Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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1 Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT ARF SITUATION UND HANDLUNGSBED von Klaus Richarz
2 3 Herausgeberin Spendenkonto: Deutsche Wildtier Stiftung Bank für Sozialwirtschaft Christoph-Probst-Weg 4 IBAN DE63251205100008464300 20251 Hamburg BIC BFSWDE33HAN Telefon 040 9707869-0 Fax 040 9707869-99 Druck: Druckerei Zollenspieker Kollektiv GmbH, Hamburg Info@DeutscheWildtierStiftung.de Alle Rechte vorbehalten, Nachdruck auch auszugsweise nur nach Zustimmung www.DeutscheWildtierStiftung.de der Deutschen Wildtier Stiftung Autor: Dr. Klaus Richarz Vorstand: Gestaltung: Eva Maria Heier Prof. Dr. Klaus Hackländer (Vorsitzender) Fotos: T. Dürr; ArcoImages/C. Braun, FLPA, G. Lacz, Minden Pictures, NPL; Dr. Jörg Soehring Blickwinkel/P. Cairns, B. Kröger, A. Laule, R. Linke, T. Meder, E. Menz, S. Meyers, J. Vorsitzende des Kuratoriums: Müller, R. Müller, McPhoto; Fotolia/alpegor, pedrosala, Leiftryn; imageBROKER.com / Alice Rethwisch F. Adam, C. Bosch, FLPA, jspix , K. Kleiner, D. Mahlke, R. Müller, W. Rolfes, O. Schreiter, C. Sohns Istockphoto/Laurentiuss; Shotshop GmbH / Alamy Stock Photo Gedruckt auf 100 % Altpapier � Stand: Mai 2021 Die Studie Die vorliegende Studie baut auf den beiden vorangegangenen Publikationen von 2014 und 2016 auf. Sie gibt eine Übersicht zur aktuellen Situation des Windener- gie-Ausbaus in Deutschland und beschreibt den nach wie vor ungelösten Konflikt zwischen der Windenergienutzung und dem Artenschutz, insbesondere der Ge- fährdung von Tierarten aus den Risikogruppen Vögel und Fledermäuse. Aufgrund erheblicher Defizite beim Schutz von Naturwäldern und gleichzeitig noch lücken- hafter Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Windenergieanlagen im Wald auf zahlreiche Arten bzw. Artengruppen, ihre Populationen und ganze Lebensgemein- schaften ist es eine zentrale Forderung dieser Studie, auf Windenergieanlagen in Wäldern zu verzichten. Wolf (Canis lupus)
4 5 Über den Autor Dr. Klaus Richarz (Jg. 1948) ist Biologe. Er promovierte und forschte über Säugetier- verhalten an der Universität Gießen. Nach seiner Hochschultätigkeit arbeitete er von 1980 bis 2013 hauptamtlich im Naturschutz – zunächst elf Jahre in Bayern als Artenschutzreferent und Sachgebietsleiter an der Höheren Naturschutzbehörde in München – und leitete von 1991 bis 2013 für 22 Jahre die Staatliche Vogelschutz- warte für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland in Frankfurt. In seiner aktiven Zeit nahm er Lehraufträge an der Universität Gießen, an den Fachhochschulen Bene- diktbeuern, Weihenstephan und der Universität Marburg wahr. Die Themen Säu- getiere, Vögel und deren Schutz beschäftigen ihn bis heute. Ehrenamtlich war er von 1991 bis 2019 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz im NABU Hessen. Als Vorsitzender des Bundesverbandes Wissenschaftlicher Vogel- schutz e. V., als Beirat mehrerer Naturschutzstiftungen und als Berater in Natur- schutzfachfragen ist er weiterhin im Naturschutz aktiv. Mit dem Thema naturver- trägliche Windenergienutzung beschäftigte er sich an der Vogelschutzwarte vor allem durch die Mitarbeit an entsprechenden Leitfäden für die Länder in seinem Geschäftsbereich, an der Aktualisierung des „Helgoländer Papiers“ sowie aktuell durch seine Studie „Windenergie im Lebensraum Wald“. Seine Sachbücher zu den Themen Vögel, Fledermäuse, Säugetiere, Naturschutz und Naturerleben erschie- nen in mehr als zehn Sprachen. Schwarzstörche, Jungvögel im Nest (Ciconia nigra)
6 7 Vorwort der Deutschen Wildtier Stiftung Die Deutsche Wildtier Stiftung engagiert sich für den Erhalt und Schutz von Wild- tieren und ihren Lebensräumen in Deutschland. Seit vielen Jahren setzt sie sich da- bei auch mit den Folgen der Energiewende für den Natur- und Artenschutz ausei- nander. Im Mittelpunkt steht dabei die Energieerzeugung über Biogas und Wind. Die Windenergie soll und wird einen maßgeblichen Anteil am Energiemix der Zu- kunft auch in Deutschland haben. Bei ihrem Ausbau darf ein weiteres gesellschaft- lich und politisch unumstrittenes Ziel aber nicht gefährdet werden: der Erhalt der biologischen Vielfalt. Schätzungsweise werden jedes Jahr etwa 225.000 Fledermäuse und mehrere Tau- send Greifvögel durch die rund 30.000 Windenergieanlagen in Deutschland getö- tet. Geeignete Standorte im Offenland werden knapp, und damit steigt in vielen Regionen