"Willige Vollstrecker" - Memoshoah Luxembourg asbl
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8 COVERSTORY „Willige Vollstrecker“ Über den luxemburgischen Beitrag an der Verfolgung und Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg lag lange Zeit ein Mantel des Schweigens. Bis eine neue Generation von Historikern und Publizisten den Mythos vom Volk der Opfer und Widerständler entzauberte. A uf einem Foto* sind sieben Männer zu sehen, sechs in Uniform und einer nicht uniformiert. Es sind Mitglieder des Reserve-Polizeiba- taillons 101 (RPB 101). Sie stehen vor einer Holzscheune, auf dessen Strohdach Schnee liegt. Die Uniformierten im typi- schen Waffenrock des Polizeibataillons tragen in den Gürteln Granaten, auf den Schultern Gewehre. Einer von ihnen hält eine Maschinenpistole. Hinter einem der Männer liegt links vor der Scheune eine Person leblos auf dem Boden.
COVERSTORY 9 Luxemburger Soldaten werden von der Besatzungsmacht verabschiedet. Wann das Foto, das die Historiker Die beiden Historiker Jérôme Courtoy in dem Bataillon der Hamburger Polizei- des Musée national de la Résistance und Elisabeth Hoffmann vom Escher reserve. Die paramilitärische Einheit der bei Recherchen in einer Privatsamm- Resistenzmuseum haben die Fotos ana- Ordnungspolizei RPB 101 war während lung gefunden haben, entstanden ist, ist lysiert und damit einen Nachweis für die des Zweiten Weltkrieges an der Ermor- unbekannt. Auf der Rückseite sind die Beteiligung mindestens eines Luxembur- dung von mindestens 38.000 Juden folgenden mit Handschrift geschriebe- gers an einem Stoßtrupp des RPB 101 direkt beteiligt, ebenso an der Depor- nen Worte zu lesen: „Diese Scheune war erbracht. Sie veröffentlichten einen Teil tation von mindestens 45.000 Juden in voll Juden u. Banditen, der Stoßtrupp ihrer Forschungsergebnisse in einem die Vernichtungslager. Der Öffentlichkeit nach dem Kampf.“ Durch den Vergleich Artikel für die Wochenzeitung „woxx“ bekannt wurde das Bataillon, als der US- mit anderen Fotos lässt sich folgern, dass am 19. Dezember 2019. Historiker Christopher Browning 1992 das Foto von dem Mann mit der Maschi- seine Studie „Ordinary Men: Reserve nenpistole stammt. Aus seiner Hinter- Insgesamt waren 14 Soldaten der Police Bataillon 101 and the Final Solu- lassenschaft ist auch die Sammlung. luxemburgischen Freiwilligenkompanie tion in Poland“ publizierte. Darin stellte
Luxemburg. – Offizier der Waffen-SS im Gespräch mit Heinrich Himmler. Aufmarsch deutscher Truppen in der Grand Rue Häuserfront mit Hotel Brasseur (links, Hintereingang). in Luxemburg. 10.05.1940. der Geschichtswissenschaftler anhand von 125 in den in Polen“ fest: „Mehr als 50 Jahre nach dem Ende des 60er Jahren verfassten Vernehmungsprotokollen aus Zweiten Weltkrieges ist nun klar, dass auch Luxem- zwei Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder burger in den Massenmord an den Juden verstrickt des Bataillons die These auf, dass selbst „ganz normale waren.“ Allerdings hatten die (Mit-)Täter „mehr als 50 Männer“, so auch der deutsche Titel seines Buches, unter Jahre geschwiegen und damit verschwiegen, was sie bestimmten Bedingungen in der Lage waren, zu Massen- gesehen hatten und woran sie beteiligt waren.“ Hatte mördern zu werden. Vier Jahre später veröffentlichte sein „der Verdrängungsprozess die Vermischung mit den amerikanischer Historikerkollege Daniel Goldhagen sein Kämpfen gegen Partisanen“ beschleunigt? Der Einsatz Buch „Hitler´s Willing Executioners“. Im Gegensatz zu des Bataillons und schließlich die Kriegsgefangenschaft Browning ging er von einem bei Deutschen tief verwur- in Russland hätten die Erinnerung an die Judenmorde zelten „eliminatorischen Antisemitismus“ aus. Browning überlagert, meint Dostert. Von der luxemburgischen wiederum versuchte Goldhagen zu widerlegen, indem er Nachkriegsgesellschaft wäre ein Eingeständnis auch das Beispiel der 14 Luxemburger nannte. kaum gewollt gewesen. Schließlich hatte sich das Land in seiner Opferrolle, kombiniert mit dem Widerstands- Bis dahin lag über eine mögliche Beteiligung von mythos, bequem eingerichtet. Luxemburgern am Holocaust der Mantel des Schwei- gens. Nur wenige, wie zum Beispiel der Journalist Paul Die Diskussion um die luxemburgische Beteiligung Cerf, widmeten sich im Tageblatt und in der revue dem an der Judenverfolgung erhielt eine erneute Dynamik, Thema. Erst der Streit zwischen den beiden amerikani- als der Historiker Denis Scuto 2013 eine Liste von 280 schen Forschern fand hierzulande zumindest für kurze jüdischen Schulkindern vorlegte, die die luxemburgi- Zeit eine heftige Resonanz. Als Erster schrieb der His- schen Behörden mithilfe der jeweiligen Schulleiter im toriker Lucien Blau am 8./9. Juni 1996 im Tageblatt Jahre 1940 nach der Besatzung durch die Deutschen einen Artikel unter dem Titel „Ein Beispiel unbewältig- der deutschen „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) ter Geschichte“. Er analysierte darin die Aussagen von übermittelte. Scuto gehört der neuen Generation von ehemaligen RPB-101-Angehörigen. Einer dieser Männer, Geschichtswissenschaftlern an, die eine Enttabuisie- der auch in dem Artikel von Courtoy und Hoffmann rung der Rolle Luxemburgs bei der Judenverfolgung genannte Jean Heinen, nahm daraufhin in einem vier- vorantrieben. 2015 legte er eine weitere Liste vor, die- teiligen Beitrag für das Luxemburger Wort Stellung und ses Mal von polnischen Juden, die am 21. November wies die Beteiligung der Luxemburger an den Erschie- 1940 der Verwaltungskommission unter Gauleiter Gus- ßungen weit von sich. Das Justizministerium beauftragte tav Simon übergeben worden waren. Zur Enttabuisie- daraufhin den Historiker Paul Dostert mit Recherchen. rung trug nicht zuletzt der Historiker Vincent Artuso Dieser erhielt Einsicht in die Untersuchungsunterlagen bei (siehe Interview), den der damalige Premierminister gegen Mitglieder des RPB 101 und kam zu der Schluss- Jean-Claude Juncker 2013 beauftragt hatte, die Rolle der folgerung, dass „zweifellos auch Luxemburger an den Luxemburger Verwaltungskommission zu erforschen, Morden (in)direkt beteiligt (gewesen) waren“. die seit dem Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940 bis zu ihrer Auflösung im Dezember desselben Dostert stellte in seinem im Jahr 2000 in der Zeit- Jahres bei der Judenverfolgung spielte. Der 264 Seiten schrift „Hémecht“ publizierten Beitrag „Die Luxembur- lange sogenannte Artuso-Bericht kam zum Schluss, dass ger im Reserve-Polizei-Bataillon 101 und der Judenmord die Verwaltungskommission durch die systematische
