Wie ich meinen Großvater fand - NWZonline

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Wie ich meinen Großvater fand
Mein Name ist Anjela Stutz. Ich wurde im Jahr 1968 im Ammerland geboren und
wuchs gut behütet mit zwei jüngeren Geschwistern in Rostrup / Bad
Zwischenahn auf. Meine Kindheit war unbeschwert und glücklich. Meine Mutter
war 18 Jahre alt, mein Vater 22, als ich geboren wurde und meine Großeltern
beiderseits noch sehr aktiv. Als ich älter wurde erfuhr ich, dass mein Großvater
väterlicherseits nicht mein „ richtiger Großvater“ war. Meine Großmutter war
schon einmal verheiratet. Sie stammte aus Ostpreußen und war mit drei kleinen
Kindern und ihrer jüngeren Schwester von Sortlack ins Ammerland geflohen.

Mein Vater kam 1946 auf die Welt und war ein „Besatzungskind“. Das hat er
allerdings erst erfahren, als er zur Schule ging, und war wie vor den Kopf
geschlagen. Er dachte bis dato immer, dass er den gleichen Nachnamen wie seine
Geschwister trug, aber dem war nicht so. Er hakte bei seiner Familie nach. Die
Aussagen der Lehrer wurden als Lügen dargestellt. Mit den Jahren hieß es
irgendwann: Der Vater kam aus Übersee! Damit war das Thema erledigt.
Nochmaliges Nachfragen wurde ignoriert oder bestraft.

Als mein Vater mit 14 Jahren konfirmiert werden sollte, tat er sich schwer,
einen Konfirmationsspruch auszusuchen. Der Pastor riet ihm, den Taufspruch zu
nehmen. Mein Vater war einverstanden. Allerdings konnte der Pastor keinen
Taufeintrag meines Vaters finden. Zu Hause nachgefragt, ob er getauft sei,
stieß auf heftige Reaktionen. Natürlich sei er getauft, dafür gebe es Zeugen.
Dann kam ans Licht, dass er den Mädchennamen seiner Mutter als Nachnamen
trug und die Geburtsurkunde und somit auch der Taufeintrag auf eben diesen
Namen lauteten. Und wieder fragte er sich: Wo komme ich her? Wer ist mein
Vater? Wieso wird geschwiegen?

Als ich selbst 14 Jahre alt war, versuchte ich, einen Stammbaum zu erstellen.
Damals, 1982, war das Internet noch nicht verfügbar. Ich fragte meine
Großmutter direkt, wer mein Großvater war, wie er hieß. Sie blickte aus dem
Fenster und war nicht gewillt, mir zu antworten. Minuten vergingen, in denen sie
völlig stumm und mit starrem Blick dasaß. Die Antwort auf meine Frage habe ich
nie erhalten. Der Stammbaum blieb klein und geriet in Vergessenheit.
Meine Eltern konnten mir auch keine Antwort geben, da auch sie von meiner
Großmutter keinerlei Informationen erhielten. All die Jahre schwirrte mir immer
mal die Frage durch den Kopf: Ob mein Großvater von der Schwangerschaft
wusste?

Meinem Vater hatte man erzählt, dass sein Vater aus Kanada komme. Er war
Soldat und hatte sicherlich nicht die Möglichkeit, aus Kanada zurückzukehren
oder anzurufen. Zu damaliger Zeit war ein Telefon absoluter Luxus und nur
wenige Haushalte besaßen eins. Meine Großmutter hat einmal erzählt, dass er
noch einmal da gewesen sei, um sie und die Kinder mit nach Kanada zu nehmen,
sie aber abgelehnt habe.
Bei einem Treffen der Familie im Sommer 2020 sprachen wir über alte
Geschichten aus unserer Familie, und meine Tochter sagt, dass sie nicht mehr
folgen könne. Wer ist wer, und wie gehören die alle zusammen? Da fiel mir der
Stammbaum wieder ein. Mein Vater wollte keine Nachforschungen anstellen. Zu
groß war die Angst, enttäuscht zu werden, nichts zu finden oder sogar
Ablehnung zu erfahren, falls man Familie findet. Er wollte keine Unruhe stiften.
Ich beschloss für mich, einen Stammbaum zu erstellen, doch der Stammbaum
wuchs nur langsam. Eines Morgens um 6 Uhr konnte ich nicht mehr schlafen. Seit
Tagen hatte ich das Internet durchforstet und war auf der Suche nach Akten in
Polen, die man online einsehen kann. Ich hatte was gefunden, kam aber mit der
Handhabung der Seite anfangs nicht zurecht.

Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, versuche ich allerdings auf Biegen
und Brechen, mein Ziel zu erreichen. So saß ich an diesem Morgen in aller Früh
am PC und fing erneut an zu suchen. Eine halbe Stunde später klickte ich mich
durch unzählige in Sütterlin und kurrenter Schrift geschriebene
Geburtsurkunden einer deutschen Webseite, welche polnische bzw.
ostpreußische Urkunden digitalisiert hatte. Plötzlich hatte ich eine Urkunde
gefunden, in der das Kind den Vornamen Gertrud Marie (wie meine Großmutter)
trug. Das Geburtsdatum stimmte mit dem meiner Großmutter überein. Dann fiel
mir noch etwas auf. Da stand der Name der Mutter – Anna Kohn. Meine
Großmutter hatte uns kurz vor ihrem Tod gesagt, dass ihr Mädchenname
eigentlich Kohn sei. Wir haben das damals ignoriert; sie war dement und wir
nahmen an, dass sie irgendetwas durcheinandergebracht hatte. Ein Randvermerk
auf der Geburtsurkunde meiner Großmutter untermauerte meine Annahme. Da
stand geschrieben, dass ein Gustav Böhnke die Anna Kohn geheiratet hatte und
das Kind Gertrud als seines anerkennt. Der Mädchenname meiner Großmutter
war Böhnke! Ich war völlig aus dem Häuschen. Dieser Fund trieb mich an
weiterzumachen.
Wenig später hatte ich den Stammbaum mütterlicherseits erheblich erweitern
können, da die Familie hier schon einige Generationen ansässig war,
Geburtsurkunden in den Standesämtern im Ammerland und in der Wesermarsch
verfügbar und leicht zu besorgen waren.

Die Recherche nach meinem Großvater väterlicherseits gestaltete sich nach wie
vor schwierig, sodass ich beschloss, eine Anzeige in einer kanadischen Zeitung
aufzugeben. Doch welche sollte ich nehmen? Ich dachte mir: Am besten fange
ich alphabetisch an und frage mich durch, was so eine Anzeige kostet. Die erste
Zeitung, bei der ich mich per E-Mail nach dem Preis erkundigte, war „Der
Albertaner“.

Ich schloss meine E Mail mit den Worten: „Liebe Grüße aus dem wunderschönen
Bad Zwischenahn“. Die Antwort mit einer Preisliste kam prompt. Genauso zügig
folgte eine zweite E-Mail, in der mir der Verleger der Zeitung, Arnim Joop,
mitteilte, dass er Bad Zwischenahn persönlich kenne, da er 1970 hier gelebt hat.
Seine Mutter war die Heimleiterin in dem Altenwohnzentrum in Rostrup – Jutta
Joop. Ich war fassungslos. Das konnte doch nicht sein! Ich habe von 1985 bis
1988 in eben diesem Altenheim meine Koch-Ausbildung absolviert und kannte
Jutta Joop, die damals bereits selbst Bewohnerin dieser Einrichtung war. Der
Verleger aus Kanada konnte es kaum glauben. Was für ein Zufall! Seit der Zeit
haben wir viele Informationen per E-Mail ausgetauscht. Die Resonanz auf die
Zeitungsanzeige („Albertaner“ Ausgabe Oktober 2020) blieb aus.