der Druck, auch Waldflächen und sogar Schutzgebiete für Windenergie- anlagen zu nutzen. Bereits heute steht jede zehnte Windenergieanlage im Wald. Statt die letzten Rückzugsorte für unsere heimische Flora und Fauna konsequent zu schützen, räumt die Politik der Windenergieindustrie zunehmend Privilegien ein. Auch die fachliche Diskussion um die Folgen des Ausbaus der Windenergie auf be- drohte Arten wird zunehmend durch das Argument des Klimaschutzes überlagert. Die Deutsche Wildtier Stiftung versteht sich in dieser Debatte als Stimme der Wild- tiere und setzt sich für deren Belange ein. Die vorliegende Studie soll dafür einen Beitrag leisten: Windkraft? Ja, aber nicht um jeden Preis für die Natur! Großes Mausohr (Myotis myotis)
8 9 Inhalt EINLEITUNG 10 NACH BOOM KAM STAGNATION 10 POLITISCHE ENTWICKLUNG ZULASTEN DER NATUR 10 EXPERTEN FORDERN MEHR ARTENSCHUTZ 16 LÖSUNGSANSÄTZE UND SPANNUNGSFELDER 19 DAS HELGOLÄNDER PAPIER 19 VOGELSCHUTZGEBIETE 24 FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSVORHABEN 24 RISIKOMINIMIERENDE MASSNAHMEN 32 DER WALD ZWISCHEN SCHUTZ UND NUTZUNG 35 WALDSCHUTZ 2020 – EINE TRAURIGE BILANZ 35 WINDKRAFT IM WALD 35 AUSWIRKUNGEN VON WINDENERGIEANLAGEN IM WALD 38 RISIKOGRUPPE VÖGEL 44 KOLLISIONSRISIKO UND MORTALITÄTSGEFÄHRDUNG 46 ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN VOGELARTEN 50 RISIKOGRUPPE FLEDERMÄUSE 63 KOLLISIONSRISIKO UND MORTALITÄTSGEFÄHRDUNG 66 ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN FLEDERMAUSARTEN 69 FAZIT 77 LITERATUR 78 FORDERUNGEN DER DEUTSCHEN WILDTIER STIFTUNG ZUR BERÜCKSICHTIGUNG DES ARTEN- UND NATURSCHUTZES BEIM AUSBAU DER WINDENERGIE 82
10 11 Einleitung NACH BOOM KAM STAGNATION Klimaschutz auf Kosten des Artenschutzes und schlägt Maßnahmen Umwelt“ zugelassen werden. Für Vorhaben der Windenergie Die Windbranche sieht sich im Krisenmodus. Nach einem deut- vor, die auf einer schwachen fachlichen Basis stehen. So widerspricht wurde dieser Ausnahmegrund bisher abgelehnt und soll wohl, lichen Anstieg 2017 ging der Ausbau der Windenergie an Land der BVF dem Forderungskatalog, dass es ein überwiegendes Interesse mit fachlichen Begründungen untermauert, künftig gesetzmä- 2018 dramatisch zurück, wobei sich dieser Trend bis Ende 2019 am Ausbau der Windenergieproduktion im Verhältnis zum Erhalt der ßig verankert werden. Auch die grundsätzlich zu begrüßende fortsetzte. Auch in 2020 wurden die Ausbauziele, noch zusätzlich Biodiversität gibt. Vielmehr betonen wir, dass die Erhaltung der Biodi- einheitliche Anwendung von Naturschutzrecht durch eine TA bedingt durch die Corona-Krise, voraussichtlich nicht erreicht. versität und naturnaher Lebensräume ein ebenso wichtiges gesell- Artenschutz zielt mit dem Hinweis auf Verankerung des Popula- Zu den bis Ende 2018 in Betrieb befindlichen 29.213 Windener- schaftliches Ziel darstellt, was sich nicht nur im hohen Schutzstatus tionsansatzes darauf ab, dass Verluste von Individuen an WEA gieanlagen (WEA) kamen 2019 bundesweit 278 neue WEA hin- bedrohter Arten in der EU-Habitat-Direktive (92/43/CEE 1992) (= künftig prinzipiell hinzunehmen sind und nur noch die (oft zu, sodass sich zu Beginn 2020 in Deutschland 29.491 Windräder Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie) und internationalen Abkommen schwierig) nachweisbaren negativen Einflüsse auf die jeweilige an Land drehten. Der Bundesverband WindEnergie e. V. (BWE) (Kyoto-Protokoll) und damit auch im Bundesnaturschutzgesetz wi- Population zählen. hat als Gründe für das Verfehlen der Ausbauziele besonders den derspiegelt. Wir halten ein Ausspielen des einen Schutzgutes gegen Artenschutz sowie regionalplanerische Hemmnisse auf die Ge- ein anderes – befeuert durch wirtschaftliche Interessen – als unverein- Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes nehmigungserteilung sowie die Verfahrensdauer ausgemacht. nehmlich mit dem gesellschaftlichen Interesse an einer ökologisch (EEG) und den Beschlüssen der Umweltministerkonferenzen Zusätzlich würden sich die Genehmigungsbehörden einem mas- nachhaltigen Energiewende. Wir fordern in diesem Zusammenhang (UMK) setzte die Bundesregierung ihren Kurs auch 2020 fort siven Druck und Klagen von Gegnern ausgesetzt sehen (s. FA eine Versachlichung und Differenzierung der Diskussion von Klima- und räumt dem Ausbau der Windenergie weiter unverhältnis- Wind 2019a). Bei nahezu der Hälfte der beklagten Anlagen (157 schutz und Artenschutz. Parolen wie „Klimaschutz ist Artenschutz“ mäßige Privilegien ein. WEA) wird die Gefährdung besonders geschützter Vogel- bzw. verallgemeinern sehr stark und reduzieren komplexe Zusammenhän- Fledermausarten geltend gemacht. ge bis zur Unkenntlichkeit. Zudem sind sie tendenziös und emotiona- Signifikanzkriterium (UMK-Beschluss) lisieren. Des Weiteren implizieren sie, dass der verstärkte Ausbau der Der zentrale Ansatz des Artenschutzes und damit auch des Vo- Deshalb legte der BWE im Juli 2019 einen Aktionsplan für mehr Windenergie in Deutschland die primäre Lösung sei, den Verlust der gelschutzes innerhalb der Europäischen Union ist der Schutz Genehmigungen von Windenergieanlagen an Land vor (BWE Biodiversität auf globaler, nationaler und regionaler Ebene zu stop- eines jeden Individuums. Diese Vorgabe beinhaltet sowohl die 2019), der darauf abzielte, den Artenschutz künftig nur noch pen. Dem ist nicht so.“ FFH-Richtlinie (92/43/EWG) als auch die Vogelschutzrichtlinie nachrangig zu behandeln. Dies hatte die Deutsche Wildtier Stif- von 1979. Beide wurden mit dem Bundesnaturschutzgesetz tung ihrerseits bereits in einer Stellungnahme kritisiert. Anschlie- POLITISCHE ENTWICKLUNG ZULASTEN DER NATUR (BNatSchG) entsprechend in nationales Recht umgesetzt. So ßend entwickelte der BWE zusammen mit sieben Verbänden im Als Folge des politischen Drucks wurde von Bundeswirtschafts- ist nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG jede Tötung von besonders September 2019 ein 10-Punkte-Papier für den Ausbau der Wind- minister Peter Altmaier (CDU) im Oktober 2019 ein Arbeits- geschützten Arten verboten. Mit der Ergänzung eines Signifi- energie mit Vorschlägen zur Gewährleistung von Flächenverfüg- plan zur „Stärkung des Ausbaus der Windenergie an Land“ ver- kanzkriteriums (§ 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1) wurde dem Tötungs- barkeit, Handhabbarkeit naturschutzrechtlicher Vorgaben und öffentlicht. Die darin vorgesehenen Maßnahmen zur verbot bereits 2017 eine Abwägung zugänglich gemacht und Stärkung der Akzeptanz vor Ort (BDEW et al. 2019). Der Bundes- Beschleunigung von Genehmigungen umfassen u. a. auch die somit seine tatsächliche rechtliche Wirkung empfindlich ge- verband für Fledermauskunde (BVF) macht in seiner Stellungnah- „Aufnahme eines weiteren Ausnahmegrundes beim Artenschutz schwächt. Der Tatbestand des Tötungsverbots geschützter Ar- me daraufhin nochmals deutlich, dass Klimaschutz nicht gleich für den Ausbau von erneuerbaren Energien in § 45 Abs. 7 Nr. 4 ten gilt als nicht erfüllt, Artenschutz ist und verwehrt sich gegen den Versuch des Aus- BNatSchG“ sowie die „Sicherstellung einer einheitlichen Anwen- spielens beider Schutzgüter gegeneinander (BVF 2019). Dieser dung von Naturschutzrecht durch eine Technische Anleitung zum � wenn die den geschützten Tieren drohende Gefahr durch Position schließt sich der Autor vollinhaltlich an: Artenschutz (TA Artenschutz), Verankerung des Populationsan- das Vorhaben in einem Bereich verbleibt, der mit dem stets satzes“ (BMWi 2019). bestehenden Risiko vergleichbar ist, dass einzelne „Das jüngst von Verbänden aufgestellte 10-Punkte-Papier für den Exemplare einer Art im Rahmen des allgemeinen Ausbau der Windenergie priorisiert aus Sicht des Bundesverbands für Nach § 45 Abs. 7 Nr. 4 BNatSchG kann eine Ausnahme auch im Naturgeschehens Opfer einer anderen Art werden. Fledermauskunde Deutschland e. V. (BVF) unverhältnismäßig den Interesse der „maßgeblich günstigen Auswirkungen auf die
12 13 � wenn die Beeinträchtigung bei Anwendung der gebotenen, fragwürdiger „landesspezifischer Besonderheiten“ immer wei- fachlich anerkannten Schutzmaßnahmen nicht vermieden ter zugunsten einer Machbarkeit von Vorhaben angehoben werden kann. werden (siehe z. B. Umgang mit Dichtezentren von Arten). Mit dem UMK-Beschluss (UMK 2020 a) für „einen Rahmen zur Dieser aus artenschutzfachlicher Sicht sehr fragwürdige Weg Bemessung von Signifikanzschwellen zur Ermittlung einer signi- wird von der UMK mit den auf ihrer Sonder-Umweltministerkon- fikanten Erhöhung des Tötungsrisikos im Hinblick auf tötungs- ferenz vom 11. Dezember 2020 gefassten Beschlüssen weiterhin gefährdete Vogelarten an WEA“ wird ein Weg eingeschlagen, beschritten (UMK 2020 b). Der Signifikanzrahmen wird dabei der dazu führt, dass die Auswirkungen der Windenergieanlagen von ihr durch die gleichzeitige Vorlage eines standardisierten Be- auf Arten nicht länger auf Ebene der Individuen, sondern nur wertungsrahmens zur Ermittlung