COVERSTORY 11 oder dahin abgeschoben worden – nicht wenige wurden später von den Nazi-Besatzern gefasst und deportiert. Im hinteren Teil seines Buches geht Lorang der Frage nach, „wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teil- nehmern am Judenmord wurden“. Wie sie dazu kamen, an der „Aktion Reinhard“, der Vernichtung von 3 Millio- nen Juden in Polen, teilzunehmen, insbesondere an der größten Massenerschießungs-Einzelaktion des Zweiten Weltkriegs, bei der die Deutschen an zwei Tagen min- destens 40.000 Menschen massakrierten und die sie zynisch „Erntefest“ nannten. Bereits 2017 hatte sich Lorang in einem Artikel für das Tageblatt mit den Luxemburger Angehörigen des RPB 101 befasst und Auszüge aus einem zuvor nie pub- lizierten achtstündigen Interview von Jean Heinen mit dem Publizisten Victor Weitzel veröffentlicht. In seinem aktuellen Buch, in dem unter anderem die bereits im Tageblatt erschienen Artikel gesammelt sind, ist Lorang noch weiter gegangen und zitiert aus den bisher unveröf- fentlichten Memoiren eines einstigen RPB-101-Mitglieds. Lorang rollt das Thema der luxemburgischen Beteiligung an der „Shoah“ auf (das hebräische Wort für Katastro- Identifizierung und Auflistung der jüdischen Einwoh- phe oder Unheil und im allgemeinen Sprachgebrauch ein ner Luxemburgs in der Tat eine Mitschuld trug. Synonym des aus dem Griechischen abgeleiteten Wor- tes „Holocaust“). Der Autor beschreibt den rassistischen In seinem kürzlich erschienenen Buch „Luxembrug Antisemitismus der Nationalsozialisten, der sich seit der im Schatten der Shoah“ beschreibt Mil Lorang das tra- Machtübernahme der Nazis um Adolf Hitler in Deutsch- gische Schicksal der deportierten Juden Luxemburgs, land im Jahr 1933 über die Nürnberger Rassengesetze die in sieben Deportationswellen aus Luxemburg in die 1935, den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem Über- Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht wurden. fall der Deutschen auf Polen im September 1939 ausbrei- Einmal mehr wird dadurch die grenzenlose Unmensch- tete und schließlich in der „Ausrottung“ von fast sechs lichkeit deutlich, mit denen die Nazis ans Werk gingen. Millionen europäischen Juden endete. Der Autor berichtet von antisemitischen Handlungen vor und während des Krieges, „von Judenverfolgung, von Judenvertreibung, vom Ausschluss jüdischer Schü- Das Reserve-Polizeibataillon ler und Schülerinnen aus den Luxemburger Schulen, von Erniedrigung, Entwürdigung, Stigmatisierung und 101 war an der Ermordung Entmenschlichung der jüdischen Bürger Luxemburgs im öffentlichen Raum, von Beschlagnahmung jüdischer von mindestens 38.000 Juden Wohnungen und Geschäfte, von Konzentrierung älterer und kranker jüdischer Menschen im Kloster Fünfbrun- direkt beteiligt. nen im hohen Norden des Landes“ – und schließlich von den Deportationen. Besonders gefürchtet neben den Einheiten der SS Von den fast viertausend jüdischen Einwohnern in waren die Polizeibataillone der Ordnungspolizei, darun- Luxemburg zum Kriegsbeginn lebten am Kriegsende ter das genannte Reserve-Polizeibataillon. Die ursprüng- nur noch etwa 60 im Großherzogtum, in sogenannten lich 15 Luxemburger im Bataillon, einer von ihnen blieb Mischehen oder versteckt. „Die Auslöschung jüdischen krankheitshalber in Hamburg, stammten aus der 1881 Lebens“, wie sie Mil Lorang in seinem Buch schildert, gegründeten Freiwilligenkompanie, die im August 1940 das gründlich recherchiert ist und das die Geschehnisse in die deutsche Schutzpolizei eingegliedert worden war. und Zusammenhänge übersichtlich analysiert, ist auch Der Reichsführer SS und der deutschen Polizei, Heinrich die Geschichte eines menschlichen Versagens. Lorang Himmler, zeigte sich bei seinem Besuch in Luxemburg bringt es mit dem Begriff „Reise ans Ende der Mensch- am 8. September 1940 sichtlich beeindruckt von der gut lichkeit“ in seinen Kapiteln über die sieben Deportati- ausgebildeten Truppe. „Das sind die Meinigen“, soll er onen auf den richtigen Nenner. „Insgesamt geht man gesagt haben. Dabei sei erwähnt, dass am 1. November von ca. 1.300 Juden aus, die beim deutschen Einmarsch 1940 zusätzlich 50 Männer rekrutiert wurden, 60 sich noch in Luxemburg lebten und durch das Nazi-Regime meldeten und schließlich 51 einberufen wurden, um in ermordet wurden“, schreibt Lorang. 658 wurden direkt der deutschen Polizei zu dienen. nach Osten deportiert, 44 von ihnen überlebten. Andere jüdische Bewohner Luxemburgs waren nach dem deut- Die insgesamt 465 Soldaten starke Kompanie wurde schen Einmarsch nach Frankreich oder Belgien geflohen im Dezember 1940 zu einer fünfmonatigen Ausbildung
