Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.

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Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02
                          2018

Wie Algorithmen unser
Leben bestimmen und was
wir tun können.
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
                                    Dossier: Datenschutz

  #BesserDatenSchützen
Kampagne zu Datenschutz und
      Netzsicherheit
   Anlässlich des Datenskandals bei Facebook im April 2018 hat die Baden-Württemberg Stiftung
 die Kampagne #BesserDatenSchützen ins Leben gerufen. Ihre Ziele: über die Themen Datenschutz,
   Netzsicherheit und Privatsphäre im Internet zu informieren und Menschen zu sensibilisieren.
      Die Stiftung wurde für ihr außergewöhnliches Engagement für den Deutschen Preis für
                                 Onlinekommunikation nominiert.

                                                  »Fake News bei Twitter verbreiten
                                                  sich sechsmal schneller als konkrete
                                                  Nachrichten. Die veränderte Kommu­ni­
                                                  kationsgrammatik kann die Demokratie
                                                  gefährden. Demokratie bedeutet aber
                                                  Diskussion. Deshalb sind Initiativen wie
                                                  das Engagement der Baden-Württemberg
                                                  Stiftung wichtig.«

                                                  Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist und
                                                  WDR-Moderator der Sendung Quarks

                    Lesen Sie Hintergründe, Interviews und Kommentare auf
                                    www.perspektive-bw.de

                                              2                                           Fotos:
                                                                                           Foto WDR/Herby
                                                                                                 Xxxxxxx Xxxxxxxx
                                                                                                            Sachs
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
                                                             Editorial

Bleiben Sie informiert                                              Christoph Dahl,
über all unsere Themen                                              Geschäftsführer
und Programme und                                                Baden-Württemberg
besuchen Sie uns auf                                                        Stiftung
Facebook, YouTube,
Twitter und Instagram.
@bwstiftung
                                        Liebe
                                        Leserinnen
                                        und Leser,
                                        vielleicht haben Sie heute auf Facebook einen Post geschrieben, den Sie dann
                                        doch nicht veröffentlichen wollten. Sie haben also das Geschriebene einfach wie-
                                        der gelöscht und sich ausgeloggt. Alles gut? Denken Sie! Auch wenn am Ende
                                        nichts von Ihren Ideen übrigbleibt – in den Datensätzen von Facebook sind sie
HERAUSGEBERIN
                                        niedergeschrieben.
Baden-Württemberg Stiftung gGmbH
Kriegsbergstraße 42                            Wie Datenfirmen arbeiten, darüber berichtet der ehemalige Chefentwick-
70174 Stuttgart                         ler von Amazon, Andreas Weigend, in einem Interview (S. 14). Dass man sich
Telefon +49 (0) 711 248476-0            digitaler Einflussnahme aber auch widersetzen kann, das beweist eine Bank in
Telefax +49 (0) 711 248476-50           Gammesfeld (S. 20). Und in Freiburg gestalten Schülerinnen und Schüler ihre
info@bwstiftung.de
                                        Schule mit einer Online-Plattform, die Facebook ähnelt.
www.bwstiftung.de
                                               Entscheidend ist also, was der Mensch aus den technologischen Möglich-
VERANTWORTLICH
                                        keiten macht, die er selbst erschaffen hat. Und wie er auf Missstände reagiert.
Christoph Dahl, Geschäftsführer
Baden-Württemberg Stiftung
                                        Die Baden-Württemberg Stiftung hat nach dem Facebook-Skandal sofort reagiert
                                        und all ihre Social-Media-Kanäle genutzt, um über Datenschutz zu informieren
KONZEPTION UND REDAKTION
                                        und aufzuklären. Auch wenn wir seit August wieder über unsere Programme,
Julia Kovar-Mühlhausen,
Nadia Heide, Dr. Philipp Jeandrée,      Projekte und Ausschreibungen auf den Plattformen informieren – dem Daten-
Jan Philipp Schewe, Anette Frisch       schutz werden wir uns auch weiterhin konsequent widmen. Denn es bleiben
TEXT
                                        immer noch viele Fragen unbeantwortet und Facebook hat bisher keine grund-
Jörg Armbruster, Silke Burmester,       legenden Veränderungen umgesetzt. Auch die Politik hat es bis jetzt versäumt,
Anette Frisch, Sepideh Honarbacht,      entscheidende Weichen zu stellen. Das ist unverständlich und zeigt, wie wichtig
Rolf Metzger, Isabel Stettin,           unser Engagement auch weiterhin ist.
Viola Volland, Baden-Württemberg
                                               Mit dieser Ausgabe der Perspektive setzen wir nicht nur unsere Kampagne
Stiftung
                                        #BesserDatenSchützen fort – das Thema wird auch im Mittelpunkt unserer Ver-
GESTALTUNGSKONZEPT UND                  anstaltungsreihe „Perspektiven“ stehen, die wir regelmäßig ausrichten und die
REALISATION
                                        mit hochkarätigen Podiumsteilnehmern besetzt ist.
Benner + Partner GmbH
                                               Dass die Stiftung wichtige Impulse setzt und nachhaltig aktiv ist, macht das
DRUCK
                                        Engagement in den Bereichen Forschung und Bildung sowie Gesellschaft & Kul-
raff media group gmbh, Riederich
                                        tur deutlich. So fördern wir einen „Escape Room“ (S. 56), der die Medienkompetenz
HINWEIS                                 junger Menschen stärken soll; wir stellen Ihnen Forschungsprojekte vor, die es
Bei allen Bezeichnungen, die auf
                                        erfolgreich von der Theorie in die Praxis geschafft haben (S. 49). Und wir erzählen
Personen bezogen sind, meint die
gewählte Formulierung beide             die bewegende Geschichte eines Wissenschaftlers, der nach seiner Flucht aus der
Geschlechter, auch wenn aus Grün-       Türkei Unterschlupf in Baden-Württemberg gefunden hat.
den der leichteren Lesbarkeit nur die          Ich wünsche Ihnen berührende, vor allem aber erhellende Momente beim
männliche Form verwendet wird.          Lesen dieser Ausgabe.
© Oktober 2018

                                        Ihr Christoph Dahl

                                                               3
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
                                                        Inhalt

                  Dossier: Datenschutz

                     6                             9                              12                           14
                20                 28                                               32

6 V
   om Irrsinn des                      14		Wissen ist Macht!                    26		Datenkrake auf Diät
  Jahrtausends                                ndreas Weigend, führender
                                             A                                         Eine pfiffige Software macht den
  	Warum Unternehmerin                     Datenexperte, wünscht sich von             Schutz persönlicher Daten leicht
    Yvonne Hofstetter Google & Co.          Unternehmen mehr Fairness
    nicht vertraut
                                                                                  28	Maschinen mit
                                        17	Ein bisschen                               Köpfchen
9	Das Gefühl,                              Big Brother                                Im Cyber Valley legen Forscher aus
   ein anderer zu sein                     	Es setzt sich genau die Technik           dem Land die Basis für intelligente
    er Cyborg Ralf Neuhäuser
   D                                         durch, die zur Gesellschaft passt,        Technik, wie ein Laborbesuch zeigt
   über die Beziehung zwischen               sagt der Soziologe Armin
   Mensch und Maschine                       Nassehi
                                                                                  32 Mein Ding
                                                                                       An der Freiburger Pestalozzi-
12	Wir brauchen einen                  20	Das Kässle bleibt                          Realschule leben Schülerinnen
    Ausschaltknopf                          im Dorf                                    und Schüler digitale Demokratie
   Technologie soll Grundrechte
  	                                        Eine schwäbische Bankfiliale zeigt,
   wahren, fordert Petra Grimm,             dass es auch ohne Computer und
   Leiterin des Stuttgarter Instituts       Internet geht
   für Digitale Ethik

                                                           4
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
Geschichten aus der Stiftung
                                                                                                               52

   40                                                46
                                                                                   62	Mit dem Stimm­
   56                                                               62                 hammer nach Italien
                                                                                       Wie ein Stipendium Klavierbauerin
                                                                                       Livia Oberem neue berufliche
                                                                                       Chancen ermöglicht hat

                                                                                   64	Klasse Klima
                                                                                       Was brauchen Kinder, um sich
                                                                                       in der Schule wohlzufühlen?
                                                                                       Die Freiburger Soziologin Prof.
                                                                                       Dr. Katja Scharenberg sucht
                                                                                       Antworten