einer signifikanten Erhöhung noch auf der Populationsebene betrachtet werden. In der Kon- des Tötungsrisikos im Hinblick auf Brutvogelarten an Windener- sequenz bedeutet ein derartiges Denken: Solange durch den gieanlagen an Land vorgegeben (UMK 2020 c). In allen Fällen, Betrieb einer Windenergieanlage die Erhaltung des örtlichen angefangen bei der Auswahl der kollisionsgefährdeten Brutvogel- Vogelvorkommens als nicht gefährdet eingestuft wird, sind die arten mit „besonderer Planungsrelevanz“ über die Verringerung Individuen, die nicht unbedingt zur Erhaltung notwendig sind, der fachlich belegten Mindestabstände zu den Brutplätzen, die als „Kollateralschäden“ der Windenergieerzeugung zu tolerie- zu „Regelabständen“ mit Abweichungsmöglichkeiten werden, ren. Mit einem solchen Ansatz werden jedoch die kumulativen sowie der Betonung von länder- und ortsspezifischen Beurtei- Effekte mehrerer Windparks ignoriert. Gleichermaßen wird die lungsspielräumen (UMK 2020 c), wird dies nicht zur Stärkung, Bedeutung einzelner Individuen für den langfristigen Populati- sondern zur weiteren Schwächung der Artenschutzbelange bei onserhalt unterschätzt. Beispielsweise wird die Relevanz des Planung, Bau und Betrieb von WEA führen. Anteils fortpflanzungsfähiger, erfahrener Tiere gegenüber un- erfahrenen Jungtieren nur unzureichend berücksichtigt oder Der eingeschlagene Weg, den politisch festgelegten Klimazielen die Rolle von Individuen, die beim Ausfall eines Partners in das Vorrang vor den erforderlichen Artenschutzbelangen einzuräu- Fortpflanzungsgeschehen einbezogen werden, nicht ausrei- men, wird durch zwei Protokollerklärungen im Papier der Sonder- chend bedacht. Auch kann ein solcher Ansatz der Problematik UMK deutlich. Während unter dem Konferenzvorsitz von Hessen wandernder und ziehender Vogel- und Fledermausarten (u. a. alle anderen Bundesländer außer Bayern und Nordrhein-Westfa- im Hinblick auf die Erfassung/Abgrenzung von Populationen) len die grundsätzliche „Neujustierung“ unterschiedlichster nicht gerecht werden. Damit bleibt es äußerst fraglich, ob bei Schutzgüter zur Erreichung der Klimaziele für erforderlich halten dieser Vorgehensweise die bereits heute stark gefährdeten, oft (UMK 2020 b), was im Klartext wohl das Hintanstellen von Arten- nur noch in kleinen Kopfzahlen und/oder bereits in stark iso- schutzzielen bedeutet, sehen nur die Bundesländer Bayern und lierten Populationen vorkommenden Arten, bei denen heute Nordrhein-Westfalen den Schutz des Klimas und der biolo- schon jedes einzelne Individuum zählt (z. B. Schreiadler), lang- gischen Vielfalt in ihrer Protokollerklärung als gleichwertig an: „Kli- fristig zu erhalten sind. Von WEA stark betroffene, migrierende maschutz und der Erhalt der biologischen Vielfalt müssen gemeinsam Arten, wie der Große Abendsegler, ist mit einem solchen, wohl angegangen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bei- eher räumlich eng gefassten Populationsansatz nicht geholfen. de Schutzgüter sind untrennbar miteinander verbunden. Ziel muss Auch kann diese Methode dazu führen, dass auf Bundeslän- eine naturverträgliche Ausgestaltung der Energiewende in Einklang derebene die Signifikanzschwellen unter Begründung fachlich mit Natur- und Artenschutz sein“ (UMK 2020 b). Rotmilan (Milvus milvus)
14 15 Ob die Beschlüsse der UMK geltendem europäischen Recht sind anwendbar), der allerdings noch nicht abschließend geklärt entsprechen, ist zu prüfen. Bei der Erteilung von Ausnahmen sei und der Einschätzung des Gerichtshofes der Europäischen vom Tötungsverbot nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG Union obliege (Gellermann 2020). bestätigt ein aktuelles Gerichtsurteil den Vorrang des europä- ischen Rechts. So wurde die Genehmigung für den Windpark Ausnahmen vom Tötungsverbot können nach Gellermann zugun- „Butzbach“ (Hessen), die mithilfe einer artenschutzrecht- sten der Windkraftnutzung weder auf § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 lichen Ausnahmegenehmigung vom Tötungsverbot erteilt BNatSchG noch auf § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 4 BNatSchG („öffentliche wurde, mit Verweis auf die abschließenden Vorgaben der Vo- Sicherheit“) gestützt werden, weil Windenergieanlagen die Vo- gelschutzrichtlinie und der Beurteilung, dass ein solcher Aus- raussetzungen dieser unionsbasierten Vorschriften nicht erfüllten. nahmetatbestand damit nicht vereinbar sei, revidiert (Verwal- tungsgericht Gießen am 22.1.2020). Ebenso urteilte das Trotz der geltenden Unsicherheit wollte das Bundeswirt- Gericht, dass Ausnahmen nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 schaftsministerium die neuen Maßstäbe zulasten des Arten- BNatSchG („öffentliches Interesse“) ebenfalls nicht mit dem schutzes in die Tat umsetzen. Mit der Erweiterung des § 1 des EU-Recht vereinbar seien, da die Voraussetzungen dieser uni- EEG sollten in einem neuen Absatz 5 Ziel und Zweck des Ge- onsbasierten Vorschriften nicht erfüllt seien. setzes und so auch der Nutzung erneuerbarer Energien neu definiert werden. Demnach sollte Windkraft im „öffentlichen Ausnahmetatbestand (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) Interesse“ liegen und der „öffentlichen Sicherheit“ dienen. Besteht ein signifikantes Tötungsrisiko (nach § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. Eine solche Definition sollte die (weiterhin unionsrechtswid- 1), so kann in Ausnahmefällen eine Genehmigung erteilt werden. rigen) Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme Diese stützt sich in den meisten Fällen auf § 45 Abs. 7 Nr. 4 und nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 und § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 Nr. 5 BNatSchG, wonach im Interesse der öffentlichen Sicherheit BNatSchG schaffen. Auf politischen Druck, insbesondere der sowie aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öf- Naturschutzinitiative e. V., wurde dieser Passus wieder aus fentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirt- dem Gesetzentwurf gestrichen. Offensichtlich hatte das Mi- schaftlicher Art weitere Ausnahmen zu den Vorschriften für be- nisterium erkannt, dass auch diese Änderung unionsrechts- sonders geschützte Arten nach § 44 BNatSchG erlassen werden. widrig gewesen wäre. Dass die Versuche, vorhandene recht- liche Klippen zwischen EU-Recht und Bundesnaturschutzgesetz Die Rechtssicherheit eines solchen Ausnahmetatbestandes ist zugunsten des WEA-Ausbaus zu umschiffen, weitergehen, nicht eindeutig belegt. Im Gegenteil: Ein aktuelles Urteil des zeigt etwa das KNE-Rechtsgutachten zu Artenschutz und Eu- Verwaltungsgerichts Gießen bestätigt die vorrangige Handha- roparecht im Kontext der Windenergie. In diesem Gutachten bung des geltenden EU-Rechts mit Berufung auf die EU-Vogel- schlägt der Autor (E. Hofmann) als Inhaber des Lehrstuhls Öf- schutzrichtlinie (2009/147/EG, VRL). Der in § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. fentliches Recht, insbesondere Umweltrecht, und Leiter des 5 BNatSchG genannte Ausnahmegrund der „anderen zwin- Forschungsschwerpunkts „Recht des Klimawandels“ an der genden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“ Universität Trier letztendlich eine (Vogelschutz-) „richtlinien- findet sich in dem Kriterienkatalog § 9 Abs. 1 VRL nicht (Verwal- konforme Reduktion des BNatSchG“ vor (KNE 2020 a). tungsgericht Gießen am 22.1.2020). Zu diesem Entschluss kommt auch der Autor einer rechtswissenschaftlichen Stel- Für den Artenschutz und die Erhaltung der biologischen Vielfalt lungnahme im Auftrag der Naturschutzinitiative e. V. (NI) und wäre die Unterhöhlung der erforderlichen Schutzvorschriften verweist auf einen Normenkonflikt (mehrere Rechtsnormen zugunsten einer sehr weitreichenden Privilegierung der Winde-
16 17 nergie fatal. Wenn das Bundesumweltministerium zusammen Windenergie und Biodiversität mit dem Bundesamt für Naturschutz in ihrem jüngsten Bericht „Eine überwiegende Mehrheit hält die Stromproduktion aus Winde- zur Lage der Natur (BMU & BfN 2020) feststellen, dass, neben nergie nicht für wichtiger als die Erreichung der Biodiversitätsziele, vielen anderen maßgeblichen Ursachen, auch Windenergiean- und sie sieht die globale Erwärmung auch nicht als drängenderes Pro- lagen sich negativ auf die Biodiversität in Deutschland auswir- blem an als die Biodiversitätskrise. Die Vertreter der Windenergie ha- ken und im Katalog der wichtigsten Beeinträchtigungen für Ar- ben zu diesen Aspekten zumindest teilweise eine gegensätzliche Auf- ten und Lebensräume genannt sind, ist dieser Befund beim fassung. Über alle Akteursgruppen hinweg gibt es deutliche Ausbau der Windenergie zu berücksichtigen. Zustimmung, dass es mehr Anstrengungen für die Vereinbarkeit von Windenergieausbau und Biodiversitätszielen geben müsse.“ EXPERTEN FORDERN MEHR ARTENSCHUTZ Die jüngst vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierfor- Möglicher Beitrag der Windenergie zum Biodiversitätsschutz schung (IZW) veröffentlichte Umfrage zum Thema Winde- „Fast alle Teilnehmenden (90 Prozent) halten es für akzeptabel, nergie, Energiewende und Naturschutz macht deutlich, dass dass zur Erreichung von Biodiversitätszielen die Betreiber von Wind- ein bisher nicht gelöster Konflikt zwischen einem Ausbau der energieanlagen Ertragsverluste (durch Schutzabschaltungen) hin- Windenergie und dem Naturschutz, hier fokussiert auf den nehmen müssen. Dies lehnen die Teilnehmenden der Windenergieb- Schutz von Fledermäusen, besteht. ranche überwiegend ab. Eine Mehrheit hält zeitliche Verzögerungen beim Ausbau der Windenergie für hinnehmbar, wenn dadurch Bio- An der Befragung zu Meinungen und Einschätzungen zur diversitätszielen besser Rechnung getragen wird. Folgende konkrete Windenergie in der Energiewende und den damit möglichen Maßnahmen erhalten die meiste Unterstützung, um den Konflikt Konflikten zwischen Klimaschutz und Biodiversitätsschutz ha- zwischen Stromproduktion durch Windenergie und Fledermaus- ben sich rund 500 Personen beteiligt, die in Genehmigungs- schutz zu minimieren: ‚Mehr Forschung‘ (68 Prozent), ‚Energie- verfahren von Windenergieanlagen involviert sind. Darunter: Einsparungen‘ und ‚kontextabhängige Abschaltungen“ (jeweils 61 Naturschutzbehörden, NGOs, Vertreter der Wissenschaft und Prozent), ‚mehr Energie aus Photovoltaik und anderen erneuerbaren Mitglieder der Windenergie-Branche (Voigt et al. 2019). Das Quellen‘ (53 Prozent). Eine ‚stärkere Kommunikation zwischen den Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende weist da- Akteursgruppen‘ und ein ‚strengeres Rechtsregime‘ unterstützen rauf hin, dass die Umfrage hinsichtlich der Verteilung der Teil- nur jeweils die Hälfte der Befragten.“ nehmenden auf die Interessengruppen zwar nicht repräsenta- tiv ist, fasst die Tendenzen des Befragungsergebnisses aber wie Möglicher Beitrag der Gesellschaft zum Biodiversitätsschutz folgt zusammen (KNE 2020 b): „Jeweils über die Hälfte der Antworten aller Akteursgruppen sieht auch die Gesellschaft in der Verantwortung, zur Finanzierung von Windenergie, Energiewende und Naturschutz Artenschutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Stromerzeu- „Die Mehrheit der Befragten befürwortet eine naturverträgliche gung aus erneuerbaren Energien beizutragen – etwa durch Auf- Energiewende und sieht in der Windenergie eine Schlüsseltechno- wendung von Steuergeldern.“ logie für den Erfolg der Energiewende. Dagegen findet die Aussa- ge, dass die Energiewende zum Artenschutz beiträgt, nur einge- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Konflikt zwischen schränkte Zustimmung und wird so nur von den Teilnehmern aus Windenergie und Naturschutz, hier dem Fledermausschutz, sehr der Windbranche gesehen.“ wohl besteht und von den Befragten ein größeres Engagement im Biodiversitätsschutz gefordert wird; dies auch auf Kosten von zeit- lichen Verzögerungen beim Ausbau der Windenergie. Kleine Hufeisennase (Rhinolophus hipposideros)
18 19 Lösungsansätze und Spannungsfelder Um einen naturverträglichen Ausbau der Windenergie an Land zu Unzureichende Umsetzung von Fachstandards sichern und artenschutzrechtliche Konflikte zu entschärfen, haben Obwohl alle naturschutzfachlichen Argumente sowie das Erfor- Experten Instrumente und Lösungsansätze entwickelt, die bei der dernis einheitlicher Methodenstandards bei der Erfassung und Planung von Windkraftanlagen zu berücksichtigen sind. Aufgrund Beurteilung WEA-sensibler Vogelarten für einen bundeseinheit- mangelnder Verbindlichkeit werden diese Anforderungen zum lichen Umgang mit dem Helgoländer Papier sprechen (LAG VSW Schutz der Tierwelt allerdings nur unzureichend umgesetzt. & BfN 2020), zeichnet sich dieser bislang immer noch nicht ab. Auf Länderebene wird der Umgang mit den Abstandsempfeh- DAS HELGOLÄNDER PAPIER lungen der LAG VSW (2015) nach wie vor stark uneinheitlich Seit 2007 gilt das Helgoländer Papier der Länderarbeitsgemein- gehandhabt (siehe Beispiel Rotmilan Tab. 1). Einige Bundesländer schaft der Vogelschutzwarten als Maßstab zur Beurteilung der haben nach der Neufassung des Helgoländer Papiers 2015 ihre Auswirkungen geplanter Windenergieanlagen auf windkraftsen- landesspezifischen Abstandsempfehlungen angepasst. Jedoch ist sible Arten und deren Lebensräume in der Planungs- und Geneh- es in allen Bundesländern möglich, WEA auch innerhalb der von migungsphase. Eine aktualisierte Fassung unter Berücksichtigung der LAG VSW (2015) als Mindestabstände bezeichneten Radien des neuesten Stands der Wissenschaft ist seit 2015 anerkannt. mit dazu uneinheitlichen Vorgaben zu genehmigen (FA Wind Im Kern definiert das Papier Mindestabstände von Windenergie- 2017b). Ein Blick auf die Handhabung am Beispiel des Rotmilans anlagen zu den Brutplätzen sensibler Vogelarten. Ungeachtet der verdeutlicht die damit einhergehende Problematik (siehe Tab. 1). Tatsache, dass das Papier als Fachkonvention anerkannt ist, sind die Empfehlungen jedoch nicht bindend und werden in Bezug auf deren Rechtssicherheit kontrovers diskutiert. Die Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten Die Vogelschutzwarten (VSW) sind in Deutschland als staatlichen Fachgremien in Deutschland ist. Ihre erste Ta- Fachbehörden der Länder für den ornithologischen Arten- gung fand 1936 in Berlin statt. Mitglieder der LAG VSW schutz zuständig. Zu ihren Aufgaben gehört es insbeson- sind die staatlichen Vogelschutzwarten der Länder bzw. die dere, fachliche Grundlagen für den Artenschutzvollzug für den Vogelschutz zuständigen Fachbehörden. Partner (siehe z. B. Helgoländer Papier LAG VSW 2007, 2015) und und zu den Sitzungen ständig geladene Gäste sind das Bun- die Koordination avifaunistischer Erfassungen (siehe LAG desamt für Naturschutz (BfN), der Bundesverband für VSW & BfN 2020) zu erarbeiten. Dabei besteht eine enge Wissenschaftlichen Vogelschutz, der Dachverband Deut- Zusammenarbeit innerhalb der Länderarbeitsgemeinschaft scher Avifaunisten, der Deutsche Rat für Vogelschutz und der Vogelschutzwarten (LAG VSW), die eines der ältesten die Luxemburger Natur- und Vogelschutzliga. Mäusebussard (Buteo buteo)
20 21 Tab. 1: Abweichende Regelungen der Abstandsempfehlungen der LAG VSW (2015) für den Rotmilan in einigen Bundesländern (Stand Januar 2020) Bundesland Mindestabstand zwischen Prüfbereich (Nahrungshabitate und Brutplatz und WEA (LAG VSW Flugkorridore, LAG VSW 2015): 4.000 m 2015): 1.500 m Baden-Württemberg 1.000 m (gilt nur bei Dichtezentren) kein Prüfbereich festgelegt Brandenburg 1.000 m kein Prüfbereich festgelegt Hessen 1.000 m 6.000 m Mecklenburg-Vorpommern 1.000 m 2.000 m Nordrhein-Westfalen 1.000 m 6.000 m Sachsen 1.500 m (nur als Prüfbereich 1) 4.000 m Thüringen 1.250 m, nur in Dichtezentren 1.500 m 4.000 m Weißstorch (Ciconia ciconia)
22 23 Dass die Mindestabstandsempfehlung von Windenergieanla- Schutz nur in Dichtezentren reicht nicht aus gen zu Rotmilan-Brutplätzen mit 1.500 Metern keineswegs Um die fachlich belegte Empfehlung der Länderarbeitsgemein- zu hoch gegriffen ist, belegen beispielsweise die in Hessen schaft der Vogelschutzwarten (LAG VSW, 2015) zu einem Min- 2008 und 2012 bis 2014 an elf Brutvögeln durch unterschied- destabstand von 1.500 Metern zwischen Rotmilanbrutplatz liche Besenderung (GPS, Logger, Argos) erfassten Aktivitäts- und WEA zu umgehen, setzen einige Bundesländer in ihren muster. Während der Brutzeit lagen 75 % aller Ortungen in- Leitfäden zur Lösung des Konflikts zwischen der Windenergie nerhalb eines Radius von 2.200 Metern um das Nest. WEA in und dem Artenschutz vermehrt darauf, Dichtezentren mit ge- diesem Bereich können damit zu einem signifikant erhöhten häuften Brutvorkommen abzugrenzen. Um die Verluste durch Tötungsrisiko führen. Eine aktuelle, dreijährige Studie mit Kollisionen mit WEA in benachbarten Gebieten zu kompensie- sechs besenderten Rotmilanen im Naturraum Vogelsberg ren, sollen Quellpopulationen des Rotmilans besser geschützt (Hessen), der sowohl einen landesweiten Verbreitungs- werden. Damit wird den Empfehlungen der LAG VSW (2015) schwerpunkt der Art darstellt als auch eine hohe WEA-Dich- durchaus gefolgt. Der Schutz der Quellpopulationen ist beson- te aufweist, zeigt, dass die Rotmilane überwiegend in Höhen ders bei langlebigen Großvogelarten, die eine geringe Repro- von weniger als 100 Metern flogen (81 % der Flüge, 72 % un- duktionsrate in Verbindung mit einem späten Eintritt in die ter 75 Meter), wobei die Flughöhen von der Balz bis zur Auf- Geschlechtsreife und einer großen Reviertreue auszeichnet, zuchtzeit der Küken abnahmen. Es wurden weder ganze wichtig. Bei diesen K-selektionierten Arten können bereits ge- Windparks noch einzelne WEA umflogen. Offensichtliche ringe Steigerungen der Mortalität rasch zu überregionalen Be- Ausweichbewegungen zu WEA waren nicht zu erkennen. standsabnahmen führen. Die schrittweise Entwertung des Ge- Während zur Klärung der Hauptfragestellung hinsichtlich der samtlebensraums durch verschiedene Windparks und vor Zusammenhänge zwischen Wetter, Landnutzung und Flug- allem die Summation mit zusätzlichen, anthropogenen Morta- verhalten (Flughöhe, Aktionsradius) die erhobenen Daten litätsursachen, kann sich mittelfristig auf die Populationsent- eine gesicherte statistische Auswertung zuließen, war die Da- wicklung dieser K-Strategen so stark auswirken, dass sich ihr Erhal- tenlage für eine statistische Auswertung des Flugverhaltens tungszustand auf Populationsniveau verschlechtert (siehe auch im unmittelbaren WEA-Bereich zu gering. Die Autoren konn- Kolbe et al. 2019). Und das trotz Einhaltung aller naturschutzfach- ten im gesamten Untersuchungszeitraum unter Berücksichti- lichen Vorgaben in jedem einzelnen Genehmigungsverfahren. Zur gung der Flughöhen und Flugrichtung zwar keine Flüge der Vermeidung dieser kumulativen Effekte, die hier v. a. windenergie- besenderten Tiere im unmittelbaren Gefahrenbereich der sensible Großvogelarten betreffen, „ist es wichtig, dass langfristig WEA in Form von Durchflügen durch drehende Rotoren fest- ausreichend große WEA-freie Räume zur Sicherung von Quellpopula- stellen, verweisen aber auf die Erfordernis weiterer Untersu- tionen erhalten bleiben“ (LAG VSW, 2015). chungen (Heuck et al. 2019). Dass trotz dieser Ergebnisse die Kollisionsverluste von Rotmilanen an WEA gerade auch im Wie die Handhabung in Baden-Württemberg zeigt, wird auf den Naturraum Vogelsberg bedenklich hoch sind, belegt die zen- weiteren Ausbau von WEA jedoch selbst innerhalb der Dichte- trale Funddatei der Vogelschutzwarte Brandenburg. Mit zentren nicht unbedingt verzichtet. Anstelle der Mindestab- Stand vom 7.1.2020 wurden von den 59 Kollisionsopfern des standsempfehlung der LAG VSW (2015) von 1.500 Metern zu Rotmilans in Hessen 25 im Landkreis Vogelsberg, davon wie- WEA gilt eine 1.000-Meter-Abstandsregelung, die dann durch derum 19 aus Gebieten mit hohen WEA-Dichten registriert Raumnutzungsanalysen bei geringerer Frequentierung der Flä- (Dürr & Langgemach 2020). chen um geplante WEA noch weiter unterschritten werden kann (Tab. 1). Und während bisher für Baden-Württemberg ein
24 25 Dichtezentrum mit dem Vorkommen von mindestens vier Re- erhalten oder wiederhergestellt und ihre Bestände als dauerhaft Die Verfasser dieses Beschlusses betonen, dass dafür eine objek- vierpaaren im 3,3-Kilometer-Radius um eine geplante WEA überlebensfähige Populationen gesichert werden. Für das Vor- tive und nachvollziehbare Sachverhaltsermittlung Vorausset- definiert war, wurde der Schwellenwert durch die Landesre- kommen jeder Vogelart, für die ein SPA ausgewiesen wurde, hat zung ist, die sich an fachlichen Maßstäben orientiert. LAG VSW gierung Anfang 2020 auf sieben (!) Revierpaare angehoben. das jeweilig zuständige Bundesland dafür zu sorgen, dass das Vor- & BfN (2020) stellen fest, dass fast alle Bundesländer zwar Ar- Die Begründung zu diesem Schritt lieferte der Umweltmini- kommen der Art in einem günstigen Erhaltungszustand ist bzw. in beitshilfen zur Erfassung der Avifauna bei WEA-Genehmigungs- ster Franz Untersteller (Grüne): „Das ist eine gute Lösung, um einen solchen durch entsprechende Maßnahmen überführt wird. verfahren haben, die dabei vorgeschlagenen Erfassungsmetho- – wie bisher auch – beides miteinander in Einklang zu bringen: Die LAG VSW (2015) hat deshalb auch Abstandsempfehlungen den allerdings viele Fragen offenlassen bzw. zum Teil stark Artenschutz und den Ausbau der Windenergie.“ Dass beides mit von Windenergieanlagen zu bedeutenden Vogellebensräumen voneinander abweichen. Außerdem mangele es an Bewertungs- dem Ansatz der Dichtezentren möglich ist, habe die starke vorgeschlagen. Sofern sensibel auf Windenergieanlagen reagie- ansätzen, die eine objektive bzw. vergleichbare Beurteilung des Zunahme des Rotmilanbestands in Baden-Württemberg be- rende Vogelarten den Schutzzweck des SPA darstellen, sollten Sachverhalts erlauben. „Diese für die Fachplanung und den Verwal- wiesen (MUKE 2020). WEA erst in einer Entfernung der zehnfachen Anlagenhöhe oder tungsvollzug im gleichen Maße unbefriedigende Ausgangslage bil- mindestens 1.200 Meter von der SPA-Grenze entfernt errichtet dete den Anstoß für das Forschungs- und Entwicklungsvorhaben Diese Vorgehensweise ist rechtlich nicht haltbar und fachlich fa- werden. Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollte dem Gebietsschutz (FuE-Vorhaben), