NEUE MATERIALIEN Wie Werkstoffe immer mehr mit ihrer Funktion verschmelzen - NR. 4/2019 - ETH Zürich
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NR. 4/2019 NEUE MATERIALIEN Wie Werkstoffe immer mehr mit ihrer Funktion verschmelzen SEITE 12 Brücken bauen für den Mit Querschnittlähmung Martina Hirayama lenkt Mittelbau wieder gehen das Bildungssystem SEITE 32 SEITE 36 SEITE 46
EDITORIAL GLOBE NR. 4/2019 Materialwunder dass wir hier am Beginn einer äusserst fruchtbaren Entwicklung stehen. Die ETH Zürich ist mit ihrem interdiszipli nären Kompetenzzentrum für Materialien und Prozesse gut gerüstet, um Wesent liches dazu beizutragen. Mich fasziniert immer wieder, wie aus dem Zusammentreffen von klugen Köpfen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund neue Ideen entstehen können. Etwa, wenn sich eine Bauingenieurin und ein Forscher, der Joël Mesot, Präsident der ETH Zürich selbstheilende Materialien für medizini sche Anwendungen entwickelt, Gedanken über Baustoffe der Zukunft machen. Kompostierbare Brücken, Beton, der Risse Oder wenn ein Forscher, der auf weiche selbstständig heilt, Implantate, die sich, Materialien spezialisiert ist, und eine wenn sie nicht mehr gebraucht werden, im Wissenschaftlerin, die magnetische Nano- Körper auflösen, dehnbare und biegsame strukturen erforscht, ein Material mit Batterien – die aktuelle Materialforschung Formgedächtnis entwickeln. Lesen Sie bringt Dinge in den Bereich des Mög mehr darüber in dieser aktuellen Ausgabe lichen, von denen wir bis vor Kurzem nur von Globe. träumen konnten. Nicht nur, dass sie Materialien mit Eigenschaften ausstattet, Ich wünsche Ihnen eine die sie von Natur aus nicht haben, wie die anregende Lektüre! Multiferroika von Nicola Spaldin. Sie erlaubt es ausserdem auch, Materialien sparsamer und ökologiefreundlicher zu gestalten und einzusetzen. Möglich wird dies einerseits durch die Zusammenarbeit von ganz unterschied lichen Disziplinen, andererseits durch die neuen Methoden der additiven Fertigung wie den 3D-Druck. Ich bin überzeugt, Globe, das Magazin der ETH Zürich und der ETH Alumni Titel Illustration: Vasjen Katro / Bild Editorial: Markus Bertschi
GLOBE NR. 4/2019 INHALT NEW AND NOTED NEW AND NOTED COMMUNITY Nachhaltigkeit 5 News aus der ETH Zürich 31 Verbunden mit der ETH EMISSIONSFREIE 6 Ein Berg an Daten 32 50 Jahre AVETH Brücken bauen für den Mittelbau SCHIFFFAHRT 8 Physisch und psychisch fitter 35 Kolumne Der Schifffahrtssektor macht drei Permafrostforschung auf dem Prozent des weltweiten CO2-Ausstos- FOKUS Hörnligrat – Seite 6 ses aus. Experten für Nachhaltigkeit 12 Neue Materialien REPORTAGE in der Wirtschaft des Sustainability Viele neue Materialien sind 36 Wenn Querschnittgelähmte in Business Lab (sus.lab) der ETH dynamische Werkstoffe, die mit wieder gehen können Zürich haben deshalb nun mögliche ihrer Funktion verschmelzen. Zwei Teams demonstrieren an Wege zu einer emissionsfreien Schiff- einer Veranstaltung des fahrt ausgearbeitet. Das Team um 17 Die Macht der inneren Struktur Cybathlon 2020 ihre Exoskelette. Petrissa Eckle sieht das grösste Poten- In Metamaterialien ist nichts zial in naher Zukunft in «Null-Emis wie sonst: Hartes ist plötzlich sionen»-Antrieben wie elektrischen elastisch. CONNECTED Motoren, Brennstoffzellen oder mit 42 Begegnungen an der ETH Ammoniak betriebenen Verbren- Internationale Handelsschiffe und grosse Frachter sind massgeblich 20 Eigentlich unmöglich nungsmotoren. für den erheblichen CO2-Ausstoss im Schifffahrtssektor verantwortlich. Die Materialwissenschaftlerin Bereit zum Aufstehen – Seite 36 44 Agenda 5 Nicola Spaldin über ihre Faszination für Multiferroika PROFIL Medizin wenige Ultraschallsensoren besitzen, Biologie 23 Material, forme dich! 46 Damit die BFI-Chemie stimmt zu erhöhen. Sie nutzten dazu zunächst ETH-Forschende entwickeln Die ETH-Alumna Martina KI VERBESSERT ein von ihnen entwickeltes hochwerti- RESISTENZEN OHNE Materialien, die auf Befehl ihre Form verändern. Hirayama weiss die Trümpfe des Schweizer Bildungssystems BILDGEBUNG ges Optoakustik-Gerät mit 512 Senso- ren, das qualitativ hochstehende Bil- ANTIBIOTIKA-EINSATZ auszuspielen. der lieferte. Diese liessen sie von einem 26 Kompostierbare Brücken Wissenschaftler der ETH Zürich und sogenannten künstlichen neuronalen Antibiotikaresistenzen verbreiten Neue Ideen als Basis der Universität Zürich haben Metho- Netzwerk analysieren. Dabei lernte sich nicht nur dort, wo oft Antibio für lebendige Bauten, die auf 5 FRAGEN den des maschinellen Lernens ein das Netzwerk die Merkmale der hoch- tika eingesetzt werden. Das schlies ihre Umwelt reagieren 50 Daniel Farinotti gesetzt, um die optoakustische Bild wertigen Bilder. sen Forschende der ETH Zürich und Schmelzende Gletscher bedeuten gebung zu verbessern. Mit diesem Anschliessend schalteten die For- der Universität Basel aus Laborexpe- 28 Neue Materialien konkret für den Glaziologen viel Arbeit. Verfahren können zum Beispiel Blut- schenden einen Grossteil der Sensoren rimenten. Um Resistenzen einzu- Aktuelle Entwicklungen aus gefässe im Körperinnern sichtbar aus, sodass nur noch 128 beziehungs- dämmen, reicht es demnach nicht, ETH-Labors auf einen Blick gemacht, die Gehirnaktivität unter- weise 32 Sensoren übrigblieben, mit den Antibiotika-Einsatz zu reduzie- sucht oder Brustkrebs und Haut- entsprechend negativen Auswirkun- ren. Man sollte auch die Verbreitung krankheiten diagnostiziert werden. gen auf die Bildqualität: Weil es an Da- resistenter Keime blockieren. Die Bildqualität, die ein Gerät lie- ten mangelte, durchzogen streifenarti- fert, hängt stark von seiner Anzahl ge Störsignale das Bild. Wie sich jedoch Sensoren ab: je mehr davon, desto bes- herausstellte, war das zuvor trainierte IMPRESSUM — Herausgeber: ETH Alumni / ETH Zürich, ISSN 2235-7289 Redaktion: Martina Märki (Leitung), Fabio Bergamin, ser. Die Forschenden unter der Lei- Machine-Learning-System mit seinem Corinne Johannssen, Nicol Klenk, Karin Köchle, Corina Oertli, Norbert Staub, Michael Walther, Felix Würsten Mitarbeit: Claudia Hoffmann, Oliver Morsch, Samuel Schlaefli Inserateverwaltung: ETH Alumni Communications, globe@alumni.ethz.ch, +41 44 632 51 24 tung von Daniel Razansky, Professor Algorithmus in der Lage, diese Verzer- Inseratemanagement: Fachmedien, Zürichsee Werbe AG, Stäfa, info@fachmedien.ch, +41 44 928 56 53 Gestaltung: Crafft AG, Zürich für biomedizinische Bildgebung an rungen zu korrigieren. Dadurch er- Druck, Korrektorat: Neidhart + Schön AG, Zürich Übersetzung: Burton, Van Iersel & Whitney GmbH, München; Clare Bourne, der Universität Zürich und der ETH höhte sich die Bildqualität deutlich Anna Focà, ETH Zürich Auflage: 39 500 deutsch, 31 500 englisch, viermal jährlich Abonnement: CHF 20.– im Jahr (vier Ausgaben); Zürich, suchten nach einer Möglich- und war vergleichbar mit der Qualität in der Vollmitgliedschaft bei ETH Alumni enthalten Bestellungen und Adressänderungen: globe@hk.ethz.ch bzw. für Alumni www.alumni.ethz.ch/myalumni Kontakt: www.ethz.ch/globe, globe@hk.ethz.ch, +41 44 632 42 52 Kostenlose Tablet-Version. keit, die Bildqualität von kostengüns- einer Messung mit 512 Sensoren. Antibiotikaresistente Salmonellen sind tigen Optoakustik-Geräten, die nur ein besonderes Problem. Bilder: Peter Rüegg, Urs Matter, Daniel Winkler Bild: iStockphoto; Stefan Fattinger ETH GLOBE 4/2019