12 COVERSTORY nach Weimar gebracht. Ihnen wurde zwar versprochen, Einsätze gegen polnische Partisanen. Einige der Luxem- dass sie nach der Umschulung wieder in ihrer Heimat burger gehörten dem Vorkommando an und hatten den eingesetzt würden. Doch das Versprechen wurde nur Befehl, die Quartiere vorzubereiten. Allein am 13. Juli teilweise gehalten, denn nur hundert Soldaten wurden 1942 kam es in Jozefow zu einem Massaker an 1.500 nach Luxemburg zurückbeordert. Außer 23 Männern, Juden. Laut der Nachforschungen von Paul Dostert die noch in Weimar entlassen wurden, kamen die ver- waren daran keine Luxemburger beteiligt, womöglich bliebenen 340 in verschiedenen Einheiten und an ver- weil „sie noch als potenziell unsicherer Fremdkörper im schiedenen Standorten zum Einsatz, 27 davon in der Bataillon galten, auf den man sich in Extremsituationen Waffen-SS, 211 kamen nach Köln zur Polizeieinsatzab- nicht glaubte verlassen zu können“. Die RPB-101-Mit- teilung und zur Polizeikompanie in Bottrop-Reckling- glieder Jean Heinen, Nicolas Schumacher und Roger hausen, bis sie in der 4. und 5. Kompanie des RPB 181 Wietor berichteten 1986 zwar über die Partisanenein- im Partisanenkampf in Jugoslawien eingesetzt wurden. sätze, aber nicht über die Erschießungen und Deporta- Aufgrund anhaltender Befehlsverweigerung wurde die 5. tionen von Juden. Dabei konnten die anfänglichen Ein- Kompanie wegen Unzuverlässigkeit wieder aus Jugosla- sätze kaum etwas mit Partisaneneinsätzen zu tun haben, wien abgezogen und kam nach Innsbruck, wo sie einen wie Dostert feststellt, denn „diese fanden erst zwischen Eid auf Hitler ablegen sollten. Doch zahlreiche Luxem- Januar 1943 und Juni 1944 statt“. Zudem „Partisanen- burger verweigerten dies und kamen deshalb in Gefan- einsätze“ bis dahin nichts anderes waren, als ein Tarn- genschaft. Nach der Auflösung ihrer Kompanie wurden begriff für einen Vernichtungseinsatz gegen Juden oder die verbliebenen Luxemburger nach Essen, Kiel, Köln gegen die nichtjüdische Bevölkerung. und Hamburg versetzt. Im Interview mit Weitzel gab Heinen zu, dass die Das RPB 101 wurde im Juni 1942 nach Polen zur Luxemburger an einigen „Judenaktionen“ beteiligt „Aktion Reinhard“ zur Vernichtung der Juden entsandt. gewesen seien, wie zum Beispiel an der „Aktion Ernte- Die 14 Luxemburger waren mit einem Durchschnittsal- fest“ (darüber schrieb er auch in seinem Leserbrief im ter von 22 Jahren deutlich jünger als die anderen Mit- Luxemburger Wort). Allerdings stritt er ab, dass Luxem- glieder des Bataillons, die Ende 30 bis Anfang 40 waren. burger Juden getötet hätten. Ob und wie die Luxembur- Die Aufgaben des RPB 101 bestanden in Massenerschie- ger nun an den Holocaust-Verbrechen beteiligt waren, ßungen von Juden, in Umsiedlungen und Räumungen ist seit der Debatte zwischen Browning und Goldhagen von Ghettos sowie in Deportationen von Juden in die umstritten. Die Polizisten des Reservebataillons hatten Vernichtungslager, ebenso sogenannte Judenjagden und jedenfalls den Auftrag, „alle Juden zusammenzutreiben, Buch zum Thema Mil Lorang war beruflich in den lichen Themen. Seit 2016 recherchiert Mittwoch, 29. Januar 2020 um 19.30 Uhr Bereichen Kongressorganisation und und publiziert er im Rahmen von in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Kommunikation tätig. Unter anderem MemoShoah Luxembourg zum Thema Resistenzmuseum und MemoShoah leitete er die Presse- und Kommuni- Judenverfolgung in Luxemburg unter der Luxembourg. Buchvorstel-lung von Mil kationsabteilung des OGBL. Außerdem Nazibesatzung. Dazu findet im Rahmen Lorang, Lesung von Auszügen durch Jay veröffentlichte er verschiedene des 75. Jahrestages der Befreiung von Schiltz, Schlussbemerkungen von Frank Gastbeiträge in der luxemburgischen Auschwitz durch die Rote Armee eine vom Schroeder, Direktor des Musée national Presse zu verschiedenen gesellschaft- OGBL organisierte Veranstaltung statt. de la Résistance. Mil Lorang: Luxemburg im Schatten der Shoah. Hrsg. MemoShoah Luxembourg, Éditions Phi, Esch/Alzette 2019. 201 Seiten.
COVERSTORY 13 Von den fast vier- tausend jüdischen Einwohnern in Luxemburg zum Kriegsbeginn lebten am Kriegsende Die 14 Luxemburger des Reserve-Polizeibataillons 101 nur noch etwa 60, in sogenannten die arbeitsfähigen Männer abzusondern, um sie dann in ein Arbeitslager zu bringen“. Frauen, Kinder und ältere Mischehen oder Männer wurden hingegen erschossen. Der zuständige Kommandeur Major Wilhelm Trapp ließ es seinen Män- versteckt. nern offen, an der Erschießung teilzunehmen oder nicht. Zwar gab Jean Heinen später zu, dass er am Transport von Juden und an Ghettoräumungen teilgenommen hatte, jedoch nicht aktiv bei Erschießungen und nur bei mit revue. Außergewöhnlich war aber auch, dass die Absperrungsdiensten. Vor allem versuchte er, seinen Ein- Luxemburger Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons satz zu relativieren. Ein weiterer Luxemburger aus dem gerade nicht besonders auffallen wollten. Sie machten RPB 101 berichtete: „Wir gingen zu Fuß in den Ort und alles mit. In Fitness und Ausbildung ihren Bataillonska- auf dem Weg zum Marktplatz lagen überall Leichen. Sie meraden überlegen, waren sie vorbildlich. Dass jene lagen auf der Straße, vor den Häusern, in den Häusern. von ihnen, die später behaupteten, nur „Absperrdienste“ Es handelte sich um Angehörige der jüdischen Bevölke- geleistet zu haben, erscheint daher umso weniger glaub- rung: Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche und Alte.“ haft. „Sie stiegen sogar im Dienstgrad, einige wurden bis zum Oberwachtmeister befördert“, weiß Mil Lorang. Die Schlussfolgerung, dass die Luxemburger gehor- Eine besondere Note lieferte dabei Jean Heinen, nach same Gefolgsleute waren, aber ebenso „willige Vollstre- dem Krieg Hauptkommissar bei der „Sûreté“. Wie zwei cker“, wie es Goldhagen auf die Deutschen bezog, lassen andere Luxemburger erhielt er von den Deutschen das die positiven Gutachten seitens ihrer Vorgesetzten zu, wie Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse mit zwei Schwertern. es zum Beispiel Hauptmann Julius Wohlauf am 10. Sep- „Das bekam man nicht, wenn man nur ‚abgesperrt‘ hatte“, tember 1942 ausstellte. Bis dahin hatte es schon mehrere betont Lorang. „Der Chef der 1. Kompanie und stellver- Erschießungen gegeben. Die Luxemburger waren dabei tretende Bataillonskommandeur, der später zu acht Jah- nicht „negativ“ im Sinne mangelnder Bereitschaft auf- ren Gefängnis verurteilt wurde, hatte 1944 die gleiche gefallen. Beweise für Befehlsverweigerungen sind nicht Auszeichnung bekommen.