Arnim Joop bot mir an, einen Kontakt zum Verteidigungsattaché in Ottawa
herzustellen. Also dann. Ich schrieb an den Verteidigungsattaché und schilderte
ihm mein Anliegen. Große Hoffnung hatte ich allerdings nicht.
Meine Eltern erzählten mir, dass mein Großvater John oder Jack heiße. Den
Namen gibt es in Kanada unzählige Male. Einige Tage später bekam ich eine E-
Mail vom Hauptsekretär des Verteidigungsattachés. Damit hatte ich so schnell
nicht gerechnet. Er bot seine Hilfe an. Ich berichtete ihm, was ich wusste, und
erkundigte mich, ob es evtl. eine Liste über die 1945 in Rostrup stationierten
Soldaten gebe. Der Gedanke war gut, aber zu positiv gedacht – solch eine Liste
existiert nicht. Der Hauptsekretär empfahl mir eine Internetseite: Ancestry.
Dort war ich bereits registriert und hatte meinen Stammbaum eingetragen.
Ebenso sprach er von einem DNA-Test, da es in den USA und in Kanada populär
sei, einen solchen Test zu machen, um zu sehen, aus welchem Teil Europas die
Vorfahren stammen. Also überredete ich meinen Vater, einen solchen Test zu
machen.

