstörung; KG = Kontrollgruppe; S = mitt- lere Einschätzung seitens der SchülerInnen; KL = mittlere Einschätzung seitens der Klassenlehrkräfte; ¹ = signifikanter Effekt zwischen ADHS und ADS; ² = signifikanter Effekt zwischen ADHS und KG; ³ = signifikanter Effekt zwischen ADS und KG Diskussion sie aufgrund ihres eher externalisierenden auffälligen Verhaltens (Hyperaktivität/Im- Auf Basis der Hypothesenprüfungen ist fest- pulsivität) häufiger die Klassenlehrkraft und zustellen, dass sich die Qualität der Lehrer- den Unterricht stören, während SchülerIn- Schüler-Beziehung zwischen Schulkindern nen mit ADS eher internalisierendes auffäl- mit ADHS, ADS und Peers der Kontrollgrup- liges Verhalten (Unaufmerksamkeit) zeigen, pe in verschiedener Hinsicht (signifikant) welches vermutlich weniger die Umwelt zuungunsten von SchülerInnen mit ADHS und den Unterricht stört. Es ist davon auszu- und ADS unterscheidet. gehen, dass hyperaktiv-impulsives Verhal- Den Klassenlehrkräften fällt es einer- ten ein höheres Maß an Regelverletzungen seits signifikant schwerer, SchülerInnen mit impliziert, als dies bei vorwiegend unauf- ADHS bzw. ADS im Vergleich zu SchülerIn- merksamen SchülerInnenverhalten der Fall nen der Kontrollgruppe sympathisch zu fin- ist. Dies mag vermutlich erklären, weshalb den. Andererseits erzielen Schulkinder mit Schulkinder mit ADS zwar im Vergleich zur ADHS signifikant geringere Beliebtheitswer- Kontrollgruppe geringere Beliebtheitswer- te bei ihren Klassenlehrkräften als Peers mit te, jedoch im Vergleich zu ihren Peers mit ADS (H1). Die signifikant geringeren Sym- ADHS höhere Sympathiewerte erreichen. pathiewerte von SchülerInnen mit ADHS Der Zusammenhang von Regelkonformität könnten darauf zurückzuführen sein, dass im SchülerInnenverhalten und Sympathie
Unterschiede in der Qualität der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schulkindern mit ADS und ADHS 47 durch die Lehrkraft wurde bereits in bishe- schlechter wahr, als dies Kinder der Kont- rigen wissenschaftlichen Studien bestätigt rollgruppe tun (H5). Diese Befunde im Hin- (Huber, 2011; Huber & Wilbert, 2012; Pe- blick auf das Gefühl des Angenommenseins tillon, 1978) und wird in der vorliegenden von der Lehrkraft decken sich mit den Er- Untersuchung durch die Ergebnisse von gebnissen von H1: Offenbar steht sowohl H2, H3 und H4 nachdrücklich unterstützt. das Gefühl des Angenommenseins aus Schulkinder mit ADHS beanspruchen in Perspektive der SchülerInnen als auch die der Wahrnehmung ihrer Klassenlehrkräfte Sympathie der Klassenlehrkräfte in einem und MitschülerInnen signifikant mehr die engen Zusammenhang mit dem Auftreten Aufmerksamkeit der Klassenlehrkraft, als von AD(H)S-typischen Verhaltensweisen im dies bei Lernenden mit ADS und der Kon- Unterricht. trollgruppe festzustellen ist (H2). Auf Basis Limitierend ist anzumerken, dass sich im der Untersuchungsergebnisse ist festzustel- Rahmen dieser empirischen Untersuchung len, dass sowohl Klassenlehrkräfte als auch bei der Einteilung der Stichprobe auf das MitschülerInnen signifikant häufiger davon Urteil der Klassenlehrkräfte gestützt wurde berichten, dass Gleichaltrige mit ADHS von und die Erhebung ausschließlich auf einer ihren Klassenlehrkräften geschimpft werden bayerischen Stichprobe beruht. Insofern ist (H3). Diese Untersuchungsergebnisse stim- nicht auszuschließen, dass für die Grup- men mit angloamerikanischen Forschungs- pen von SchülerInnen mit ADHS bzw. ADS studien überein, wonach Lehrkräfte in den ProbandInnen ausgewählt wurden, obwohl sozialen Interaktionen mit SchülerInnen mit ihre Symptomatik einer klinischen Diagno- AD(H)S, (v. a. im Hinblick auf hyperaktiv- se nicht genügen würde, da die Gruppen- impulsive Verhaltensweisen) mehr Stress er- zuteilung auf dem LehrerInnenurteil und leben und dazu neigen, diese vermehrt zu keiner systematischen und psychiatrischen schimpfen und ihnen ihre Aufmerksamkeit Diagnosestellung beruht (A. Müller, Can- zu widmen (Mikami & Hinshaw, 2003; Mi- drian, & Kroptov, 2011). Entgegen einer kami et al., 2019). Es ist zu erwarten, dass umfassenden ADHS-Diagnostik wird in sich das negative Kommunikationsverhalten der vorliegenden Untersuchung durch das von Lehrkräften gegenüber SchülerInnen Urteil der Lehrkräfte nur ein Lebensbereich mit AD(H)S auch von anderen SchülerIn- erfasst und somit eine wesentliche Voraus- nen beobachten lässt (Brook, Watemberg, setzung für die (valide) Diagnosestellung & Geva, 2000). Interessanterweise scheint einer ADHS nicht erfüllt. Zudem muss an- sich dieses negativ ausgerichtete Kommu- gesichts einiger Forschungsbefunde darauf nikationsverhalten von Lehrkräften in Be- hingewiesen werden, dass die Häufigkeits- zug auf das Verhalten von SchülerInnen angaben von ADHS durch das LehrerInnen- mit ADHS auch auf andere Schulkinder urteil in der Regel die Epidemiologie von auszuweiten und zu etablieren (H4). Eine klinischen ADHS-Diagnosen deutlich über- naheliegende Interpretation dieses Auswer- steigen (Lauth & Mackowiak, 2004; Ruhm- tungsergebnisses wäre, dass sich das eher land & Christiansen, 2017; Snider, Busch, externalisierende auffällige Verhalten von & Arrowood, 2003). Allerdings sei zu be- SchülerInnen mit ADHS besonders stark tonen, dass sich im Kontext dieser Studie auf andere Schulkinder überträgt, wodurch analog zu aktuellen angloamerikanischen auch diese ein geringeres aufgabenbezoge- Studien, in denen die Lehrer-Schüler-Bezie- nes Verhalten zeigen und sie dementspre- hung empirisch untersucht wurde, bewusst chend von ihren Klassenlehrkräften (auch) gegen die klinische Diagnose ADHS als häufiger geschimpft werden. Kategorie entschieden wurde und vielmehr Auch subjektiv nehmen SchülerInnen das zutage tretende auffällige, AD(H)S-ty- mit ADHS und ADS die Qualität ihrer Be- pische Verhalten und dessen Auswirkungen ziehung zur Klassenlehrkraft signifikant auf die Lehrer-Schüler-Beziehung als hin-
48 Philipp Abelein & Sophie C. Holtmann reichendes Kriterium betrachtet wurde (vgl. heit von SchülerInnen mit ADHS im Ver- Zendarski et al., 2020). gleich zu ihren Peers möglicherweise auch Das Geschlechterverhältnis der Klassen- eine Folge der schulbasierten Maßnahmen lehrkräfte kann in dieser Untersuchung bei ADS und ADHS sein. Die Handlungs- nicht als ausgeglichen angesehen werden, strategien von pädagogischen Fachkräften wenngleich diese Verteilung dem tatsäch- sind, kritisch betrachtet, zumeist primär auf lichen Stand von 89.5% weiblichen Lehr- die Reduktion von ADHS-typischen Verhal- kräften an deutschen Grundschulen nahe- tensweisen und damit auf die Verhaltens- kommt (Statistisches Bundesamt (Destatis), steuerung ausgerichtet (Abelein & Stein, 2018). Auch stützt sich das diagnostische 2017; Mikami et al., 2019). Analog zu den Instrument auf DSM-IV, das nicht mehr als empirischen Untersuchungen von Ruhm- aktuelles Klassifikationssystem angesehen land und Christiansen (2017) sowie Dort et werden kann. Abschließend sei noch die al. (2020) kann angenommen werden, dass fehlende Geschlechterdifferenzierung bei Lehrkräfte beim Störungsbild ADHS primär der Analyse zu nennen, diese wurde je- auf korrektive Maßnahmen zurückgreifen. doch auf Grund von vorherigen Befunden Vernachlässigt erscheinen dabei insbeson- von beispielsweise Mautone et al. (2011), dere professionelle Handlungsstrategien zu Rogers et al. (2015), Vile Junod et al. (2006) sein, welche eine strukturierte Zusammen- und Zendarski et al. (2020) vernachlässigt. arbeit mit den Eltern intendieren (Ruhmland & Christiansen, 2017). Die pädagogischen Bemühungen beschränken sich offenbar Ausblick (zu sehr) auf das zutage tretende auffällige Verhalten und vernachlässigen dabei wo- Die hier ermittelte geringere Qualität der möglich auch zugrundeliegende emotional- Lehrer-Schüler-Beziehung von SchülerIn- sozial relevante biographische Vorerfahrun- nen mit ADS bzw. ADHS könnte einerseits gen, den aktuellen Entwicklungsstand, das darauf zurückzuführen sein, dass schulba- aktuelle subjektive Erleben des Schulkindes sierte bzw. evidenzbasierte Maßnahmen sowie die komplexen Beziehungsdynami- bei ADHS (Richard, Eichelberger, Döpfner, ken und Interaktionen innerhalb der Klas- & Hanisch, 2015), welche analog zu Meta- sengruppe. Analog zu den KMK-Empfeh- Analysen zu starken Verbesserungen auf lungen zum Förderschwerpunkt emotionale der Verhaltensebene beitragen können (Du- und soziale Entwicklung ist für die Lehrkräf- Paul, Eckert & Vilardo, 2012; Pyle & Fabia- te eine theoriegeleitete Reflexion eigener no, 2017), von Grundschullehrkräften zu Denk- und Handlungsmuster „unabding- wenig berücksichtigt werden. Eine fehlen- bar, um unbewusste Handlungsmuster auf- de Etablierung evidenzbasierter schulischer zudecken, eigene Anteile bei schwierigen Strategien wird zudem als eine zentrale Interaktionen bewusst zu machen und nach Erklärung für die vergleichsweise schlech- Möglichkeit Veränderungen einzuleiten“ ten schulischen Leistungen von Schulkin- (Kultusministerkonferenz (KMK), 2000, S. dern mit ADHS angesehen (Dort, Strelow, 14). Ahrbeck (2014, S. 274) zufolge bietet Schwinger & Christiansen, 2020). Darüber insbesondere die psychoanalytische Be- hinaus scheinen vor allem im Hinblick auf trachtungsweise „einen differenzierten Ein- die Symptombereiche Hyperaktivität/Impul- blick in die innere Erlebenswelt von Kindern sivität Trainings und Interventionen erfolgs- und Jugendlichen und kann ein wesentli- versprechend zu sein, welche eine gezielte ches Hilfsmittel sein, um Unterrichts- und Steuerung der körperlichen Aktivität im Un- Erziehungsprozesse gehaltvoll zu gestal- terricht intendieren (Casale, Brüggemann ten“. In Bezug auf Kinder mit ADHS scheint & Hennemann, 2019; Mahar et al., 2006). eine (veränderte) professionell-reflexive Andererseits könnte die geringere Beliebt- Haltung von Lehrkräften vonnöten zu sein,
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