“ bekannt. Auch nicht im folgenden Fall vom Januar 1943, als die Truppe einen „Judenversteck“ entdeckt hatten: Text: Stefan Kunzmann „Leutnant Boysen gab nun einem Soldaten den Befehl, Fotos: Tony Krier/Photothèque de la Ville de Luxembourg (2), die Bäuerin zu erschießen. Dieser lehnte dies ab, da die Bundesarchiv, Private Sammlung, Philippe Reuter Frau hochschwanger sei. Daraufhin befahl Boysen dem Luxemburger Q.S., die Bäuerin zu erschießen. Q.S. führte * Das Foto liegt dem Musée national de la Résistance vor. den Befehl aus.“ Nach einer bisherigen Publikation soll erst vorerst aus Rücksicht auf die Familie der Nachkommen nicht veröffentlicht werden. Oberstes Gebot war für die Polizisten bzw. Soldaten, nicht aufzufallen. Sie mussten eine Geheimhaltungserklä- rung über ihre Einsätze unterzeichnen. Zwei Luxembur- Weitere Infos : ger aus dem Bataillon wurden gar zur Gestapo abkom- mandiert, einer fügte sich selbst eine Schusswunde zu, Am kommenden Montag findet um 19.00 Uhr drei weitere kamen in Kriegsgefangenschaft. Und vier in Esch auf der „Place de la Synagogue“ desertierten schließlich, allerdings erst, nachdem sie an eine Gedenkfeier im Rahmen der Gedenken die Front geschickt worden waren. Die im Krieg gefallen an 75 Jahre Befreiung von Auschwitz statt. waren erhielten später posthum die Auszeichnung „mort Um 20.00 Uhr ist dann im Escher Theater pour la patrie“. Festzuhalten ist aber auch, „dass über die das Concert „Tehorah“. Hälfte der Luxemburger der Freiwilligenkompanie in Konflikt mit der Hierarchie geraten war, was ein außer- Ticketreservierung unter der Telefonnummer: gewöhnlich hoher Anteil war“, sagt Lorang im Interview 2754-5010 oder via Internet www.theatre.esch.lu
14 COVERSTORY „Wahl der Fügung“ Der Historiker Vincent Artuso erklärt unter anderem, warum es so lange gedauert hat, dass über die luxemburgische Beteiligung am Holocaust so lange geschwiegen wurde. Was sind die neuen Erkenntnisse, Weil sie als besonders „fremdartige“ zurückgegangen, das Thema wurde was die Luxemburger Beteiligung an und „gefährliche“ Ausländer betrachtet regelmäßig in der Presse in Bezug der Shoah betrifft? wurden. Diese Einstellung entsprang besprochen und mit den Einwande- dem luxemburgischen Nationalismus, rungszahlen verglichen, was wiederum Neu ist zum einen die Bereitschaft, der sich besonders in den Zwischen- das Bild eines schrumpfenden, bedroh- auch diese Aspekte des Zweiten Welt- kriegsjahren stark entwickelt hatte. Es ten Volkes ergab. Schlussendlich soll krieges zu betrachten. Wir sind ein war ein ethnischer, völkischer Nati- man auch nicht vergessen, dass die Stück von dem nationalen Mythos onalismus. Die Grundidee war, dass zwei zahlenmäßig wichtigsten auslän- weggekommen, der in den 50er Jah- die Luxemburger einer gemeinsamen dischen Gemeinschaften, die deutsche ren entstanden war, dass die Luxem- Rasse angehörten, dem Luxemburger- und die italienische, auch als potenti- burger sich einig im Widerstand tum. Neben dem Luxemburger Blut elle 5. Kolonne ihrer damals totalitären gegen die deutschen Besatzer waren. wurde aber auch der Katholizismus Herkunftsländer angesehen wurden. Dieser Mythos dominiert heute nicht als ein wesentlicher Bestandteil der mehr, was Historikern und Publizis- Luxemburger Identität angesehen. Ein Was hat die Verwaltungskommission ten ermöglicht, die Frage der Kollabo- echter Luxemburger hatte Luxembur- dazu bewogen, zum Beispiel Listen ration zu studieren, unter anderem an ger Blutes und katholischen Glaubens von jüdischen Schülern zu erstellen? der antisemitischen Politik des Dritten zu sein. Daher die Ablehnung der Reiches. Das sind jetzt keine Gerüchte Juden aber auch der Italiener oder der Bei dem Zeitgeist, der damals vor- mehr. In den letzten Jahren haben wir evangelischen Deutschen. Der Grund, herrschte, waren die meisten Staats- eindeutige Beweise gefunden. Zum wieso die Juden dann aber trotzdem diener der Überzeugung, dass es keine Beispiel dafür, dass sofort nach dem in den Vorkriegsjahren eine beson- Alternative gab. In den ersten Phasen Abgang der Regierung ins Exil hier- dere Aufmerksamkeit auf sich zogen, der Besatzung, also vom 10. Mai 1940 zulande eine Verwaltungskommis- war, dass sie immer zahlreicher im bis zum Anfang der deutschen Inva- sion ins Leben gerufen wurde, die Land wurden. In den 30er Jahren war sion in der Sowjetunion, am 22. Juni nicht nur ein Verwaltungsgremium, die Zahl der Ausländer aufgrund der 1941, herrschte die Idee vor, natürlich sondern de facto eine Regierung war Wirtschaftskrise stark zurückgegan- nicht nur in Luxemburg, dass Deutsch- und sich auch als solche betrach- gen. Die jüdischen Flüchtlinge aus land den Krieg gewonnen hatte. Frank- tet hat. Ihre Politik war es, mit dem Deutschland und Österreich bilde- reich war innerhalb von zwei Monaten Dritten Reich zu kollaborieren – im ten die einzige Gruppe, die zunahm. besiegt worden, Großbritannien war Gegenzug für die Anerkennung der Die damaligen Regierungen, sei es die isoliert und fast waffenlos, die Sowje- Luxemburger Unabhängigkeit. Und schwarz-blaue bis 1937 oder danach tunion hatte mit dem Deutschen Reich im Rahmen dieser Kollaboration hat die schwarz-rote, praktizierten ihnen einen Nichtangriffspakt geschlossen sie auch an der Verfolgung der Juden gegenüber im Grunde eine ähnliche und die USA waren noch neutral. So durch die deutsche Zivilverwaltung in Politik: Sie wollten humanistisch han- lautete die Devise, sich zu fügen. Für Luxemburg teilgenommen. deln, andererseits wollten sie wegen die Kollaboration wollte man aber der Angst vor „Überfremdung“ auch Garantien für den Fortbestand der Gab es auch eine antisemitische nicht allzu viele Juden reinlassen. Luxemburger Unabhängigkeit. Motivation? Also reagierten sie auf eine fremden- Die hat man aber nicht bekommen. Der Antisemitismus war schon vorher feindliche Stimmung. unterschwellig stark verbreitet. Aller- Die Vorgehensweise ergab absolut dings gab es in Luxemburg keine poli- Es gab eine xenophobe Atmosphäre, keine Garantien. Und ab September/ tische Bewegung oder Partei, die ein im wahrsten Sinne des Wortes: eine Oktober 1940 war die vorherrschende Programm der Ausrottung verteidigt Angst gegenüber Ausländern. Diese Meinung unter den Eliten und im hätte. Ein bestimmter Bevölkerungs- Angst, dass die Luxemburger Nation Staatsapparat, dass es nun galt, alles zu anteil wollte jedoch die Ausgren- durch „Überfremdung“ – heute würde tun, um seinen Platz zu behalten. Es zung der Juden und die Begrenzung man in manchen Kreisen von „Gro- war eine Wahl der Fügung. Die Befehle der jüdischen Einwanderung. Diese ßem Umtausch“ sprechen – war viel- vom Gauleiter Gustav Simon, auch Forderungen tauchen sogar noch leicht im katholisch-konservativen seine antisemitische Politik, wurden im August 1941, im Programm der Lager stärker ausgeprägt. Wenn man Ende 1940/Anfangs 1941 als legitim Resistenzorganisation „Letzebuerger jedoch die Presse aus dieser Zeit liest, angesehen. Das sieht man zum Bei- Volleks Legioun“ (LVL) auf. erkennt man aber, dass selbst unter spiel, als Simon anordnete, die Juden Liberalen und Sozialisten diese Angst aus dem Schuldienst zu entlassen. Weshalb wollte man die jüdischen allgegenwärtig war. Die Geburtenrate Wer war konkret dafür zuständig, die Einwanderer nicht? war in der Zwischenkriegszeit stark Juden zu identifizieren und sie aus den
COVERSTORY 15 Vincent Artuso Der Historiker beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. 2013 wurde seine Dissertation über die Kollaboration im Großherzogtum während der deutschen Besatzung publiziert. Von der Regierung beauftragt, über die Kollaboration der Luxemburger Behörden an den Judenverfolgungen der deutschen Zivilverwaltung zu forschen, überreichter er 2015 den sogenannten Artuso-Bericht, was die Abgeordnetenkammer dazu bewegte, sich offiziell bei der jüdischen Gemeinschaft zu entschuldigen. Wir sind ein Stück von dem nationalen Mythos weggekommen, der in den 50er Jahren entstanden war, dass die Luxemburger sich einig im Widerstand gegen die deutschen Besatzer waren? Schulen zu entfernen? Die Schuldirek- leisten. Sie kamen ins Gefängnis oder einer Scheune. Im Hintergrund ist toren. Ich denke da an einer Antwort ins KZ. 50 von ihnen sind gestorben. eine Leiche zu sehen. Der Stoßtrupp vom Direktor des Mädchenlyzeums in besteht aus sieben Männern, einer Esch, in der man ungefähr lesen kann: Und die 14 Soldaten, die ins Polizei- in Zivilkleidung und die anderen in Wir haben zwar keine Juden im Haus, reservebataillon 101 kamen? Uniform. Der dritte von rechts trägt aber ich habe bei jemandem meine eine Maschinenpistole. Er war ein Zweifel, der möglicherweise Halbjude, Von Christopher Browning und Daniel Luxemburger. Das Foto stammte von aber im Moment in Frankreich ist. Der Goldhagen, aber auch von luxembur- ihm. Auf der Rückseite des Fotos ist Direktor hätte ja also schweigen kön- gischen Historikern wie Lucien Blau zu lesen: „Diese Scheune war voller nen. Er hätte ja auch davon ausgehen und Paul Dostert, sowie zuletzt von Juden und Banditen. Der Stoßtrupp können, dass Luxemburg de facto, also Mil Lorang, Elisabeth Hoffmann und nach dem Kampf“. Die Luxemburger illegal, von Deutschland annektiert Jérôme Courtoy, wissen wir, dass diese waren also nicht einfach nur passive, worden war und dass die Verordnun- 14 im RPB 101 nicht etwa abgekap- ausgesonderte Mitglieder des RPB 101, gen des Gauleiters deshalb nicht recht- selt waren, sondern dass sie sich gut sondern volle und sehr aktive Mit- mäßig waren. Er entschied sich aber integriert hatten. Der Kommandant glieder. Sie waren auch die jüngsten, die möglichst gründlichste Antwort zu des RPB 101, Major Wilhelm Trapp, bestausgebildeten und fittesten. Die geben. Wieso? Weil er, wie die große hatte es seinen Männern erlaubt, Deutschen im Bataillon waren „ganz Mehrheit der Luxemburger Beamten nicht an Massenerschießungen von normale Männer“, wie Brownings die Übermacht der Deutschen akzep- Juden teilzunehmen. Nur wenige Buch heißt. Es waren weder Polizisten tiert hatte. haben diese Gelegenheit genutzt. Es noch Soldaten, sondern Reservisten, gibt keinen Hinweis darauf, dass ein die meisten Ende 30, Anfang 40. Die Waren auch die Mitglieder der Frei- Luxemburger sich dazu entschlossen Luxemburger hatten ein anderes Pro- willigenkompanie „gründlicher als hat, sich zu weigern. Nun wissen wir fil. Sie waren eher Anfang 20, hatten nötig“? auch, dass sie aktiv an der sogenann- sich freiwillig in der Luxemburger ten Partisanenbekämpfung teilge- Armee gemeldet, hatten also eine mili- Diese Frage ist schwieriger zu beant- nommen haben. Dies bedeutete, im tärische Ausbildung erhalten. worten. Die Geschichte der Freiwil- damaligen Distrikt Lublin, also im ligenkompanie ist viel ambivalenter besetzten Polen, wo das Bataillon sta- Browning beschreibt die Taten des – und auch tragisch. Von den 461 tioniert war, nach versteckten Juden RPB 101, das als gefürchtet galt. Soldaten der Kompanie, die auf die und Widerstandskämpfern zu fahn- deutschen Streitkräfte verteilt wur- den und sie auf der Stelle zu erschie- Sie haben etwa 38.000 Juden erschos- den, haben bis zum Ende des Krieges ßen. Eines der Fotos, welche Elisabeth sen und 45.000 in die Vernichtungs- 260 sich entschlossen, nicht mehr zu Hoffmann und Jérôme Courtoy gefun- lager deportiert. Und sie erschos- gehorchen, den Eid auf Hitler nicht zu den haben, zeigt einen Stoßtrupp vor sen eine nicht bekannte Zahl von