40	Ein Wissenschaftler                 49	Raus aus dem Labor!                    67 Kurz & knapp
     im Exil                                 iele Forschungsprojekte der
                                            V
    F ür seine Flucht aus der Türkei        Baden-Württemberg Stiftung
                                                                                   70 	Was wurde
     hat Professor Ali Tekin einen           schaffen den Sprung in die
                                                                                       eigentlich aus ...?
     hohen Preis bezahlen müssen             Anwendung, wie drei eindrucks­
                                             volle Beispiele belegen

46	Gestalten statt
    abschotten                          52	Aldebaran, ahoi!
     it dem „Zentrum Liberale
    M                                       Junge Erfinderinnen und Erfinder
     Moderne“ sucht Ralf Fücks
     Alternativen zum erstarkenden
     Antiliberalismus
                                             erkunden auf dem Forschungs-
                                             schiff den Bodensee                     70
                                        56	Der Rätselmacher
                                             Philipp Reinartz entwickelt Spiele,
                                             die junge Erwachsene für den Ernst
                                             des Lebens rüsten

                                                          5
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
Das sagt die Unternehmerin

Yvonne Hofstetter gilt als eine der wichtigsten
und stärksten Kritikerinnen des Internets.
Wir haben mit der engagierten Münchnerin
über die Datenschutz-Debatte gesprochen.
Interview _ Anette Frisch

Wie stehen Sie zu Social Media?               haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun.         mieren kann. Sollten wir, die Nutzer, die
Nutzen Sie zum Beispiel Facebook              Folglich schlagen wir uns mit Fake News,          Gesellschaft, diese Mensch-Maschine-Un-
oder Twitter?                                 Trollen und viralen Unwichtigkeiten wie           schärfe soziologisch legitimieren, weil wir
Yvonne Hofstetter: Nein. Die Werbetech-       #dressgate oder #davidafterdentist her-           alle mitmachen, es gut finden oder es uns
nologien amerikanischer Konzerne als          um. Das ist nur konsequent.                       einfach egal ist, können wir die Grund-
„soziale Medien“ zu bezeichnen – da stim-                                                       rechte und die Demokratie begraben.
me ich der Feststellung eines deutschen       In Ihrem Buch „Das Ende der Demokra-              Denn sie basiert auf einem bestimmten
Journalisten zu – ist das größte Täu-         tie“ schreiben Sie, dass Unternehmen              Menschenbild: dass der Mensch ein freier
schungsmanöver seit der Umbenennung           wie Google oder Facebook mit unseren              ist. Ein anderes Wort für Souveränität ist
des US-Kriegsministeriums in Verteidi-        Freiheitsrechten Geschäft machen.                 Menschenwürde. Wer den freien Men-
gungsministerium im Jahr 1947. Was kann       Können Sie Ihre These einmal genauer              schen beerdigt, indem er ihn zur Sache
ich von Werbetechnologien erwarten? Na-       erklären?                                         erklärt, und einen neuen Menschen, die
türlich Werbung. Es wird übertrieben,         Was halten Sie von folgendem Anspruch             „Menschmaschine“, schafft, ist der To-
weggelassen, hinzugedichtet und gelo-         des amerikanischen Technologieunter-              tengräber unserer freiheitlich-demokra-
gen. Die amerikanischen Plattformen des       nehmens x.ai: „Wir wollen unsere Künst-           tischen Gesellschaft. Dazu passt übrigens
Silicon Valley sorgen dafür, dass wir von     liche Intelligenz dafür einsetzen, die            auch die Ideologie von Transhumanismus
Werbung überschüttet werden, damit wir        Menschen umzuprogrammieren, damit                 und Posthumanismus.
konsumieren, als gäbe es kein Morgen          sie sich besser benehmen.“? Oder von
mehr. Dass wir, die Bürger, die Werbeplatt-   Aussagen wie: „Menschen sind die ulti-            Ihr Unternehmen selbst arbeitet im
formen von Konzernen trotzdem zum             mativen Maschinen.“ und „Ein Mensch               Bereich Künstliche Intelligenz. Ist es
Dreh- und Angelpunkt unserer Meinungs-        ist nur ein biologistischer Algorithmus.“         für Sie kein Widerspruch, einerseits
freiheit erkoren haben und glauben, wir              Nun, hier stellt sich die Frage: Wer ist   mit Daten zu handeln, andererseits
könnten uns dort seriös informieren, halte    der Mensch? Offenbar nach den Vorstel-            harsche Kritik am System zu üben?
ich für eine der größten Verrücktheiten       lungen heutiger Unternehmensgiganten              Daten kaufen und verkaufen? Wir han-
dieses jungen Jahrtausends. Die Werbe-        ein Zwischending von Mensch und Ma-               deln nicht mit Daten. Wir analysieren
technologien der Technologiemonopole          schine, eine Sache, die man umprogram-            nicht einmal Humandaten. Wir fassen >

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Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
                     Dossier: Datenschutz

                             »Die amerikanischen
                           Plattformen des Silicon
                        Valley sorgen dafür, dass wir
                      von Werbung überschüttet werden,
                   damit wir konsumieren, als gäbe es
                 kein Morgen mehr.« Yvonne Hofstetter

Foto Heimo Aga               7
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
                                                         Dossier: Datenschutz

sie nicht an. Mit unseren Technologien                                                                 Möglicherweise hat der Facebook-
werden optimale Entscheidungen unter
Unsicherheit berechnet. Eines meiner
                                              Yvonne Hofstetter                                        Skandal zu einem stärkeren Daten-
                                                                                                       schutz-Bewusstsein geführt ...
Teams arbeitet in Paris daran, den städti-    ist Juristin, Sachbuchautorin und Unternehmerin.         Darauf würde ich meine Hoffnung nicht
schen Lieferverkehr fließender zu ma-         Seit 2009 ist sie Geschäftsführerin eines Unterneh-      setzen. Die technologischen Kräfte der Di-
chen. Das Team Logistik erfasst rohe          mens, das auf den Gebieten Big Data, Künstliche          gitalisierung sind unsichtbar, und was der
Messdaten von Paketen, Wetterverhält-         Intelligenz und Industrie 4.0 arbeitet. Hofstetter ist   Mensch nicht sieht, das versteht er nicht.
nissen oder Staus und berechnet daraus        außerdem Mitinitiatorin der Charta der Digitalen
optimale Lkw-Beladungen und umwelt-           Grundrechte der Europäischen Union. Von ihr er-          Was wäre Ihre Lösung, wie wir
freundliche Routen.                           schien zuletzt „Das Ende der Demokratie – Wie die        Eigentümer unser Daten werden
                                              künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns     könnten?
Sie schreiben auch, dass Algorithmen                            entmündigt“. Für ihr demokra-          Wir werden nie mehr „Eigentum“ an un-
von Facebook klassifizieren und                                 tisches Engagement erhielt die         seren Daten zurückgewinnen. Erstens,
deshalb rassistisch sind. Wie kommen                            Münchnerin im Juni den renom-          weil zu einer technologischen Kraft der
Sie darauf?                                                     mierten Theodor Heuss Preis.           Digitalisierung gehört, was wir „Flow“
Weil schon in den Rohdaten, die von Al-                         Yvonne Hofstetter schreibt derzeit     nennen. Wird etwas einmal im Internet
gorithmen beziehungsweise Künstlichen                           an ihrem neuen Buch, das voraus-       freigesetzt, fließt es für immer durchs
Intelligenzen verarbeitet werden, unsere                        sichtlich im Herbst 2019 erscheint.    Netz, wird ohne Informationsverlust ko-
menschlichen Vorurteile enthalten sind.                                                                piert, vermischt oder zu neuer Informati-
Etwa bei der vorausschauenden Polizei-                                                                 on. Da gibt es nichts mehr zurückzuholen,
arbeit in Chicago oder Kent. Wenn eine                                                                 weder von den globalen Überwachungs-
Polizeibehörde seit Jahrzehnten rassisti-                                                              konzernen noch von unseren Lieferanten,
sche Vorurteile pflegt und zum Beispiel       ganz anderen Standpunkt. Nämlich den,                    unseren Arbeitgebern oder dem Staat.
viermal mehr Afroamerikaner wegen             dass diese Technologien eben „tolle“                     Daten konvergieren nämlich, das heißt,
Drogendelikten verhaftet als Weiße,           Überwachungstechnologien abgeben,                        global wird früher oder später jeder Zu-
dann manifestiert sich dieses Vorurteil       mit denen man ein autokratisches,                        griff auf unser digitales Abbild haben.
faktisch in den Datenbanken der Polizei.      diktato­risches System für die Ewigkeit                         Zweitens: Es gibt gar kein Eigen-
Füttere ich diese Rohdaten einer Künstli-     zementieren kann, indem man wegen                        tum an Daten. Das wäre ein rechtliches
chen Intelligenz, dann fügt sie diesen Da-    der hohen Transparenz des Verhaltens                     Konstrukt, über das man in rechtswis-
ten nichts hinzu, sie stellt sie nur viel     der eigenen Bevölkerung und seiner                       senschaftlicher Forschung und Gesetzge-
schärfer ein. Die Folge: Die Diskriminie-     Netzwerke Widerstand schon ganz im                       bung diskutieren müsste. Ich muss Ihnen
rung wird noch viel schlimmer, und wir        Vorfeld unterdrückt.                                     aber gleich die Hoffnung rauben: Daten­
sprechen von technologischem Rassis-                 Facebook hat nichts falsch gemacht.               eigentum hat nicht viele Freunde. Nur
mus. Uns allen muss deshalb klar sein:        Facebook ist ein Unternehmen, und als                    wenn Ihre Daten anderen zur Verfügung
Maschinen entscheiden überhaupt nicht         Unternehmen hat es zum Ziel, Umsatz                      stehen, kann jemand damit Geld verdie-
objektiver als Menschen. Im Gegenteil.        und Gewinn zu machen, den Sharehol-                      nen und ist Wirtschaftswachstum garan-
Und technologische Lösungen dafür ste-        der Value zu steigern und – ganz in neo-                 tiert. Vielleicht nicht in Ihrem eigenen
cken maximal in den Kinderschuhen,            liberalistischer Manier – Wettbewerber                   Haushalt, aber global. Davon müssten Sie
will heißen: Noch haben die Technologen       möglichst auszuschalten. So gesehen ist                  auch etwas haben, wenigstens keine Ver-
keinen Weg gefunden, Maschinen weni-          Facebook megaerfolgreich. Unternehmen                    schlechterung Ihres Lebensstandards.
ger rassistisch zu machen.                    haben nämlich nicht primär den Zweck
                                              der Daseinsfürsorge oder das Ziel, sich                  Wenn Sie Mark Zuckerberg ein Post-it
Ist es nicht eigenartig, dass Facebook        möglichst moralisch zu verhalten. Sonst                  schreiben würden, welche Botschaft
in seinen Anfängen für genau das              wären sie der Staat oder eine Stiftung                   würde darauf stehen?
Gegenteil gefeiert wurde? Nämlich             ohne Gewinnerzielungsabsicht.                            Darf ich – frei übersetzt – meinen Berufs-
dafür, dass sich Menschen über Länder-               Aber wir, die Gesellschaft, machen                kollegen Antonio García Martínez zitieren,
grenzen hinweg vernetzen können.              einiges falsch. Wir legitimieren das Ver-                der bei Facebook als Produktmanager ge-
Was hat Facebook falsch gemacht?              halten von Facebook und Co. Genau das                    arbeitet hat? „Gegen das hier ist die Wall
Das ist eine sehr „westliche“ Sicht auf die   sollten wir nicht tun, jedenfalls nicht so               Street eine Friedensbewegung.“
Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
Das sagt der Cyborg