NEW AND NOTED NEW AND NOTED 10 Jahre Permafrostforschung EIN BERG AN DATEN 1500 Kubikmeter Fels brachen im Hitzesom- mer 2003 am Hörnligrat des Matterhorns ab. Der gewaltige Felssturz war der Auftakt für ein ungewöhnliches Forschungsprojekt der ETH Zürich und weiterer Institutionen: Mit dem Projekt «PermaSense» wollen Geo- und Ingenieurwissenschaftler ergründen, wie sich der Klimawandel auf den Permafrost in steilen Felsgebieten im Hochgebirge auswirkt. Denn wenn das Eis schmilzt, fehlt der Kitt, der die Gesteinsmassen zusammenhält – es drohen Felsstürze und Steinschlag. Mit thermischen, kinematischen und seis- mischen Messungen können die Forschenden die Veränderungen im Fels nun genau abbil- den. Herzstück der Untersuchungen ist ein drahtloses Sensornetzwerk am Hörnligrat, das bislang über 115 Millionen einzelne Da- tenpunkte lieferte, die in Echtzeit ins Internet gespeist wurden. In den letzten zehn Jahren entstand so ein umfassender Datensatz, der 6 7 wohl zu den grössten in der Geschichte der Permafrostforschung zählt. Das erworbene Wissen kann künftig für die Entwicklung von Frühwarnsystemen genutzt werden. Die Aufnahme aus dem Jahr 2012 zeigt ETH-Forschungsgruppenleiter Jan Beutel und Projektpartner Samuel Weber bei Wartungs- arbeiten in der Abbruchzone am Hörnligrat auf über 3500 m ü. M. Se → www.permasense.ch Drah it zehn Ja tlos- hren S Hörn ensornet liefert ein Mess ligr zwe daten at am Ma rk auf d in bis tterh em Meng he orn e und r unerre Qual ic ität. hter ETH GLOBE 4/2019 Bild: Peter Rüegg ETH GLOBE 4/2019
NEW AND NOTED NEW AND NOTED Militärpsychologie l im A k t u e l o d c a st ETH-P Physisch und psychisch fitter Soldaten müssen fit sein, wenn sie ihren Auftrag erfolgreich erfüllen tuationen; die Fähigkeit, den Fokus zu mern während der Prüfung der Puls Master in Quantum behalten und unter Druck Wichtiges hochgeht, gehört zur normalen Stress- Engineering sollen. Dazu gehört nicht nur die körperliche Verfassung, von Unwichtigem zu trennen, sowie reaktion. Interessant ist jedoch die Ab diesem Semester ist es möglich, sondern auch die mentale Belastbarkeit in schwierigen Momenten. eine positive, zuversichtliche Grund- Frage, ob sie unter der Belastung noch einen Master-Abschluss in Quantum haltung – das alles sind Elemente der genügend Reserven haben, um die Engineering an der ETH Zürich psychischen Fitness, die zur Führungs- Aufgabe zu meistern, und wie schnell zu machen. Doch was ist eigentlich qualität beitragen. «Es geht nicht da sie sich von der Herausforderung er Quantum Engineering? Und wer rum, wie ein Fels in der Brandung jeg- holen. studiert dieses neue Fach? In dieser A lichen Stress an sich abprallen zu las- Episode des ETH-Podcasts begleiten ls Kuscheldozent sei er schon sen», meint Annen, «sondern darum, Auch ausserhalb der Armee gefragt wir eine Studentin, sprechen mit bezeichnet worden, meint flexibel auf Anforderungen und auch Die Resultate stimmen Annen zuver- einem Professor über die Lehrpläne Hubert Annen schmunzelnd. Rückschläge reagieren zu können.» sichtlich: «In unseren Studien konnten und fragen auch die Industrie, Doch der Dozent für Militärpsycholo- wir zeigen, dass unser Training tat- was sie sich von einem Abschluss gie und Militärpädagogik an der Mili- Praxisnahe Übungen sächlich wirkt und Offiziere danach in Quantum Engineering an der tärakademie (MILAK) an der ETH Zü- Das von Annen und seinen Mitarbeite- gelassener mit Stress umgehen.» Die ETH Zürich erhoffen. rich nimmt das gelassen. «Mit solchen rinnen entwickelte Ausbildungspro- Erkenntnisse werden auch ausserhalb Vorurteilen muss man in unserem Me- gramm wird gegenwärtig in einer der Armee registriert. Annen be- tier leben», erklärt er. «Wichtig ist ein- Offiziersschule angewendet. Zehn bis kommt viele Anfrage von Blaulicht fach, dass wir allfälligen Vorurteilen zwölf Ausbildner trainieren die rund organisationen und sogar von psychia- mit harten Fakten begegnen.» Tat- 40 Aspiranten regelmässig mit praxis- trischen Kliniken. Und auch in die sächlich hat Annen gute Argumente nahen Übungen. Sie vermitteln bei- Ausbildungsgänge des Kompetenz- 8 9 zur Hand, um den Kuschelvorwurf zu spielsweise Elemente, die auch in der zentrums SWISSINT in Stans, das widerlegen. Als im Projekt «Progress» Sportpsychologie zur Anwendung sämtliche friedensfördernde Ausland- der Ablauf einer Rekrutenschule so an- kommen. Die künftigen Offiziere wer- einsätze der Schweiz koordiniert, sind gepasst wurde, dass den jungen Män- den geschult, wie sie in heiklen die Erkenntnisse eingeflossen. Für An- Autos mit Gedanken steuern nern und Frauen der Einstieg in den Situationen ihre Emotionen und Ge- nen ist dabei klar: Es geht nicht primär Samuel Kunz ist seit einem Bade Militäralltag leichter fiel und diese erst danken besser kontrollieren können. um das generelle Wohlbefinden der unfall Tetraplegiker und braucht einen In einer modernen Armee immer wichtiger: nach und nach höheren Belastungen besser mit Stresssituationen umgehen können Dazu ist es wichtig, dass sie ihre eige- Betroffenen, sondern um die Frage, Rollstuhl. Derzeit bereitet er sich ausgesetzt wurden, hatte dies – wie nen Schwachstellen kennen und wis- wie vor allem die Führungskräfte men- auf den Cybathlon vor, eine Meister- von Annen erwartet – positive Folgen. sen, in welchen Situationen sie zu tal noch gezielter ausgebildet werden schaft für körperbehinderte Men- «Es gab weniger Verletzungen und we- Überreaktionen neigen. können, damit sie ihre Aufgaben mög- schen. Zusammen mit der Neurowis- niger Abbrüche. Die Rekruten waren In Zusammenarbeit mit dem lichst souverän und glaubwürdig wahr- senschaftlerin Rea Lehner und einem motivierter und nach elf Wochen Resilienz lautet der psychologische welche Erfahrungen die Amerikaner Lehrstuhl von Ulrike Ehlert, Professo- nehmen können. — Felix Würsten Team der ETH Zürich trainiert er, Rekrutenschule doch gleich leistungs- Schlüsselbegriff dazu, also die Fähig- mit ihrem Resilienztraining machen. rin für klinische Psychologie an der ein Auto in einem Computerspiel mit fähig wie alle anderen Rekruten», fasst keit, angemessen mit emotional belas- «Natürlich kann man nicht verhin- Universität Zürich, untersuchen die Informationen zur MILAK: seinen Gedanken zu navigieren. er die wichtigsten Punkte zusammen. tenden Situationen und Rückschlägen dern, dass ein Teil der Soldaten nach MILAK-Forschenden in Längsschnitt- → www.vtg.admin.ch/de/organisation/ umzugehen. Die Grundidee: Die Sol- einem Kriegseinsatz unter schweren studien, ob das Programm wirklich kdo-ausb/hka/milak.html Drill allein reicht nicht daten sollen nicht nur physisch fit ge- psychischen Problemen leidet», relati- nützt. «Mit diesen Studien wollen wir Eine moderne Armee muss psycholo- macht werden, sondern auch psychisch viert Annen. «Doch wenn das Gros uns in der internationalen Resilienz- gischen Aspekten Rechnung tragen, ist stabiler werden, bevor sie in den Kampf besser mit der Situation an der Front forschung etablieren», hält Annen fest. Annen überzeugt, auch wenn hartes ziehen. klarkommt, ist viel gewonnen.» Der Wahl der geeigneten Evaluations- physisches Training natürlich nach wie Als die US-Army 2009 das «Com- Kriegseinsätze kennt die Schweiz verfahren kommt dabei grosse Bedeu- vor wichtig ist. Gerade die US-Army prehensive Soldier Fitness Program» zum Glück nicht. Dennoch ist Annen tung zu. Das MILAK-Team setzt des- nimmt in diesem Bereich eine Vorrei- einführte, interessierte sich auch An- überzeugt, dass Resilienz auch für die halb unter anderem auf Methoden, die terrolle ein. Als aufgrund der Kriege in nen für das neue Konzept. Während Schweizer Armee ein Thema sein soll- nachweislich objektive Rückschlüsse Afghanistan und Irak immer offen- eines Forschungsaufenthalts an der te. «Es ist wichtig, dass beispielsweise zulassen, beispielsweise Stresstests sichtlicher wurde, dass viele Soldaten Militärakademie West Point absol- junge Offiziere lernen, besser mit unter Laborbedingungen, bei denen Mehr Informationen: psychische Probleme haben, beschloss vierte er das Master Resilience Trai- Stresssituationen umzugehen.» Eine auch die biologische Reaktion gemes- → www.ethz.ch/podcast das Pentagon, Gegensteuer zu geben. ning und erfuhr so aus erster Hand, gewisse Gelassenheit in kritischen Si- sen wird. Dass den Versuchsteilneh- ETH GLOBE 4/2019 Bild: VBS / ZEM Bilder: Yves Salathé; Nicola Pitaro ETH GLOBE 4/2019
NEW AND NOTED NEW AND NOTED Physik Klimaforschung stabilisiert werden kann. Doch selbst ETH-Spin-off in diesem Fall muss damit gerechnet KLEIN, ABER PRÄZIS SCHLECHTE werden, dass sich der Rückgang des MIT INDUSTRIEMÜLL ETH-Forschende um Rachel Grange AUSSICHTEN FÜR DEN Aletschgletschers bis Ende Jahrhun- dert fortsetzen wird, sagen die For- ISOLIEREN haben ein kompaktes Infrarot-Spekt- ALETSCHGLETSCHER schenden. Sowohl beim Eisvolumen rometer entwickelt, das sich auf ei- als auch bei der Länge müsse in diesem Wer ein Haus baut, steht bei der Wahl nem rund zwei Quadratzentimeter Fall mit einer Abnahme von mehr als der richtigen Isolation vor einem Di- grossen Chip unterbringen lässt. Da- Das zunehmend warme Klima setzt 50 Prozent im Vergleich zu heute ge- lemma: Entweder er entscheidet sich mit ist das neu entwickelte Messgerät den Schweizer Gletschern zu. Die rechnet werden. Dass sich der Glet- für einen künstlichen Dämmstoff wie deutlich kleiner als herkömmliche. Zunge des Aletschgletschers hat sich scher selbst bei einer baldigen Stabili- zum Beispiel Styropor oder Steinwol- Durch die Kompaktheit ergeben seit dem Jahr 2000 um rund einen sierung des Klimas weiter zurückzie- le. Diese sind zwar günstig und effi sich interessante Anwendungsmög- Kilometer zurückgezogen. ETH-For- hen wird, hängt damit zusammen, dass zient, dafür aber wenig ökologisch. lichkeiten – im Weltall und im Alltag. schende der Versuchsanstalt für Was- grosse Gletscher sehr träge sind und Oder aber die Wahl fällt auf natürliche Das einfallende Licht wird nicht wie serbau, Hydrologie und Glaziologie erst mit einer gewissen Verzögerung Alternativen wie Holzfasern oder in herkömmlichen Infrarot-Spektro- haben in einer detaillierten Simulation auf Klimaveränderungen reagieren. Flachs, was zwar nachhaltig, dafür metern mit Hilfe von beweglichen Das Wellenspektrum von Infrarotlicht lässt sich mit diesem untersucht, wie sich der Aletschglet- Geht man von einem ungünstigen, aber teurer und manchmal auch weni- Spiegeln analysiert, sondern mit spe- nur zwei Zentimeter langen Chip präzis aufschlüsseln. scher bis ins Jahr 2100 verändern wird. aber durchaus realistischen Szenario ger effizient ist. Kommt hinzu, dass ziellen Lichtleitern. Der günstigste Fall für den Glet- aus, bei dem sich das Klima in der manche der heute gängigen Dämm- schertourismus im Wallis wäre, wenn Schweiz bis Ende Jahrhundert um vier materialien leicht brennbar sind. Der die globale Erwärmung, so wie im Kli- bis acht Grad Celsius im Vergleich zur ETH-Spin-off FenX hat sich daran 10 11 Zukunf tsblog maabkommen von Paris vorgesehen, Referenzperiode 1960–1990 erwär- gemacht, dieses Dilemma zu lösen. unter 2 Grad Celsius gehalten werden men wird, werden vom ehemals gröss- FenX verwandelt Industrieabfall in könnte. Dies setzt allerdings voraus, ten Alpengletscher im Jahr 2100 nur einen porösen Schaum, der sich zur Nachhaltigkeit Digitalisierung Gesundheit dass die Treibhausgasemissionen welt- noch ein paar mickrige Eisfelder übrig- Gebäudeisolation eignet. Im Gegen- weit in naher Zeit massiv gesenkt wer- bleiben. satz zu anderen nachhaltigen Dämm- ZUM SCHUTZ DES ZEIT FÜR NEUEN DIE TÜCKEN DER den, sodass das Klima ab etwa 2040 stoffen ist dieser nicht brennbar und REGENWALDES SOZIALEN VERTRAG SCHNITTSTELLEN ausserdem günstig herzustellen. Nun sucht die Jungfirma nach ei- nem Partner für die Produktion. Bis- Die Brände im Amazonasgebiet sind Neue Technologien verändern nicht Bis man mit Gehirn-Computer- lang finanzieren sich die Jungunter- menschgemacht, und der Mensch nur die Arbeitswelt grundlegend, son- Schnittstellen Gedanken lesen kann, nehmer über Mittel aus einem ETH kann sie auch stoppen – durch Koope- dern auch die Beziehung zwischen ist es noch ein weiter Weg. Und auch Pioneer Fellowship sowie über natio- rationen, Investitionen in Waldschutz Beschäftigten, Unternehmen und Ge- sonst hat die Technik ihre Grenzen, nale und europäische Zuschüsse. Ziel und nachhaltige Landwirtschaft, werkschaften, zeigt Gudela Grote auf. stellt Roger Gassert klar. ist, bis im April 2020 rund 1,5 Millio- meint Rachael Garrett. nen Franken einzusammeln und ab → www.ethz.ch/zukunftsblog-grote → www.ethz.ch/zukunftsblog-gassert 2021 mit den Schaumplatten auf dem → www.ethz.ch/zukunftsblog-garrett Markt zu sein. Rachael Garrett, Gudela Grote, Professorin Roger Gassert, Professor → www.fenx.ch Assistenzprofessorin für Arbeits- und für Rehabilitationstechnik für Umweltpolitik Organisationspsychologie am Departement am Departement am Departement Gesundheitswissen Geistes-, Sozial- und Management, Technologie schaften und Technologie Staatswissenschaften und Ökonomie Mehr Informationen zu diesen und Diese und weitere Blogbeiträge in voller Länge unter: weiteren Forschungsnachrichten → www.ethz.ch/zukunftsblog Blick auf den Grossen Aletschgletscher von der Moosfluh oberhalb der Bettmeralp. aus der ETH Zürich finden Sie unter: Selbst im günstigsten Fall ist um 2100 von hier aus kein Gletschereis mehr zu sehen. → www.ethz.ch/news ETH GLOBE 4/2019 Bilder: Pascal A. Halder; Giulia Marthaler (2); zVg Bild: Matthias Huss ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS NEUE Robotergreifarme, die sich ohne Mechanik zusammenziehen können. Schrauben, die gebrochene Knochen zusammenhalten und sich später im Körper auflösen. Baumate rialien, die Alarm schlagen, bevor sie brüchig MATE- Flexibel, werden. Viele neue Materialien sind nicht dynamisch, statisch, sondern dynamische Werkstoffe, wandelbar die mit ihrer Funktion verschmelzen. TEXT Fabio Bergamin RIALIEN 12 13 V on A bis Z aus demselben Material gefertigt, fest und unveränderbar während Generationen. Das trifft auf eine lange Reihe von Gegenständen oder Baumaterialien zu, die wir kennen: auf die Tasse, aus der wir unseren Kaffee trinken, auf Einer, der an solchen neuen Materialien forscht, ist Ralph Spolenak. Jüngst hat der ETH-Professor einen Ansatz entwickelt, mit dem sich Risse in beweglichen Elektronik- bauteilen einfach reparieren lassen. «Leiter und Halbleiter in der Mikroelektronik sind in die Legosteine unserer Kindheit oder die der Regel wenig dehnbare Materialien. Wenn Ziegelsteine, aus denen unsere Häuser ge- man sie mit etwas Biegsamem kombiniert, baut sind. sind die Dehnungen oft grösser, als es die Me- Viele der modernen Materialien, die der- talle aushalten können. Deswegen kann es zu zeit an der ETH erforscht werden, unter- Rissen kommen», erklärt Spolenak. Er denkt scheiden sich davon grundlegend: Wissen- dabei unter anderem an bewegliche Bild- schaftler und Wissenschaftlerinnen stellen schirme von Smartphones oder an Elektro- heute Materialien her, deren innere Zusam- nikbauteile, die in Textilfäden für tragbare mensetzung und Eigenschaften sich auf der Elektronik integriert sind. Nanoskala von Punkt zu Punkt unterschei- Solange ein Riss in einer solchen Elektro- den. Manche Materialien können ihre Form nik nicht zu breit ist, kann man das Bauteil oder Farbe verändern, auf Knopfdruck, als lokal erwärmen und das leitende Metall Reaktion auf äussere Bedingungen oder punktgenau zum Schmelzen bringen, wo- wenn sich in ihrem Innern Anzeichen von Al- durch sich der Riss wieder füllt. Spolenak und terung zeigen. Und wieder andere Materia seine Mitarbeitenden entwickelten dazu eine lien sind so konstruiert, dass sich innere Risse präzise ansteuerbare Wärmequelle in Form ganz einfach von aussen kitten lassen. eines Films, der sich unter einem elektro- ETH GLOBE 4/2019 Illustrationen: Vasjen Katro ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS nischen Schaltkreis platzieren lässt – spruchte Schneidwerkzeuge und Boh- metallische Objekte herzustellen, de- beziehungsweise: auf den sich ein rer zu beschichten. Wie Forschende in ren chemische Zusammensetzung und Mittels Nano-3D-Druck lassen Schaltkreis drucken lässt. Der Film seiner Gruppe zeigen konnten, lassen deren innere Struktur sich Voxel für Eine dünne Schicht aus Nickel- und Aluminium sich Objekte herstellen, in denen sich besteht aus mehreren dünnen Nickel- sich durch die geschickte Kombination Voxel ändern kann. Ein Voxel ist die lagen bringt leitendes Metall punktgenau unterschiedliche Metalle – hier und Aluminiumlagen, die sandwich von nur wenige Nanometer dünnen dreidimensionale Entsprechung eines zum Schmelzen. So könnten Risse in Elektronik- Silber (blau) und Kupfer (rot) – auf bauteilen geheilt werden. engstem Raum abwechseln. artig angeordnet sind. Werden diese Schichten verschiedener Titan- Pixels, und in diesem Fall sind die ge- beiden Metalle lokal mit einem Fun- Stickstoff-Legierungen farbige Be- druckten Voxel winzig: 200 Nanome- ken angeregt oder lässt man ein kleines schichtungen herstellen. Die Farbe ter im Durchmesser. Gewicht darauf fallen, kommt es zu hängt dabei von der Dicke – im Nano- Metallbauteile müssen also nicht einer chemischen Reaktion, die Wär- meterbereich – der äusseren Schicht mehr zwingend durchwegs aus ein und me freisetzt und eine Leiterbahn an und der inneren Anordnung der Atome derselben Legierung bestehen. «Selte- dieser Stelle zum Schmelzen bringt. ab: Grün, Blau oder Purpur. ne und teure chemische Elemente «Heilung ‹on demand›» nennt Damit nicht genug: Wie die For- liessen sich einsparen, indem man sie das Spolenak. Fernziel wären sogar schenden zeigen konnten, führt eine innerhalb eines Bauteils nur dort ver- selbstheilende Elektronikbauteile. starke Temperaturerhöhung auf 500 wendet, wo sie für die Funktion des «Dazu müsste ein entstehender Riss Grad Celsius und höher zu einer Bauteils unerlässlich sind», sagt Spo- die Wärmereaktion gleich selbst auslö- irreversiblen Umordnung der Atome lenak. Gleiches gilt für toxische Legie- sen», erklärt der ETH-Professor. Er ist und somit zu einer Farbänderung. Eine rungselemente. «Zum Beispiel ist es davon überzeugt, dass dies dereinst purpurne Beschichtung zum Beispiel bei einigen Anwendungen wie dem Lö- möglich sein wird. Denn bei einem wird gelb. «Eine solche Beschichtung ten schwierig, ganz auf das giftige Blei Riss handle es sich um eine plastische mit Temperatursensorfunktion könn- zu verzichten.» Die neue Technologie Beschädigt Geheilt Verformung, die zu einem geringen te für Maschinenteile verwendet wer- könnte in Zukunft aber die Möglich- Mass immer auch Wärme erzeuge. den, die bei hohen Temperaturen keit bieten, Blei nur noch dort einzu- Zusammen mit seinen Mitarbeitenden Schaden nehmen und deshalb über- setzen, wo es dringend nötig ist. Mit ist er deshalb daran, ein System zu wacht werden müssen», sagt Spolenak. solchen weniger toxischen Bauteilen ent wickeln, bei dem diese geringe «Es müssen dazu keine elektronischen liesse sich die Zeit überbrücken, bis die ter und versuchen gezielt zu verstehen, präzise zu bewegen, werden normaler- zial in der personalisierten Medizinal- Anfangswärme ausreicht, um die Sensoren eingebaut werden, sondern Materialwissenschaft komplett blei welche Änderungen im Prozess welche weise piezoelektrische Materialien technologie. Man könnte so eine 14 15 Schmelzreaktion zu zünden. man kann jederzeit sehr einfach op- freie Alternativen entwickelt hat. Auswirkungen darauf haben, wie ein eingesetzt», erklärt Spolenak. Das sind patientenspezifische Kombination von tisch überprüfen, ob das Maschinenteil Möglich ist dieser Nano-3D- Material lokal aufgebaut ist.» solche, die sich unter dem Einfluss ei- Biosensoren auf einem Bauteil kom Warnfarbe statt Sensor in der Vergangenheit einmal zu hoch Druck von Metallen, weil sich die So lassen sich beispielsweise beim nes elektrischen Felds ausdehnen. binieren. Eine solche 3D-gedruckte Ein weiteres Beispiel für ein dynami- erhitzt worden ist.» 3D-Druck-Verfahren in den vergange- Drucken von Metall Festigkeit und Zä- Häufig geht es da um sehr kleine Ver- Sensoranordnung wäre sehr viel klei- sches Material aus Spolenaks Labor nen Jahren enorm weiterentwickelt higkeit über die Temperatur verän- formungen, was aber ein Vorteil ist, ner als eine Kombination einzelner ist eine metallische, sehr harte Oberflä- Innen fest, aussen verformbar haben. «Die additive Fertigung ist heu- dern und somit Gegenstände fertigen, weil sich so eine hohe Stellgenauigkeit serienmässig hergestellter Sensoren chenbeschichtung, die mit einer Farb Die aktuelle Materialforschung be- te nahe an der Perfektion, sowohl inge- bei denen diese lokal variieren. Ein erreichen lässt. und damit einfacher implantierbar. änderung auf hohe Temperaturen schäftigt sich auch intensiv mit der nieurtechnisch gesehen als auch was Beispiel wären Bauteile, die im Innern Das Ziel von Ralph Spolenak und Und vielleicht wird es in Zukunft reagiert. Sie hat also eine quasi im 3D-Drucktechnologie und der ad Steuerungsalgorithmen angeht», sagt hohe Spannungen aushalten und dort seinen Kollegen, mit denen er im Na- sogar möglich sein, solche Mikro Material eingebaute Temperatursen- ditiven Fertigung. Weiterentwicklun- Spolenak. Die Materialwissenschaft sehr fest sein müssen, sich andernorts no-3D-Druck-Projekt zusammenar- elektronikbauteile mit selbstheilen- sorfunktion. Die Beschichtung fusst gen eines interdisziplinären ETH- biete jedoch noch viel Raum für Wei- aber verformen dürfen, um Stösse von beitet, ist, das Drucken noch präziser den Eigenschaften auszustatten. «Der auf Spolenaks Arbeit mit Titan- Teams aus den Bereichen Maschinen- terentwicklungen. «Noch vor wenigen aussen aufnehmen zu können. zu machen: «Letztlich streben wir an, 3D-Druck und die additive Fertigung Aluminium-Stickstoff-Verbindungen, bau, Elektrotechnik, Chemie und Jahren haben Forschende in diesem die Auflösung so weit zu erhöhen, dass geben uns Materialwissenschaftlern die wegen ihrer Härte verwendet wer- Materialwissenschaften – in dem auch Bereich vor allem sehr viel auspro- 3D-Druck auf Nanoebene wir damit Mikroelektronik-Bauteile neue Möglichkeiten, und umgekehrt den, um etwa mechanisch stark bean- Spolenak dabei ist – erlauben es nun, biert. Heute sind wir einen Schritt wei- Knowhow zu den gedruckten Mate drucken können. Damit wäre es mög- bringen die Materialwissenschaften rialien ist jedoch nicht der einzige Bei- lich, mit der Mikroelektronik die drit- diese Technologien entschieden wei- trag der Materialwissenschaften zum te Dimension zu erschliessen und die ter», sagt Spolenak. «Letztlich geht es Nano-3D-Drucken, sondern auch die Bauteile kleiner zu gestalten.» Dazu in der Materialwissenschaft immer Verbesserung der Prozesskontrolle: bräuchte es laut den Forschenden ein darum, Prozesse, Materialien und Ei- «Die additive Fertigung ist ingenieurtechnisch Wenn man so hochpräzise drucken Feedbacksystem, damit der Drucker genschaften zusammenzuführen. Und möchte, wie das die ETH-Forschenden mit Echtzeitinformationen versorgt anpassungsfähige und dynamische schon nahe an der Perfektion, aber die Material- derzeit tun, braucht man dazu entspre- und gesteuert werden kann. Jetzt wird Materialien und Ansätze ermöglichen entwicklung bietet noch viele Möglichkeiten.» chend präzise steuerbare Positionier der Druckauftrag, einmal gestartet, uns, Materialien mit ganz neuen Ei- tische. Denn beim 3D-Drucken bleibt quasi im Blindflug ausgeführt. genschaften und Funktionen zu ent die Druckdüse in der Regel an Ort, Weil der 3D-Druck sehr gut geeig- wickeln.» Ralph Spolenak während sich die Unterlage darunter net ist für die Fertigung von indivi bewegt. «Um solche Positioniertische duellen Bauteilen und kleinen Serien, Forschungsgruppe von Ralph Spolenak: in den drei Raumdimensionen hoch- sieht der ETH-Professor auch Poten → www.met.mat.ethz.ch ETH GLOBE 4/2019 Bilder: Stefano Danzi und Alain Reiser, Laboratory for Nanometallurgy ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS DIE MACHT DER INNEREN STRUKTUR In Metamaterialien ist nichts wie sonst: Hartes ist plötzlich elastisch, Weiches leitet Signale, und Schall und Licht verhalten sich sonderbar. TEXT Michael Walther 16 17 I n dem Keramikwürfel unter dem Mikroskop stecken Superkräfte: Eine Presse quetscht ihn von oben um fast ein Drittel seiner Höhe zusam- men. Aber nichts bröselt, bricht oder reisst. Dann lässt sie nach, und der Was ETH-Professor Dennis Koch- mann gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom California Institute of Technology in Pasadena entwickelt hat, ist ein Metamaterial. Solche De- sign-Materialien haben Eigenschaften, Würfel nimmt seine Ausgangsform die in der Natur nicht vorkommen. An- wieder an, fast wie ein Schwamm. Die gelegt sind diese Eigenschaften in der Presse wiederholt das Spiel, der Wür- mikroskopischen Struktur. fel bleibt intakt. Derart elastisch ist der Elastische Keramiken sind dabei 0,1 Millimeter kleine Keramikwürfel ein vergleichsweise unspektakuläres dank seiner inneren Struktur: Er ist Beispiel. Bekannt sind Metamateria durchzogen von geschwungenen Fur- lien dafür, dass sich damit die Ausbrei- chen und Höhlen. Diese sind so ange- tung von Wellen kontrollieren lässt. legt, dass sich die Zugkräfte in keinem Forschern ist es etwa gelungen, ein Bereich des Würfels konzentrieren Metamaterial mit negativem Bre- können, wenn er gequetscht wird. chungsindex herzustellen. Ein solches Denn solche Konzentrationen der bricht Licht oder andere Wellen in die Zugkräfte an defekten Stellen, Dellen «verkehrte Richtung». Anwendungen oder scharfen Ecken der Struktur ma- sind komplett flache Linsen und theo- chen das Material brüchig. Durch die retisch sogar optische und akustische spezielle Höhlenstruktur wird das ver- Tarnkappen. Metamaterialien bergen hindert, die Keramik wird plötzlich also auch das Potenzial, Dinge unsicht- elastisch. bar werden zu lassen. ETH GLOBE 4/2019 ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS Das Feld der Metamaterialien ist noch tieren können. Möglich machte dies tend ist dies etwa für die Entwicklung relativ jung und eine wissenschaftliche eine clevere Anordnung des weichen von weichen Robotern. Goldgrube. Denn in der Theorie lassen Materials. Die Wissenschaftler ver- Aktuell arbeitet Kochmanns Team sich Metamaterialien auf fast beliebig wendeten dafür sogenannt bistabile daran, dasselbe Prinzip nicht nur in ei- «Mit der richtigen Struktur lassen sich viele Eigenschaften hin massschnei- Elemente: Jedes von ihnen kann zwei ner, sondern in zwei und drei Dimen dern. Wer das Spiel aus geometrischen Positionen einnehmen, eine gespannte sionen anzuwenden. Damit werden Eigenschaften von Materialien kontrolliert verändern.» Formen, Elementen und Materialien und eine entspannte. Diese Elemente Materialien möglich, die auf einen be- beherrscht, dem öffnet sich eine Spiel- haben sie wie Dominosteine in Serie stimmten Stimulus ihre Form in zwei wiese. hintereinander angeordnet und mitei- oder drei Dimensionen verändern nander verbunden. Wird die Struktur können, ohne auf Antriebe oder Moto- Dennis Kochmann Weich und leitfähig an einem Ende angestossen, bewegt ren angewiesen zu sein. Allein anhand Kochmann und seine Gruppe leisten sich eine Welle bis ans andere Ende – der Struktur könnten die Forscher den dabei Grundlagenforschung. Sie loten eben wie bei Dominosteinen. Anfangs- und den Endzustand einer die Spielwiese aus und verschieben die Damit war eine simple Lösung für verwandelbaren Form programmie- Grenze dessen, wozu Materialien fähig die Signalübertragung in weichen ren, darüber hinaus auch Geschwin- sind. Vor wenigen Jahren haben sie ge- Materialien gelegt. Die Forschenden digkeit und Abfolge der Verwandlung. Eigenschaft nachgewiesen: Ist das sen ausgesetzt werden. Zum Beispiel, Dennis Kochmann Werkzeuge an die zeigt, dass auch weiche Materialien – hatten eine weiche Alternative zu her- Metamaterial verformt (also aufgela- wenn sie erhitzt, unter Strom gestellt Hand. Huber macht so neue Denkwei- genauer: Polymere – Wellen transpor- kömmlichen Kabeln gefunden. Bedeu- Verwandlung auf Knopfdruck den), können sich darin Wellen in be- oder wie beim Keramikwürfel kompri- sen und Designkonzepte für Material- Während diese Materialien mecha- stimmten Frequenzbereichen nicht miert werden. Das so gewonnene Wis- strukturen verfügbar. Zugleich – und nisch – im Labor von Hand – angeregt ausbreiten. Indem mehr oder weniger sen über Materialien setzt er ein, wenn darüber freut er sich als Physiker fast werden, damit sie sich verwandeln, ge- Spannung angelegt wird, lassen sich er neue Metamaterialien entwickelt. noch mehr – kann er anhand von Mes- schieht dies bei anderen bereits elek diese Frequenzbereiche verändern. sungen in Experimenten mit seinen tronisch auf Knopfdruck. Kochmann Solche regelbaren Wellenbarrieren Werkzeug theoretische Physik Metamaterialien gewisse physikali- war an der Entwicklung eines silizium- könnten auch interessant sein, um Unterstützung erhält Kochmann auch sche Modelle sogar noch verfeinern. beschichteten Metamaterials beteiligt, Schwingungen in sehr kleinen Bautei- von Kollegen anderer Disziplinen. Die inneren Strukturen von Metama- das elektrochemisch aufgeladen wer- len – wie sie etwa in der Mikroelektro- Zum Beispiel vom theoretischen Phy- terialien sind also der Schlüssel für vie- den kann und dadurch seine Struktur nik vorkommen – zu dämpfen, wie siker Sebastian Huber. Dieser hat sich les: vom Verständnis von Zusammen- 18 19 verändert. Im Ausgangszustand sieht Kochmann sagt. unter anderem darauf spezialisiert, hängen in der Physik bis zur Kreation es aus wie ein dreidimensionales Git- Strukturen und Systeme zu entwickeln von neuartigen Materialien mit bisher ter, wobei dünne horizontale Stränge Kreative Suche nach der Struktur und zu bauen, die sich verhalten, wie nicht bekannten Eigenschaften. dickere vertikale Pfosten verbinden, Mit der richtigen Struktur lassen sich es abstrakte theoretische Konzepte ähnlich wie in einem Boxring. Wird Eigenschaften von Materialien also voraussagen. Zur Forschung von Dennis Kochmann: die Struktur elektrisch aufgeladen, kontrolliert verändern. Bleibt die Fra- Zum Beispiel ist es ihm gelungen, → www.mm.ethz.ch schwellen die horizontalen Stränge an ge, wie man aus unzähligen Kombina- einen sogenannten topologischen Iso- und verbiegen sich zu einem symmet- tionen von geometrischen Formen, lator zu bauen: ein System, bei dem Zur Forschung von Sebastian Huber: rischen Muster aus entgegengesetz- architektonischen Prinzipien und Ba- sich Wellen nur auf der Oberfläche und → www.cmt-qo.phys.ethz.ch ten, sinusähnlichen Bögen. Die For- sismaterialien das Design findet, das nur in eine Richtung ausbreiten kön- schenden nutzen dabei einen Effekt, zur gewünschten Eigenschaft führt. nen. Den Effekt, den man vorher nur der bei Batterien sonst zu Problemen Man arbeite daran, Algorithmen und aus der Quantenphysik kannte, de- führen kann: Beim Laden und Ent künstliche Intelligenz dafür einzuset- monstrierte Huber erstmals 2015 mit laden schwellen und schrumpfen die zen, den Gestaltungsraum systema- einem Modell aus 270 quadratisch an- Elektroden. Im neuen Metamaterial tisch abzugrasen. Solche Methoden geordneten Pendeln. Was Huber mit führt die Schwellung der horizontalen seien aber noch in den Kinderschuhen, den Pendeln gelungen ist, macht er Stränge dazu, dass sich die Struktur sagt Kochmann. «Zurzeit steckt da auch mit Metamaterialien: Er entwi- grundlegend verändert – und so ver- noch viel Brainstorming dahinter. Wir ckelt und baut Strukturen, die Effekte harrt, bis die Struktur wieder entladen treffen uns gerne an der Wandtafel und zeigen, wie man sie sonst nur in auf- wird. Den Forschenden ist es damit kombinieren aus dem gemeinsamen wändigen Experimenten beobachten gelungen, ein schaltbares Metamate Repertoire», also aus bekannten Form kann. Bei seinen Forschungsarbeiten Schaltbares Metamaterial Dieses siliziumbeschichtete Metamaterial rial zu kreieren. Weil es funktioniert elementen und ihren Eigenschaften. gehe es immer um die ultimative Kon- kann elektrochemisch aufgeladen werden. wie eine aufladbare Batterie, könnten Die Basis dafür bildet Kochmanns trolle der Ausbreitung von Schwingun- Dabei verändert sich die Strukur. Aus geraden damit in Zukunft auch mikrometer- Spezialgebiet: Simulationen. Ausge- gen, sagt Huber. Gitterquerstreben werden bogenförmige. kleine implantierbare Energiespeicher hend von der chemischen Zusammen- Mit seinen Metamaterialien über- entwickelt werden. setzung und der Mikrostruktur eines setzt er die Konzepte der theoretischen Darüber hinaus hat Kochmann mit Materials erforscht er deren Eigen- Physik in die Welt der Mechanik. Da- Simulationen eine weitere spannende schaften, wenn sie bestimmten Einflüs- durch gibt er Materialforschern wie ETH GLOBE 4/2019 Bilder: Gruppe Dennis Kochmann ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS EIGENTLICH Spule schicken, doch die ist gross und ein winziges multiferroisches Teilchen, rialien und wolle mich gerne dazu ein- UNMÖGLICH wird heiss. Man braucht also viel das man, weil es magnetisch ist, mit ei- laden (lacht). Energie, und das Gerät wird sperrig. nem Magnetfeld zu einem bestimmten Wenn man Magnetismus mit einem Ort im Körper lotsen kann, etwa zu ei- An welchen neuen Ideen arbeiten elektrischen Feld kontrolliert, umgeht nem Tumor. Da die magnetischen und Sie zurzeit? man dieses Problem. elektrischen Dipole gekoppelt sind, Mein jüngstes Steckenpferd ist die so- kann man dann mit einem oszillieren- genannte versteckte Ordnung. Ein his- Wann haben Sie angefangen, in diese den Magnetfeld das Teilchen schütteln, torisches Beispiel dafür ist der Anti Richtung zu forschen? wodurch die Moleküle des von ihm ferromagnetismus, bei dem die ma Im Jahr 2000 habe ich einen Artikel ge- transportierten Medikaments freige- gnetischen Dipole der Atome im Die Materialwissenschaftlerin schrieben, in dem ich versuchte, die lassen werden. Der Vorteil eines Ma Material so angeordnet sind, dass sie Nicola Spaldin über ihre Frage zu beantworten, warum es so wenige magnetische Ferroelektrika gnetfelds ist, dass man es aus der Ferne einsetzen kann, genauso wie bei einer abwechselnd nach oben und unten zei- gen. Insgesamt ist das Material da- Faszination für Multiferroika, gibt. Danach fingen Forschungsgrup- Kernspintomografie. durch nicht magnetisch – und dennoch die perfekte Ordnung und pen, die sehr gut in der Materialher- stellung sind, an, sich dafür zu interes- Werden Multiferroika moderne ist da diese perfekte Ordnung in sei- nem Inneren. Da fragen wir uns: Wel- Nicola Spaldin ist Professorin Materialien mit exotischen für Materialtheorie an der sieren. 2003 fanden wir gemeinsam Technologien revolutionieren? che anderen Arten von Ordnung könn- Eigenschaften. ETH Zürich. Sie hat zahlreiche nationale und internationale mit meinem langjährigen Mitarbeiter Ich denke, unsere Rolle in der Grund- ten in Materialien versteckt sein, die Ramamoorthy Ramesh an der Univer- lagenforschung zu Materialien besteht wir noch nicht entdeckt haben, weil Auszeichnungen in Lehre und sität Berkeley ein gutes Multiferroi- darin, eine breite Palette an Möglich- man sie von aussen nicht sieht, und TEXT Oliver Morsch Forschung erhalten. kum, das bei Zimmertemperatur funk- keiten zu schaffen, so dass Geräteent- zu welchen exotischen Eigenschaften tionierte – Bismutferrit, das am inten- wickler oder Medizintechniker daraus könnten sie führen? Gemeinsam mit sivsten für Anwendungen erforscht eine auswählen können. Es ist schwie- Kollegen am Paul Scherrer Institut und wird. Um 2008 demonstrierten wir die rig zu sagen, ob ein bestimmtes Mate- an der EPFL haben wir kürzlich För- F Kontrolle von Magnetismus durch rial für ein bestimmtes Gerät revolu dermittel des European Research MULTIFERROIKA elektrische Felder in diesem Material. tionär sein wird – dazu gibt es zu viele Council für ein kollaboratives For- Multiferroika sind Materialien, die Nochmal zehn Jahre später gibt es nun wirtschaftliche und praktische Überle- schungsprojekt gewonnen, um genau 20 21 zugleich ferromagnetisch und fer- roelektrisch sind. In einem Ferro- die ersten Geräteprototypen. gungen. Mit den Multiferroika haben diese Frage zu beantworten. Insge- rau Spaldin, was fasziniert men enthalten. Meistens machen wir magneten zeigen die magnetischen wir eine Klasse von Materialien ge- heim versuche ich auch noch, einen Sie an Multiferroika? das heute noch so. Es gibt auch clevere Dipole der Atome – ähnlich winzi- Welche anderen Anwendungen von schaffen, die sehr vielfältig und multi- Raumtemperatur-Supraleiter zu ma- NICOLA SPALDIN – Mir fiel Entwicklungen, bei denen man Atome gen Kompassnadeln – alle in die- Multiferroika gibt es? funktional sind, und das erhöht die chen, aber das gehört vielleicht wirk- selbe Richtung, wodurch das ganze auf, dass es keine ferroelektrischen benutzt, die für gewöhnlich keine elek- Die andere Hauptklasse von Anwen- Möglichkeiten dessen, was wir von ei- lich in die Kategorie «Unmögliche Material magnetisch wird. Ebenso Materialien zu geben schien, die auch trischen Dipole ausbilden, und sie richten sich in einem Ferro dungen beruht auf der Kontrolle von nem Material erwarten können. Materialien». ferromagnetisch waren. Ich fand es dann dazu zwingt, dies durch unkon- elektrikum elektrische Dipole im elektrischen Eigenschaften durch Ma- spannend, zu ergründen, warum diese ventionelle Mechanismen doch zu tun. Material, die durch leicht verscho- gnetfelder – genau umgekehrt also. Sie meinen, Sie tun Dinge, die Sie sich Professur für Materialtheorie: beiden Phänomene nicht gleichzeitig Aber ich denke, die vielversprechends- bene positive und negative Ladun- Daran hatte ich gar nicht gedacht, als gar nicht vorstellen können? → www.theory.mat.ethz.ch auftreten. Dann versuchten wir, diese ten Materialien für technologische An- gen entstehen, parallel zueinander ich anfing, mich mit diesen Materialien In gewisser Weise ja. Ich erinnere mich Einschränkungen zu umgehen, um wendungen sind die einfachen, wo wir zu einem grossen elektrischen zu beschäftigen, aber heute wird das für an einen Anruf von einem Kollegen am Hören Sie Nicola Spaldin im ETH-Podcast: Dipol aus. Multiferroika vereinen → www.ethz.ch/podcast Materialien herzustellen, die beide Ei- die beiden Atomtypen kombinieren. biotechnologische Anwendungen aktiv Anfang unserer Arbeit an Multiferroi- beide Eigenschaften und koppeln genschaften vereinen. sie aneinander. Während man erforscht, zum Beispiel für gezielten ka, der sagte, er organisiere gerade ei- Gibt es schon Anwendungen für diese magnetische Dipole normalerweise Wirkstofftransport. Dabei nimmt man nen Workshop über unmögliche Mate- Warum haben Ferromagnetismus und Materialien? mit Magnetfeldern kontrolliert Ferroelektrizität solche Schwierigkeiten Es gibt Prototypen, ja, aber noch keine (wie eine Kompassnadel, die sich zu koexistieren? weitverbreiteten Anwendungen. Für am Erdmagnetfeld ausrichtet) und Am Ende ist es gar kein tiefgründiges die Zukunft gibt es zwei Richtungen. elektrische Dipole auf elektrische Felder reagieren, können in einem physikalisches Gesetz – Atome, die Die erste Anwendung, die wir im Sinn Multiferroikum die magnetischen leicht magnetische Dipole erzeugen, hatten, war die Kontrolle des Magne- Dipole mit elektrischen Feldern sitzen einfach an anderen Stellen des Periodensystems als diejenigen, die tismus mit einem elektrischen Feld. Für Datenspeicherung und Datenver- kontrolliert werden – und entspre- chend die elektrischen Dipole mit «Ein Kollege organisierte einen Workshop über gut elektrische Dipole machen. arbeitung ist das sehr spannend, da magnetische Geräte, etwa in einer magnetischen Feldern. unmögliche Materialien – und lud mich dazu ein.» Wie haben Sie dieses Hindernis Computerfestplatte, mit magneti- Nicola Spaldin überwunden? schen Feldern kontrolliert werden. Der einfache Weg war, Materialien Um aber ein magnetisches Feld herzu- herzustellen, die beide Arten von Ato- stellen, muss man Strom durch eine ETH GLOBE 4/2019 Bild: L’Oréal Foundation ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS E gal, ob ein Regenschirm, eine Autotür oder ein Robo- terarm: Damit Gegenstände beweglich sind und ihre Form verän- dern können, benötigen sie meist ver- schiedene Einzelteile, die mit Schar- in der Luft- und Raumfahrt, wo es auf jedes Gramm ankommt. Es eröffnet aber auch neue Möglichkeiten in vielen anderen Bereichen. Treibstoff sparen nieren, Nieten oder Schrauben ver- Auch ETH-Forschende arbeiten an bunden sein müssen – noch. Denn Materialien, die ihre Form anpassen weltweit forschen Wissenschaftlerin- können. Einer unter ihnen ist Paolo Er- nen und Wissenschaftler an Materia manni, Professor für Strukturtechno- lien, die ihre Form nach Bedarf anpas- logien und Leiter des Labors für Ver- sen können, quasi auf Kommando. Der bundwerkstoffe und adaptive Struktu- Vorteil: Ein Bauteil aus einem form ren. Er und sein Team entwickeln adaptiven Material könnte mehrere Strukturen für die Luft- und Raum- herkömmliche Bauteile ersetzen und fahrt, die drei widersprüchliche Eigen- Scharniere und Schrauben überflüssig schaften in sich vereinen: Sie sollen machen. Das führt nicht nur zu weni- leicht, stabil und gleichzeitig flexibel ger Wartungsaufwand, sondern spart sein. «Das ist eine grosse Herausforde- auch Gewicht. Das ist besonders für rung», sagt Ermanni. Denn die meis- Hightech-Anwendungen wichtig, etwa ten Materialien sind entweder stabil und tragfähig wie beispielsweise Stahl, elastisch wie Gummi oder leicht wie Styropor – aber nicht alles in einem. Deshalb kombinieren die Forscher MATERIAL verschiedene Materialien miteinan- FORME der, beispielsweise faserverstärkte 22 23 Kunststoffe, die sehr leicht, extrem stabil und steif sind, mit flexiblen Ma- terialien. So haben sie beispielsweise Trag- flächen für Flugzeuge entwickelt, die DICH! ihre Form den jeweiligen Flugbedin- gungen anpassen können, ähnlich wie Vogelflügel. «Unser Ziel ist, die Aero- dynamik zu verbessern und die Effi zienz zu steigern», sagt Ermanni. Herkömmliche Tragflächen sind gröss- tenteils starr und können ihr Profil nur über Steuer- und Bremsklappen verän- dern. Das ist jedoch aerodynamisch ETH-Forschende entwickeln ungünstig und führt zu unnötig hohem neuartige Materialien, die auf Befehl Treibstoffverbrauch. Beim neu entwi- ckelten Flugzeugflügel ist nur der vor- ihre Form verändern. Sie könnten dere Teil starr, der aus karbonfaserver- flexible Autokarosserien oder neue stärktem Komposit gebaut ist. Der hintere Teil besteht hingegen aus einer Arten von medizinischen Geräten nachgiebigen Struktur. Er kann mit möglich machen. Hilfe einer elektrischen Steuerung nach oben oder unten gebogen wer- TEXT Claudia Hoffmann den, wodurch sich der Auftrieb verän- dert. «Linienflugzeuge könnten mit verformbaren Tragflächen bis zu ei- nem Drittel Treibstoff einsparen», sagt Paolo Ermanni. So weit ausgereift ETH GLOBE 4/2019 ETH GLOBE 4/2019
FOKUS FOKUS Der Verbundstoff bleibt in einer Wasser, faltet sie sich wieder zurück. ren Gewebe schädigen können», sagt eine beliebige Form gegossen und här- bestimmten Form, solange das Diese Eigenschaft wird bereits in ver- Eric Dufresne, Professor am Labor für ten dann aus. Durch Beigabe von Hilfs- Magnetfeld angelegt ist. Wird es schiedenen Anwendungen genutzt, weiche und lebende Materialien der stoffen wäre auch ein 3D-Druck mög- entfernt, entspannt sich das etwa in der Medizintechnik oder ETH. Zudem ist es oft schwierig, das lich. Beides bietet grosses Potenzial für Material und nimmt wieder seine ursprüngliche Form an. Raumfahrt. Stents aus Formgedächt- Material gleichmässig zu erwärmen, die industrielle Fertigung. Für das neu- nis-Legierungen können schmal zu- und der Prozess benötigt viel Energie. artige Polymer sehen die Forschenden sammengedrückt durch Blutgefässe Deshalb hat Dufresne nun gemeinsam verschiedene Anwendungsmöglich- geschoben werden und entfalten sich mit dem Doktoranden Paolo Testa und keiten, etwa in der Biomedizin oder im erst an ihrem Bestimmungsort. Trä- mit Laura Heyderman, Professorin für Bereich Soft Robotics. «Zum Beispiel gerstrukturen, etwa für Solarpanels, Mesoskopische Systeme an der ETH könnte man damit einen neuartigen führt zu der gewünschten Formände- werden platzsparend zusammenge- und am Paul Scherrer Institut, ein neu- Stent bauen, der in kompakter Form an rung der gesamten Struktur. klappt ins All transportiert, wo sie sich artiges Polymer-Verbundmaterial ent- einen bestimmten Ort geliefert werden Je nachdem, welche Drähte man durch die Hitze der Sonne aufklappen. wickelt. Dieses benötigt keine Hitze, kann», sagt Dufresne. Nach Ausschal- ansteuert, streckt sich das anfangs fla- Neben den Metallen gibt es auch sondern besitzt stattdessen ein magne- ten des Magnetfeldes würde sich der che Paneel in Längs- oder Querrich- mehr und mehr Formgedächtnis-Ma- tisches Formgedächtnis. Verdreht man Stent ausdehnen – eine Thrombose tung, oder es krümmt sich beispiels- terialien aus Kunststoffen. Diese ha- beispielsweise ein bandförmiges Poly- könnte verhindert werden. weise zu einer Halbkugel. Erst wenn ben den Vorteil, dass sie um ein Vielfa- merstück zu einer Spirale und legt Bei der Entwicklung des Materials die elektrische Spannung entfernt ches weicher und flexibler sind. Zudem dann ein Magnetfeld an, verharrt es in war eine Prise Zufall dabei. Denn wäh- wird, kühlen die Drähte ab und ent- sind einige besser biokompatibel, wes- dieser Form. Wird das Magnetfeld rend sich die Gruppe von Eric Du In den Tröpfchen spannen sich, sodass die ganze Struk- halb sie sich besonders für medizini- entfernt, entrollt sich die Spirale wie- fresne vor allem mit der Interaktion aus Wasser und Glyzerin tur von selbst wieder in ihre ursprüng- sche Anwendungen eignen, etwa für der zum Band. von weichen Materialien mit ihrer schweben winzige magnetische Partikel liche Form zurückkehrt. «Dank der Implantate, Prothesen oder künstliche Möglich ist das, weil das Material Umgebung beschäftigt, forscht Laura aus Carbonyleisen. modularen Bauweise sind sehr viele Muskeln. Auch für die Robotik bieten aus zwei Komponenten besteht: Das Heydermans Team zu magnetischen verschiedene Konfigurationen mög- sie vielversprechende Möglichkeiten, Grundgerüst bildet ein Polymer auf Si- Nanostrukturen. «Dank der Kombina- lich», sagt Ermanni. Hinzu kommt, insbesondere für den Bau von «wei- likonbasis. In diesen sind Tröpfchen tion unserer Expertisen ist schliesslich dass sich mittels 3D-Druck die Form chen» Robotern, die lebenden Orga- einer Flüssigkeit eingelagert, in der ein Material mit völlig neuen Eigen- der Verbindungsstücke schnell und nismen nachempfunden sind. Diese winzige Eisenpartikel schwimmen. schaften entstanden», freut sich Laura 24 25 einfach variieren lässt, was unter- können mithilfe einer Formverände- Hält man einen Magneten daran, rich- Heyderman. schiedliche Ausgangsstrukturen er- rung des Materials Bewegungen aus- ten sich die Partikel entlang der Feld möglicht. führen, beispielsweise einen Gegen- linien aus. Dadurch wird das Material Forschungsgruppe von Paolo Ermanni: stand ergreifen und wieder ablegen. schlagartig fest, seine Steifigkeit er- → www.structures.ethz.ch ist die Technologie zwar noch nicht. form je nach Fahrtgeschwindigkeit an- Das Material erinnert sich höht sich um das 30-fache. Beim Ent- Dass sie grundsätzlich funktioniert, passen, würde dies den Luftwiderstand Eingesetzt werden könnte das neue Magnetisch programmierbar fernen des Magnetfelds verteilen sich Forschungsgruppe von Eric Dufresne: konnte das Team aber bereits mit ei- senken und Energie sparen. Verbundmaterial zunächst in Satel Ein Nachteil der meisten Formge- die Eisenpartikel wieder in der Flüssig- → www.softliv.mat.ethz.ch nem eigens entwickelten Modellflug- Deshalb testet Ermanni zusam- litenantennen, die durch Verformung dächtnis-Materialien ist jedoch, dass keit und das Material wird weich. zeug beweisen. men mit seinem Doktoranden Oleg ihre Sendefrequenz modulieren könn- man sie für die Rückkehr in ihre Ur- «Ein grosser Vorteil ist, dass die Forschungsgruppe von Laura Heyderman: Testoni Bauprinzipien, mit denen sich ten. An einer solchen Anwendung ar- sprungsform erhitzen muss. «Das ist Herstellung des Materials sehr einfach → www.mesosys.mat.ethz.ch Flexible Bauweise eine möglichst grosse Verformbarkeit beitet bereits Postdoktorandin Maria besonders für den Einsatz in der Medi- ist», sagt Paolo Testa. Die flüssigen Um die Verbesserung der Aerodyna- erreichen lässt. Ein Ansatz ist, Ele- Sakovsky in Ermannis Gruppe. zin ein Problem, weil hohe Temperatu- Komponenten werden gemischt, in mik geht es auch in einem Projekt, wel- mente aus verschiedenen Materialien Der Nickel-Titan-Draht, den die ches im Rahmen des Forschungspro- modul artig zusammenzusetzen. Als Forschenden im neuen Verbundmate- gramms Sustainable Design of 4D Grundbausteine verwendet das Team rial verwendet haben, zählt zu einer Printed Active Systems (SD4D) läuft, rechteckige Elemente aus Polymilch- besonderen Klasse von Stoffen. Diese einer Initiative des ETH-Rates. Ziel ist säure und später aus karbonfaserver- sind nicht nur sehr dehnbar und trotz- die Entwicklung neuer Materialien, stärktem Kunststoff, die für Stabilität dem stabil, sondern haben auch ein so- die mit 3D-Druck hergestellt werden sorgen. Zusammengehalten werden genanntes Formgedächtnis: Auch «Dank der Kombination unserer Expertisen und die ihre Form auch noch nach der sie von 3D-gedruckten Verbindungs- wenn sie stark deformiert werden, Fabrikation verändern können. Sie stücken aus Kunststoff, welche die nö- «erinnern» sie sich noch an ihre ur- ist ein Material mit völlig neuen Eigenschaften entstanden.» könnten unter anderem für den Bau tige Flexibilität verleihen. Ausserdem sprüngliche Form. Auf einen Stimulus von Autokarosserien zum Einsatz ist in jedem Verbindungsstück ein hin – meist eine Erwärmung – kehren kommen. «Windschnittigkeit ist be- Draht aus einer Nickel-Titan-Legie- sie wieder in ihren Ausgangszustand sonders bei E-Autos ein wichtiger Fak- rung eingespannt. Werden die Drähte zurück. So kann man beispielsweise Laura Heyderman tor, um die Effizienz zu steigern und mit Strom auf zirka 100 Grad Celsius eine Büroklammer aus Formgedächt- somit die Reichweite zu erhöhen», sagt erwärmt, verkürzen sie sich und defor- nis-Draht bis zur Unkenntlichkeit ver- Ermanni. Liesse sich die Karosserie- mieren so die Verbindungsstücke. Das biegen. Legt man sie jedoch in heisses ETH GLOBE 4/2019 Bild: Paolo Testa ETH GLOBE 4/2019
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