16 COVERSTORY Jahrzehntelang war es unmöglich, irgendein Komma in dieser Erzählung anzufassen. Widerstandskämpfern, die sich in … der es später zum Chef bei der verstecken und auch zu vergessen, den Wäldern vom Distrikt Lublin ver- Sureté brachte, bei der Kriminalpolizei. wie tief die Luxemburger Gesellschaft steckt hielten. Wie gesagt, überließ Von den 14 Luxemburgern im PRB 101 gespalten war. Damit sollte Schluss der Bataillonskommandant Trapp vor fielen fünf im Krieg. Sie bekamen den sein. Daher wurden alle zu Wider- dem ersten Massaker seinen Männern Titel „mort pour la patrie“. Man kann standskämpfern erklärt, gestorben fürs die Wahl. Wer nicht schießen wollte, dies mit den elsässischen und loth- Vaterland. Danach kam der Druck der konnte nach vorne treten. Dies taten ringischen Soldaten vergleichen, die Erinnerungslobby, die ein Interesse vielleicht zehn ältere Soldaten. im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Sie daran hatte, dass dieser Mythos wei- hatten auf deutscher Seite gekämpft. terlebte. Es ging um die Anerkennung Mussten diese keine Konsequenzen Der französische Staat entschied sich der Widerstandskämpfer und später fürchten? trotzdem sie anzuerkennen, um poli- auch der Zwangsrekrutierten. Wenn tischen Konsens und Ordnung zu man den Zweiten Weltkrieg als einen Es ist ihnen nichts passiert. Sie wurden wahren. Nach dem Krieg stand auch Wendepunkt in der Luxemburger zum Beispiel nicht eingesperrt. Wir bei ihnen „mort pour la patrie“ auf Geschichte gefunden hatte, in dem die können die 14 des PRB 101 nicht mit den Gräbern. Aber es wurde ja nicht Luxemburger Nation endlich zu sich uns vergleichen, wohl aber mit ihren spezifiziert, für welches Vaterland… In gefunden hatte, war es ihnen zu ver- Kameraden der Freiwilligenkompa- Luxemburg nach dem Zweiten Welt- danken. Das alles hatte dazu geführt, nie, die in andere deutsche Einheiten krieg kann man das so erklären, dass dass es jahrzehntelang unmöglich war, integriert wurden. Trotz der bewussten die luxemburgische Gesellschaft sehr irgendein Komma in dieser Erzählung wahren Gefahr hat sich mehr als die gespalten aus dem Krieg kam und die anzufassen. Heute sind die Erinne- Hälfte von ihnen geweigert den Deut- Säuberungen die Gesellschaft bis in die rungslobbys nicht mehr so einfluss- schen zu gehorchen. 50er Jahre tief zerrissen haben. reich, weil ihre Gründungsmitglieder entweder alt oder nicht mehr am Leben Was wurde nach dem Krieg aus ihnen? Nun dauerte es ein halbes Jahrhundert, sind. Und die Angst vor der Überfrem- bis das Thema von der luxemburgi- dung besteht nicht mehr in diesem Wenn sie diesen überlebt hatten, schen Beteiligung am Reserve-Polizei- Maße wie vor dem Krieg. Die alten machten sie Karriere. So schrecklich bataillon 101 aufgegriffen wurde. Hemmungen sind nicht mehr da. das klingt: Diese Dienstjahre wurden Warum wurde so lange geschwiegen? ihnen angerechnet und vom Luxem- Interview: Stefan Kunzmann burger Staat anerkannt. Wie gesagt wegen des Drucks, der von Fotos: Philippe Reuter, United States Holocaust dem Mythos ausging. Dieser entstand Memorial Museum, courtesy of Staatsanwalt Zum Beispiel Jean Heinen… in den 50ern, weil es darum ging zu beim Landgericht Hamburg Bei der besonders brutalen Massenerschießung in Lomazy war nur die 2. Kompanie eingesetzt, also nicht die Kompanie, in der sich die 14 Luxemburger befanden. Dazu kamen noch 40 bis 50 Hiwis (Abkürzung für „Hilfswillige“). Es handelte sich um Männer aus Litauen, Lettland oder der Ukraine.
COVERSTORY 17 Mendes’ Liste Als portugiesischer Generalkonsul in Bordeaux rettete er Tausende Flüchtlinge, darunter auch Luxemburger, indem er ihnen Visa ausstellte. Das Nationalarchiv hat Aristides de Sousa Mendes eine Ausstellung gewidmet. Ist die Zeit stehen geblieben? Wer durch Coimbra spaziert, trifft womöglich das eine oder andere Mal auf Studenten, die in ihrer traditionellen schwarzen Tracht an eine Harry-Potter-Verfilmung erin- nern. In der Stadt befindet sich nicht nur die älteste Universität Portugals, sondern auch eine der ältesten Europas. Im Jahr 1290 gegründet, absolvierten dort einige berühmte Portugiesen ihre Studien: von dem großen Dichter Luis de Camões über António de Oliveira Salazar bis zu Aris- tides de Sousa Mendes. Salazar war fast 40 Jahre lang Staatschef des Landes und errichtete den „Estado Novo“, eine autori- täre Diktatur, de Sousa Mendes war Dip- lomat und diente diesem Staat über viele Jahre. Salazar wurde erst vor ein paar Jah- ren in einer Umfrage zum bedeutendsten Aristide de Sousa Mendes Portugiesen aller Zeiten gewählt, Platz drei (1885-1954) nahm de Sousa Mendes ein. Die beiden Männer waren ungefähr gleich alt – Salazar wurde 1889 in Vimieiro Salazar und de Sousa Mendes geboren, de Sousa Mendes 1885 in Caba- nas de Viritão bei Viseu – und kamen aus kamen aus derselben Gegend – und derselben Gegend der Provinz Beira Alta. Beide studierten Jura und traten in den konnten unterschiedlicher nicht sein. Staatsdienst. Während Salazar aus einer Bauernfamilie stammte, kam de Sousa Men- des aus einer alten Adelsfamilie, sein Vater setzte er seine Diplomatenkarriere im Kon- Portuguesa“ und einer Geheimpolizei, war Richter in Coimbra. Der junge Aristi- sulat von San Francisco fort. der „Policia Internaciional e de Defesa do des wollte nicht in dessen Fußstapfen tre- Estado“ (PIDE), die Regimegegner ermor- ten, sondern Diplomat werden. So bewarb Als Salazar 1932 Premierminister dete. Die Brüder de Sousa Mendes gingen er sich wie sein Zwillingsbruder César im wurde, ernannte er César de Sousa Men- auf Distanz zum Regime, César eher still, Außenministerium in Lissabon. Er bestand des zum Außenminister, entließ ihn aber Aristides drastischer, indem er Salazar die Aufnahmeprüfung und wurde zuerst wieder nach knapp einem Jahr, weil die- unter anderem als „portugiesischen Sta- Konsul zweiter Klasse in British Guyana, ser ihm widersprochen hatte. Der „Estado lin“ bezeichnete. Im Gegensatz zu dem danach Vertreter Portugals beim Sultan Novo“ wird heute von Historikern zwar strengen, disziplinierten Diktator war von Sansibar. Schließlich folgten Missionen nicht als Faschismus, aber als konserva- des Sousa Mendes ein Genussmensch. in den beiden südbrasilianischen Städten tiv-autoritäre Diktatur bezeichnet: ein Der Vater von 14 Kindern – zwei starben Curitiba und Porto Alegre. Nachdem er Ein-Parteien-Staat mit einer Jugendor- früh – feierte gern und gab sich großzü- aufgrund des Vorwurfs, Monarchist und ganisation, die die Hitlerjugend als Vor- gig. Seinen Posten als Konsul in Antwer- Feind der Republik zu sein in den einst- bild hatte, einem Unterdrückungsapparat pen hatte er 1929 angetreten, bis Salazar, weiligen Ruhestand versetzt worden war, mit einer paramilitärischen Miliz „Legião der selbst das Amt des Außenministers
18 COVERSTORY dessen Familie in seiner Privatwohnung im ersten Stock des Konsulatsgebäudes auf. Unter den Leuten, die von ihm ein Visum erhielten, befand sich Salvador Dalí – ebenso wie Hélène de Beauvoir, die Schwester von Simone de Beauvoir. Während Salazar anordnete, dass kei- nes der von de Sousa Mendes ausgestell- ten Dokumente gültig sei, und nur noch „gente limpa“ (reine Leute) nach Portugal lassen wollte, gemeint waren vor allem „nichtjüdische“ Menschen, schloss sich de Sousa Mendes drei Tage und drei Nächte Henri und Elisabeth Ermann (links), Renée Ermann (2. von rechts) in seinem Schlafzimmer ein und rang mit sich und seinem Gewissen, zwischen sei- nem Pflichtbewusstsein für seine Familie und der Nächstenliebe für all die Men- Familie Ermann erlebte eine schen, die Schutz suchten. Am Morgen des vierten Tages, am 16. Juni 1940, öff- jahrelange Odyssee – und nete er seine Zimmertür, trat heraus und verkündete: „Von nun an werde ich allen kehrte nach Luxemburg zurück. ein Visum ausstellen. Es gibt keine Nati- onalitäten, keine Rassen und Religionen mehr.“ Ein Wettlauf mit der Zeit hatte begonnen. Im Generalkonsulat stempel- angenommen hatte, ihn 1938 ablöste auf das Buch „Der Gerechte von Bordeaux“ ten de Sousa Mendes, sein Sohn Pedro und als Generalkonsul nach Bordeaux über de Sousa Mendes, das der Franzose Nunes und Konsulatssekretär José Seabra versetzte. Zu dieser Zeit erkannte de José-Alain Fralon geschrieben hatte. unablässig Visa ab. Der Sekretär sammelte Sousa Mendes die Gefahr des Krieges und sogar Pässe der Wartenden auf der Straße brachte die meisten seiner Kinder nach Spätestens seit dem Rundbrief vom ein und legte sie seinem Vorgesetzten zur Portugal. Sein Bruder César, Botschaf- November 1939 empfand de Sousa Men- Unterzeichnung vor. Nachdem die von ter in Warschau, konnte Polen erst nach des für Salazar Verachtung. Ohne Angabe US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Kriegsbeginn verlassen, als die deutsche von Gründen beantragte er seine Rück- März 1938 einberufene Konferenz von Wehrmacht das Land besetzt hatte. berufung nach Lissabon, erhielt jedoch Evian zur Flüchtlingsproblematik, an der keine Antwort. Der Generalkonsul von 32 Staaten teilgenommen hatten, geschei- Salazar blieb in Portugal nicht zuletzt Bordeaux scherte sich wenig um die tert war und die Deutschen 1940 Frank- deshalb lange Zeit noch populär, weil er Anweisung seines Staatschefs. Stattdessen reich und die Benelux-Länder besetzt sein Land aus dem Zweiten Weltkrieg stellte er zum Beispiel dem österreichi- hatten, war Portugal praktisch die einzige heraushalten konnte. Er setzte auf die schen Geschichtsprofessor und Theologen Fluchtmöglichkeit aus Europa. Strategie der „Nebelschwaden“ und der Arnold Wiznitzer (1896-1975), der später „kooperativen Neutralität“, wie es Brigitte ein Buch über die Juden in Brasilien ver- Bis zum 26. Juni, als Frankreich den Kramer in einem Artikel für die deutsche fasste, und dessen Familie ein Visum aus, Waffenstillstand mit dem Deutschen Zeitschrift „Mare“ vom Dezember 2013 ebenso dem spanischen Mediziner und Reich unterschrieb und die Wehrmacht ausdrückte. Beispielhaft dafür war ein Franco-Gegner Eduardo Neira Laporte, in Bordeaux einrückte, hatte de Sousa Rundschreiben, das „Circular 14“, vom damit beide nach Südamerika weiter- Mendes ungefähr 30.000 Menschen vor November 1939 an alle portugiesischen reisen konnten. Das Außenministerium den Nazis gerettet, 10.000 davon waren Auslandsvertreter. Darin stand das Verbot, schickte de Sousa Mendes dafür am 24. Juden. De Sousa Mendes wurde nach Lis- ein Visum an alle „Ausländer mit undefi- April 1940 eine schriftliche Rüge: „Jede sabon zurückbefohlen und wegen vorsätz- nierter oder angezweifelter Nationalität, weitere Verletzung dieser Regel werde als lichen Ungehorsams und Amtsverletzung mit Einbürgerungsanträgen in Bearbei- flagranter Ungehorsam betrachtet und angeklagt. Er bekam den Diplomatentitel tung sowie Staatenlose und Juden, die aus ein Disziplinarverfahren zur Folge haben, aberkannt und wurde in den vorzeitigen ihrem Herkunftsland oder dem Land, in wobei nicht zu übersehen sein wird, dass Ruhestand geschickt. Seine Berufung dem sie Bürger waren, vertrieben wurden“ Sie schon mehrfach gewarnt und gerügt wurde abgewiesen, ebenso ein Bittbrief zu erstellen. Doch einer seiner Diploma- werden mussten.“ seines Bruders. Während einige seiner ten ignorierte die Anweisung: Aristides Kinder auswanderten, mussten de Sousa de Sousa Mendes, den Brigitte Kramer als Doch de Sousa Mendes ließ sich nicht Mendes und seine Frau in der Suppenkü- „spontan, impulsiv, großzügig“ beschreibt beirren. Während mehr und mehr Men- che der jüdischen Gemeinschaft in Lissa- und dessen Handeln von Gerechtigkeits- schen auf der Flucht Bordeaux erreichten, bon essen. Beide zogen später, weil sie die sinn, christlichem Glauben und Mensch- wuchs sein Widerwille, die Befehle seiner Miete in der Hauptstadt nicht mehr bezah- lichkeit geprägt seien. Die Journalistin Regierung zu befolgen. So nahm er zum len konnten, in sein Heimatdorf, wo die stützt sich in ihren Recherchen vor allem Beispiel den Rabbiner Chaim Krüger und beiden zurückgezogen lebten. Seine Frau