Ralf Neuhäuser trägt drei Chips unter der Haut. Er selbst
bezeichnet sich als »Cyborg mit einem Augenzwinkern«.
Wie der 53-Jährige seine persönliche Verbindung zwischen
Mensch und Maschine erlebt, erzählt er im Interview.
Interview _ Anette Frisch

Wie sind Sie auf die Idee gekommen,            Das ist der Glaszylinder, in dem sich der    einbauen musste. Das ist ein bisschen das
sich einen Chip implantieren zu lassen?        Chip befindet. Der ist nicht größer als      Problem. Es gibt Chip-Sets unterschiedli-
Ralf Neuhäuser: Die endgültige Entschei-       zwölf Millimeter. Das Glas ist medizinisch   cher Hersteller, verschiedene ISO-Normen
dung war sehr impulsiv. Ich war im Ok­         hochpoliert und beschichtet, damit er an     und mindestens drei Frequenzen. Im
tober 2017 auf einer Veranstaltung zum         der Stelle bleibt und nicht durch den Kör-   Grunde muss man vorher wissen, was
Thema Digitalisierung. Da gab es einen         per wandern kann. Den dritten Chip habe      man mit dem Chip machen möchte, und
Speaker, der einen Vortag über Biohacking      ich mir Mitte September selbst eingesetzt.   sich danach einen aussuchen.
hielt. Ich hatte mich im Vorfeld mit seiner    Und der vierte liegt auch schon parat.
Assistentin unterhalten, die sich später auf                                                Haben Sie keine Angst vor
der Bühne einen Chip implantieren ließ.        Wie machen Sie das?                          Datendiebstahl?
Nach ungefähr drei Minuten unserer Un-         Ich setze ihn mir mit einer Spritze ein,     Also, ich muss, glaube ich, noch ein paar
terhaltung wusste ich, dass ich auch so ein    die ist etwa so dick wie eine Kugelschrei-   kleine Vorurteile ausräumen.
Ding haben wollte. Später wurde also auch      bermine. Ich muss die Hand nicht lokal
mir ein Chip eingesetzt. Ich hatte sozusa-     betäuben, das Ganze ist eine Sache von       Nur zu ...
gen gleich meine erste Cyborg-Schwester.       Sekunden. Es kommt ein Pflaster drauf,       Der Chip hat keine Batterie, er strahlt nicht
                                               und das war’s.                               und sendet von sich aus nichts. Er basiert
Wo sitzt der Chip?                                                                          auf der so genannten Near-Field-Commu-
Ich habe mittlerweile zwei Chips in der        Welche Daten befinden sich                   nication, ähnlich wie sie Unternehmen
linken und einen in der rechten Hand.          auf Ihren Chips?                             bei ihren Zugangskarten verwenden. NFC
Und zwar in dem Bereich zwischen Dau-          Auf einem Chip habe ich meine Notfallda-     funktioniert nur auf einer sehr kurzen Dis-
men und Zeigefinger. Sie können ihn            ten, meine Blutgruppe und meine Kon-         tanz, im Prinzip über direkten Kontakt.
fühlen, wenn Sie hier einmal etwas fes-        taktpersonen gespeichert. Mit einem Chip
ter draufdrücken ...                           in meiner linken Hand kann ich meine         Und wenn ich eine App auf meinem
                                               Bürotür öffnen. Das erfordert allerdings     Smartphone habe, mit der ich Ihren
Stimmt. Ich fühle einen kleinen                einen elektronischen Schließzylinder, den    Chip in der dicht gefüllten U-Bahn
runden Gegenstand ...                          ich zu diesem Zweck kaufen und in die Tür    auslesen könnte?                           >

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Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
02/2018
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Ja, theoretisch ist das möglich. Aber erst                                                        ben, dass auch ein bisschen Narzissmus
mal müssten Sie mir unbemerkt nahe                                                                eine Rolle spielt. Das Thema ist ja sehr
kommen, vor allem lange genug nahe                                                                öffentlichkeitswirksam und ich bin Öf-
kommen. Sie müssten ganz genau wis-                                                               fentlichkeitsarbeiter für den Factory
sen, wo mein Chip sitzt. Dann kommt                                                               Campus. Das heißt auch, dass ich voran-
aber der entscheidende Faktor: Sie                                                                gehen möchte.
müssten wissen, wie Sie die auf ihm
enthaltenen Informationen missbrau-                                                               Na ja, wenn man so will, legen Sie mit
chen können.
                                             Datenminiatur                                        bald vier Chips unter der Haut ein ganz
                                                                                                  schönes Tempo vor ...
Wo genügend kriminelle Energie ist,          Den Chip hat sich Ralf Neuhäuser selbst unter        Wissen Sie, ich habe so viel German
da ist auch ein Weg, oder?                   die Haut gesetzt. Der Düsseldorfer ist Botschafter   Angst erlebt, in Diskussionen so viel Zag-
Klar, aber im Grunde unterscheiden sich      des Technologieparks Factory Campus. Im Sep-         haftigkeit und Skepsis gegenüber neuen
die Sicherheitsprobleme überhaupt nicht      tember hielt er in Hamburg auf der digitalen Ju-     Technologien erfahren. Ich will niemand
von denen, die wir mit anderer Technik       gendmesse TINCON den Vortrag „About being a          sein, der irgendwas erst dann macht,
haben. Jeder digitale Datenträger ist kor-   cyborg“. Im Herbst fuhr der Tourbus der Initiative   wenn es hunderttausendfach erprobt ist.
rumpierbar. Und jede Sicherheit steht im     #bawükommt den Düsseldorfer Factory Campus           Ich will Pionier sein, immer mit gesun-
Verhältnis zum schützenswerten Gut.          an. Die einmal jährlich stattfindende Aktion läuft   dem Sachverstand und einer gewissen
Cyberkriminelle sind nichts anderes als      unter der Schirmherrschaft von Baden-Württem-        Kritikfähigkeit. Deshalb habe ich mich
Unternehmer. Sie wägen Aufwand, Risi-        bergs Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeis-     zum Beispiel auch für ein Beta-Programm
ko und Gewinn ab. Und was meine Chips        ter-Kraut und wird von der Regionalgruppe des        des Entwicklers Amal Graafstra bewor-
betrifft: Ich kann die Daten genauso ver-    Bundesverbands Deutsche Startups e.V. organisiert.   ben, der in der Szene sehr bekannt ist.
schlüsseln, wie andere Datenträger das
auch können.                                                                                      Was ist das Besondere an
                                                                                                  diesem Programm?
Ich würde gern noch einmal zur                                                                    Graafstra hat einen Flex-Chip entwickelt,
Veranstaltung und zu Ihrer impul­­-                                                               eine flexible Platine. Dieser Chip kann ei-
siven Entscheidung zurückkommen.                                                                  gene Kryptocodes schreiben und soll so
Was genau war es, was Sie damals                                                                  sicher sein, dass man damit zukünftig
überzeugte?                                                                                       bezahlen kann. Die Platine wird mit einer
Ich begeistere mich seit meiner Jugend                                                            kleinen Operation unter die Haut im-
für die Schnittstelle zwischen Mensch                                                             plantiert.
und Technik. Der Chip ist erst einmal eine
Erweiterung meines Bewusstseins. Mich                                                             Sie selbst haben vor Kurzem in einem
interessiert die Frage: Was passiert mit                                                          Vortrag erklärt, wie es ist, ein Cyborg zu
mir, wenn ich so ein Ding trage? Ich habe                                                         sein. Sind Sie einer?
in meinem Körper eine Funktion, die ich                                                           Nun ja (lacht), vielleicht mit einem kleinen
nicht trainieren, sondern nur durch mei-                                                          Augenzwinkern. Zumindest habe ich das
ne Entscheidung erwerben kann. Als ich                                                            Gefühl, ein Cyborg zu sein, weil ich mich
den Chip eingesetzt bekam, hatte ich                                                              bewusst und mit freiem Willen entschie-
gleich das Gefühl, ein anderer zu sein.                                                           den habe, Technik in mir zu tragen.
»Ich will niemand
sein, der irgendwas
erst dann macht,
wenn es hundert-
tausendfach erprobt
ist. Ich will Pionier
sein.« Ralf Neuhäuser

                        11
Das sagt die Medientheoretikerin

Intelligente Technik fordert das menschliche
Selbstverständnis heraus. Die Expertin für Digitale Ethik
Prof. Dr. Petra Grimm entwickelt Regeln für
das Zusammenspiel von Menschen und Maschinen.
Interview _ Rolf Metzger

                                                      schinen, das soziale Gefüge, Wert und          Eine Leitfrage sollte sein: Inwieweit befä-
                                                      Gestaltung der Arbeit, die politische Wil-     higt die Technik den Menschen zu einem
                                                      lens- und Meinungsbildung. Wenn wir            guten Leben? Die Maxime hieße also:
Machen digitale Technologien eine                     intelligente Systeme menschengerecht           Entwickle und gestalte Algorithmen und
neue Ethik erforderlich?                              gestalten möchten, muss klar sein, wel-        intelligente Systeme so, dass sie das leis-
Petra Grimm: Die Digitalisierung offen-               che Prinzipien gelten sollen, wie sie sich     ten und zudem die menschlichen Grund-
bart neue soziale, ökonomische und poli-              entwickeln und kontrollieren lassen.           rechte wahren. Wir sollten uns auch
tische Phänomene, die veränderte Pers-                                                               nicht zwingen lassen, Verhalten, Kom-
pektiven nötig machen – etwa zum Wert                 Worauf sollten die Nutzer achten?              munikation und Wünsche an Maschinen
der Privatheit und der Autonomie gegen-               Sie sollten selbstbestimmt mit digitaler       anzupassen.
über Maschinen. Was sagt die Ethik zu                 Technik umgehen. Von den Unterneh-
Manipulationen durch politische Kampa-                men sollten sie einfordern, Autonomie          Brauchen wir ethische Regeln im
gnen im Netz? Was sagt sie zu Gesichtser-             und Privatheit nicht zu unterlaufen. Und       Umgang mit Künstlicher Intelligenz?
kennung und Sprachassistenten? Solche                 sie sollten darauf dringen, dass autonome      Ich halte den Ansatz von „Ethics by De-
Fragen müssen wir beantworten.                        Systeme einen Ausschaltknopf haben,            sign“ für vielversprechend. Hier geht es
                                                      damit sich etwa eine Aufzeichnung von          darum, neue technische Anwendungen
Welche Herausforderungen stellen sich?                Gesprächen im Auto unterbinden lässt.          schon im Entstehungsprozess ethisch zu
Big Data und Künstliche Intelligenz ha-                                                              begleiten, zu bewerten und zu steuern.
ben Auswirkungen auf den Einzelnen                    Wie kann man Risiken begegnen?                 Ethik muss Werte und Normen in die
und die Gesellschaft. Sie beeinflussen                Um uns entlasten zu können, müssen in-         Technik einbinden. Wichtig ist dabei,
unser Selbstbild als Herr über die Ma-                telligente Systeme ihre Umwelt wahrneh-        dass sie nicht als Feigenblatt miss-
                                                      men, ein Gedächtnis haben und autonom          braucht wird.
                                                      agieren. Der Mensch herrscht nicht mehr
                                                      über sie, sondern interagiert mit ihnen. Da-   Wie steht Baden-Württemberg bei der
Prof. Dr.                                             mit automatisierte Entscheidungen nicht        Digitalen Ethik da?

Petra Grimm                                           unsere Handlungsfreiheit einschränken,
                                                      bedarf es einer ständigen Kontrolle. Wir
                                                                                                     Wir haben die Chance, ein Hotspot für
                                                                                                     eine ethisch orientierte Forschung zur
(* 1962) ist Medien- und Kommunikationswis-           brauchen Entwürfe, die Diskriminierung,        Künstlichen Intelligenz zu werden. Die
senschaftlerin. Sie leitet das Institut für Digita-   Manipulation, Sicherheitsrisiken sowie         Ressourcen dafür sind in Baden-Würt-
le Ethik an der Hochschule für Medien in Stutt-       den Verlust an Privatsphäre und Eigen-         temberg vorhanden.
02/2018
                    Dossier: Datenschutz

                                           »Ich sehe in den
                                           Unternehmen
                                           ein zunehmen­
                                           des Interesse
                                           an ethischen
                                           Leitlinien für die
                                           Digitalisierung.«
                                           Petra Grimm

Foto Radmila Kerl          13
Das sagt der Datenwissenschaftler

Andreas Weigend zählt zu den führenden Datenexperten
weltweit. Im Sommer war der Wahlamerikaner kurz in
Deutschland. Über die Zukunft von Daten sprachen wir mit
ihm während einer Zugfahrt von Mannheim nach Bonn.
Interview _ Anette Frisch

