" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung

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" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
nr.1
                                                                                                 Diesmal ausgelotet :
                                                                                                  Bildungschancen

                                                    » Wichtig ist
                                                      der Spaß am
                                                      Lernen «
Das Bildungsmagazin der Deutsche Telekom Stiftung

                                                           Ehemalige Spitzensportler erzählen von
                                                        ihren Bildungserfahrungen. Und wie sie heute
                                                        mit ihren Stiftungen Kindern und Jugendlichen
                                                             zu mehr Chancen im Leben verhelfen.
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
FOTO: DPA
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B i l d u ng s w e l t                   3

Kleiner Aufsteiger
                         Text: KLAUS RATHJE

  Auch wenn dieser chinesische Schuljunge etwas angestrengt
    in die Kamera guckt – er freut sich. Denn was aus unserer
westlichen Sicht wie eine hochgefährliche Angelegenheit wirkt,
ist für die Schüler im Südwesten Chinas eine eindeutige Erleich-
 terung auf ihrem Schulweg. Die 800 Meter Höhenunterschied
  mussten sie bisher nämlich auf einer wackeligen Rattanleiter
 bewältigen. Seit November vergangenen Jahres können sie auf
  einer stabilen Stahlkonstruktion von der Schule im Tal nach
   Hause in ihr kleines Bergdorf gelangen. Ein echter Aufstieg
    für den lernenden Nachwuchs. Selbst in industrialisierten
  Ländern wie China mit einem funktionierenden Schulsystem
     sind die Bildungschancen lange nicht für alle gleich und
           erfordern teils einiges an Mut und Strapazen.
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
4                                 Di e sm al au sg e l o t e t :   B i l du n g scha n ce n

                      » Dieser                                                       02       Bildungsaufstieg
                                                                                              Ein Schulweg, der viel Mut

                  Wunderknabe
                                                                                              erfordert

                                                                                     06       Das war die Chance

                  ist einmalig. «                                                             meines Lebens
                                                                                              Wenn engagierte Menschen
                                                                                              und entscheidende Momente
                              Aus »Good Will Hunting«
                                                                                              den Bildungsweg prägen
                                      Seite 16
                                                                                     12       Den Anschluss
                                                                                              ermöglichen
                                                                                              Zwei ehemalige Spitzen-
                                                                                              sportler und ihre Stiftungen

      » Meine erste                                                                  16       Filmreif!
                                                                                              Schon so mancher Regisseur
    Fünf-Jahres-Stelle                                                                        hat aus dem Thema Bildungs-
                                                                                              chancen sehenswerte Kino-
    war die Rettung. «                                                                        streifen gemacht

     Nobelpreisträger Stefan W. Hell und                                             18       Bravemaster hat
    andere Akteure aus Wissenschaft, Wirt-                                                    einen Traum
     schaft, Politik und Bildung sprechen                                                     Muhammad Al Zeen will
        über die Chance ihres Lebens.                                                         Englischlehrer werden –
                                                                                              kein leichter Weg für ihn
                   Seite 6
                                                                                              als Flüchtling

                                                                                     22       Bereit fürs Berufsleben 4.0
                                                                                              Die GestaltBar macht Haupt-
                                                                                              schüler fit für die digitale
                                                                                              Arbeitswelt

                                   »Die Mühe
                                  ist es wert. «
                                            Von schlagkräftig zu tatkräftig:
                                                                                              Impressum
                                     Ein früherer Boxweltmeister hilft benach-                sonar nr. 1 Herausgeber Deutsche Telekom Stiftung,
                                    teiligten Kindern, damit sie im Leben besser              Graurheindorfer Straße 153, 53117 Bonn, Tel. 0228 181-92021,
                                                                                              kontakt@telekom-stifung.de Verantwortlich für den Inhalt
                                                  zurechtkommen.                              Dr. Ekkehard Winter Redaktionsleitung Daniel Schwitzer
                                                                                              Redaktion, Grafik und Layout SeitenPlan GmbH Corporate
                                                        Seite 12                              Publishing, www.seitenplan.com Druck Druckerei Schmidt

                                                                                              Der besseren Lesbarkeit wegen verwenden wir in diesem Magazin
                                                                                              zuweilen verallgemeinernd das generische Maskulinum. In diesen
                                                                                              Fällen sind selbstverständlich alle Geschlechter angesprochen
                                                                                              und mitgemeint.
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
nr.1                                                   5

24       Surfen und lernen
         Kulturwissenschaftler
         Philippe Wampfler über das
         Internet als Bildungsort

26        ingen um den
         R
         richtigen Weg
         Wie Eltern am besten die
         Lernfortschritte ihrer Kinder
         begleiten

28       Neue Chancen für Talente                                          Ed i t o r i a l
         Besonders begabte Schüler
         können in vielen Initiativen
         ihr Potenzial voll entfalten                          In die Tiefe
30       Aus der Stiftung                                       Um komplexe Themen wirklich zu
         Über uns und unsere Projekte                          durchdringen, genügt meist nicht der
                                                                oberflächliche Blick. Man muss sich
                                                                 Zeit nehmen, das Thema von allen
                                                            Seiten betrachten, vielleicht die Perspektive
                                                              wechseln. Genau das haben wir uns mit
                                                             unserem neuen Bildungsmagazin „sonar“
                                                              vorgenommen: Wir wollen bestimmten
                                                            Dingen auf den Grund gehen. Daher lotet in
                                                             Zukunft jede Ausgabe ein Thema breit aus
                                                                und beleuchtet dieses auf 32 Seiten.
                                                            In der ersten Ausgabe sind es die Bildungs-
                                                              chancen in Deutschland, denen wir uns
                                                              mit einem abwechslungsreichen Mix aus
                                                            Reportagen, Interviews, Service-Geschich-
                                                               ten und Porträts widmen. Die „sonar“
                                                             erscheint als Printmagazin ab sofort zwei-
                                                               mal im Jahr. Online finden Sie die Aus-
                                                            gaben auf www.telekom-stiftung.de/sonar.
         »Ich weiß nicht,
                                                             Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen
        ob ich in ein, zwei                                    und freue mich auf Ihre Meinung und
       Jahren noch Geduld                                         Anregungen zur Erstausgabe:
                                                                  kontakt@telekom-stiftung.de
           übrig habe. «
        Wie sich Muhammad Al Zeen nach seiner
                                                                               Ihre
     Flucht aus Syrien im deutschen Bildungssystem
                                                                          Andrea Servaty,
              zu seinem Traum vorarbeitet.
                                                                     Leiterin Kommunikation
                        Seite 18                                    Deutsche Telekom Stiftung
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
6                           B i l d u ng s w e g e

     Das war die
    Chance meines
       Lebens
       Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft,
     Politik und Bildung erzählen von Menschen
       und Momenten, die ihren Bildungsweg
            maßgeblich beeinflusst haben.

           Protokollier t von: CHRISTOPH HENN, ALEXANDRA TRUDSLEV
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
7

                                                             Stefan W. Hell
                                                            Nobelpreisträger

                                                                                                               Eine Hürde zu überwinden, die
                                                                                                               als unüberwindbar galt: Diese
                                                                                                               Chance motivierte mich als junger
                                                                                                               Physiker. Seit mehr als 100 Jahren
                                                                                                               war die Fachwelt überzeugt, dass
                                                                                                               Lichtmikroskope nicht schär-
                                                                                                               fer werden konnten, als es die
                                                                                                               sogenannte Beugungsgrenze
                                                                                                               erlaubte. Ich aber hatte nach
                                                                                                               ersten Forschungen so ein Gefühl,
                                                                                                               dass da doch noch mehr geht. Ich
                                                                                                               wollte dem wissenschaftlichen
                                                                                                               Mainstream zeigen, dass er sich
                                                                                                               täuschte. Die Bedeutung, die
                                                                                                               meine Forschung einmal haben
                                                                                                               würde, war damals zweitran-
                                                                                                               gig. Vor den wissenschaftlichen
                                                                                                               musste ich viele finanzielle
                                                                                                               Hürden überwinden. Weil ich
                                                                                                               nach der Promotion in Deutsch-
                                                                 FOTO: DEUTSCHER ZUKUNFTSPREIS/ANSGAR PUDENZ

                                                                                                               land mit meiner Idee kein Labor
                                                                                                               bekam, ging ich zunächst einige
                                                                                                               Jahre nach Finnland und hangel-
                                                                                                               te mich von einem Stipendium
                                                                                                               zum anderen. Wie eine Rettung
                                                                                                               empfand ich danach meine erste
                                                                                                               Fünf-Jahres-Stelle als Leiter einer
                                                                                                               Max-Planck-Forschungsgruppe.
                                                                                                               Hier konnte ich mich endlich voll
Prof. Dr. Stefan W. Hell (54) ist Direktor am Max-Planck-                                                      der hochauflösenden Mikroskopie
Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. 2006                                                        widmen – und am Ende tatsäch-
erhielt er den Deutschen Zukunftspreis, den Preis des                                                          lich alle bestehenden Hürden
Bundespräsidenten für Technik und Innovation, dem zahl-                                                        überwinden.
reiche hochrangige Auszeichnungen folgten. 2014 wurde
er für die Entwicklung superauflösender Fluoreszenz-
mikroskopie mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt.
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                                        » Bildung war
                                    für mich das Tor zu
                                     einer neuen Welt. «
  Edelgard Bulmahn
 Vizepräsidentin des
Deutschen Bundestages