COVERSTORY 19 Angelina starb 1948, sechs Jahre später de würdigen. In den 80er Jahren überreichte Zum Beispiel auch jener luxemburgischer Sousa Mendes an den Folgen eines Schlag- der damalige Präsident Mario Soares der Familien, die unter den großflächig auf- anfalls in einem Krankenhaus in Lissabon, Familie den „Ordem de Liberdade“, 1988 gelisteten Namen markiert sind. Zum Bei- nachdem er 1949 wieder geheiratet hatte wurde er vom portugiesischen Parlament spiel das der jüdischen Familie Ermann. und nochmals Vater geworden war. Sein rehabilitiert, 1994 wurde in Israel ein Das Ehepaar, ein Ingenieur und eine Hut- Tod wurde von der Öffentlichkeit weit- Wald nach ihm benannt, vier Jahre später macherin, wohnte mit seiner zehnjähri- gehend ignoriert, auch wenn Salazar ein ehrte das Europäische Parlament ihn. Mitt- gen Tochter Renée in der Avenue Gaston Beileidstelegramm schickte. Nach dem lerweile sind zwei Stiftungen nach ihm Diderich in Belair. Sie verließen am 10. Kriegsende, als er sich den alliierten Sie- benannt, sein Leben wurde zweimal ver- Mai 1940 Luxemburg, fuhren mit ihrem germächten annäherte, sagte der Diktator filmt. „Er war vielleicht kein guter Beam- Peugeot bis nach Bordeaux, wo sie von de in einer Rede: Was die Flüchtlinge betrifft, ter“, sagt Corinne Schroeder, die Kuratorin Sousa Mendes am 10. Juni 1940 ein Visa so haben wir alles getan, was unsere der Ausstellung im Luxemburger Natio- erhielten. Sie erreichten Portugal, wo sie Pflicht war, auch wenn es bedauerlich ist, nalarchiv, die das Leben und Schaffen von bis 1942 in Caldas da Rainha, hundert dass wir nicht mehr tun konnten.“ Aristides de Sousa Mendes zum Thema Kilometer nördlich von Lissabon, im ers- hat. „Aber er hat vielen Menschen unter- ten Stock eines Hauses über einem Stoff- De Sousa Mendes hat getan, was er schiedlicher Nationen das Leben gerettet.“ geschäft wohnten, wie sich Renée Ermann konnte. Doch bis zu seiner Rehabilitierung später erinnert. Ihre Geschichte gibt sie dauerte es lange. Im Jahr 1966 erhielt er Und dies obwohl er selbst keine Vor- in einem Videofilm preis, der in der Aus- posthum in Israel den Ehrentitel „Gerech- teile davon hatte. Vielmehr das Gegenteil, stellung zu sehen ist, neben zahlreichen ter unter den Völkern“ verliehen. 1967 betont sie. Seine Motivation sei sicherlich weiteren filmischen Zeugnissen. „Ich ging überreichte der israelische Konsul seiner in sein Gewissen und seinem katholischen auf eine portugiesische Schule und schloss Tochter Joana die „Goldene Medaille der Glauben zu finden, erklärt Schroeder. Freundschaften“, erzählt sie. Es war eine Gerechten“ in Andenken an ihren Vater Nicht zuletzt sei es seine humanistische glückliche Zeit. Die Familie reiste später als einzigem Portugiesen. In Yad Vashem Erziehung gewesen, die er als Spross einer per Schiff nach Jamaika weiter, wo sie wurde ihm zu Ehren ein Baum in der Gelehrtenfamilie genossen hatte. Der weitere zwei Jahre verbrachte. Von dort „Allee der Gerechten“ gepflanzt. In seinem Anlass zur Ausstellung, die bis zum 22. kamen die Ermanns nach Kuba, wo sie Heimatland selbst wurde er spät rehabili- Februar im Nationalarchiv zu sehen ist, ein Jahr blieben, und schließlich 1946 tiert, also nach der „Nelken-Revolution“ hat Portugals bevorstehender Beitritt zur über Miami nach New York. Dort arbeitete von 1974 und dem damit verbunde- „International Holocaust Remembrance die Mutter in einer Krawattenfabrik, der nen Ende der Diktatur und lange nach Alliance“ (IHRA) gegeben, deren Vorsitz Vater in einer Malerfirma. Noch im selben dem Tod Salazars 1970. Portugal tat sich Luxemburg zurzeit innehat. Zu sehen sind Jahr, also ein Jahr nach Kriegsende, kehrte damit schwer, seinen berühmten Sohn zu Fotos, schriftliche Dokumente – Briefe, die Familie nach Luxemburg zurück. Ein Zeugnisse, Telegramme – sowie Plakate Happy End in einer Zeit der Wirren, des und Postkarten, Fotos und Filmmaterial Schreckens und der Verfolgung, die für (unter anderem der Film „Désobéir“ von viele Menschen tödlich endete. Spätestens seit 2009) – und großflächig die lange Liste jener, die auf „Mendes´ Liste“ (siehe Foto Im Zuge eines Portugal-Aufenthalts dem Rundbrief unten) von Visa gelandet sind. Unter sei häufiger die Rede von de Sousa Men- ihnen sind auch einige Luxemburger: des gewesen, erinnert sich Josée Kirps, empfand der Großherzogin Charlotte und ihre Familie, die Direktorin des Nationalarchivs. Sie aber auch Mitglieder der Exilregierung. hofft, dass viele vor allem jüngere Men- Generalkonsul schen durch die Ausstellung auf de Sousa „Verfolgt man die Lebensgeschichte von Mendes aufmerksam werden. In Portu- Verachtung für de Sousa Mendes“, erklärt Corinne Schro- gal wisse die jüngere Generation nicht eder, „dann beinhaltet diese auch die vie- viel über den „portugiesischen Oskar den Staatschef. len Schicksale derer, die er gerettet hat.“ Schindler“, hierzulande noch weniger. Durch die Ausstellung und eine weitere ab 14. Februar in der Abtei Neumünster zu sehende, die sich mit den Beziehun- gen von Luxemburg und Portugal befasst, bringt die Menschlichkeit von Aristides de Sousa Mendes näher, auf dessen Grab- stein steht: „Wer ein Leben rettet, rettet die Welt“. Worte aus dem Talmud. Sie fassen in wenigen Worten das zusammen, was der „portugiesische Oskar Schindler“ oder „der Engel von Bordaux“, wie er auch genannt wurde, geleistet hat. Text: Stefan Kunzmann Fotos: Collection des descendants d’Aristides de Sousa Mendes, Collection Famille Karas-Ermann, Philippe Reuter
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