Ich habe bei meiner Vorbereitung auf           ich etwas öffentlich mache, ich alles öffent-   und damit über den Grad der Personali-
unser Treffen gelesen, dass Sie unser          lich mache. Ich tue es dann, wenn ich glau-     sierung selbst entscheiden zu können.
Gespräch mit Ihrem Diktiergerät auf-           be, dass der Mehrwert, den ich aus dem          Wir müssen einen Platz an der Schaltzen-
zeichnen werden ...                            Mitteilen meiner Daten bekomme, die Risi-       trale unserer Daten bekommen und die
Andreas Weigend: Ja. Es geht mir um            ken überwiegt. Daten eröffnen Chancen           Regler einstellen können.
Datensymmetrie. Wir sollen doch die            für Entdeckungen und Optimierung.
gleichen Chancen haben. Lassen Sie unse-                                                       In Ihrem Buch schreiben Sie: „Google
re Geräte synchron starten. 3, 2, 1, los ...   Das klingt positiv. Aber das Macht­             weiß besser als ich, was ich wirklich
                                               verhältnis zwischen Datenfirmen und             will“. Warum sollten wir dann über-
Auf Ihrer Website veröffentlichen Sie          Individuum ist eher ungleich ...                haupt noch etwas regeln?
minutiös Ihre Reisedaten – mit Flug-           Das stimmt. Es kommt deshalb darauf an,         Ich sage das seit mehr als zehn Jahren.
nummer, Ankunfts- und Abflugzeit.              Wege zu finden, wie die Interessen von          Und mittlerweile höre ich diesen Satz je-
Ich habe auch gesehen, dass Sie Silvester      Datenfirmen mit unseren übereinstim-            den Tag!
eine Party in Bangkok geben werden.            men. Sie sollten uns gegenüber so trans-
Haben Sie keine Bedenken, wenn Sie             parent sein wie wir ihnen gegenüber. Und        Na gut. Aber er steht so in Ihrem Buch.
so offen mit Ihren Daten umgehen?              wir sollten mitbestimmen können, wie            Und ich finde, dass in einem solchen
Warum? Wenn ich meine Flüge ins Web            unsere Daten verwendet werden. In mei-          Satz eine gewisse Ausweglosigkeit
stelle, ist das sehr praktisch. So kann zum    nem Buch schildere ich, wie wir die bei-        steckt, als bliebe uns keine Wahl, als
Beispiel jemand, der mit mir übermorgen        den Ziele erreichen können.                     wären wir User machtlos.
telefonieren will, versuchen, mich drei                                                        Denken zu wissen, was man will, ist
Stunden vor meinem Abflug in Lissabon          Wie stellen Sie sich das konkret vor?           häufig eine Illusion. Menschen sind sehr
zu erreichen.                                  Ich habe sechs Grundrechte entwickelt,          vorhersehbar. Eine Maschine, die nichts
                                               mit denen wir als User mehr Handlungs-          vergisst, ist oft genauer als wir selbst.
Also, ich möchte nicht jedem mitteilen,        fähigkeit bekommen. Also die Fähigkeit,
wo ich bin oder sein werde.                    frei zu entscheiden, wie Datenfirmen un-        Sie finden, dass eine Maschine besser
Das sollten Sie auch nur tun, wenn Sie sich    sere Daten nutzen. Zu den Rechten, die          ist als ein Mensch?
davon einen Vorteil erhoffen. Des Weiteren     mir vorschweben, zählt zum Beispiel die         Ich möchte betonen: Es geht mir nicht
heißt das ja noch lange nicht, dass, wenn      Möglichkeit, Daten unscharf zu machen           darum, einen Gegensatz zwischen       >

                                                                  14
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                       Dossier: Datenschutz

»Eigentlich
sollten wir es
Facebook und
Google über-
lassen, unsere
Regierungen
einzusetzen.«
Andreas Weigend

Foto Social Data Lab          15
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                                                        Dossier: Datenschutz

Computer und Mensch aufzubauen. Mir           in diesem Abteil sitzen und miteinander              Sie widersprechen ihr nicht?
geht es nicht um ein „Race against the        sprechen. Wir kannten uns ja nicht und               Nein. Denn Zuboffs Perspektive wirft die
Machine“, also nicht um den Wettkampf         wussten nicht, wie wir aussehen ...                  Frage auf, ob wir von den Datenraffinerien
gegen die Maschine, sondern um den                                                                 auf mehr als Almosen hoffen können. Dies
Wettkampf mit ihr, ein „Race with the Ma-     Ich bin mir sicher, wir hätten uns auch              ist nicht einfach, weil es eine fundamentale
chine“. Und dazu brauchen wir das Wis-        ohne Platzreservierung gefunden ...                  Datenasymmetrie gibt: Wenn meine Daten
sen, wie unsere Daten verwendet werden.       Ja, zum Beispiel, wenn Sie mit einem                 bei Google nicht vorhanden sind, macht
                                              Schild herumgelaufen wären. Es ist ganz              das für Google keinen Unterschied. Wenn
Wir müssen also lernen, mit Daten             klar, dass wir sowohl utopische als auch             meine Nutzung von Google aber abgestellt
umzugehen?                                    dystopische Szenarien entwickeln kön-                wird, macht das für mich einen extrem gro-
Ja, absolut! Wir müssen in der Lage sein,     nen. Die interessante Frage ist, wann die            ßen Unterschied. Wenn bei Google jemand
unsere Daten interpretieren zu können.        potenziellen Risiken die potenziellen Vor-           „Andreas Weigend“ eingibt und es wird
Ich nenne das Datenkundigkeit. Dazu ge-       teile von Daten überwiegen.                          nichts anzeigt, ist das der digitale Tod. Das
hört die Fähigkeit zu verstehen, wie Da-                                                           Problem ist, dass wir als Individuen keine
tenfirmen arbeiten, welche Parameter          Und wie ist Ihre Antwort darauf?                     Chance gegen Google und Co. haben, son-
verändert werden können und welche            Jetzt wird es schwierig: Auf der einen Sei-          dern nur dann, wenn wir uns zusammen-
Konsequenzen das Teilen unserer Daten         te sage ich, es ist toll, dass Google mir rele-      schließen und kollektiv agieren. Diese Situ-
haben kann. So ein Wissen ist notwen-         vante, also personalisierte Nachrichten              ation ist mit der Arbeiterbewegung und
dig, weil wir uns bei den meisten Ent-        anbietet und Amazon mir Produkte zeigt,              der Gründung von Gewerkschaften ver-
scheidungen von Analysen und Empfeh-          die zu mir passen. Auf der anderen Seite             gleichbar. In dem Sinne hat Zuboff Recht.
lungen leiten lassen, die Datenfirmen         möchte ich nicht manipuliert werden.
erstellt haben.                               Auf dieses Dilemma gibt es keine prinzi-             Ihr Buch ist vor dem Facebook-Skandal
                                              pielle Antwort. Es ist nicht schwarz oder            erschienen. Stehen Sie Datenunterneh-
So eine Datenkundigkeit würde auch            weiß, sondern eine Frage des Abwägens                men jetzt kritischer gegenüber?
dazu führen, dass demokratische Wah-          von Grautönen.                                       Ich habe an Facebook geglaubt. Und ich
len dann über Facebook oder Google                                                                 fühle mich jetzt von Facebook verraten, das
ablaufen könnten. So schildern Sie das        Die amerikanische Wirtschafts­                       ist sehr schmerzhaft. Es ist ein Mangel an
zumindest in Ihrem Buch ...                   wissenschaftlerin Shoshana Zuboff                    Integrität, der mit dem Skandal zu Tage ge-
Wahlergebnisse werden häufig von Zu­          bezeichnet Facebook und Google als                   treten ist. Integrität bedeutet für mich: Du
fällen bestimmt. Zum Beispiel kann das        Überwachungskapitalisten ...                         tust, was du sagst. Es stört mich maßlos,
Wetter einen Einfluss auf Wahlen haben.       Da ist was Wahres dran.                              dass Facebook die Daten gegen Menschen
Deshalb die Frage: Gibt es robustere                                                               verwendet hat. Ich möchte, dass die Daten
Datenquellen, mit denen ich jahrein,                                                               über und von Menschen Daten für Men-
jahraus, bei Sonne und Regen, interagiere                                                          schen sind. Das Macht(un)gleichgewicht
und die zuverlässiger sind? Google weiß                                                            zwischen Individuum, Datenfirmen und
durch meine Suchanfragen, was ich wis-
sen will, und Facebook weiß, wen und
                                              Andreas Weigend                                      Staat muss nach dem Skandal neu austari-
                                                                                                   ert werden. Es geht hier um Fairness. Das
was ich mag. Dies inspirierte mich zu         wurde in Freiburg geboren. Er hat in Karlsruhe,      ist etwas, was mich extrem beschäftigt.
meinem natürlich nicht ganz ernst ge-         Cambridge und Bonn Physik und Philosophie stu-
meinten Vorschlag, dass wir unsere Re-        diert. Als ehemaliger Chief Scientist von Amazon     Sie leben in Kalifornien, China und in
gierungsbildung doch einfach Facebook         entwickelte er mit Jeff Bezos die Daten- und Inno-   Thailand. Welchen Blick haben Sie auf
und Google überlassen sollten. Vielleicht     vationsstrategie des Unternehmens. Weigend leitet    Deutschland?
kann das unser demokratisches Kreuz-          das Social Data Lab und lehrt an der University of   Mit Blick auf die Datenschutzverordnung,
chensetzen ergänzen.                          California in Berkeley und an der Fudan University   die im Mai in Kraft getreten ist, kann ich nur
                                              in Schanghai. Er berät weltweit Unternehmen und      sagen: Respekt! Über eine Milliarde E-Mails
Bei all dem, was in der Welt von                                 Organisationen, darunter das      wurden verschickt. Sie hat uns angeregt,
Twitter und Facebook los ist: Sollen                             Weltwirtschaftsforum.             über unsere Daten nachzudenken, und
wir politische Entscheidungen                                                                      damit eine gigantisch große Erziehungs-
wirklich Algorithmen überlassen?                                 Buchtipp: Data for the            maßnahme ins Rollen gebracht.
Das sagt der Soziologe

Berührungsängste, was das Thema Daten betrifft,
hat Armin Nassehi nicht. Im Gegenteil. Der Soziologe
sieht darin sogar einen der entscheidenden Treiber
für sozialen Wandel.
Interview _ Anette Frisch

Was interessiert Sie als Soziologe              ne ästhetischen und Konsumvorlieben so        privaten Akteuren, Unternehmen, Ban-
an Daten?                                       aussehen, sind sie wahnsinnig regelhaft.      ken. Große Datenmengen werden aller-
Armin Nassehi: Als jemand, der sich für                                                       dings schon länger gesammelt. Denken
die gegenwärtige Gesellschaft interes-          Welche sind denn Ihre regelhaften             Sie an die nationalen statistischen Äm-
siert, kommt man an dem Thema nicht             Vorlieben?                                    ter, die im 19. Jahrhundert entstanden
vorbei. Man müsste eher erklären, wie           Ich bin fast 60 Jahre alt. Mein Umfeld        sind. Mit dem Unterschied, dass Daten zu
man als Soziologe nicht darauf stoßen           würde ich als durchaus gediegen be-           der Zeit gezielt und mit einem bestimm-
kann. Diese ganzen Datenverarbeitungs-          schreiben, andererseits auch ein biss-        ten Zweck gesammelt wurden. Heute
formen zeigen uns auf, wie erwartbar            chen bürgerlich-behäbig. Ich finde klassi-    sind die Daten nicht immer gezielt erho-
unser Verhalten ist. Wir denken immer,          sche Musik schön. Und auch mein Auto,         bene Daten, sondern ein Rohstoff, aus
dass wir als individuelle Akteure ent-          ich fahre einen Mercedes-E-Klasse-Kom-        dem sich erst Anwendungen ergeben. Es
scheiden, aber eigentlich tun wir das           bi mit dem kleinsten Benzinmotor, ent-        können auch unterschiedliche Datensät-
nicht. Wir stecken gewissermaßen in ei-         spricht den ästhetischen Erwartungen          ze miteinander kombiniert werden, und
nem Muster, das man mit Datenverarbei-          an meinen sozialen Status. Soziologen         daraus ergeben sich neue Fragen.
tungsformen erkennen kann.                      interessieren sich dafür, in welchen Zu-
                                                sammenhängen Menschen entscheiden             Unsere Entscheidungen werden
Das müssen Sie bitte erklären.                  und wodurch Entscheidungen vorge-             also nicht mehr allein durch unser
Man kann aus Bewegungsprofilen von              prägt werden. Das ist es auch, was die        soziales Umfeld, sondern von Big Data
Menschen auf Plätzen errechnen, ob die          Soziologie für viele Leute zu einer wirk-     bestimmt. Dass wir frei entscheiden,
Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags        lich schlimmen Wissenschaft macht.            ist demnach eine Illusion?
steigt. Man kann aus Gesichtserkennung          Weil Soziologen immer schon sagen kön-        Wir haben innerhalb eines strukturellen
entnehmen, was eine Person fühlt. Man           nen: „Na ja, das sagst du, weil du aus die-   Rahmens durchaus eine sehr individuelle
kann an Suchanfragen bei Google able-           sem Milieu kommst, diese Klassenlage          Wahl, wir sind auch verantwortlich für
sen, ob irgendwo gerade eine Grippe­            und dieses Geschlecht hast.“ Aber genau       das, was wir tun. Aber die Idee der völlig
epidemie ausbricht. Aus diesen Daten las-       dieses Regelhafte wird jetzt durch die Da-    freien, individuellen Entscheidung, die
sen sich Muster ableiten. Für einen             tenverarbeitung professionalisiert.           aus sich heraus entsteht, ist eine Illusion.
Soziologen ist das deshalb so spannend,                                                       Die Soziologie weiß schon lange: Da wir
weil es zeigt, dass die Gesellschaft viel re-   Wie meinen Sie das?                           so unterschiedlich entscheiden, enthält
gelmäßiger funktioniert, als wir immer          Heute werden Daten von allen mögli-           jede Entscheidung eine Information, die
glauben. Wenn ich mir angucke, wie mei-         chen Leuten gesammelt. Vom Staat, von         in der Anhäufung erstaunlicherwei- >

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se regelmäßiger ist, als sich das die Ent-     Wenn jetzt also Datenfirmen die neuen                  oder Strukturen wissen darf als ein Un-
scheider selbst vorstellen können. Das ist     Kontrolleure der Gesellschaft werden –                 ternehmen – das seinen Sitz noch dazu
durchaus eine Kränkung.                        wie wirkt sich das auf diese Gesell-                   in einem Territorium hat, das nicht dem
                                               schaft aus?                                            des kontrollierenden Staates entspricht.
Sie meinen Kränkung, weil uns durch            Interessant ist, dass sich mit der Datenver-           Territorialität war einmal ein staatli-
die Möglichkeiten der Datenverar-              arbeitung so etwas wie eine wissen-                    ches Privileg. Das verschwindet.
beitung klar wird, wie sehr unsere             schaftsähnliche Form der Beobachtung
Entscheidungen von Normen bestimmt             der Gesellschaft etabliert, die zu Erkennt-            Weil Daten aus allen Teilen der Welt
werden?                                        nissen führt. So etwas gab es zuvor eigent-            stammen und miteinander kombiniert
Ja. Denn was uns die Digitalisierung           lich nur in der theoriegeleiteten For-                 werden?
vermittelt, ist: Die Autonomie des Ein-        schung. Oder staatlich, wenn es um                     Ich werde bisweilen gar nicht als Indivi-
zelnen war immer schon ein Mythos. Sie         Planung und Überwachung geht. Nun                      dualperson gespeichert, sondern als ein
kennen vielleicht diesen wunderbaren           greift diese Art der Realitätsverarbeitung             Kombinationsmuster. Ich bringe das auf
Satz von Margaret Thatcher: „There is no       auf andere, nichtstaatliche und nichtwis-              die Formel, dass die Gesellschaft bereits
such thing like society, there are only        senschaftliche Akteure über.                           ohne die Digitaltechnik digitalisiert ist.
individuals and families.“ Es gibt keine                                                              Und deshalb ist die Digitaltechnik die
Gesellschaft, es gibt nur Individuen und       Sie meinen Datenunternehmen, die ein                   Leittechnik dieser Gesellschaft. So wie es
Familien. Dieser Satz kann spätestens          wirtschaftliches Interesse verfolgen?                  zur Zeit der Industrialisierung die
jetzt als widerlegt gelten.                    Ja. Und damit wird Kontrolle im Sinne                  Dampfmaschine und kurz danach das
                                               von Berechnung und Berechenbarkeit                     Fließband gewesen ist.
Nach dieser Vorstellung gibt es also nur       tatsächlich ausgelagert. Letztlich dringen
Gesellschaft und keine Privatheit?             diese Techniken in das ein, was zuvor                  Das klingt widersprüchlich.
Nun, Privatheit und privates Verhalten         eher hoheitliche Befugnisse waren. Noch                Wie meinen Sie das?
sind ja selbst ein gesellschaftliches Mus-     stärker: Es ist eine Konstellation denkbar,            Ich würde es techniksoziologisch so for-
ter. Wir leben in einer Gesellschaft, in der   in der der Staat aufgrund seiner hoheitli-             mulieren, dass sich immer nur die Technik
wir im Prinzip die Unterscheidung von          chen Befugnisse weniger über Bürger                    durchsetzt, die zur Gesellschaft passt. Un-
öffentlich und privat nicht mehr treffen                                                              sere Vorstellung ist meist: Da ist die Ge-
können. Wir merken an uns selbst, dass                                                                sellschaft, und dann knallt da irgendeine
die Dinge beobachtbar sind. Wir reden                                                                 neue Technik aus Versehen rein und ver-
jetzt gerade miteinander über zwei Han-                                                               ändert sie. Aber es ist umgekehrt. Hätten
dys, das ist natürlich beobachtbar. Und                                                               die alten Griechen bereits die Technik der
man kann sich der Beobachtbarkeit nicht                                                               Dampfmaschine gehabt, hätten sie damit
entziehen. Auch wenn man versucht,                                                                    gar nichts anfangen können. Und dass die
sich herauszuhalten und nicht überall                                                                 Vernetzung von Computern in einer Welt
Datenspuren zu hinterlassen. Schon das                                                                entstanden ist, die geradezu grenzenlos
Nichtstun wird registriert.                                                                           erscheint, ist auch kein Wunder. Das kann
                                                                                                      man auch daran sehen, dass die Leute, die
Die totale Kontrolle also ...                                                                         die Techniken erfinden, oft nicht wissen,
Diese Idee von „Big Brother is watching                                                               was damit gemacht wird.
you“, die stimmt. Aber es ist nicht der Big
Brother, der die konkrete Person im Auge                                                              Zum Beispiel?
hat und über Falsch und Richtig urteilt,                                                              IBM ist fast pleitegegangen, weil sich die
sondern einer, der nach Mustern sucht                                                                 Verantwortlichen überhaupt nicht vor-
und feststellt, dass er damit am besten re-                                                           stellen konnten, dass individuelle Haus-
gieren kann. Regieren meint, eine gewisse
Kontrolle auszuüben. Das bedeutet zum
                                               Armin Nassehi                                          halte einen Computer brauchen können.
                                                                                                      Die sind davon ausgegangen, dass der
Beispiel zu wissen: Wo liegen meine Ab-        1960 in Tübingen geboren, ist Professor für Sozio-     weltweite Bedarf eine Handvoll Großcom-
satzmärkte? Wer könnte mein potenzieller       logie an der Universität München und Herausgeber       puter ausmacht. Mehr nicht. Und heute ist
Kunde sein? Wer könnte mein potenzieller       des Kursbuchs, einer Kulturzeitschrift, die 1965 von   in jedem Toaster ein Rechner.
»Die Digitaltechnik
ist die Leittechnik
dieser Gesellschaft.
So wie es zur Zeit
der Industrialisierung
die Dampfmaschine
und kurz danach
das Fließband
gewesen ist.« Armin Nassehi

Foto Hans-Günther Kaufmann    19
In Gammesfeld in Hohenlohe steht die kleinste Bank
Deutschlands. Peter Breiter ist der einzige Mitarbeiter und
kennt jeden Kunden persönlich. Datenschutz heißt:
Alles bleibt in seinem Kopf.
Interview _ Isabel Stettin
Fotos _ Annette Cardinale

Ein-Mann-Bank: Für Peter Breiter ist jeder Kunde gleich. Vertrauen zählt mehr als Profit.
Alle bekommen dieselben Konditionen, egal ob sie 100 Euro bringen oder 100.000.

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                          Dossier: Datenschutz

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                                                 Gammesfelder auch Treffpunkt.
                                                 Jemand zum Reden ist immer da.

Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxxx          21
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Bankrebellen: Fritz Vogt kommt trotz Ruhestand fast jeden Tag vorbei

P
               eter Breiter muss noch         das geht nicht.“ Darum soll seine Bank         die Adler-Schreibmaschine von 1970, die
               schnell ein Fax versenden.     persönlich bleiben. Die Gammesfelder           Philosophie von 1890. Damals gründeten
               Es piept, summt. Fertig.       müssen nur einem vertrauen: Peter Brei-        die Gammesfelder ihre Genossenschafts-
               Aus den Augenwinkeln           ter. Immerhin, das hat ein Pfarrer einmal      bank. „Was dem Einzelnen nicht möglich
               sieht Breiter, wie ein Auto    gesagt, weiß der Banker von Gammesfeld         ist, das vermögen viele“, war das Prinzip
auf den Parkplatz rollt. Mit einem rat-       mehr über seine Schäfchen als er. Er hört      von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, geboren
ternden Geräusch geht die Tür auf. Es ist     all die kleinen und großen Bankgeheim-         vor 200 Jahren. „Er wollte ortsbezogene,
12.30 Uhr. In den nächsten Stunden wird       nisse. Und schweigt darüber.                   kleine Banken, wo jeder jeden kennt“, sagt
Breiter kaum Zeit haben, am Schreib-                 Der Herr über eine Bilanzsumme          Breiter. Eingerahmt, wie zur Erinnerung
tisch zu sitzen. Zur Mittagszeit füllt sich   von gut 31 Millionen Euro trägt Jeans und      für ihn, hängt ein Bild von Raiffeisen ne-
das Empfangszimmer mit den vier roten         ein kariertes Hemd, das silberfarbene          ben der Theke, über die er sich zu seinen
Stühlen innerhalb von Minuten. Die ers-       Haar kurz geschoren. Peter Breiter ist 46,     Kunden beugt. Eine Trennscheibe gibt
te Kundin des Tages kommt herein, sie         aufgewachsen in Blaufelden-Gammes-             es nicht. Der Tresor ist gut sichtbar in die
hebt Daumen und Zeigefinger. Breiter          feld. Ein hohenlohisches Bilderbuchdörf-       Wand eingelassen, neben dem Waschbe-
versteht das ohne Worte. Er legt 200 Euro     chen mit gut 500 Einwohnern, umgeben           cken. Die Telefonnummer der Bank hat
auf den Tisch, zählt laut mit. Fünf Zwan-     von Getreidefeldern. Es liegt zwischen         drei Ziffern. Die Kontonummern haben
ziger, zehn Zehner. Zack, zack, zack.         dem Puppenstuben-Städtchen Rothen-             maximal vier. Die Finanzwelt in Gammes-
       Breiter ist nicht nur der Geldauto-    burg ob der Tauber und der Heimat des          feld ist überschaubar.
mat. Er ist Bankdirektor, Berater, Buchhal-   Bausparfuchses, Schwäbisch Hall.
ter, Sekretär und Putzmann. Kontoaus-                Breiters Arbeitsplatz mitten im Orts-
                                                                                             Nicht „computerisiert“,
züge für seine 1.020 Kunden schreibt er       kern ist ein grün gestrichener Zweckbau,
                                                                                             sondern noch menschlich
selbst, holt einmal pro Woche das Bargeld     früher ein Saatgutlager. Mittlerweile er-      Im Wartezimmer sitzt Oliver Krämer auf
von der Nachbarbank ab, bringt Briefe         innert die kleinste und vielleicht bekann-     einem roten Stuhl. Er ist Komponist, The-
zur Post, eröffnet Konten. „Kredit heißt      teste Bank Deutschlands an ein Museum.         atermusiker und ehrenamtlicher Kassen-
Vertrauen. Eine Bank ohne Vertrauen,          Die Walther-Rechenmaschine ist von 1958,       wart des Fischereivereins. In seiner Mit-

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»Unsere
Gesellschaft
lässt sich alles
zu billig abkaufen:
die persönlichsten
Daten, Selbst-
verantwortung.« Fritz Vogt

                                                          Überweisungen tippt Breiter auf der alten Adler-Schreibmaschine

tagspause hebt er Geld ab und bringt die       einen Hackerangriff hinter sich haben.       Nur nicht in Gammesfeld. „Die Digitali-
aktuelle Mitgliederliste vorbei. Fast alle     In ihrer Bank, „Kässle“ nennen sie sie       sierung hat dazu geführt, dass wir das
Angler haben ihr Konto bei der Gammes-         nur, undenkbar. Online-Banking ist bei       Zehnfache an Papier brauchen.“ Breiter
felder Raiffeisenbank. Breiter zieht ihre      dieser Bank gar nicht möglich. Elektro-      druckt gerade eine E-Mail aus und heftet
Jahresbeiträge ein. „Peter weiß alles“, sagt   nische Datenverarbeitung gibt es nicht.      sie im Ordner ab. Die Arbeit hat zuge-
Krämer. Wem es zu intim ist, dass Brei-        Die Bankenwelt fernab von Gammesfeld         nommen. Eine strengere Bankenregulie-
ter jedes Gehalt und jede Mieteinnahme         ist vernetzt, doch diese Raiffeisenbank      rung heißt für Breiter vor allem Bürokra-
kennt, der ist hier falsch. „Sogar meine       ist an kein Rechenzentrum angeschlos-        tie: mehr Formulare, mehr Meldungen
Kontonummer kennst du auswendig.“              sen. „Mit 50.000 Euro Jahreskosten für       und Nachweise.
Breiter lacht. „Keine Kunst, nach zehn         die Datenstandleitung wäre das viel zu
Jahren.“ Sie grinsen sich an. Krämer be-       teuer“, sagt Breiter. Datenschutz in Gam-
                                                                                            Sicherheit statt Spekulationen
ruhigt es, „nicht in der anonymen Masse        mesfeld, das heißt: So wenige Daten wie      Neben der Theke liegt ein Stapel Blätter.
von Kunden unterzugehen.“ „Ich habe das        nur möglich verlassen den kleinen Raum.      „Datenschutzhinweise“, drei Seiten voll
Gefühl, da ist jemand, der immer ein biss-     Konten führt Breiter in einer Excel-Tabel-   mit Paragrafen für Neukunden. Breiter
chen aufpasst. Wie in einer Familie.“ Er       le. Überweisungen schickt er per Post        winkt ab. „Das meiste davon betrifft uns
steckt sein Geld ein. „Nichts verschwindet     an die genossenschaftliche Zentralbank       gar nicht.“ Weil es das meiste in Gam-
in irgendwelchen Kanälen.“ Für ihn ein         nach Stuttgart. Die schickt einmal täglich   mesfeld nicht gibt. Keine Spekulationen,
tröstlicher Gedanke: „In diesem Institut       sämtliche Computer-Zahlungsbelege, die       keine Aktiengeschäfte, keine Zusatzver-
kann nichts passieren. Keine Hacker, kein      Breiter Posten für Posten in der Tabelle     sicherungen. „Ich will meinen Kunden
Datenklau.“ Weil nicht alles so „compute-      verbucht. Die Rente der ältesten Kun-        nichts andrehen.“ Er hätte auch kaum die
risiert“ sei, „sondern menschlich“.            din, 97 Jahre alt, den Monatsbeitrag fürs    Zeit dazu. Geschäftsbeziehungen und Da-
       Dass ihre persönlichen Daten bei        Fitnessstudio des Nachbarn, insgesamt        tenaustausch mit anderen Banken pflegt
ihrer Bank sicher sind wie ihr Erspartes,      hundert Umsätze am Tag.                      Breiter nicht. Es gibt Girokonten, Sparbü-
davon sind die Gammesfelder überzeugt.               Konten, Zahlungsvorgänge, Bu-          cher und Kredite. „Alles, was es vor hun-
Jedes vierte Finanzinstitut soll bereits       chungen – das alles läuft längst digital.    dert Jahren schon gab.“ So einfach ist >

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                                                                                                eisens angepriesen. Drei Generationen
                                                                                                lang war das Gammesfelder Finanzwe-
                                                                                                sen in den Händen seiner Familie. „Hätte
                                                                                                ich mir je etwas zu Schulden kommen
                                                                                                lassen, könnte ich nicht mehr durch das
                                                                                                Dorf gehen“, sagt er.

                                                                                                David gegen Goliath
                                                                                                Vogt lehnte sich auf gegen die Banken-
                                                                                                aufsicht, gegen die moderne Technik.
                                                                                                Sechs Jahre lang hat er vor Gericht für die
                                                                                                Existenz seiner Bank gestritten, als plötz-
                                                                                                lich ein zweiter Geschäftsführer gefor-
                                                                                                dert wurde – wegen des „Vier-Augen-
                                                                                                Prinzips“. Für die Freiheit seiner Bank
                                                                                                und das Wohl seiner Kunden wäre er
                                                                                                auch drei Jahre ins Gefängnis gegangen.
                                                                                                Doch Vogt hat gewonnen. Demokratie
                                                                                                lebe von wachen Bürgern, sagt er, die
Nicht zu knacken: der alte Tresor. Schon mehrere Einbruchversuche                               sich nicht alles gefallen lassen, die unab-
gab es – die Schattenseite der Berühmtheit.                                                     hängig bleiben. „Unsere Gesellschaft
                                                                                                lässt sich alles zu billig abkaufen: die
                                                                                                persön­lichsten Daten, Selbstverantwor-
das. Elf Millionen Euro hat die Bank an        Er zahlt mit seinen Münzen. „Nur Bares ist       tung.“ Seine Stimme wird lauter, er ge­
ihre Kunden ausgeliehen. Breiter und den       Wahres.“ Für Breiter ist das keine Floskel.      stikuliert entschlossen. „Wenn dann
siebenköpfigen Aufsichtsrat, alle aus dem      Bargeld heißt für ihn Freiheit der Bürger,       jemand sagt: ‚Kann man eh nichts än-
Ort, interessiert bei der Kreditvergabe        Demokratie. Das Beschränken von Bargeld          dern‘, werde ich rasend. Wir können im-
nicht, was in der Schufa-Auskunft steht.       ist für mich ein Angriff auf die Privatsphäre.   mer etwas ändern. Und wir müssen.“
Sie wissen doch, wer mit Geld umgehen          Geldwäsche oder Terrorismus seien doch           Breiter bleibt ruhig, nickt nur. Sie kennen
kann und wer nicht.                            nur „vorgeschobene Gründe“ auf dem Weg           beide ihre Rolle im Kampf zwischen
       Die Bank in Gammesfeld verspricht       zum gläsernen Bürger. „Je weniger von            David und Goliath. Im Museum der gro-
eine Sicherheit, wie es sie heute kaum         mir bekannt ist, desto besser. Datenschutz       ßen Bundesbank hängt mittlerweile ein
mehr gibt. Zu Hochzeiten der Finanzkrise       heißt auch Schutz vor Überwachung und            Foto von der kleinsten Bank. „Wenn wir
kamen die Manager aus Hamburg und              Kontrolle“, findet Breiter. Facebook? Würde      vorbeikommen, erhalten wir eine Füh-
München im Porsche mit dem Geldköffer-         er nie nutzen. WhatsApp hat er nur instal-       rung“. Das hat man Breiter versprochen.
chen. Sie wollten Konten eröffnen, auch        liert, weil seine Fußballdamen, die er trai-            Eine der letzten Kundinnen des
wegen der unschlagbaren Zinsen von da-         niert, darauf bestanden haben.                   Abends betritt das kleine Zimmer. Eine
mals 3,5 Prozent. „Ich habe alle abgelehnt“,           „Dass du dich wehren musst, wenn         junge Frau, hochschwanger. „Alles gut bei
sagt Breiter. Geld darf nur anlegen, wer       du nicht untergehen willst, wirst du doch        euch?“, fragt Breiter. „Wie läuft der Haus-
aus dem Örtchen stammt oder dort lebt.         einsehen.“ Bertolt Brechts Spruch hängt          bau?“ Sie vereinbaren ein Gespräch, um
                                               an der Wand als stumme Mahnung. Fritz            ein neues Konto zu eröffnen. Bald darf sie
Bargeld heißt Freiheit                         Vogt hat ihn an die Wand genagelt. Der           das, als Ehefrau eines Gammesfelders.
Es ist Nachmittag. Breiter schließt die Bank   87-Jährige hat die Bank vor Breiter ge-          Das Baby wird ein Sparbuch bekommen,
zu. Ein Traktor tuckert durch die schmalen     leitet. Kurz bevor am Abend die nächs-           sobald es auf der Welt ist. Greifbar, zum
Straßen, der Bauer winkt. Seit der „Dorf-      ten Kunden kommen, besucht er seinen             Blättern, mit blauem Umschlag.
krug“, die einzig verbliebene Gaststätte,      Nachfolger. Vogts Augen blitzen hellwach                Und Breiter? Wenn er um 21 Uhr
dicht gemacht hat, gibt es nur noch die        unter buschigen Brauen, das schlohweiße          die Bank schließt, setzt er sich nochmals
Bank als Treffpunkt. Und den kleinen           Haar hat er zur Seite gekämmt. Der frühe-        an seinen Schreibtisch, schreibt Konto-
Dorf-Edeka mit der Bäckerei. Vor der Tür       re Geschäftsführer der Bank wohnt wie            auszüge. „Spätestens um Mitternacht
plauschen zwei Rentnerinnen. Breiter           Breiter im „Bankenviertel“, direkt gegen-        mache ich mich auf den Heimweg.“
kauft ein Stück Donauwelle, das er bis         über. Fast täglich kommt Vogt vorbei, und        Dann wird es finster in Gammesfeld, die
zum späten Abend nicht anrühren wird.          wenn Breiter Urlaub hat, vertritt er ihn.        Straßen­laternen gehen aus.
02/2018
                                                  Dossier: Datenschutz

Oliver Krämer ist Kunde seit er in Gammesfeld wohnt. Kein Sicherheitsglas trennt ihn von seinem Berater.

Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxxx                                   25
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