Am 15. Dezember 2020 lag das Ergebnis vor: Mein Vater hat zu 40%
schottische Gene, 21 % fielen auf Ostpreußen/Russland, 13% auf Irland, 12%
Schweden, 8% England und Nordwesteuropa und 6% Baltische Staaten.
Der Test hatte außerdem Personen 1.-3. Grades herausgefiltert, mit denen es
Übereinstimmungen („Matches“) gab. Das größte Match hatte mein Vater mit
einem Mann namens Don Harrod. Ich beschäftigte mich intensiver mit den
Ergebnissen der Auswertung. Die Einheit eines DANN-Tests wird mit cM
(centimorgan) angegeben. Mit einem eineiigen Zwilling läge dieser Wert bei 7000
cM, bei den Eltern bei 3500 bis 3600 cM, bei Geschwistern bei ca. 2600cM,
Halbgeschwister bei ca. 1200cM bis 1700cM, ebenso bei Neffen oder Nichten.
Das Testergebnis zwischen meinem Vater und Don Harrod lag bei ca. 1200 cM.
Hatte ich etwa einen Halbbruder meines Vaters gefunden? Sofort machte ich
mich daran, Don Harrod zu kontaktieren. Er hatte den DNA-Test ebenfalls
gemacht, um Verwandte zu finden. Er schrieb mir, dass er als Baby adoptiert
wurde und seine leibliche Familie gerade erst vor einigen Tagen gefunden habe.
Sein Vater war noch am Leben. Hatte ich mein Ziel erreicht?
Einige Tage später schrieb ich rund 100 Personen über Ancestry an, mit denen
die DNA meines Vaters zu einem entscheidenden Teil übereinstimmte, und
schilderte ihnen mein Suchvorhaben. Die Resonanz war großartig. Ein weiterer
Herr, George McClure, erwies sich als sehr nützlich. Er hatte einen großen
Stammbaum zusammengetragen und anhand dieses Stammbaums war klar, dass
jener John/Jack, den Don Harrod erwähnt hatte, nicht mein Großvater sein
konnte, da er erst im Jahr 1938 geboren wurde. Er war acht Jahre alt, als mein
Vater zur Welt kam. Ich war enttäuscht und frustriert. Aber ich machte weiter.
Ich las mir nochmals alle Informationen durch. Der Stammbaum von George
McClure fiel mir wieder ein. In seinem Stammbaum und dem einer Dame, die
ebenfalls ihre Hilfe angeboten hatte, stieß ich auf Gemeinsamkeiten: Es gab
einen John Jack, geboren 1915 in Torry/Aberdeen (Schottland), gestorben 1999.
Meine Großmutter wurde 1913 geboren. Somit wären sie vom Alter her auf einer
Ebene. Von besagtem John Jack gab es bei Ancestry einen Hinweis auf ein Foto
von einem Grabstein. Auf dem Stein waren verschiedene Plaketten angebracht.
Ich schickte dieses Foto an den Hauptsekretär des Verteidigungsattachés in
Ottawa mit der Bitte um Aufklärung. Er schrieb mir, dass anhand der Plakette
folgende Angaben gemacht werden können: „Das Poppy – also die Mohnblüte
unter den Sterbedaten – weist ihn als Veteranen aus. Die Abkürzung RCA steht
für The Royal Regiment of Canadian Artillery. Die Figur in der Mitte sieht für
mich aus wie der römische Gott Merkur. Zusammen mit der Tudorkrone über
dem Abzeichen kann es sich eigentlich nur um das Truppengattungsabzeichen
des Royal Canadian Corps of Signals (Fernmeldetruppen) handeln. Das RCA ist,
soviel kann ich Ihnen bereits jetzt sagen, definitiv gemeinsam mit der 4.
kanadischen Division rund um Bad Zwischenahn eingesetzt gewesen, als die
Kanadier den Ort befreit haben.“
Ich habe dann George Mc Clure noch einmal kontaktiert und gefragt, ob er evtl.
ein Foto von John Jack hätte. Er antwortete, dass er bereits eins eingestellt
habe, welches ich in seinem Stammbaum ansehen könne. Sofort öffnete ich die
Internetseite von Ancestry und suchte in dem Stammbaum von George McClure
nach John Jack. Als ich das Foto sah, wurde mir ganz komisch. Es war fast so,
als würde ich in das Gesicht meines Vaters blicken. Sofort schickte ich das Foto
per WhatsApp an meinen Vater. Er war völlig aus dem Häuschen. Nach 74 Jahren
hatte er endlich ein Foto von seinem Vater. Was muss das für ein Gefühl sein?
Ich kontaktierte Don Harrod noch einmal, um zu hören, ob er schon Gelegenheit
hatte, seine Familie kennenzulernen. Er bejahte es und bat mich meinem Vater
schöne Grüße auszurichten, mit der Anmerkung er möchte bitte mal in seinen
Facebook-Postfach schauen. Das haben wir sofort getan. Die Tante von Don
Harrod, Barbara Schultz, hatte meinen Vater angeschrieben und sich als seine
Halbschwester vorgestellt. Sie war sehr freundlich und klärte meinen Vater
darüber auf, dass er noch weitere Halbgeschwister hat, die sich alle sehr
freuen, dass er sie gefunden hat. Jede Menge Nichten und Neffen gehören auch
dazu. Mein Vater ist der jüngste der Geschwister. Einige Tage später meldete
sich Jack Caie (ein Halbbruder) per VideoCall über WhatsApp bei meinem Vater.
Als er mir abends davon berichtete, hat er über alle Maßen gestrahlt.

So viele Zufälle und glückliche Fügungen:
1. Die Zeitung die ich in Kanada kontaktierte gehört A.Joop, dessen Mutter
Heimleiterin in dem Altenheim war, in dem ich meine Ausbildung absolvierte.
2. Der DNA Test, den Don Harrod selbst erst kürzlich gemacht hat und der
zudem erst jetzt seine leibliche Familie gefunden hat.
3. Die Plaketten auf dem Grabstein, der im Internet zu finden war
4. Und last but not least … mein Etsy Shop heißt Torry Aberdeen, das ist der
Geburtsort meines Großvaters…Außerdem habe ich eine Affinität zu Karos, aber
das mal nur so am Rande bemerkt
Seitdem stehen wir in regem Kontakt mit den Angehörigen in Kanada und werden,
sobald alle geimpft und die Reisebeschränkungen aufgehoben sind, nach Kanada
fliegen, um alle persönlich kennenzulernen
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