                                       Bildung war für mich das Tor zu einer neuen Welt. Ich
                                       wuchs in einem Dorf in Nordrhein-Westfalen auf. Mein
                                       Vater war Binnenschiffer, meine Mutter Friseurin. Sie
                                       war sehr bildungsbewusst und wollte, dass ihre Töchter
                                       eine gute Ausbildung erhielten. Nach der Volksschule
                                       war daher die staatliche Handelsschule vorgesehen. Ich
                                       selbst hatte andere Pläne, wollte das Aufbaugymnasium
                                       besuchen. Mit dieser Schulart sollten die Bildungsre-
                                       serven des ländlichen Raums aktiviert werden. Dies hat
                                       bei mir – und auch bei meiner Schwester – tatsächlich
                                       geklappt! Das Aufbaugymnasium legte den Grundstein
                                       für meinen weiteren Lebensweg und war die Chance
                                       meines Lebens. Nach dem Abitur habe ich zunächst ein
       FOTO: SASCHA KREKLAU

                                       Jahr in einem Kibbuz in Israel gearbeitet. Anschließend
                                       studierte ich Politikwissenschaft und Anglistik. Zu dieser
                                       Zeit profitierte ich vom BAföG, das unter Willy Brandt
                                       eingeführt worden war. Ohne diese Förderung wäre ein
                                       Studium für mich nur unter äußerst schwierigen Bedin-
                                       gungen möglich gewesen.

                                      Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (66) ist
                                      Bundesbildungsministerin a. D.
                                      Heute wirkt sie unter anderem als
                                      Vizepräsidentin des Deutschen
                                      Bundestages und stellvertretende
                                      Vorsitzende des Kuratoriums der
                                      Telekom-Stiftung.
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                                                         Sunithan Jesubalarasa
                                                               Abiturient

                    Als ich 2012 nach Deutschland kam, war mein Leben so
                    gut wie vorbei. Ich hatte im Bürgerkrieg meine Eltern
                    und mein Zuhause verloren. Nun war ich allein in einem
                    Land, dessen Sprache ich nicht beherrschte. Doch zum
                    Glück gab es hier neue Wege für mich. Das verdanke ich
                    zunächst meinen Pflegeeltern. Sie sorgten dafür, dass ich
                    von der Haupt- auf eine Gesamtschule wechseln konnte.
                    Inzwischen besuche ich die 12. Klasse und bereite mich
                    aufs Abitur vor. Die zweite große Chance bot mir das
                    START-Stipendium. Als Stipendiat darf ich regelmäßig
                    an Seminaren teilnehmen, in denen es um spannende
                    Themen wie Laser oder Navigationssysteme geht. Von
                    START bekomme ich auch finanzielle Hilfe, lerne außer-       Sunithan Jesubalarasa (21) kam
                    dem unterschiedliche Menschen kennen und erfahre viel        vor fünf Jahren als unbegleiteter
                    über die Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in Deutsch-      Flüchtling von Sri Lanka nach
                    land. Das Stipendium ermöglichte mir auch ein IT-Prak-       Deutschland. Heute spricht der
                    tikum bei der Telekom. Mein Traum ist es, dort nach dem      von der Telekom-Stiftung geför-
                    Abi ein duales Studium zu beginnen.                          derte START-Stipendiat fließend
                                                                                 Deutsch und strebt ein Informatik-
                                                                                 studium an.
FOTO: JULIA UNKEL
" Wichtig ist der Spaß am Lernen " - Deutsche Telekom Stiftung
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                                                                                     Uwe Hück
                                                                           Konzernbetriebsratsvorsitzender
                                                                                    Porsche AG

                                                                    Jeder braucht in seinem Leben Mentoren, um seine Chancen zu ergreifen.
                                                                    Mein vielleicht wichtigster war mein Deutschlehrer, damals in der Sonder-
                                                                    schule. Ich war ein Heimkind, zehn Jahre alt, wild und aggressiv. Immer
                                                                    mit dem Kopf durch die Wand. Dieser Lehrer war der Einzige, der mich mit
                                                                    Würde behandelt hat. Er hat mir beigebracht, dass man Bücher auch mal
                                                                    aufschlagen kann, statt sie durch die Gegend zu werfen. Und er hat mich
                                                                    an manchen Wochenenden aus dem Heim zu sich nach Hause eingela-
                                                FOTO: ULRIKE MICK

                                                                    den. Ich erinnere mich an seinen Garten, an einen Pflaumenbaum und an
                                                                    gemeinsame Essen mit der Familie. Zu diesem Mann habe ich Vertrauen
                                                                    gehabt. Er hat mir gezeigt, dass Bildung eine scharfe Waffe ist. Ich finde
                                                                    übrigens, dass Jugendliche heutzutage eine Menge draufhaben, wir müs-
                                                                    sen nur viel öfter den Kontakt zu ihnen suchen. Deshalb habe ich auch eine
Uwe Hück (55) ist auch mehrma-                                      Lernstiftung gegründet, um benachteiligte Jugendliche zu fördern.
liger Europameister im Thaiboxen,                                   Ich möchte, dass sie ihre Chance im Leben bekommen.
gelernter Autolackierer, Träger des
Bundesverdienstkreuzes und stell-
vertretender Aufsichtsratsvorsitzender
der Porsche AG.

                                                                       Katja Jung
                                                                       Studentin

      Ich habe festgestellt, dass es im Leben immer wieder
      Chancen gibt. Man muss sie nur erkennen und zugreifen.
      Die wohl bedeutendste Chance auf meinem Bildungsweg
      war der Beitritt zu den Pfadfindern. Mit zwölf Jahren ging
      da für mich eine neue Welt auf, wir sind zusammen auf
      Fahrten und Lager gegangen und haben uns auch für
      andere Menschen engagiert. Meine eigene Gruppe habe
      ich bereits mit 15 Jahren geleitet. Damit hatte ich Verant-
      wortung, musste alles organisieren, mich vernetzen. Ich
      durfte in die Rolle hineinwachsen. Das hat mich mutig
      und stark gemacht. Ich habe gelernt, im Team zu arbei-
                                                                                                                                        FOTO: PRIVAT

      ten, flexibel zu sein – und dass nicht immer alles perfekt
      sein muss, um zu funktionieren. Bei den Pfadfindern ist
      jeder Einzelne für die Gemeinschaft wichtig und es gab
      für mich dort viele Vorbilder. Das möchte ich später als
      Lehrerin unbedingt für meine Schüler sein, denn gute                               Katja Jung (44) ist gelernte Tisch-
      Vorbilder sind enorm wichtig.                                                      lermeisterin, die sich mit 39 Jahren
                                                                                         entschloss, Lehrerin zu werden. Seit
                                                                                         2014 ist sie Stipendiatin im Programm
                                                                                         FundaMINT der Telekom-Stiftung.
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                                                                                                                           FOTO: BASCHI BENDER
                                              Peter Gaymann
                                                 Künstler

                                                                                  Peter Gaymann (66) wurde mit
» Du musst es alleine                                                             Cartoons über Hühner berühmt,
                                                                                  die regelmäßig in Zeitschriften

     schaffen. «                                                                  erscheinen. Gaymann hat mittler-
                                                                                  weile 75 Bücher veröffentlicht und
                                                                                  arbeitet als freier Künstler in Köln.

  Ich war elf Jahre alt, als ich die Chance meines Lebens     half nichts. Da ergriff mein Lehrer die Initiative und lud
  bekam. Damals, 1961, besuchte ich eine Grundschule in       meine Eltern und mich zu sich nach Hause ein. Sie ließen
  Freiburg. Meine Leistungen waren top, meine Schreib-        sich überzeugen. Ein Wunder! Einzige Bemerkung: „Du
  schrift außergewöhnlich gut, meine Hefte ausgeschmückt      musst es alleine schaffen. Wir können weder Englisch
  mit Zeichnungen, Collagen und Fotos. Nein, ein Streber      noch Mathematik.“ Ich habe das Abitur geschafft und
  war ich nicht, es machte mir einfach nur Spaß. Dann frag-   Sozialpädagogik studiert. Dass ich dann Künstler werden
  te mich mein Lehrer, ob ich nicht aufs Gymnasium wech-      wollte, versetzte meine Eltern erneut in Panik. Mein
  seln wolle. Unbedingt! Doch meine Eltern schüttelten den    Credo: Das schaffe ich alleine! Recht hatte ich. Was wohl
  Kopf. „Hauptschule reicht“, hieß es. Noch nie hatte in      mein damaliger Lehrer dazu sagen würde? Ich jedenfalls
  meiner Familie jemand Abitur gemacht. All mein Betteln      bin ihm einfach nur dankbar.
12                       B i l d u ng s m a che r

