Wie Algorithmen unser Leben bestimmen und was wir tun können.
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02/2018 Dossier: Datenschutz #BesserDatenSchützen Kampagne zu Datenschutz und Netzsicherheit Anlässlich des Datenskandals bei Facebook im April 2018 hat die Baden-Württemberg Stiftung die Kampagne #BesserDatenSchützen ins Leben gerufen. Ihre Ziele: über die Themen Datenschutz, Netzsicherheit und Privatsphäre im Internet zu informieren und Menschen zu sensibilisieren. Die Stiftung wurde für ihr außergewöhnliches Engagement für den Deutschen Preis für Onlinekommunikation nominiert. »Fake News bei Twitter verbreiten sich sechsmal schneller als konkrete Nachrichten. Die veränderte Kommuni kationsgrammatik kann die Demokratie gefährden. Demokratie bedeutet aber Diskussion. Deshalb sind Initiativen wie das Engagement der Baden-Württemberg Stiftung wichtig.« Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist und WDR-Moderator der Sendung Quarks Lesen Sie Hintergründe, Interviews und Kommentare auf www.perspektive-bw.de 2 Fotos: Foto WDR/Herby Xxxxxxx Xxxxxxxx Sachs
02/2018 Editorial Bleiben Sie informiert Christoph Dahl, über all unsere Themen Geschäftsführer und Programme und Baden-Württemberg besuchen Sie uns auf Stiftung Facebook, YouTube, Twitter und Instagram. @bwstiftung Liebe Leserinnen und Leser, vielleicht haben Sie heute auf Facebook einen Post geschrieben, den Sie dann doch nicht veröffentlichen wollten. Sie haben also das Geschriebene einfach wie- der gelöscht und sich ausgeloggt. Alles gut? Denken Sie! Auch wenn am Ende nichts von Ihren Ideen übrigbleibt – in den Datensätzen von Facebook sind sie HERAUSGEBERIN niedergeschrieben. Baden-Württemberg Stiftung gGmbH Kriegsbergstraße 42 Wie Datenfirmen arbeiten, darüber berichtet der ehemalige Chefentwick- 70174 Stuttgart ler von Amazon, Andreas Weigend, in einem Interview (S. 14). Dass man sich Telefon +49 (0) 711 248476-0 digitaler Einflussnahme aber auch widersetzen kann, das beweist eine Bank in Telefax +49 (0) 711 248476-50 Gammesfeld (S. 20). Und in Freiburg gestalten Schülerinnen und Schüler ihre info@bwstiftung.de Schule mit einer Online-Plattform, die Facebook ähnelt. www.bwstiftung.de Entscheidend ist also, was der Mensch aus den technologischen Möglich- VERANTWORTLICH keiten macht, die er selbst erschaffen hat. Und wie er auf Missstände reagiert. Christoph Dahl, Geschäftsführer Baden-Württemberg Stiftung Die Baden-Württemberg Stiftung hat nach dem Facebook-Skandal sofort reagiert und all ihre Social-Media-Kanäle genutzt, um über Datenschutz zu informieren KONZEPTION UND REDAKTION und aufzuklären. Auch wenn wir seit August wieder über unsere Programme, Julia Kovar-Mühlhausen, Nadia Heide, Dr. Philipp Jeandrée, Projekte und Ausschreibungen auf den Plattformen informieren – dem Daten- Jan Philipp Schewe, Anette Frisch schutz werden wir uns auch weiterhin konsequent widmen. Denn es bleiben TEXT immer noch viele Fragen unbeantwortet und Facebook hat bisher keine grund- Jörg Armbruster, Silke Burmester, legenden Veränderungen umgesetzt. Auch die Politik hat es bis jetzt versäumt, Anette Frisch, Sepideh Honarbacht, entscheidende Weichen zu stellen. Das ist unverständlich und zeigt, wie wichtig Rolf Metzger, Isabel Stettin, unser Engagement auch weiterhin ist. Viola Volland, Baden-Württemberg Mit dieser Ausgabe der Perspektive setzen wir nicht nur unsere Kampagne Stiftung #BesserDatenSchützen fort – das Thema wird auch im Mittelpunkt unserer Ver- GESTALTUNGSKONZEPT UND anstaltungsreihe „Perspektiven“ stehen, die wir regelmäßig ausrichten und die REALISATION mit hochkarätigen Podiumsteilnehmern besetzt ist. Benner + Partner GmbH Dass die Stiftung wichtige Impulse setzt und nachhaltig aktiv ist, macht das DRUCK Engagement in den Bereichen Forschung und Bildung sowie Gesellschaft & Kul- raff media group gmbh, Riederich tur deutlich. So fördern wir einen „Escape Room“ (S. 56), der die Medienkompetenz HINWEIS junger Menschen stärken soll; wir stellen Ihnen Forschungsprojekte vor, die es Bei allen Bezeichnungen, die auf erfolgreich von der Theorie in die Praxis geschafft haben (S. 49). Und wir erzählen Personen bezogen sind, meint die gewählte Formulierung beide die bewegende Geschichte eines Wissenschaftlers, der nach seiner Flucht aus der Geschlechter, auch wenn aus Grün- Türkei Unterschlupf in Baden-Württemberg gefunden hat. den der leichteren Lesbarkeit nur die Ich wünsche Ihnen berührende, vor allem aber erhellende Momente beim männliche Form verwendet wird. Lesen dieser Ausgabe. © Oktober 2018 Ihr Christoph Dahl 3
02/2018 Inhalt Dossier: Datenschutz 6 9 12 14 20 28 32 6 V om Irrsinn des 14 Wissen ist Macht! 26 Datenkrake auf Diät Jahrtausends ndreas Weigend, führender A Eine pfiffige Software macht den Warum Unternehmerin Datenexperte, wünscht sich von Schutz persönlicher Daten leicht Yvonne Hofstetter Google & Co. Unternehmen mehr Fairness nicht vertraut 28 Maschinen mit 17 Ein bisschen Köpfchen 9 Das Gefühl, Big Brother Im Cyber Valley legen Forscher aus ein anderer zu sein Es setzt sich genau die Technik dem Land die Basis für intelligente er Cyborg Ralf Neuhäuser D durch, die zur Gesellschaft passt, Technik, wie ein Laborbesuch zeigt über die Beziehung zwischen sagt der Soziologe Armin Mensch und Maschine Nassehi 32 Mein Ding An der Freiburger Pestalozzi- 12 Wir brauchen einen 20 Das Kässle bleibt Realschule leben Schülerinnen Ausschaltknopf im Dorf und Schüler digitale Demokratie Technologie soll Grundrechte Eine schwäbische Bankfiliale zeigt, wahren, fordert Petra Grimm, dass es auch ohne Computer und Leiterin des Stuttgarter Instituts Internet geht für Digitale Ethik 4
Geschichten aus der Stiftung 52 40 46 62 Mit dem Stimm 56 62 hammer nach Italien Wie ein Stipendium Klavierbauerin Livia Oberem neue berufliche Chancen ermöglicht hat 64 Klasse Klima Was brauchen Kinder, um sich in der Schule wohlzufühlen? Die Freiburger Soziologin Prof. Dr. Katja Scharenberg sucht Antworten 40 Ein Wissenschaftler 49 Raus aus dem Labor! 67 Kurz & knapp im Exil iele Forschungsprojekte der V F ür seine Flucht aus der Türkei Baden-Württemberg Stiftung 70 Was wurde hat Professor Ali Tekin einen schaffen den Sprung in die eigentlich aus ...? hohen Preis bezahlen müssen Anwendung, wie drei eindrucks volle Beispiele belegen 46 Gestalten statt abschotten 52 Aldebaran, ahoi! it dem „Zentrum Liberale M Junge Erfinderinnen und Erfinder Moderne“ sucht Ralf Fücks Alternativen zum erstarkenden Antiliberalismus erkunden auf dem Forschungs- schiff den Bodensee 70 56 Der Rätselmacher Philipp Reinartz entwickelt Spiele, die junge Erwachsene für den Ernst des Lebens rüsten 5
Das sagt die Unternehmerin Yvonne Hofstetter gilt als eine der wichtigsten und stärksten Kritikerinnen des Internets. Wir haben mit der engagierten Münchnerin über die Datenschutz-Debatte gesprochen. Interview _ Anette Frisch Wie stehen Sie zu Social Media? haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. mieren kann. Sollten wir, die Nutzer, die Nutzen Sie zum Beispiel Facebook Folglich schlagen wir uns mit Fake News, Gesellschaft, diese Mensch-Maschine-Un- oder Twitter? Trollen und viralen Unwichtigkeiten wie schärfe soziologisch legitimieren, weil wir Yvonne Hofstetter: Nein. Die Werbetech- #dressgate oder #davidafterdentist her- alle mitmachen, es gut finden oder es uns nologien amerikanischer Konzerne als um. Das ist nur konsequent. einfach egal ist, können wir die Grund- „soziale Medien“ zu bezeichnen – da stim- rechte und die Demokratie begraben. me ich der Feststellung eines deutschen In Ihrem Buch „Das Ende der Demokra- Denn sie basiert auf einem bestimmten Journalisten zu – ist das größte Täu- tie“ schreiben Sie, dass Unternehmen Menschenbild: dass der Mensch ein freier schungsmanöver seit der Umbenennung wie Google oder Facebook mit unseren ist. Ein anderes Wort für Souveränität ist des US-Kriegsministeriums in Verteidi- Freiheitsrechten Geschäft machen. Menschenwürde. Wer den freien Men- gungsministerium im Jahr 1947. Was kann Können Sie Ihre These einmal genauer schen beerdigt, indem er ihn zur Sache ich von Werbetechnologien erwarten? Na- erklären? erklärt, und einen neuen Menschen, die türlich Werbung. Es wird übertrieben, Was halten Sie von folgendem Anspruch „Menschmaschine“, schafft, ist der To- weggelassen, hinzugedichtet und gelo- des amerikanischen Technologieunter- tengräber unserer freiheitlich-demokra- gen. Die amerikanischen Plattformen des nehmens x.ai: „Wir wollen unsere Künst- tischen Gesellschaft. Dazu passt übrigens Silicon Valley sorgen dafür, dass wir von liche Intelligenz dafür einsetzen, die auch die Ideologie von Transhumanismus Werbung überschüttet werden, damit wir Menschen umzuprogrammieren, damit und Posthumanismus. konsumieren, als gäbe es kein Morgen sie sich besser benehmen.“? Oder von mehr. Dass wir, die Bürger, die Werbeplatt- Aussagen wie: „Menschen sind die ulti- Ihr Unternehmen selbst arbeitet im formen von Konzernen trotzdem zum mativen Maschinen.“ und „Ein Mensch Bereich Künstliche Intelligenz. Ist es Dreh- und Angelpunkt unserer Meinungs- ist nur ein biologistischer Algorithmus.“ für Sie kein Widerspruch, einerseits freiheit erkoren haben und glauben, wir Nun, hier stellt sich die Frage: Wer ist mit Daten zu handeln, andererseits könnten uns dort seriös informieren, halte der Mensch? Offenbar nach den Vorstel- harsche Kritik am System zu üben? ich für eine der größten Verrücktheiten lungen heutiger Unternehmensgiganten Daten kaufen und verkaufen? Wir han- dieses jungen Jahrtausends. Die Werbe- ein Zwischending von Mensch und Ma- deln nicht mit Daten. Wir analysieren technologien der Technologiemonopole schine, eine Sache, die man umprogram- nicht einmal Humandaten. Wir fassen > 6
02/2018 Dossier: Datenschutz »Die amerikanischen Plattformen des Silicon Valley sorgen dafür, dass wir von Werbung überschüttet werden, damit wir konsumieren, als gäbe es kein Morgen mehr.« Yvonne Hofstetter Foto Heimo Aga 7
02/2018 Dossier: Datenschutz sie nicht an. Mit unseren Technologien Möglicherweise hat der Facebook- werden optimale Entscheidungen unter Unsicherheit berechnet. Eines meiner Yvonne Hofstetter Skandal zu einem stärkeren Daten- schutz-Bewusstsein geführt ... Teams arbeitet in Paris daran, den städti- ist Juristin, Sachbuchautorin und Unternehmerin. Darauf würde ich meine Hoffnung nicht schen Lieferverkehr fließender zu ma- Seit 2009 ist sie Geschäftsführerin eines Unterneh- setzen. Die technologischen Kräfte der Di- chen. Das Team Logistik erfasst rohe mens, das auf den Gebieten Big Data, Künstliche gitalisierung sind unsichtbar, und was der Messdaten von Paketen, Wetterverhält- Intelligenz und Industrie 4.0 arbeitet. Hofstetter ist Mensch nicht sieht, das versteht er nicht. nissen oder Staus und berechnet daraus außerdem Mitinitiatorin der Charta der Digitalen optimale Lkw-Beladungen und umwelt- Grundrechte der Europäischen Union. Von ihr er- Was wäre Ihre Lösung, wie wir freundliche Routen. schien zuletzt „Das Ende der Demokratie – Wie die Eigentümer unser Daten werden künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns könnten? Sie schreiben auch, dass Algorithmen entmündigt“. Für ihr demokra- Wir werden nie mehr „Eigentum“ an un- von Facebook klassifizieren und tisches Engagement erhielt die seren Daten zurückgewinnen. Erstens, deshalb rassistisch sind. Wie kommen Münchnerin im Juni den renom- weil zu einer technologischen Kraft der Sie darauf? mierten Theodor Heuss Preis. Digitalisierung gehört, was wir „Flow“ Weil schon in den Rohdaten, die von Al- Yvonne Hofstetter schreibt derzeit nennen. Wird etwas einmal im Internet gorithmen beziehungsweise Künstlichen an ihrem neuen Buch, das voraus- freigesetzt, fließt es für immer durchs Intelligenzen verarbeitet werden, unsere sichtlich im Herbst 2019 erscheint. Netz, wird ohne Informationsverlust ko- menschlichen Vorurteile enthalten sind. piert, vermischt oder zu neuer Informati- Etwa bei der vorausschauenden Polizei- on. Da gibt es nichts mehr zurückzuholen, arbeit in Chicago oder Kent. Wenn eine weder von den globalen Überwachungs- Polizeibehörde seit Jahrzehnten rassisti- konzernen noch von unseren Lieferanten, sche Vorurteile pflegt und zum Beispiel ganz anderen Standpunkt. Nämlich den, unseren Arbeitgebern oder dem Staat. viermal mehr Afroamerikaner wegen dass diese Technologien eben „tolle“ Daten konvergieren nämlich, das heißt, Drogendelikten verhaftet als Weiße, Überwachungstechnologien abgeben, global wird früher oder später jeder Zu- dann manifestiert sich dieses Vorurteil mit denen man ein autokratisches, griff auf unser digitales Abbild haben. faktisch in den Datenbanken der Polizei. diktatorisches System für die Ewigkeit Zweitens: Es gibt gar kein Eigen- Füttere ich diese Rohdaten einer Künstli- zementieren kann, indem man wegen tum an Daten. Das wäre ein rechtliches chen Intelligenz, dann fügt sie diesen Da- der hohen Transparenz des Verhaltens Konstrukt, über das man in rechtswis- ten nichts hinzu, sie stellt sie nur viel der eigenen Bevölkerung und seiner senschaftlicher Forschung und Gesetzge- schärfer ein. Die Folge: Die Diskriminie- Netzwerke Widerstand schon ganz im bung diskutieren müsste. Ich muss Ihnen rung wird noch viel schlimmer, und wir Vorfeld unterdrückt. aber gleich die Hoffnung rauben: Daten sprechen von technologischem Rassis- Facebook hat nichts falsch gemacht. eigentum hat nicht viele Freunde. Nur mus. Uns allen muss deshalb klar sein: Facebook ist ein Unternehmen, und als wenn Ihre Daten anderen zur Verfügung Maschinen entscheiden überhaupt nicht Unternehmen hat es zum Ziel, Umsatz stehen, kann jemand damit Geld verdie- objektiver als Menschen. Im Gegenteil. und Gewinn zu machen, den Sharehol- nen und ist Wirtschaftswachstum garan- Und technologische Lösungen dafür ste- der Value zu steigern und – ganz in neo- tiert. Vielleicht nicht in Ihrem eigenen cken maximal in den Kinderschuhen, liberalistischer Manier – Wettbewerber Haushalt, aber global. Davon müssten Sie will heißen: Noch haben die Technologen möglichst auszuschalten. So gesehen ist auch etwas haben, wenigstens keine Ver- keinen Weg gefunden, Maschinen weni- Facebook megaerfolgreich. Unternehmen schlechterung Ihres Lebensstandards. ger rassistisch zu machen. haben nämlich nicht primär den Zweck der Daseinsfürsorge oder das Ziel, sich Wenn Sie Mark Zuckerberg ein Post-it Ist es nicht eigenartig, dass Facebook möglichst moralisch zu verhalten. Sonst schreiben würden, welche Botschaft in seinen Anfängen für genau das wären sie der Staat oder eine Stiftung würde darauf stehen? Gegenteil gefeiert wurde? Nämlich ohne Gewinnerzielungsabsicht. Darf ich – frei übersetzt – meinen Berufs- dafür, dass sich Menschen über Länder- Aber wir, die Gesellschaft, machen kollegen Antonio García Martínez zitieren, grenzen hinweg vernetzen können. einiges falsch. Wir legitimieren das Ver- der bei Facebook als Produktmanager ge- Was hat Facebook falsch gemacht? halten von Facebook und Co. Genau das arbeitet hat? „Gegen das hier ist die Wall Das ist eine sehr „westliche“ Sicht auf die sollten wir nicht tun, jedenfalls nicht so Street eine Friedensbewegung.“
Das sagt der Cyborg Ralf Neuhäuser trägt drei Chips unter der Haut. Er selbst bezeichnet sich als »Cyborg mit einem Augenzwinkern«. Wie der 53-Jährige seine persönliche Verbindung zwischen Mensch und Maschine erlebt, erzählt er im Interview. Interview _ Anette Frisch Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Das ist der Glaszylinder, in dem sich der einbauen musste. Das ist ein bisschen das sich einen Chip implantieren zu lassen? Chip befindet. Der ist nicht größer als Problem. Es gibt Chip-Sets unterschiedli- Ralf Neuhäuser: Die endgültige Entschei- zwölf Millimeter. Das Glas ist medizinisch cher Hersteller, verschiedene ISO-Normen dung war sehr impulsiv. Ich war im Ok hochpoliert und beschichtet, damit er an und mindestens drei Frequenzen. Im tober 2017 auf einer Veranstaltung zum der Stelle bleibt und nicht durch den Kör- Grunde muss man vorher wissen, was Thema Digitalisierung. Da gab es einen per wandern kann. Den dritten Chip habe man mit dem Chip machen möchte, und Speaker, der einen Vortag über Biohacking ich mir Mitte September selbst eingesetzt. sich danach einen aussuchen. hielt. Ich hatte mich im Vorfeld mit seiner Und der vierte liegt auch schon parat. Assistentin unterhalten, die sich später auf Haben Sie keine Angst vor der Bühne einen Chip implantieren ließ. Wie machen Sie das? Datendiebstahl? Nach ungefähr drei Minuten unserer Un- Ich setze ihn mir mit einer Spritze ein, Also, ich muss, glaube ich, noch ein paar terhaltung wusste ich, dass ich auch so ein die ist etwa so dick wie eine Kugelschrei- kleine Vorurteile ausräumen. Ding haben wollte. Später wurde also auch bermine. Ich muss die Hand nicht lokal mir ein Chip eingesetzt. Ich hatte sozusa- betäuben, das Ganze ist eine Sache von Nur zu ... gen gleich meine erste Cyborg-Schwester. Sekunden. Es kommt ein Pflaster drauf, Der Chip hat keine Batterie, er strahlt nicht und das war’s. und sendet von sich aus nichts. Er basiert Wo sitzt der Chip? auf der so genannten Near-Field-Commu- Ich habe mittlerweile zwei Chips in der Welche Daten befinden sich nication, ähnlich wie sie Unternehmen linken und einen in der rechten Hand. auf Ihren Chips? bei ihren Zugangskarten verwenden. NFC Und zwar in dem Bereich zwischen Dau- Auf einem Chip habe ich meine Notfallda- funktioniert nur auf einer sehr kurzen Dis- men und Zeigefinger. Sie können ihn ten, meine Blutgruppe und meine Kon- tanz, im Prinzip über direkten Kontakt. fühlen, wenn Sie hier einmal etwas fes- taktpersonen gespeichert. Mit einem Chip ter draufdrücken ... in meiner linken Hand kann ich meine Und wenn ich eine App auf meinem Bürotür öffnen. Das erfordert allerdings Smartphone habe, mit der ich Ihren Stimmt. Ich fühle einen kleinen einen elektronischen Schließzylinder, den Chip in der dicht gefüllten U-Bahn runden Gegenstand ... ich zu diesem Zweck kaufen und in die Tür auslesen könnte? > 9
02/2018 Dossier: Datenschutz Ja, theoretisch ist das möglich. Aber erst ben, dass auch ein bisschen Narzissmus mal müssten Sie mir unbemerkt nahe eine Rolle spielt. Das Thema ist ja sehr kommen, vor allem lange genug nahe öffentlichkeitswirksam und ich bin Öf- kommen. Sie müssten ganz genau wis- fentlichkeitsarbeiter für den Factory sen, wo mein Chip sitzt. Dann kommt Campus. Das heißt auch, dass ich voran- aber der entscheidende Faktor: Sie gehen möchte. müssten wissen, wie Sie die auf ihm enthaltenen Informationen missbrau- Na ja, wenn man so will, legen Sie mit chen können. Datenminiatur bald vier Chips unter der Haut ein ganz schönes Tempo vor ... Wo genügend kriminelle Energie ist, Den Chip hat sich Ralf Neuhäuser selbst unter Wissen Sie, ich habe so viel German da ist auch ein Weg, oder? die Haut gesetzt. Der Düsseldorfer ist Botschafter Angst erlebt, in Diskussionen so viel Zag- Klar, aber im Grunde unterscheiden sich des Technologieparks Factory Campus. Im Sep- haftigkeit und Skepsis gegenüber neuen die Sicherheitsprobleme überhaupt nicht tember hielt er in Hamburg auf der digitalen Ju- Technologien erfahren. Ich will niemand von denen, die wir mit anderer Technik gendmesse TINCON den Vortrag „About being a sein, der irgendwas erst dann macht, haben. Jeder digitale Datenträger ist kor- cyborg“. Im Herbst fuhr der Tourbus der Initiative wenn es hunderttausendfach erprobt ist. rumpierbar. Und jede Sicherheit steht im #bawükommt den Düsseldorfer Factory Campus Ich will Pionier sein, immer mit gesun- Verhältnis zum schützenswerten Gut. an. Die einmal jährlich stattfindende Aktion läuft dem Sachverstand und einer gewissen Cyberkriminelle sind nichts anderes als unter der Schirmherrschaft von Baden-Württem- Kritikfähigkeit. Deshalb habe ich mich Unternehmer. Sie wägen Aufwand, Risi- bergs Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeis- zum Beispiel auch für ein Beta-Programm ko und Gewinn ab. Und was meine Chips ter-Kraut und wird von der Regionalgruppe des des Entwicklers Amal Graafstra bewor- betrifft: Ich kann die Daten genauso ver- Bundesverbands Deutsche Startups e.V. organisiert. ben, der in der Szene sehr bekannt ist. schlüsseln, wie andere Datenträger das auch können. Was ist das Besondere an diesem Programm? Ich würde gern noch einmal zur Graafstra hat einen Flex-Chip entwickelt, Veranstaltung und zu Ihrer impul- eine flexible Platine. Dieser Chip kann ei- siven Entscheidung zurückkommen. gene Kryptocodes schreiben und soll so Was genau war es, was Sie damals sicher sein, dass man damit zukünftig überzeugte? bezahlen kann. Die Platine wird mit einer Ich begeistere mich seit meiner Jugend kleinen Operation unter die Haut im- für die Schnittstelle zwischen Mensch plantiert. und Technik. Der Chip ist erst einmal eine Erweiterung meines Bewusstseins. Mich Sie selbst haben vor Kurzem in einem interessiert die Frage: Was passiert mit Vortrag erklärt, wie es ist, ein Cyborg zu mir, wenn ich so ein Ding trage? Ich habe sein. Sind Sie einer? in meinem Körper eine Funktion, die ich Nun ja (lacht), vielleicht mit einem kleinen nicht trainieren, sondern nur durch mei- Augenzwinkern. Zumindest habe ich das ne Entscheidung erwerben kann. Als ich Gefühl, ein Cyborg zu sein, weil ich mich den Chip eingesetzt bekam, hatte ich bewusst und mit freiem Willen entschie- gleich das Gefühl, ein anderer zu sein. den habe, Technik in mir zu tragen.
»Ich will niemand sein, der irgendwas erst dann macht, wenn es hundert- tausendfach erprobt ist. Ich will Pionier sein.« Ralf Neuhäuser 11
Das sagt die Medientheoretikerin Intelligente Technik fordert das menschliche Selbstverständnis heraus. Die Expertin für Digitale Ethik Prof. Dr. Petra Grimm entwickelt Regeln für das Zusammenspiel von Menschen und Maschinen. Interview _ Rolf Metzger schinen, das soziale Gefüge, Wert und Eine Leitfrage sollte sein: Inwieweit befä- Gestaltung der Arbeit, die politische Wil- higt die Technik den Menschen zu einem lens- und Meinungsbildung. Wenn wir guten Leben? Die Maxime hieße also: Machen digitale Technologien eine intelligente Systeme menschengerecht Entwickle und gestalte Algorithmen und neue Ethik erforderlich? gestalten möchten, muss klar sein, wel- intelligente Systeme so, dass sie das leis- Petra Grimm: Die Digitalisierung offen- che Prinzipien gelten sollen, wie sie sich ten und zudem die menschlichen Grund- bart neue soziale, ökonomische und poli- entwickeln und kontrollieren lassen. rechte wahren. Wir sollten uns auch tische Phänomene, die veränderte Pers- nicht zwingen lassen, Verhalten, Kom- pektiven nötig machen – etwa zum Wert Worauf sollten die Nutzer achten? munikation und Wünsche an Maschinen der Privatheit und der Autonomie gegen- Sie sollten selbstbestimmt mit digitaler anzupassen. über Maschinen. Was sagt die Ethik zu Technik umgehen. Von den Unterneh- Manipulationen durch politische Kampa- men sollten sie einfordern, Autonomie Brauchen wir ethische Regeln im gnen im Netz? Was sagt sie zu Gesichtser- und Privatheit nicht zu unterlaufen. Und Umgang mit Künstlicher Intelligenz? kennung und Sprachassistenten? Solche sie sollten darauf dringen, dass autonome Ich halte den Ansatz von „Ethics by De- Fragen müssen wir beantworten. Systeme einen Ausschaltknopf haben, sign“ für vielversprechend. Hier geht es damit sich etwa eine Aufzeichnung von darum, neue technische Anwendungen Welche Herausforderungen stellen sich? Gesprächen im Auto unterbinden lässt. schon im Entstehungsprozess ethisch zu Big Data und Künstliche Intelligenz ha- begleiten, zu bewerten und zu steuern. ben Auswirkungen auf den Einzelnen Wie kann man Risiken begegnen? Ethik muss Werte und Normen in die und die Gesellschaft. Sie beeinflussen Um uns entlasten zu können, müssen in- Technik einbinden. Wichtig ist dabei, unser Selbstbild als Herr über die Ma- telligente Systeme ihre Umwelt wahrneh- dass sie nicht als Feigenblatt miss- men, ein Gedächtnis haben und autonom braucht wird. agieren. Der Mensch herrscht nicht mehr über sie, sondern interagiert mit ihnen. Da- Wie steht Baden-Württemberg bei der Prof. Dr. mit automatisierte Entscheidungen nicht Digitalen Ethik da? Petra Grimm unsere Handlungsfreiheit einschränken, bedarf es einer ständigen Kontrolle. Wir Wir haben die Chance, ein Hotspot für eine ethisch orientierte Forschung zur (* 1962) ist Medien- und Kommunikationswis- brauchen Entwürfe, die Diskriminierung, Künstlichen Intelligenz zu werden. Die senschaftlerin. Sie leitet das Institut für Digita- Manipulation, Sicherheitsrisiken sowie Ressourcen dafür sind in Baden-Würt- le Ethik an der Hochschule für Medien in Stutt- den Verlust an Privatsphäre und Eigen- temberg vorhanden.
02/2018 Dossier: Datenschutz »Ich sehe in den Unternehmen ein zunehmen des Interesse an ethischen Leitlinien für die Digitalisierung.« Petra Grimm Foto Radmila Kerl 13
Das sagt der Datenwissenschaftler Andreas Weigend zählt zu den führenden Datenexperten weltweit. Im Sommer war der Wahlamerikaner kurz in Deutschland. Über die Zukunft von Daten sprachen wir mit ihm während einer Zugfahrt von Mannheim nach Bonn. Interview _ Anette Frisch Ich habe bei meiner Vorbereitung auf ich etwas öffentlich mache, ich alles öffent- und damit über den Grad der Personali- unser Treffen gelesen, dass Sie unser lich mache. Ich tue es dann, wenn ich glau- sierung selbst entscheiden zu können. Gespräch mit Ihrem Diktiergerät auf- be, dass der Mehrwert, den ich aus dem Wir müssen einen Platz an der Schaltzen- zeichnen werden ... Mitteilen meiner Daten bekomme, die Risi- trale unserer Daten bekommen und die Andreas Weigend: Ja. Es geht mir um ken überwiegt. Daten eröffnen Chancen Regler einstellen können. Datensymmetrie. Wir sollen doch die für Entdeckungen und Optimierung. gleichen Chancen haben. Lassen Sie unse- In Ihrem Buch schreiben Sie: „Google re Geräte synchron starten. 3, 2, 1, los ... Das klingt positiv. Aber das Macht weiß besser als ich, was ich wirklich verhältnis zwischen Datenfirmen und will“. Warum sollten wir dann über- Auf Ihrer Website veröffentlichen Sie Individuum ist eher ungleich ... haupt noch etwas regeln? minutiös Ihre Reisedaten – mit Flug- Das stimmt. Es kommt deshalb darauf an, Ich sage das seit mehr als zehn Jahren. nummer, Ankunfts- und Abflugzeit. Wege zu finden, wie die Interessen von Und mittlerweile höre ich diesen Satz je- Ich habe auch gesehen, dass Sie Silvester Datenfirmen mit unseren übereinstim- den Tag! eine Party in Bangkok geben werden. men. Sie sollten uns gegenüber so trans- Haben Sie keine Bedenken, wenn Sie parent sein wie wir ihnen gegenüber. Und Na gut. Aber er steht so in Ihrem Buch. so offen mit Ihren Daten umgehen? wir sollten mitbestimmen können, wie Und ich finde, dass in einem solchen Warum? Wenn ich meine Flüge ins Web unsere Daten verwendet werden. In mei- Satz eine gewisse Ausweglosigkeit stelle, ist das sehr praktisch. So kann zum nem Buch schildere ich, wie wir die bei- steckt, als bliebe uns keine Wahl, als Beispiel jemand, der mit mir übermorgen den Ziele erreichen können. wären wir User machtlos. telefonieren will, versuchen, mich drei Denken zu wissen, was man will, ist Stunden vor meinem Abflug in Lissabon Wie stellen Sie sich das konkret vor? häufig eine Illusion. Menschen sind sehr zu erreichen. Ich habe sechs Grundrechte entwickelt, vorhersehbar. Eine Maschine, die nichts mit denen wir als User mehr Handlungs- vergisst, ist oft genauer als wir selbst. Also, ich möchte nicht jedem mitteilen, fähigkeit bekommen. Also die Fähigkeit, wo ich bin oder sein werde. frei zu entscheiden, wie Datenfirmen un- Sie finden, dass eine Maschine besser Das sollten Sie auch nur tun, wenn Sie sich sere Daten nutzen. Zu den Rechten, die ist als ein Mensch? davon einen Vorteil erhoffen. Des Weiteren mir vorschweben, zählt zum Beispiel die Ich möchte betonen: Es geht mir nicht heißt das ja noch lange nicht, dass, wenn Möglichkeit, Daten unscharf zu machen darum, einen Gegensatz zwischen > 14
02/2018 Dossier: Datenschutz »Eigentlich sollten wir es Facebook und Google über- lassen, unsere Regierungen einzusetzen.« Andreas Weigend Foto Social Data Lab 15
02/2018 Dossier: Datenschutz Computer und Mensch aufzubauen. Mir in diesem Abteil sitzen und miteinander Sie widersprechen ihr nicht? geht es nicht um ein „Race against the sprechen. Wir kannten uns ja nicht und Nein. Denn Zuboffs Perspektive wirft die Machine“, also nicht um den Wettkampf wussten nicht, wie wir aussehen ... Frage auf, ob wir von den Datenraffinerien gegen die Maschine, sondern um den auf mehr als Almosen hoffen können. Dies Wettkampf mit ihr, ein „Race with the Ma- Ich bin mir sicher, wir hätten uns auch ist nicht einfach, weil es eine fundamentale chine“. Und dazu brauchen wir das Wis- ohne Platzreservierung gefunden ... Datenasymmetrie gibt: Wenn meine Daten sen, wie unsere Daten verwendet werden. Ja, zum Beispiel, wenn Sie mit einem bei Google nicht vorhanden sind, macht Schild herumgelaufen wären. Es ist ganz das für Google keinen Unterschied. Wenn Wir müssen also lernen, mit Daten klar, dass wir sowohl utopische als auch meine Nutzung von Google aber abgestellt umzugehen? dystopische Szenarien entwickeln kön- wird, macht das für mich einen extrem gro- Ja, absolut! Wir müssen in der Lage sein, nen. Die interessante Frage ist, wann die ßen Unterschied. Wenn bei Google jemand unsere Daten interpretieren zu können. potenziellen Risiken die potenziellen Vor- „Andreas Weigend“ eingibt und es wird Ich nenne das Datenkundigkeit. Dazu ge- teile von Daten überwiegen. nichts anzeigt, ist das der digitale Tod. Das hört die Fähigkeit zu verstehen, wie Da- Problem ist, dass wir als Individuen keine tenfirmen arbeiten, welche Parameter Und wie ist Ihre Antwort darauf? Chance gegen Google und Co. haben, son- verändert werden können und welche Jetzt wird es schwierig: Auf der einen Sei- dern nur dann, wenn wir uns zusammen- Konsequenzen das Teilen unserer Daten te sage ich, es ist toll, dass Google mir rele- schließen und kollektiv agieren. Diese Situ- haben kann. So ein Wissen ist notwen- vante, also personalisierte Nachrichten ation ist mit der Arbeiterbewegung und dig, weil wir uns bei den meisten Ent- anbietet und Amazon mir Produkte zeigt, der Gründung von Gewerkschaften ver- scheidungen von Analysen und Empfeh- die zu mir passen. Auf der anderen Seite gleichbar. In dem Sinne hat Zuboff Recht. lungen leiten lassen, die Datenfirmen möchte ich nicht manipuliert werden. erstellt haben. Auf dieses Dilemma gibt es keine prinzi- Ihr Buch ist vor dem Facebook-Skandal pielle Antwort. Es ist nicht schwarz oder erschienen. Stehen Sie Datenunterneh- So eine Datenkundigkeit würde auch weiß, sondern eine Frage des Abwägens men jetzt kritischer gegenüber? dazu führen, dass demokratische Wah- von Grautönen. Ich habe an Facebook geglaubt. Und ich len dann über Facebook oder Google fühle mich jetzt von Facebook verraten, das ablaufen könnten. So schildern Sie das Die amerikanische Wirtschafts ist sehr schmerzhaft. Es ist ein Mangel an zumindest in Ihrem Buch ... wissenschaftlerin Shoshana Zuboff Integrität, der mit dem Skandal zu Tage ge- Wahlergebnisse werden häufig von Zu bezeichnet Facebook und Google als treten ist. Integrität bedeutet für mich: Du fällen bestimmt. Zum Beispiel kann das Überwachungskapitalisten ... tust, was du sagst. Es stört mich maßlos, Wetter einen Einfluss auf Wahlen haben. Da ist was Wahres dran. dass Facebook die Daten gegen Menschen Deshalb die Frage: Gibt es robustere verwendet hat. Ich möchte, dass die Daten Datenquellen, mit denen ich jahrein, über und von Menschen Daten für Men- jahraus, bei Sonne und Regen, interagiere schen sind. Das Macht(un)gleichgewicht und die zuverlässiger sind? Google weiß zwischen Individuum, Datenfirmen und durch meine Suchanfragen, was ich wis- sen will, und Facebook weiß, wen und Andreas Weigend Staat muss nach dem Skandal neu austari- ert werden. Es geht hier um Fairness. Das was ich mag. Dies inspirierte mich zu wurde in Freiburg geboren. Er hat in Karlsruhe, ist etwas, was mich extrem beschäftigt. meinem natürlich nicht ganz ernst ge- Cambridge und Bonn Physik und Philosophie stu- meinten Vorschlag, dass wir unsere Re- diert. Als ehemaliger Chief Scientist von Amazon Sie leben in Kalifornien, China und in gierungsbildung doch einfach Facebook entwickelte er mit Jeff Bezos die Daten- und Inno- Thailand. Welchen Blick haben Sie auf und Google überlassen sollten. Vielleicht vationsstrategie des Unternehmens. Weigend leitet Deutschland? kann das unser demokratisches Kreuz- das Social Data Lab und lehrt an der University of Mit Blick auf die Datenschutzverordnung, chensetzen ergänzen. California in Berkeley und an der Fudan University die im Mai in Kraft getreten ist, kann ich nur in Schanghai. Er berät weltweit Unternehmen und sagen: Respekt! Über eine Milliarde E-Mails Bei all dem, was in der Welt von Organisationen, darunter das wurden verschickt. Sie hat uns angeregt, Twitter und Facebook los ist: Sollen Weltwirtschaftsforum. über unsere Daten nachzudenken, und wir politische Entscheidungen damit eine gigantisch große Erziehungs- wirklich Algorithmen überlassen? Buchtipp: Data for the maßnahme ins Rollen gebracht.
Das sagt der Soziologe Berührungsängste, was das Thema Daten betrifft, hat Armin Nassehi nicht. Im Gegenteil. Der Soziologe sieht darin sogar einen der entscheidenden Treiber für sozialen Wandel. Interview _ Anette Frisch Was interessiert Sie als Soziologe ne ästhetischen und Konsumvorlieben so privaten Akteuren, Unternehmen, Ban- an Daten? aussehen, sind sie wahnsinnig regelhaft. ken. Große Datenmengen werden aller- Armin Nassehi: Als jemand, der sich für dings schon länger gesammelt. Denken die gegenwärtige Gesellschaft interes- Welche sind denn Ihre regelhaften Sie an die nationalen statistischen Äm- siert, kommt man an dem Thema nicht Vorlieben? ter, die im 19. Jahrhundert entstanden vorbei. Man müsste eher erklären, wie Ich bin fast 60 Jahre alt. Mein Umfeld sind. Mit dem Unterschied, dass Daten zu man als Soziologe nicht darauf stoßen würde ich als durchaus gediegen be- der Zeit gezielt und mit einem bestimm- kann. Diese ganzen Datenverarbeitungs- schreiben, andererseits auch ein biss- ten Zweck gesammelt wurden. Heute formen zeigen uns auf, wie erwartbar chen bürgerlich-behäbig. Ich finde klassi- sind die Daten nicht immer gezielt erho- unser Verhalten ist. Wir denken immer, sche Musik schön. Und auch mein Auto, bene Daten, sondern ein Rohstoff, aus dass wir als individuelle Akteure ent- ich fahre einen Mercedes-E-Klasse-Kom- dem sich erst Anwendungen ergeben. Es scheiden, aber eigentlich tun wir das bi mit dem kleinsten Benzinmotor, ent- können auch unterschiedliche Datensät- nicht. Wir stecken gewissermaßen in ei- spricht den ästhetischen Erwartungen ze miteinander kombiniert werden, und nem Muster, das man mit Datenverarbei- an meinen sozialen Status. Soziologen daraus ergeben sich neue Fragen. tungsformen erkennen kann. interessieren sich dafür, in welchen Zu- sammenhängen Menschen entscheiden Unsere Entscheidungen werden Das müssen Sie bitte erklären. und wodurch Entscheidungen vorge- also nicht mehr allein durch unser Man kann aus Bewegungsprofilen von prägt werden. Das ist es auch, was die soziales Umfeld, sondern von Big Data Menschen auf Plätzen errechnen, ob die Soziologie für viele Leute zu einer wirk- bestimmt. Dass wir frei entscheiden, Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags lich schlimmen Wissenschaft macht. ist demnach eine Illusion? steigt. Man kann aus Gesichtserkennung Weil Soziologen immer schon sagen kön- Wir haben innerhalb eines strukturellen entnehmen, was eine Person fühlt. Man nen: „Na ja, das sagst du, weil du aus die- Rahmens durchaus eine sehr individuelle kann an Suchanfragen bei Google able- sem Milieu kommst, diese Klassenlage Wahl, wir sind auch verantwortlich für sen, ob irgendwo gerade eine Grippe und dieses Geschlecht hast.“ Aber genau das, was wir tun. Aber die Idee der völlig epidemie ausbricht. Aus diesen Daten las- dieses Regelhafte wird jetzt durch die Da- freien, individuellen Entscheidung, die sen sich Muster ableiten. Für einen tenverarbeitung professionalisiert. aus sich heraus entsteht, ist eine Illusion. Soziologen ist das deshalb so spannend, Die Soziologie weiß schon lange: Da wir weil es zeigt, dass die Gesellschaft viel re- Wie meinen Sie das? so unterschiedlich entscheiden, enthält gelmäßiger funktioniert, als wir immer Heute werden Daten von allen mögli- jede Entscheidung eine Information, die glauben. Wenn ich mir angucke, wie mei- chen Leuten gesammelt. Vom Staat, von in der Anhäufung erstaunlicherwei- > 17
02/2018 Dossier: Datenschutz se regelmäßiger ist, als sich das die Ent- Wenn jetzt also Datenfirmen die neuen oder Strukturen wissen darf als ein Un- scheider selbst vorstellen können. Das ist Kontrolleure der Gesellschaft werden – ternehmen – das seinen Sitz noch dazu durchaus eine Kränkung. wie wirkt sich das auf diese Gesell- in einem Territorium hat, das nicht dem schaft aus? des kontrollierenden Staates entspricht. Sie meinen Kränkung, weil uns durch Interessant ist, dass sich mit der Datenver- Territorialität war einmal ein staatli- die Möglichkeiten der Datenverar- arbeitung so etwas wie eine wissen- ches Privileg. Das verschwindet. beitung klar wird, wie sehr unsere schaftsähnliche Form der Beobachtung Entscheidungen von Normen bestimmt der Gesellschaft etabliert, die zu Erkennt- Weil Daten aus allen Teilen der Welt werden? nissen führt. So etwas gab es zuvor eigent- stammen und miteinander kombiniert Ja. Denn was uns die Digitalisierung lich nur in der theoriegeleiteten For- werden? vermittelt, ist: Die Autonomie des Ein- schung. Oder staatlich, wenn es um Ich werde bisweilen gar nicht als Indivi- zelnen war immer schon ein Mythos. Sie Planung und Überwachung geht. Nun dualperson gespeichert, sondern als ein kennen vielleicht diesen wunderbaren greift diese Art der Realitätsverarbeitung Kombinationsmuster. Ich bringe das auf Satz von Margaret Thatcher: „There is no auf andere, nichtstaatliche und nichtwis- die Formel, dass die Gesellschaft bereits such thing like society, there are only senschaftliche Akteure über. ohne die Digitaltechnik digitalisiert ist. individuals and families.“ Es gibt keine Und deshalb ist die Digitaltechnik die Gesellschaft, es gibt nur Individuen und Sie meinen Datenunternehmen, die ein Leittechnik dieser Gesellschaft. So wie es Familien. Dieser Satz kann spätestens wirtschaftliches Interesse verfolgen? zur Zeit der Industrialisierung die jetzt als widerlegt gelten. Ja. Und damit wird Kontrolle im Sinne Dampfmaschine und kurz danach das von Berechnung und Berechenbarkeit Fließband gewesen ist. Nach dieser Vorstellung gibt es also nur tatsächlich ausgelagert. Letztlich dringen Gesellschaft und keine Privatheit? diese Techniken in das ein, was zuvor Das klingt widersprüchlich. Nun, Privatheit und privates Verhalten eher hoheitliche Befugnisse waren. Noch Wie meinen Sie das? sind ja selbst ein gesellschaftliches Mus- stärker: Es ist eine Konstellation denkbar, Ich würde es techniksoziologisch so for- ter. Wir leben in einer Gesellschaft, in der in der der Staat aufgrund seiner hoheitli- mulieren, dass sich immer nur die Technik wir im Prinzip die Unterscheidung von chen Befugnisse weniger über Bürger durchsetzt, die zur Gesellschaft passt. Un- öffentlich und privat nicht mehr treffen sere Vorstellung ist meist: Da ist die Ge- können. Wir merken an uns selbst, dass sellschaft, und dann knallt da irgendeine die Dinge beobachtbar sind. Wir reden neue Technik aus Versehen rein und ver- jetzt gerade miteinander über zwei Han- ändert sie. Aber es ist umgekehrt. Hätten dys, das ist natürlich beobachtbar. Und die alten Griechen bereits die Technik der man kann sich der Beobachtbarkeit nicht Dampfmaschine gehabt, hätten sie damit entziehen. Auch wenn man versucht, gar nichts anfangen können. Und dass die sich herauszuhalten und nicht überall Vernetzung von Computern in einer Welt Datenspuren zu hinterlassen. Schon das entstanden ist, die geradezu grenzenlos Nichtstun wird registriert. erscheint, ist auch kein Wunder. Das kann man auch daran sehen, dass die Leute, die Die totale Kontrolle also ... die Techniken erfinden, oft nicht wissen, Diese Idee von „Big Brother is watching was damit gemacht wird. you“, die stimmt. Aber es ist nicht der Big Brother, der die konkrete Person im Auge Zum Beispiel? hat und über Falsch und Richtig urteilt, IBM ist fast pleitegegangen, weil sich die sondern einer, der nach Mustern sucht Verantwortlichen überhaupt nicht vor- und feststellt, dass er damit am besten re- stellen konnten, dass individuelle Haus- gieren kann. Regieren meint, eine gewisse Kontrolle auszuüben. Das bedeutet zum Armin Nassehi halte einen Computer brauchen können. Die sind davon ausgegangen, dass der Beispiel zu wissen: Wo liegen meine Ab- 1960 in Tübingen geboren, ist Professor für Sozio- weltweite Bedarf eine Handvoll Großcom- satzmärkte? Wer könnte mein potenzieller logie an der Universität München und Herausgeber puter ausmacht. Mehr nicht. Und heute ist Kunde sein? Wer könnte mein potenzieller des Kursbuchs, einer Kulturzeitschrift, die 1965 von in jedem Toaster ein Rechner.
»Die Digitaltechnik ist die Leittechnik dieser Gesellschaft. So wie es zur Zeit der Industrialisierung die Dampfmaschine und kurz danach das Fließband gewesen ist.« Armin Nassehi Foto Hans-Günther Kaufmann 19
In Gammesfeld in Hohenlohe steht die kleinste Bank Deutschlands. Peter Breiter ist der einzige Mitarbeiter und kennt jeden Kunden persönlich. Datenschutz heißt: Alles bleibt in seinem Kopf. Interview _ Isabel Stettin Fotos _ Annette Cardinale Ein-Mann-Bank: Für Peter Breiter ist jeder Kunde gleich. Vertrauen zählt mehr als Profit. Alle bekommen dieselben Konditionen, egal ob sie 100 Euro bringen oder 100.000. 20
02/2018 Dossier: Datenschutz Ihr „Kässle“ ist für die Gammesfelder auch Treffpunkt. Jemand zum Reden ist immer da. Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxxx 21
02/2018 Dossier: Datenschutz Bankrebellen: Fritz Vogt kommt trotz Ruhestand fast jeden Tag vorbei P eter Breiter muss noch das geht nicht.“ Darum soll seine Bank die Adler-Schreibmaschine von 1970, die schnell ein Fax versenden. persönlich bleiben. Die Gammesfelder Philosophie von 1890. Damals gründeten Es piept, summt. Fertig. müssen nur einem vertrauen: Peter Brei- die Gammesfelder ihre Genossenschafts- Aus den Augenwinkeln ter. Immerhin, das hat ein Pfarrer einmal bank. „Was dem Einzelnen nicht möglich sieht Breiter, wie ein Auto gesagt, weiß der Banker von Gammesfeld ist, das vermögen viele“, war das Prinzip auf den Parkplatz rollt. Mit einem rat- mehr über seine Schäfchen als er. Er hört von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, geboren ternden Geräusch geht die Tür auf. Es ist all die kleinen und großen Bankgeheim- vor 200 Jahren. „Er wollte ortsbezogene, 12.30 Uhr. In den nächsten Stunden wird nisse. Und schweigt darüber. kleine Banken, wo jeder jeden kennt“, sagt Breiter kaum Zeit haben, am Schreib- Der Herr über eine Bilanzsumme Breiter. Eingerahmt, wie zur Erinnerung tisch zu sitzen. Zur Mittagszeit füllt sich von gut 31 Millionen Euro trägt Jeans und für ihn, hängt ein Bild von Raiffeisen ne- das Empfangszimmer mit den vier roten ein kariertes Hemd, das silberfarbene ben der Theke, über die er sich zu seinen Stühlen innerhalb von Minuten. Die ers- Haar kurz geschoren. Peter Breiter ist 46, Kunden beugt. Eine Trennscheibe gibt te Kundin des Tages kommt herein, sie aufgewachsen in Blaufelden-Gammes- es nicht. Der Tresor ist gut sichtbar in die hebt Daumen und Zeigefinger. Breiter feld. Ein hohenlohisches Bilderbuchdörf- Wand eingelassen, neben dem Waschbe- versteht das ohne Worte. Er legt 200 Euro chen mit gut 500 Einwohnern, umgeben cken. Die Telefonnummer der Bank hat auf den Tisch, zählt laut mit. Fünf Zwan- von Getreidefeldern. Es liegt zwischen drei Ziffern. Die Kontonummern haben ziger, zehn Zehner. Zack, zack, zack. dem Puppenstuben-Städtchen Rothen- maximal vier. Die Finanzwelt in Gammes- Breiter ist nicht nur der Geldauto- burg ob der Tauber und der Heimat des feld ist überschaubar. mat. Er ist Bankdirektor, Berater, Buchhal- Bausparfuchses, Schwäbisch Hall. ter, Sekretär und Putzmann. Kontoaus- Breiters Arbeitsplatz mitten im Orts- Nicht „computerisiert“, züge für seine 1.020 Kunden schreibt er kern ist ein grün gestrichener Zweckbau, sondern noch menschlich selbst, holt einmal pro Woche das Bargeld früher ein Saatgutlager. Mittlerweile er- Im Wartezimmer sitzt Oliver Krämer auf von der Nachbarbank ab, bringt Briefe innert die kleinste und vielleicht bekann- einem roten Stuhl. Er ist Komponist, The- zur Post, eröffnet Konten. „Kredit heißt teste Bank Deutschlands an ein Museum. atermusiker und ehrenamtlicher Kassen- Vertrauen. Eine Bank ohne Vertrauen, Die Walther-Rechenmaschine ist von 1958, wart des Fischereivereins. In seiner Mit- 22
»Unsere Gesellschaft lässt sich alles zu billig abkaufen: die persönlichsten Daten, Selbst- verantwortung.« Fritz Vogt Überweisungen tippt Breiter auf der alten Adler-Schreibmaschine tagspause hebt er Geld ab und bringt die einen Hackerangriff hinter sich haben. Nur nicht in Gammesfeld. „Die Digitali- aktuelle Mitgliederliste vorbei. Fast alle In ihrer Bank, „Kässle“ nennen sie sie sierung hat dazu geführt, dass wir das Angler haben ihr Konto bei der Gammes- nur, undenkbar. Online-Banking ist bei Zehnfache an Papier brauchen.“ Breiter felder Raiffeisenbank. Breiter zieht ihre dieser Bank gar nicht möglich. Elektro- druckt gerade eine E-Mail aus und heftet Jahresbeiträge ein. „Peter weiß alles“, sagt nische Datenverarbeitung gibt es nicht. sie im Ordner ab. Die Arbeit hat zuge- Krämer. Wem es zu intim ist, dass Brei- Die Bankenwelt fernab von Gammesfeld nommen. Eine strengere Bankenregulie- ter jedes Gehalt und jede Mieteinnahme ist vernetzt, doch diese Raiffeisenbank rung heißt für Breiter vor allem Bürokra- kennt, der ist hier falsch. „Sogar meine ist an kein Rechenzentrum angeschlos- tie: mehr Formulare, mehr Meldungen Kontonummer kennst du auswendig.“ sen. „Mit 50.000 Euro Jahreskosten für und Nachweise. Breiter lacht. „Keine Kunst, nach zehn die Datenstandleitung wäre das viel zu Jahren.“ Sie grinsen sich an. Krämer be- teuer“, sagt Breiter. Datenschutz in Gam- Sicherheit statt Spekulationen ruhigt es, „nicht in der anonymen Masse mesfeld, das heißt: So wenige Daten wie Neben der Theke liegt ein Stapel Blätter. von Kunden unterzugehen.“ „Ich habe das nur möglich verlassen den kleinen Raum. „Datenschutzhinweise“, drei Seiten voll Gefühl, da ist jemand, der immer ein biss- Konten führt Breiter in einer Excel-Tabel- mit Paragrafen für Neukunden. Breiter chen aufpasst. Wie in einer Familie.“ Er le. Überweisungen schickt er per Post winkt ab. „Das meiste davon betrifft uns steckt sein Geld ein. „Nichts verschwindet an die genossenschaftliche Zentralbank gar nicht.“ Weil es das meiste in Gam- in irgendwelchen Kanälen.“ Für ihn ein nach Stuttgart. Die schickt einmal täglich mesfeld nicht gibt. Keine Spekulationen, tröstlicher Gedanke: „In diesem Institut sämtliche Computer-Zahlungsbelege, die keine Aktiengeschäfte, keine Zusatzver- kann nichts passieren. Keine Hacker, kein Breiter Posten für Posten in der Tabelle sicherungen. „Ich will meinen Kunden Datenklau.“ Weil nicht alles so „compute- verbucht. Die Rente der ältesten Kun- nichts andrehen.“ Er hätte auch kaum die risiert“ sei, „sondern menschlich“. din, 97 Jahre alt, den Monatsbeitrag fürs Zeit dazu. Geschäftsbeziehungen und Da- Dass ihre persönlichen Daten bei Fitnessstudio des Nachbarn, insgesamt tenaustausch mit anderen Banken pflegt ihrer Bank sicher sind wie ihr Erspartes, hundert Umsätze am Tag. Breiter nicht. Es gibt Girokonten, Sparbü- davon sind die Gammesfelder überzeugt. Konten, Zahlungsvorgänge, Bu- cher und Kredite. „Alles, was es vor hun- Jedes vierte Finanzinstitut soll bereits chungen – das alles läuft längst digital. dert Jahren schon gab.“ So einfach ist > 23
02/2018 Dossier: Datenschutz Vogt wird gern als der letzte Jünger Raiff eisens angepriesen. Drei Generationen lang war das Gammesfelder Finanzwe- sen in den Händen seiner Familie. „Hätte ich mir je etwas zu Schulden kommen lassen, könnte ich nicht mehr durch das Dorf gehen“, sagt er. David gegen Goliath Vogt lehnte sich auf gegen die Banken- aufsicht, gegen die moderne Technik. Sechs Jahre lang hat er vor Gericht für die Existenz seiner Bank gestritten, als plötz- lich ein zweiter Geschäftsführer gefor- dert wurde – wegen des „Vier-Augen- Prinzips“. Für die Freiheit seiner Bank und das Wohl seiner Kunden wäre er auch drei Jahre ins Gefängnis gegangen. Doch Vogt hat gewonnen. Demokratie lebe von wachen Bürgern, sagt er, die Nicht zu knacken: der alte Tresor. Schon mehrere Einbruchversuche sich nicht alles gefallen lassen, die unab- gab es – die Schattenseite der Berühmtheit. hängig bleiben. „Unsere Gesellschaft lässt sich alles zu billig abkaufen: die persönlichsten Daten, Selbstverantwor- das. Elf Millionen Euro hat die Bank an Er zahlt mit seinen Münzen. „Nur Bares ist tung.“ Seine Stimme wird lauter, er ge ihre Kunden ausgeliehen. Breiter und den Wahres.“ Für Breiter ist das keine Floskel. stikuliert entschlossen. „Wenn dann siebenköpfigen Aufsichtsrat, alle aus dem Bargeld heißt für ihn Freiheit der Bürger, jemand sagt: ‚Kann man eh nichts än- Ort, interessiert bei der Kreditvergabe Demokratie. Das Beschränken von Bargeld dern‘, werde ich rasend. Wir können im- nicht, was in der Schufa-Auskunft steht. ist für mich ein Angriff auf die Privatsphäre. mer etwas ändern. Und wir müssen.“ Sie wissen doch, wer mit Geld umgehen Geldwäsche oder Terrorismus seien doch Breiter bleibt ruhig, nickt nur. Sie kennen kann und wer nicht. nur „vorgeschobene Gründe“ auf dem Weg beide ihre Rolle im Kampf zwischen Die Bank in Gammesfeld verspricht zum gläsernen Bürger. „Je weniger von David und Goliath. Im Museum der gro- eine Sicherheit, wie es sie heute kaum mir bekannt ist, desto besser. Datenschutz ßen Bundesbank hängt mittlerweile ein mehr gibt. Zu Hochzeiten der Finanzkrise heißt auch Schutz vor Überwachung und Foto von der kleinsten Bank. „Wenn wir kamen die Manager aus Hamburg und Kontrolle“, findet Breiter. Facebook? Würde vorbeikommen, erhalten wir eine Füh- München im Porsche mit dem Geldköffer- er nie nutzen. WhatsApp hat er nur instal- rung“. Das hat man Breiter versprochen. chen. Sie wollten Konten eröffnen, auch liert, weil seine Fußballdamen, die er trai- Eine der letzten Kundinnen des wegen der unschlagbaren Zinsen von da- niert, darauf bestanden haben. Abends betritt das kleine Zimmer. Eine mals 3,5 Prozent. „Ich habe alle abgelehnt“, „Dass du dich wehren musst, wenn junge Frau, hochschwanger. „Alles gut bei sagt Breiter. Geld darf nur anlegen, wer du nicht untergehen willst, wirst du doch euch?“, fragt Breiter. „Wie läuft der Haus- aus dem Örtchen stammt oder dort lebt. einsehen.“ Bertolt Brechts Spruch hängt bau?“ Sie vereinbaren ein Gespräch, um an der Wand als stumme Mahnung. Fritz ein neues Konto zu eröffnen. Bald darf sie Bargeld heißt Freiheit Vogt hat ihn an die Wand genagelt. Der das, als Ehefrau eines Gammesfelders. Es ist Nachmittag. Breiter schließt die Bank 87-Jährige hat die Bank vor Breiter ge- Das Baby wird ein Sparbuch bekommen, zu. Ein Traktor tuckert durch die schmalen leitet. Kurz bevor am Abend die nächs- sobald es auf der Welt ist. Greifbar, zum Straßen, der Bauer winkt. Seit der „Dorf- ten Kunden kommen, besucht er seinen Blättern, mit blauem Umschlag. krug“, die einzig verbliebene Gaststätte, Nachfolger. Vogts Augen blitzen hellwach Und Breiter? Wenn er um 21 Uhr dicht gemacht hat, gibt es nur noch die unter buschigen Brauen, das schlohweiße die Bank schließt, setzt er sich nochmals Bank als Treffpunkt. Und den kleinen Haar hat er zur Seite gekämmt. Der frühe- an seinen Schreibtisch, schreibt Konto- Dorf-Edeka mit der Bäckerei. Vor der Tür re Geschäftsführer der Bank wohnt wie auszüge. „Spätestens um Mitternacht plauschen zwei Rentnerinnen. Breiter Breiter im „Bankenviertel“, direkt gegen- mache ich mich auf den Heimweg.“ kauft ein Stück Donauwelle, das er bis über. Fast täglich kommt Vogt vorbei, und Dann wird es finster in Gammesfeld, die zum späten Abend nicht anrühren wird. wenn Breiter Urlaub hat, vertritt er ihn. Straßenlaternen gehen aus.
02/2018 Dossier: Datenschutz Oliver Krämer ist Kunde seit er in Gammesfeld wohnt. Kein Sicherheitsglas trennt ihn von seinem Berater. Fotos: Xxxxxxx Xxxxxxxx 25
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