         Den Anschluss
          ermöglichen
        Zwei ehemalige Spitzensportler unterstützen
     benachteiligte Kinder dabei, ihre Chancen zu nutzen.
            Ihr wichtigstes Hilfsmittel: Bildung.
                        Inter view: ANGELA LINDNER
                          Fotos: SASCHA KREKLAU
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                                                 Herr Metzelder, Sie haben ja ein beson-
                                                 ders gutes Abitur gemacht …

                                                 Metzelder: Na ja. Der Fußball bildet
                                                 ein breites gesellschaftliches Spek-
Christoph Metzelder und Henry
                                                 trum ab, in dem ein Abitur mit einer
Maske – aus dem Fußballer und dem
                                                 Note von 1,8 etwas Exotisches ist. Ich
Boxer sind zwei engagierte Stifter
                                                 habe das aber damals nie so wahr-         Das ist eine tolle Lehre fürs Leben.
geworden.
                                                 genommen, zumal Schulbildung              Wenn man ganz selbstverständlich
                                                 keinerlei positiven Einfluss auf die      mit Sport aufwächst, prägt das für
                                                 sportliche Qualität hat.                  das ganze Leben. Und davon mal ab-
                                                                                           gesehen: Jeder weiß, oder könnte es
                                                                                           wissen, dass Sport grundsätzlich für
                                                 Warum nicht?                              die ganzheitliche Entwicklung von
                                                                                           Kindern außerordentlich förderlich
                                                 Maske: Man ist gut, weil man seinen       ist. Es ist beispielsweise nachgewie-
                                                 Sport wahnsinnig gerne macht,             sen, dass Sport die Konzentrationsfä-
      Wie war Ihre Schulzeit? Woran erinnern     vor allem aber, weil man eine ganz        higkeit beträchtlich verbessert.
      Sie sich noch?                             spezifische Begabung hat. Aber
                                                 Schule und Allgemeinbildung sind
      Metzelder: Bei mir ist das ja schon        ganz wichtig, um im Leben klarzu-         Wie ist Ihnen der Umstieg in die Zeit
      ein paar Jahre her ...                     kommen.                                   nach der Sportkarriere gelungen?

      Maske: Bist du sicher?

      Metzelder (muss grinsen): Ja. 17
      Jahre. Ich habe drei Brüder und wir
      sind alle zur selben Schule gegangen,
                                                     » Jeder Mensch kann
      morgens gemeinsam mit dem Fahr-
      rad hingefahren. Ich hatte den Vor-
                                                    etwas besonders gut. «
      teil, dass ich bis zur Oberstufe eigent-
      lich völlig ohne Probleme durchkam,                                       Christoph Metzelder
      sodass auch der sportliche Teil, der
      dann ja immer mehr wurde, parallel
      wunderbar funktionierte.
                                                 Gilt denn umgekehrt, dass Sport zu        Metzleder: Ich habe mich immer
      Maske: Ich kann mich auch nicht be-        einer besseren Bildung beiträgt?          schon auch mit anderen Dingen
      klagen. Nun bin ich in einem anderen                                                 beschäftigt. Im Herbst meiner
      System groß geworden, wo Talente           Metzelder: Mag sein. Sportler lernen      Fußballkarriere hätte ich gerne ein
      frühzeitig in speziellen Sportschulen      Selbstorganisation, Selbstdiszip-         MBA-Studium „Sportmanagement“
      gefördert wurden. Der Unterricht war       lin, Verzicht, Stressresistenz – alles    begonnen, am Ende waren Seminare
      wie in einer herkömmlichen Ober-           Dinge, die man ins spätere Leben          mit Präsenzpflicht an Samstagen das
      schule, aber bei einer Klassengröße        mitnehmen kann und die hilfreich          Ausschlusskriterium für mich als
      von 15 Schülern konnte man seine           sind.                                     Profifussballer. Mittlerweile haben
      Möglichkeiten natürlich intensiver                                                   viele Hochschulen übrigens auf
      ausschöpfen. Ich war schon vorher          Maske: Stimmt. Und es gibt noch ei-       Leistungssportler zugeschnittene
      ein guter Schüler und wurde dann           nen weiteren Aspekt beim Sport, der       Studiengänge. Ende 2013 habe ich
      eher nebenbei zu einem sehr guten          mit Bildung zu tun hat: Beim Sport        dann eine Sportmarketingagentur
      Schüler.                                   gibt es Regeln. Wenn ich erfolgreich      mitgegründet und bin seitdem im
                                                 sein will, aber die Regeln vernach-       Berufsleben. Ehrlich gesagt, bin ich
                                                 lässige, dann habe ich keine Chance.      Autodidakt.
14                                                                                             B i l d u ng s m a che r

     » Ohne Qualifizierung                                                                                                    Metzelder: Du hast vollkommen
                                                                                                                              Recht. Spaß am Lernen ist für mich
                                                                                                                              ein zentraler Aspekt, den ich ja auch
         geht’s nicht. «                                                                                                      mit meiner Stiftung fördern möchte.
                                                                                                                              Wenn ich in die Schule komme und
                                                                                                                              den Stoff nicht verstehe, hinterher-
                                                  Henry Maske                                                                 hänge, wenn ich meine Hausauf-
                                                                                                                              gaben nicht richtig hinbekommen
                                                                                                                              habe, gehe ich nicht gerne zur
                                                                                                                              Schule. In unseren Projekten betreu-
                                                                                                                              en wir die Kinder in kleinen Gruppen
                                                                                                                              entsprechend ihrer jeweiligen Lern-
                                                                                                                              geschwindigkeit, sodass sie wieder
                                                                                       Maske: Ich bin nach dem Abitur in      auf das erforderliche Niveau kom-
                                                                                       die Nationale Volksarmee der DDR       men. Und ganz wichtig: Sie können
                                                                                       gegangen und habe Sport studiert,      mit einer ganz anderen Haltung und
                                                                                       um einmal Trainer zu werden. Dann      mehr Selbstbewusstsein wieder in die
                                                                                       kam die Wende und ich habe mich        Schule gehen.
                                                                                       für das professionelle Boxen ent-
                                                                                       schieden. Das bedeutete natürlich      Maske: Bei uns läuft es etwas anders
                                                                                       Exmatrikulation. Ich habe meine        als bei dir, Christoph, aber das Ziel
                                                                                       Entscheidung aber nie bereut. Nach     ist dasselbe: den Abgehängten den
                                                                                       dem Ende meiner Boxkarriere habe       Anschluss ermöglichen. Wir bieten
Der Boxer                                                                              ich mich vor 17 Jahren letztlich für   Kindern und Jugendlichen, die sonst
                                                                                       das Franchising in der Systemgastro-   keinen Urlaub machen können,
Henry Maske, Jahrgang 1964, prägte den                                                 nomie entschieden.                     eine Woche Ferienfreizeit, jedes Jahr
Boxsport nachhaltig. Zunächst als Amateur                                                                                     sind das etwa 850 Kinder. Im Camp
und nach der Wende als Profi gewann er bis zu                                                                                 erleben sie, dass Erwachsene und
seinem ersten Rücktritt 1996 zahlreiche natio-                                         Brauchten Sie dafür eine Ausbildung?   Gleichaltrige sie respektieren, dass
nale und internationale Wettkämpfe. 2007 siegte                                                                               sie dazugehören.
Maske in einem spektakulären Comeback-                                                 Maske: Ohne Qualifizierung geht‘s
Kampf, nach dem er dann endgültig seine                                                nicht. Ich habe an internen Fortbil-
Karriere beendete. 1999 begann er seine eigene                                         dungen teilgenommen mit BWL,           Und was kann man alles in einer
Stiftungsarbeit. Das Ziel: sozial benachteiligten                                      Arbeitsrecht, Mitarbeiterführung –     Woche bewirken?
Jugendlichen helfen, ihre Talente zu entdecken                                         ich bin immerhin für 350 Mitarbei-
und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Beruflich                                        ter verantwortlich. Da habe ich eine   Maske: In dieser einen Woche
leitet Maske zehn McDonald‘s-Filialen.                                                 Menge gelernt.                         von Samstag bis Samstag passiert
                                                                                                                              fantastisch viel. Es sind bis zu 150
www.henry-maske-stiftung.de                                                                                                   Kinder pro Gruppe und am Anfang
                                                                                       Man lernt also in Schule und           stehen natürlich immer einige
                                                                                       Sport fürs Leben?                      abseits. Aber spätestens ab Mitte der
                                                                                                                              Woche sind alle integriert. Es gibt
                                                                                       Maske: Ach Gott! Lernen fürs Leben.    täglich viele Angebote wie Sport,
                                                                                       Davon hat ein Kind doch gar keine      Musik oder Computer kennenler-
                                                                                       Vorstellung. Kinder sollen die Kind-   nen. Davon müssen die Kinder eines
                                                                                       heit genießen. Dafür gibt es heute     mitmachen, können sich aber sonst
                                                                                       immer weniger Zeit, das habe ich bei   frei bewegen. Es gibt ein bisschen
                                                                                       meinen eigenen Kindern gesehen.        Grün, einen See und großartige
                                                                                       Die hatten ja permanent was zu er-
                                                      FOTO: PHILIPIMAGE/SHUTTERSTOCK

                                                                                       ledigen. Und nicht jedem Kind fliegt
                                                                                       alles zu. Wo bleibt da die Freude?
15

                                         Was wollen Sie den Kindern mitgeben,
                                         was sollen sie gelernt haben?

                                         Maske: Dass sie für sich selbst
                                         verantwortlich sind, und dass sie ihr
                                         Leben aus eigener Kraft meistern
                                         können.

                                         Metzelder: Jeder Mensch kann etwas
                                         besonders gut. Und jeder hat eine
                                         Chance verdient.

                                         Nachdem wir über die verschiedenen
                                         Aspekte von Bildung gesprochen
Betreuer. Wenn einem am Ende             haben: Was ist für Sie der Kern von
der Woche eine Jugendliche sagt:         Bildung?
„Henry, das war die schönste Woche
meines Lebens“, dann berührt einen       Metzelder: Bildung ist der wichtigste
das sehr.                                Rohstoff, den wir in unserem Land
                                         haben. Das sind die Köpfe unserer
Ist Ihr Stiftungszweck also nach wie     Kinder, der Ingenieure, der Erfinder,
vor richtig?                             der Unternehmensgründer. Das
                                         macht die Stärke dieses Landes aus.                         Der Fußballer
Metzelder: Absolut. Bildung, Ausbil-     Wir gehen damit häufig sehr fahr-
dung, Integration, Bekämpfung von        lässig um und verlieren so sehr viele                       Christoph Metzelder, Jahrgang 1980, erlebte als
Kinderarmut – das sind zentrale Zu-      junge Menschen. Das ist eine große                          Fußballer einen ersten sportlichen Höhepunkt, als
kunftsthemen unseres Landes. Und         Ungerechtigkeit, weil diese Men-                            er in der Saison 2001/02 mit Borussia Dortmund
da kommen wir nicht wirklich voran.      schen nicht an dieser Gesellschaft                          Deutscher Meister wurde. Ab 2001 spielte er
Selbst wenn es Statistiken geben         teilhaben können. Das zu verändern,                         auch in der Nationalmannschaft. 2006 gründete
mag, die besagen, dass Kinderarmut       ist zwar ein langer Prozess. Das darf                       Metzelder seine Stiftung. Sein Ziel: sozial benach-
nicht ansteigt; neben der Tatsache,      uns aber nicht davon abhalten, uns                          teiligten Kindern helfen, ihre Schulabschlüsse
dass diese Zahl nicht signifikant zu-    trotzdem zu engagieren.                                     und den Einstieg ins Berufsleben zu bewältigen.
rückgeht, sprechen wir in absoluten                                                                  Er engagiert sich außerdem als Jugendtrainer und
Zahlen von zu vielen jungen Men-         Maske: Völlig richtig. Aus meiner                           Vorsitzender in seinem Heimatverein TuS Haltern.
schen, die abgehängt sind. Sie sind      Sicht kommt aber davor das Mensch-                          Beruflich ist Metzelder Mitgesellschafter und
nicht mehr in unserer Gesellschaft       liche, das Soziale, denn das lernt                          Geschäftsführer der Sportmarketingagentur Jung
integriert und haben nicht densel-       man als Allererstes im Leben. Die so-                       von Matt/sports.
ben Zugang zu Bildung. Deswegen          ziale Grundlage muss sein, dass man
engagiere ich mich mit voller Über-      auch beim anderen die Stärken sieht                         www.metzelder-stiftung.de
zeugung und auch Leidenschaft in         und ihm Erfolgserlebnisse gönnt.
diesen Themenfeldern.                    Und dazu gehört soziale Kompetenz.
                                         Das müssen wir den Kindern auch
Maske: Wenn ich das Gefühl habe,         mitgeben.
es wird schwierig, etwa bei der Suche
nach Mitstreitern für die Finanzierung
oder bei der Organisation, dann fahre
ich ins Camp und dann weiß ich: Das
ist die Mühe auf jeden Fall wert.                                       Angela Lindner ist freie Journalistin mit
                                                                        den Schwerpunkten Bildung, Wissenschaft
                                                                        und Stiftungswesen.
16                                                                           K i no ku l t u r

                                    FILMREIF!
                                           Großes Kin0: Bildungschancen auf der Leinwand.

                                                      Text: STEFAN KEIM Illustrationen: SERGIO INGRAVALLE

                                                                                                                 Moonlight
                                                                                                     „Moonlight“ erzählt in drei Kapiteln von
                                                                                                   einem jungen Mann, dessen Mutter drogen-
                                                                                                 süchtig ist. Im ersten Teil ist Chiron neun Jahre
                                                                                                   alt und findet im Dealer Juan, einem Krimi-
                                                                                                   nellen mit moralischen Grundsätzen, einen
                                                                                                 Ersatzvater. Sieben Jahre später geht Chiron auf
                                                                                                   die High School. Als er sich in seinen besten
                                                                                                 Freund verliebt, wird er vom Klassen-Alphatier
                                                                                                   gedemütigt, schlägt zurück und kommt ins
                                                                                                  Gefängnis. Im dritten Teil kehrt er zu seinem
                                                                                                 Freund von einst zurück. Ein enorm emotionaler
                                                                                                 Film. Der Weg in die bürgerliche Gesellschaft ist
                                                                                                       für jemanden, der von unten kommt,
                                                                                                               ein ständiger Kampf.

                                                                                                               USA 2016, Regie: Barry Jenkins,
                                                                                                     mit Ashton Sanders, Alex R. Hibbert, Trevante Rhodes

                   Good Will Hunting
   Prügeln, Bier, Baseball – das ist das Leben von Will Hunting.
Er putzt im Massachusetts Institute of Technology, dem berühmten
 MIT, und löst mühelos die Matheaufgaben, die dort an der Tafel
stehen. „Good Will Hunting“ ist ein konventionell gedrehter Film.
 Er lebt von den großartigen Schauspielern Matt Damon und Ben
 Affleck, die auch das Drehbuch geschrieben haben. Grandios ist
 Robin Williams als Psychotherapeut. Einer, der nicht lockerlässt,
  seine eigenen Verletzungen zeigt und ehrlich ist. So gewinnt er
Wills Vertrauen. Ein Gutfühlfilm, aber es bleibt Skepsis. Denn ohne
 diesen Therapeuten hätte Will niemals eine Chance bekommen.

      USA 1997, Regie: Gus van Sant, mit Matt Damon, Ben Affleck, Robin Williams
17

            Fack ju Göhte
 Der Bankräuber Zeki schleicht sich als Lehrer
  in eine Hauptschule ein, weil unter der Turn-
   halle seine Beute vergraben liegt. Nun steht
Zeki vor völlig undisziplinierten Chaoten – und
findet genau den richtigen Ton. Die Verlorenen
 und Abgehängten entwickeln Solidarität, Mut
    und Stolz. Als Zeki zugibt, dass er gar kein
      Lehrer ist, sagt die Schulleiterin: „Wir
  Lehrer werden den ganzen Tag verarscht. Ab
                                                                                           My Fair Lady
 und zu müssen wir ein bisschen zurückverar-
   schen.“ Im Gegensatz zu den vielen Pauker-                       Nicht die Herkunft macht den Menschen aus, die Sprache
   Komödien früherer Jahrzehnte hat „Fack ju                    ist es. Daran glaubt Professor Higgins. Er will aus dem Blumen-
 Göhte“ Bodenhaftung und einen klaren Blick                      mädchen Eliza eine Dame der Gesellschaft machen. In hinrei-
     auf Missstände im Bildungswesen. Diese                     ßenden Musical-Nummern wird Eliza dressiert und schließlich
      Komödie entwickelt sogar eine Utopie.                         auf einem Ball vorgeführt. Alles läuft super. Doch als Eliza
                                                                feststellt, dass sie Objekt einer Wette war, rennt sie weg. Sie will
          Deutschland 2013, Regie: Bora Dagtekin,               zurück zu ihren Freunden, aber sie spricht und sieht nicht mehr
     mit Elyas M‘Barek, Karoline Herfurth, Katja Riemann         aus wie sie. Eliza ist in ihrer alten Heimat eine Fremde gewor-
                                                                  den. Für ein Musical hat „My Fair Lady“ viele kritische Unter­
                                                                  töne. Lehrer, die ihre Schüler nur zum Lernerfolg führen und
                                                                       dann fallen lassen, haben ihre Aufgabe nicht erfüllt.

                                                                 USA 1964, Regie: George Cukor, mit Audrey Hepburn, Rex Harrison, Stanley Holloway

                                                                             Weitere Filme zum Thema
                                                                             Der Wolfsjunge                       Das Mädchen, das
                                                                             Frankreich 1970, Regie: François     durch die Zeit sprang
                                                                             Truffaut, mit Jean-Pierre Cargol,    Japan 2006, Regie: Mamoru
                                                                             François Truffaut, Françoise         Hosoda (Animationsfilm)
                                                                             Segnier
                                                                                                                  Der Club der toten
                                                                             The Breakfast Club                   Dichter
                                                                             USA 1985, Regie: John Hughes,        USA 1989, Regie: Peter Weir,
                                                                             mit Judd Nelson, Molly Ringwald,     mit Robin Williams, Robert Sean
                                                                             Ally Sheedy                          Leonard, Ethan Hawke

                                                                             Die Klasse
                                                                             Frankreich 2008, Regie: Laurent
         Stefan Keim ist Autor, Moderator, Kabarettist                       Cantet, mit François Bégaudeau,
         und Kinoenthusiast. Als Kulturjournalist arbeitet er                Nassim Amrabt, Laura Baquela
         unter anderem für den WDR-Hörfunk.
18   B i l d u ng s ka r r i e r e
19

               Bravemaster
              hat einen Traum
                                                 Muhammad Al Zeens Traum liegt nur eine halbe Stunde
                                                 mit der U-Bahn entfernt. Drei mal die Woche fährt der
                                                 27-Jährige von seiner Wohnung in Berlin-Friedenau nach
                                                 Zehlendorf, steigt an der Rudolf-Steiner-Schule aus und
                                                 tut dann endlich das, wovon er seit vielen Jahren träumt:
Als Muhammad Al Zeen aus Syrien                  Englisch unterrichten. Al Zeens Schüler besuchen eine
                                                 Willkommensklasse für Geflüchtete. Der Unterricht hier
   fliehen musste, stand er kurz                 ist für sie nur die Vorbereitung auf eine reguläre Schul-
   vor seinem Berufseinstieg als                 klasse. Und auch Al Zeen läuft sich mit diesem Nebenjob
                                                 nur für die Zukunft warm. Er will ein richtiger Englisch-
 Englischlehrer. Um dasselbe in                  lehrer werden, an einem deutschen Gymnasium. Doch bis
                                                 dahin wird es noch Jahre dauern. Al Zeens echter Traum
Deutschland zu erreichen, wird er                ist viel weiter als nur eine Fahrt mit der U-Bahn entfernt.
        noch Jahre brauchen.                     Muhammad Al Zeen ist ein zierlicher junger Mann. Er hat
                                                 rabenschwarze Haare und dunkelbraune Augen. In den
     Text: SIRI WARRLICH Fotos: SASCHA KREKLAU   vielen Gruppen-Selfies mit Freunden, die Al Zeen auf Fa-
                                                 cebook gepostet hat, steht er oft in der zweiten Reihe. Bald
                                                 ist es fünf Jahre her, dass der Syrer aus seiner Heimatstadt
                                                 Damaskus geflohen ist. Im Herbst 2012 hatte er sein Stu-
                                                 dium der englischen Literatur fast beendet. Al Zeen hatte
                                                 gegen das Regime demonstriert und wäre beinahe festge-
                                                 nommen worden. Zusammen mit seinem Bruder flüchtet
                                                 er. Rund zwei Jahre später, Heiligabend 2014, kommen die
                                                 zwei nach Al Zeens Angaben in Deutschland an.

                                                 Flüchtlinge sollen den Fachkräftemangel in Deutschland
                                                 abfedern. Falls sie, wie Al Zeen, schon ein Studium be-
                                                 gonnen haben, sollen sie es in Deutschland am liebsten in
                                                 kurzer Zeit beenden. Diese Forderung hat sich in weiten
                                                 Teilen von Gesellschaft und Wirtschaft längst etabliert.

                                                 Aber wie realistisch ist das?
» Philosophie wäre selbst
                                                     in meiner Muttersprache
                                                     schwierig. Jetzt muss ich
                                                      es auf Deutsch lernen. «

          Im April 2015, vier Monate nach seiner Ankunft in                    In der Praxis aber verlieren Asylbewerber, die studieren
          Deutschland, postet Muhammad Al Zeen einen Emoji mit                 wollen, während ihres Verfahrens oftmals Zeit – zum
          herabhängenden Mundwinkeln auf Facebook. „There is                   Beispiel, wenn sie wegen einer möglichen Wohnsitzaufla-
          no place like home“, schreibt er. Al Zeen hat Heimweh.               ge nicht in die Nähe einer Universität umziehen können.
          Zehn Monate hat es laut Al Zeen gedauert, bis über seinen            Wichtig ist zudem das BAföG: Bis auf wenige Ausnahme-
          Asylantrag entschieden wurde. Keine einfache Zeit für                fälle können Geflüchtete einen BAföG-Antrag erst dann
          den jungen Syrer. Für Geflüchtete, die studieren wollen,             stellen, wenn ihr Asylverfahren entschieden ist. Ohne
          bringen lange Asylverfahren handfeste Probleme mit                   BAföG aber ist es für die meisten unmöglich, während
          sich. Theoretisch ist die Aufnahme eines Studiums zwar               des Studiums ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
          schon während des Verfahrens möglich, da der Zugang zu
          Hochschulen in Deutschland an keinen speziellen Aufent-              „Die Finanzierung ist derzeit eines der größten Hinder-
          haltsstatus gebunden ist.                                            nisse“, sagt Christin Younso. Mit als erste Wissenschaftler
                                                                               haben sie und ihr Kollege Hannes Schammann von der
                                                                               Universität Hildesheim erforscht, wie gut die Integration
                                                                               von Geflüchteten in das Hochschulsystem derzeit klappt.
Neustart als Lehrer                                                            Unter anderem ist Younso auf die „BAföG-Falle“ gesto-
                                                                               ßen, in die mancher Geflüchteter tappt: Wer studiert,
Wer wie Muhammad Al Zeen als Geflüchteter in Deutschland Lehrer werden         bekommt meist keine Sozialhilfe, weil mit dem BAföG
möchte, kann sich zum Beispiel an die Universität Potsdam wenden. Sie          eigentlich ein anderer staatlicher Fördertopf greift. Wenn
­bietet mit dem „Refugee Teachers Program“ Bildungschancen. Eineinhalb         Flüchtlinge dann aber keine Ausbildungsförderung erhal-
Jahre lang werden die Teilnehmer intensiv mit dem deutschen Bildungs-          ten – zum Beispiel, weil sie auf der Flucht Zeit verloren und
system vertraut gemacht. Parallel belegen sie einen Sprachkurs, besuchen       deshalb die BAföG-Altersgrenze von 30 Jahren bei Beginn
Schulen und tauschen sich mit deutschen Studierenden und Lehrkräften aus.      eines Bachelorstudiums überschritten haben –, kann es
                                                                               passieren, dass sie ganz ohne finanzielle Hilfe dastehen.
Die Voraussetzung: Die Geflüchteten müssen in ihrer Heimat einen Hoch-
schulabschluss erworben und bereits als Lehrer unterrichtet haben. Außer-      Im Herbst 2015 hat Muhammad Al Zeen eine Idee, wie
dem muss eine Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Am Ende erhalten die Teil­       er trotz des Asylverfahrens und seiner noch mangelnden
nehmer ein Zertifikat. Das gilt zwar nicht als Berufsabschluss, ist aber die   Deutschkenntnisse schon mit dem Studium in Deutsch-
formale Anerkennung der im Ausland absolvierten Lehrerausbildung.              land starten könnte: Er belegt über das Projekt Kiron
                                                                               Online-Kurse auf Englisch. Die lassen sich an 41 Part-
www.uni-potsdam.de                                                             nerhochschulen auf spätere Studieninhalte anrechnen.
21

                                                                                Doch das erste Semester bringt auch Herausforderungen
                                                                                mit sich: „Philosophie wäre selbst in meiner Mutterspra-
                                                                                che schwierig. Jetzt muss ich es auf Deutsch lernen.“ Par-
                                                                                allel dazu büffelt Al Zeen weiter Deutsch. Denn bislang ist
                                                                                er nur für ein Semester an der FU eingeschrieben. Für die
                                                                                endgültige Immatrikulation muss er noch eine schwieri-
                                            Vier Jahre noch bis                 gere Deutschprüfung – die sogenannte DSH-Prüfung oder
                                            zur Erfüllung seines                eine Prüfung auf dem Level C1 – bestehen.
                                            Traums: Muhammad Al
                                            Zeen will Englischlehrer            Mindestens noch vier Jahre wird es dauern, schätzt Al
                                            werden.                             Zeen, bis er den Abschluss geschafft hat und sein Refe-
                                                                                rendariat als Lehrer beginnen kann. Wäre der Krieg nicht
                                                                                dazwischengekommen, würde Al Zeen heute in Syrien
                                                                                schon längst als Englischlehrer unterrichten. „Bravemas-
                                                                                ter“, auf deutsch etwa „Mutiger Meister“, steht auf einem
                                                                                T-Shirt, das Al Zeen sich vor vielen Jahren einmal in Syrien
                                                                                gekauft hat. Er hat dieses Wort zu seinem Spitznamen auf
Al Zeen lobt die Initiative – am Ende war sie für ihn aber                      Facebook gemacht. Seine Geschichte ist eine Erfolgsge-
nicht das Richtige. Denn bislang bietet Kiron kein Stu-                         schichte. Viele andere Geflüchtete brauchen länger bis
dium für Lehramtsstudenten an. Zeitgleich dazu lernt Al                         zum Uni-Einstieg in Deutschland. Oder es gelingt ihnen
Zeen Deutsch. Im November 2015 kann er einen Platz in                           gar nicht.
einem Intensivkurs für Geflüchtete an der Freien Univer-
sität in Berlin ergattern. Der Kurs ist speziell auf Bewer-                     Trotzdem erscheint Al Zeen der Weg, der jetzt noch vor
ber zugeschnitten, die an die Uni wollen. Vier Tage die                         ihm liegt, manchmal zu lang. „Ich weiß nicht, ob ich in
Woche lernen sie von 9 bis 15 Uhr Deutsch mit dem Ziel,                         ein oder zwei Jahren noch Geduld übrig habe“, sagt er.
Sprachkenntnisse auf Hochschul-Niveau zu erreichen. Als                         Doch seinen großen Traum wird Bravemaster nur errei-
Muhammad sich bewirbt, gibt es mehr als doppelt so viele                        chen, wenn der Mut ihn auch in den kommenden Jahren
Bewerber wie Plätze. Der Intensivkurs, sagt Muhammad,                           nicht verlässt.
„war wirklich super“ und habe ihn ein großes Stück wei-
tergebracht. Wäre Muhammad Al Zeen ein Unternehmer,
im Jahr 2016 hätte er den Wechsel der Geschäftssprache
zu Protokoll gegeben: Von nun an spielt sich sein Alltag
auf Deutsch ab. Er spricht jetzt fließend, auch am Telefon,
und macht kaum noch Fehler.

Im Herbstsemester 2016 – knapp zwei Jahre nach seiner
Ankunft in Deutschland – kann Al Zeen sich für Englisch
und Ethik auf Lehramt an der FU einschreiben. Sein erstes
Semester an einer deutschen Uni beginnt. Montags und
mittwochs hat Al Zeen die meisten Vorlesungen. Er belegt
vor allem Veranstaltungen in Pädagogik und Ethik, denn
in Englisch wird ihm ein Großteil seines Studiums aus
Syrien angerechnet.

          Siri Warrlich arbeitet als Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung
          und den Stuttgarter Nachrichten. 2014 erhielt sie für ihre geplante
          sechsteilige Reportagereihe „Ein MOOC für Mohammed“ den
          Medienpreis Bildungsjournalismus der Telekom-Stiftung in der
          Kategorie Nachwuchs.
4.0
22                                               B i l d u ng s p r a x i s

                 Bereit fürs
                 Berufsleben

                                 Hauptschüler haben bei der Suche
                             nach einem Ausbildungsplatz oft Nachteile.
                               Projekte wie die GestaltBar sollen sie fit
                                machen für eine digitale Arbeitswelt.
                                        Text: THILO KÖTTERS Fotos: JULIA UNKEL

Zukunft ist gestaltbar: Zwischen        Ein bisschen ist es wie puzzeln am       Heften arbeiten die Jugendlichen mit
Computern, 3-D-Druckern und             Computerbildschirm. Die Achtkläss-       Maus und Tastatur. Willkommen
selbst gebauten Robotern ver-           lerinnen Sirin und Shekinah klicken      in der GestaltBar – der digitalen
bessern Schüler wie Shekinah            und ziehen Textbausteine von rechts      Werkstatt für Hauptschüler. Die
(Foto oben) oder Wiktor (oben           nach links, von oben nach unten und      Bonner Karl-Simrock-Hauptschule
rechts) ihre Berufschancen.             wieder zurück. Heraus kommt ein          beteiligt sich seit einigen Monaten
                                        Programmiercode, und der soll spä-       an dem Projekt, das die Deutsche
                                        ter, überspielt auf einen Chip, einem    Telekom Stiftung ins Leben gerufen
                                        Roboter das Fahren beibringen.           hat. Hauptschüler als Nachwuchs-
                                                                                 Programmierer? Das ist hier selbst-
                                        Es ist ein besonderes Schulprojekt,      verständlich. Schließlich sollen
                                        an dem die beiden Mädchen und            die Mädchen und Jungen lernen,
                                        zehn ihrer Mitschüler Woche für          kompetent und kreativ mit digitalen
                                        Woche teilnehmen. Statt im Klassen-      Werkzeugen zu arbeiten. Und das
                                        zimmer sitzen sie in einem Jugend-
                                        haus, statt mit Schulbüchern und
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sind hier eben Computer, Tablet,        Die Schüler müssen sich pünktlich an
Smartphone und 3-D-Drucker. „Das        der Haltestelle einfinden und für die
macht mir viel Spaß. Und wir lernen     Fahrt sogar ihre Mittagspause opfern.
eine Menge“, sagt Shekinah, die zwar    Teamfähigkeit und Disziplin – zwei
wie ihre Mitschüler souverän mit den    Eigenschaften, die künftige Chefs zu
Apps auf ihrem Handy umgeht, aber       schätzen wissen. Anstelle des Lehrers
erst in der GestaltBar etwas über die   hat in der GestaltBar ein Medienpäda-
technischen Zusammenhänge lernt.        goge das Sagen. Alexander Hunden-
Neben dem Tüfteln an den Robotern       born von der Kölner Fachstelle für
programmieren die Schüler einfache      Jugendmedienkultur (fjmk) leitet
Computerspiele oder bauen Modell-       den Kurs. Komplexere technische
autos mit verschiedenen Antrieben.      Zusammenhänge macht er anschau-

Das ist mehr als ein netter Zeitver-
                                        lich: „Wenn wir beispielsweise von
                                        Sensoren reden, dann vergleiche ich
                                                                                 » Die Schüler müssen
treib. Die GestaltBar soll die Ju-
gendlichen besser auf ihr späteres
                                        das ganz gerne mit Sinnesorganen
                                        wie Augen, Haut und Mund.“
                                                                                    sich im Kurs neu
Berufsleben vorbereiten. Wenn die                                                 zusammenfinden. «
Welt immer digitaler wird, steigen      Die GestaltBar gibt es außer am
die Anforderungen für Berufsanfän-      Standort Bonn auch in Köln und
ger. „Eine Wirtschaft 4.0 braucht       Berlin, Hamburg soll bald hinzu-         weiterführenden Schulen Pflicht. Die
auch eine Bildung 4.0.“, sagt           kommen. Ähnliche Angebote rund           Schülerinnen und Schüler absolvie-
Friedrich Hubert Esser, Präsident des   um Computer und Technik sind in          ren schriftliche Tests und praktische
Bundesinstituts für Berufsbildung.      der deutschen Bildungslandschaft bis-    Übungen in Teamarbeit und kommen
Das Lehren und Lernen mit digitalen     lang rar. Und wenn es sie gibt, dann     so ihren Begabungen und Interes-
Medien müsse an den Schulen noch        richten sie sich eher an Gymnasiasten.   sen auf die Spur. Die Schulen sollen
fester verankert sein.                  Das gilt zum Beispiel für FabLabs,       diese dann fördern – in Bereichen
                                        offene Technik-Werkstätten, die          wie Informatik und Technik kommen
Digitalkompetenz ist aber nicht das     häufig an Universitäten angegliedert     Angebote im Stil der GestaltBar wie
Einzige, was die Teilnehmer in der      sind. Hauptschüler haben zu diesem       gerufen.
GestaltBar erwerben. Auch ihre Soft-    Umfeld nur selten einen Bezug.
Skills verbessern sich. Zum Beispiel                                             Das sieht man vielen Schülern an. Die
die Teamfähigkeit: „Die Schüler         Und ihren Schulen fehlen oft schlicht    Arbeit mit Computern und Robotern
sind aus verschiedenen Klassen der      die Mittel, um interessante und          ist genau ihr Ding. Siebtklässler Wik-
Jahrgänge 7 und 8 zusammengewür-        nachhaltige Kurse anzubieten. Viele      tor gibt in Bonn seinen Roboter Wo-
felt und müssen sich im Kurs neu        Hauptschulen haben kaum Eigen-           che für Woche nur ungern an seinen
zusammenfinden“, sagt Lehrer Erik       finanzen, um sich für diese Art von      Projektleiter zurück. „Später möchte
Lindener-Schmitz. Außerdem geht es      Angeboten externe Partner an die         ich so was auch als Beruf machen“,
mit dem Bus zum Veranstaltungsort.      Seite zu holen. Der Lehrerschaft         sagt er und lächelt.
                                        wiederum fehlen Zeit oder Wissen,
                                        um die Lücken zu füllen.

                                        Dabei verlangt die Bildungspolitik
                                        immer nachdrücklicher, Schüler
                                        mit der digitalen Welt vertraut zu
                                        machen. Mit dem Landesprogramm
                                        „Kein Abschluss ohne Anschluss“ in
                                        Nordrhein-Westfalen ist die Be-
                                        rufsorientierung beispielsweise ab
                                        dem kommenden Schuljahr für alle
                                                                                           Mehr Informationen zur GestaltBar:
                                                                                           www.telekom-stiftung.de/gestaltbar
24   Es s a y
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                  Surfen und lernen
   Das Internet ist ein Bildungsort – dem aber noch die nötige
  Aufmerksamkeit fehlt. Zeit umzudenken! Ein Gastbeitrag des
Schweizer Lehrers und Kulturwissenschaftlers Philippe Wampfler.
                                                 lllustration: ANNE VAGT

„Wasting Time on the Internet“: Unter diesem Titel hielt      aus einer Mischung aus Plattformen, Werkzeugen und
der amerikanische Dichter Kenneth Goldsmith ein Se-           sozialen Beziehungen. Geben physische Unterrichtsräume
minar an der Universität von Pennsylvania. Wie können         häufig bestimmte Lernformen vor – die Wandtafel im Klas-
Studierende lernen, wenn sie lediglich surfen? Gold-          senzimmer etwa lädt zum Frontalunterricht ein –, so passt
smiths Antwort: Erstens seien sie in einem kreativen          sich der digitale Bildungsort der Lernaktivität an. Diesem
Raum ständig sozial verbunden. Historisch gesehen, sei        Vorteil steht soziale Unverbindlichkeit als Nachteil gegen-
das für die Produktion von Kunst und Wissenschaft ein         über: Schulklassen schaffen Gemeinschaften, in denen das
ideales Setting. Zweitens läsen sie ständig verschiedene      Lernen der Individuen verankert ist. Bei Lernaktivitäten im
Texte, sie interagierten mit kulturellen Artefakten. Wenn     Netz verändern sich Beziehungen ständig, es sind „weak
behauptet werde, im Netz vereinsamten und verdummten          ties“, also lose Beziehungen, die sich schnell auflösen.
Menschen, dann erstaune ihn das: Nach seiner Erfahrung
sei das Gegenteil der Fall.                                   Das freie digitale Lernen ist noch ein Ideal. Viele soziale
                                                              Netzwerke basieren auf bereits aufgebauten Beziehungen,
Diese Einsicht lohnt eine vertiefende Betrachtung. Sie        die nicht themen- und lernfokussiert sind. So entstehen
muss von dem ausgehen, was informelles Lernen im              die anstrengenden Diskussionen und Auseinandersetzun-
21. Jahrhundert bedeutet. So lässt sich zeigen, dass das      gen, die Menschen die Lust am digitalen Austausch und
interaktive Netz mit seinen Suchmaschinen und sozialen        Lernen verderben. Kurz: Das Netz ist zwar Bildungsort,
Netzwerken einen Lernort darstellt, einen Bildungsort.        muss als solcher aber gepflegt werden. Nur viele aktive
Informelles Lernen geht von eigenen Impulsen aus:             Lernende können eine Kultur schaffen, die sozialen Rück-
Menschen lernen nicht, weil sie dazu                                          halt mit individuellen Lernwegen verbindet.
aufgefordert werden oder Anreizen eines
Bildungssystems begegnen, sondern weil                                                    Viele Schulen und Lernende verpassen die
sie sich von den Ergebnissen ihres Lernens                                                Chance, die individuelle Passung des Netz-
etwas versprechen: Können sie sich im Ur-                                                 lernens zu nutzen. Sie ist mit drei konkreten
laub auf Spanisch mit jemandem unterhal-                                                  Vorteilen verbunden: Erstens entwickeln
ten? Ist der Kuchen lecker geworden?                                                      sich beim Netzlernen automatisch soziale
                                                                           FOTO: PRIVAT

                                                                                          Lernnetzwerke, indem ein Austausch mit
Der mobile Zugang zu Informationen                                                        anderen Lernenden und Fachleuten stattfin-
und Wissensnetzwerken in den sozialen                                                     det. Zweitens sind so differenziertere und
Medien hat zu mobilen Lernorten geführt.                                                  aktuellere Informationen zugänglich, als
Lernumgebungen passen sich den Bedürf-         Philippe Wampfler                          das in schulischen Lernumgebungen mög-
nissen von Lernenden an, deren Rollen sich     lehrt an der Universität                   lich ist. Und drittens werden relevante digi-
ständig ändern. Wer lehrt oder lernt, wer      Zürich, unterrichtet                       tale Kompetenzen nicht vermittelt, sondern
fragt oder antwortet – das kann sich von       an der Kantonsschule                       direkt und konkret erworben. Deshalb ist es
Situation zu Situation ändern. Wenn nun        Wettingen und berät                        wichtig, dass Schulen für den Bildungsort
das Netz zum Lernort wird, besteht dieser      landesweit Lehrper-                        Netz den Raum schaffen.
                                               sonal zum Lernen mit
                                               Neuen Medien.
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            Ringen um den
            richtigen Weg
                                                          Text: FENJA MENS

Beim Thema Schule sind viele
 Eltern verunsichert über ihre                                     Noch fruchtet die Erziehung der Eltern, die Zehnjährige
eigene Rolle. Sollen sie streng                                    zeigt sich aus Angst einsichtig. Aber Strenge ist kein
                                                                   Garant für gute Leistungen. Im Gegenteil: Sie kann sogar
 über die Lernfortschritte des                                     zu Schulversagen führen. Das haben Wissenschaftler der
                                                                   Universität Pittsburgh in einer kürzlich veröffentlichten
Nachwuchses wachen oder es                                         Langzeitstudie herausgefunden, für die sie mehr als 1.000
einfach laufen lassen? Und wie                                     Schüler über Jahre begleiteten. Die Entwicklungspsycho-
                                                                   logen stellten fest, dass Kinder, die in der siebten Klasse
      viel Hilfe darf sein?                                        streng erzogen worden waren, zwei Jahre später stärker
                                                                   die Bestätigung von Gleichaltrigen suchten. Darüber
                                                                   wurden die Jungen eher kriminell und die Mädchen früher
                                                                   sexuell aktiv – und beide vernachlässigten die Schule.

     Beim Eltern-Stammtisch gibt sich das Ehepaar relaxt: Der      Für Petra Buchwald, Professorin für Bildungsforschung
     Vater trägt kurze Hosen, die Mutter prostet fröhlich in die   an der Universität Wuppertal, liegen die Gründe auf der
     Runde. Und wenn die beiden einen ihrer trockenen Sprü-        Hand: „Grundsätzlich suchen Menschen nach positiven
     che machen, dann lacht der ganze Tisch. Ihre Tochter Pia      Interaktionen mit anderen und ziehen daraus Konsequen-
     kennt die beiden aber auch ganz anders, wie sie Schul-        zen für ihr weiteres Verhalten“, erläutert sie. „Wenn ich
     freundinnen einige Tage später unter Tränen erzählt. Sie      als Junge am meisten Bestärkung durch meine männli-
     hat eine Fünf geschrieben, nun werden die Eltern wütend       chen Freunde bekomme, werde ich mich zu ihnen mehr
     sein, das sei sicher. Und eine Strafe wird es geben, ganz     hingezogen fühlen als zu meinen Eltern. Bei Mädchen ist
     bestimmt. Für die nächste Arbeit, beteuert die Gymnasi-       es ähnlich, aber eher in Bezug auf Aussehen, Selbstprä-
     astin, werde sie mehr lernen.                                 sentation und Sexualverhalten.“
» Eine schlechte Note
                              bedeutet nicht das Ende
                                     der Welt. «

                                Elke Wild forscht seit mehr als 20 Jahren zum Thema              gaben? Was ist mit den Vokabeln?“ Das führte zu Streit.
                                „Elternhaus und Motivation“. In der Beratungsstelle der          Mittlerweile hat die Familie einen anderen Weg gefunden:
                                Universität Bielefeld trifft die Professorin für pädagogische    „Jetzt bieten wir ihr an, dass sie sich melden kann, wenn
                                Psychologie regelmäßig auf Eltern, die wissen wollen, wie        sie Hausaufgaben macht.“ Und weil es manchmal schwer-
                                sie ihre Kinder am besten unterstützen. „Da gibt es Eltern,      fällt, bei den vielen Fächern und Aufgaben den Überblick
                                die starke Kontrolle ausüben, indem sie ständig Hausauf-         zu behalten, gibt es nun einen festen Abendtermin in der
                                gaben überwachen“, erzählt sie. „Die meinen es gut, aber         Woche. „Da gucken wir gemeinsam, was in der Schule
                                es kann sein, dass ihre Kinder die Lust am Lernen verlie-        ansteht“, erzählt Wolfermann und fügt hinzu: „Wir zeigen
                                ren.“ Andere Eltern griffen dem Nachwuchs zu sehr unter          unserer Tochter, dass wir da sind und sie bei Bedarf unter-
                                die Arme. Denn wenn Papa die Rechenaufgaben erledigt             stützen. Aber wir machen keinen Stress.“
                                und Mama die PowerPoint-Präsentation gestaltet, dann
                                „schadet das dem Kompetenzerwerb des Kindes“. Sich gar           Nicht kontrollieren, sondern begleiten, das hält auch Psy-
                                nicht zu kümmern, sei indes auch keine Option.                   chologin Wild für die richtige Lösung. Und falls es in der
                                                                                                 Schule mal nicht gut laufe, seien Optimismus und Motiva-
                                Aber wie soll man sich als Eltern verhalten? Das fragte          tion angebracht: „Die Eltern sollten dem Kind klarmachen,
                                sich auch Iris Wolfermann. Die Kinderbuchillustratorin           dass eine schlechte Note nicht das Ende der Welt bedeutet,
                                lebt mit ihrer Familie in Berlin. Ihre Älteste absolvierte die   und es an seine früheren Erfolge erinnern.“ Außerdem
                                Grundschule ohne Mühen, übersprang sogar eine Klasse.            empfiehlt sie, nachzufragen: „Die Zensur ist nicht so
                                Inzwischen ist die Elfjährige auf dem Gymnasium. Das             ausgefallen, wie du dir das erhofft hast. Was sagt dir das?“
FOTO: WESTEND61/GETTYIMAGES

                                Niveau ist hoch, wer mithalten will, muss sich anstrengen.       Dann, so Wild, „fangen viele Kinder von ganz alleine an, zu
                                „Nervös waren aber nur mein Mann und ich“, erinnert sich         überlegen, was sie künftig besser machen können“.
                                Wolfermann. „Kaum war unsere Tochter zu Hause, haben
                                wir sie befragt: Wie war es in der Schule? Gibt es Hausauf-
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   Neue
 Chancen
    für
  Talente                                                                                                             NEUES
                                                                                                                   ENTDECKEN
          Text: CHRISTOPH HENN                                                                                   in Rheinland-Pfalz
     Nicht nur schwächere oder                                              SCHNELLER                        Bereits im Elementar- und Primar-
  benachteiligte Schüler brauchen                                             LERNEN                         bereich setzt ein Modellprojekt des
gezielte Förderung – auch besonders                                                                          Landes Rheinland-Pfalz an. Um
 begabte. Bund und Länder wollen
                                                                              in Berlin                      hochbegabte Kinder ab fünf Jahren
    diese Gruppe künftig besser                                                                              zu fördern, wurden an 16 Orten
     unterstützen. Verschiedene                                     Begabten Schülern geht es im re-         Entdeckertagsgrundschulen einge-
   Initiativen stärken heute schon                                  gulären Unterricht oft zu langsam        richtet. Dort treffen sich die Kinder
leistungsfähige Kinder und Jugend-                                  voran. Aus diesem Grund bieten           einmal pro Woche einen ganzen
    liche, damit sie ihr Potenzial                                  sieben Berliner Gymnasien seit dem       Tag lang: Sie befassen sich dann mit
             voll entfalten.                                        Schuljahr 2011/2012 Schnelllerner-       anspruchsvollen Aufgabenstellungen
                                                                    klassen für beschleunigtes, aber auch    und Themen, die über das Angebot
                                                                    vertiefendes und erweiterndes Lernen     an ihren jeweiligen Stammschulen
                                                                    an. Teilnehmen können Schüler ab         hinausgehen. Der Unterricht findet in
                                                                    der fünften Jahrgangsstufe, die zum      der Regel nach Altersgruppen – Fünf-
                                                                    einen sehr gute Grundschulnoten und      bis Siebenjährige und Sieben- bis
                                                                    eine herausragende Förderprognose        Zehnjährige – getrennt statt. Oftmals
                                                                    vorweisen. Zum anderen müssen sie        liegt an den Entdeckertagen der Fokus
                                                                    in einem schulpsychologischen Test       auf dem forschenden Lernen mit
                                                                    ein Ergebnis erzielen, das mindestens    Blick auf die Phänomene der beleb-
                                                                    einem IQ von etwa 120 entspricht.        ten und unbelebten Natur. An allen
                                                                    Die zusätzlichen Angebote für die        Entdeckertagsgrundschulen unter-
                                                                    Schnelllerner orientieren sich an den    stützen außerschulische Experten die
                                                                    Lernbereichen Sprache/Literatur/         Hochbegabtenförderung. Sie führen
                                                                    Kunst/Musik, Gesellschaftswissen-        die Kinder in unterschiedliche neue
                                            FOTO: HERTIE STIFTUNG

                                                                    schaften sowie Mathe/Naturwissen-        Themenwelten ein und motivieren sie
                                                                    schaften/Technik. Die Kurse finden       zu problemlösendem, selbstständi-
                                                                    während der Unterrichtszeit statt,       gem und kreativem Lernen.
                                                                    werden benotet und sind versetzungs-
     Carleen Kluger                                                 relevant. Im Gegensatz zum regulären
                                                                    Unterricht zeichnen sie sich unter an-
       2005 gehörte sie als hochbegabte                             derem dadurch aus, dass die Schüler
  Gymnasiastin zu den ersten Schülern, die ein                      mit mehr Selbstverantwortung an den
                                                                                                                     bit.ly/neues-entdecken
von der Telekom-Stiftung gefördertes Frühstudium                    jeweiligen Projekten arbeiten.
  absolvieren konnten. Heute ist Carleen Kluger
Postdoc am Lehrstuhl für Angewandte Physik und
Center for NanoScience der Ludwig-Maximilians-
            Universität in München.

                                                                              bit.ly/schneller-lern
29

                                                                                GEZIELT
                                                                               BETREUEN
                                                                                in Bayern

                                 SELBSTSTÄNDIG                        Seit Beginn des aktuellen Schul-
                                   VERTIEFEN                          jahres läuft in der Oberpfalz ein
                                                                                                                      FRÜHER
                                                                      Mentorenprogramm für besonders
                                    in Sachsen                        begabte Gymnasiasten. An jedem                 STUDIEREN
                              Einen dezentralen Ansatz verfol-
                                                                      Gymnasium des ostbayerischen
                                                                      Regierungsbezirkes unterstützen
                                                                                                                 in ganz Deutschland
                              gen die Korrespondenzzirkel, die        ausgewählte Lehrer die betreffenden
                              das Sächsische Landeskomitee zur        Schüler als Mentoren. Sie helfen den    Durch das reguläre Unterrichtsan-
                              Förderung mathematisch-naturwis-        Jugendlichen dabei, ihr Leistungspo-    gebot fühlen sich besonders begabte
                              senschaftlich begabter und interes-     tenzial auszuschöpfen, selbststän-      und leistungsbereite Schüler oftmals
                              sierter Schüler (SLK) koordiniert.      dige Lernwege zu entwickeln und         nicht ausgelastet. Dem wirkt das von
                              Teilnehmen können Schüler von der       außerschulische Förderangebote zu       der Deutsche Telekom Stiftung un-
                              Grundschule bis zum Gymnasium.          nutzen. Die Beratung der Mentoren       terstützte Frühstudium entgegen: Es
                              Sie bekommen herausfordernde            zielt sowohl auf Schüler, die außer-    bietet den Teilnehmern – meist Ober-
                              Fragestellungen zur selbstständi-       gewöhnliche Leistungen erbringen,       stufenschüler – intellektuelle Heraus-
                              gen Bearbeitung zugeschickt. Das        als auch auf jene Begabten, die ihr     forderungen und Hilfe bei der Studien-
                              Anforderungsniveau geht dabei           Leistungspotenzial nicht abrufen.       und Berufsorientierung. An mehr
                              deutlich über die Vorgaben des Lehr-    Letzteren bieten die Mentoren etwa      als 50 Hochschulen können Begabte
                              plans hinaus. Nach der Bearbeitung      eine Stärken-Schwächen-Analyse und      zusätzlich zur Schule Vorlesungen
                              korrigieren die Leiter der Zirkel die   bringen ihnen adäquate Lern- und        besuchen, Prüfungen ablegen und
                              Lösungen, versehen sie mit Hinwei-      Arbeitsstrategien nahe. Den beson-      Scheine erwerben, die auf ihr spä-
                              sen und Anmerkungen und senden          ders Leistungsstarken hingegen          teres Studium angerechnet werden.
                              sie zurück. Korrespondenzzirkel gibt    vermitteln die Mentoren Angebote        Dank der finanziellen Unterstützung
                              es unter anderem in Mathematik,         für beschleunigtes sowie vertiefendes   der Stiftung können die Hochschulen
                              Biologie, Chemie und Physik. Zu-        Lernen und informieren sie über spe-    beispielsweise Tutoren beschäftigen,
                              sätzlich zu diesen Zirkeln bietet das   zielle Wettbewerbe oder schnellere      die den Jugendlichen im Uni-Alltag
                              vom Sächsischen Kultusministerium       Wege an die Hochschule.                 zur Seite stehen. Rund 1.700 Schüler
                              berufene SLK begabten und inter-                                                absolvieren derzeit bundesweit ein
                              essierten Schülern unter anderem                                                Frühstudium. Am beliebtesten sind
                              Trainingslager, Mathecamps, Ferien-                                             dabei die MINT-Fächer Mathematik,
                              kurse, Workshops, Wettbewerbe und                                               Informatik, Chemie und Physik.
                              Praktika.
                                                                                   bit.ly/gezielt
ILLUSTRATIONEN: DIANA KÖHNE

                                                                                                                        bit.ly/früh-studieren
                                         bit.ly/selbständig
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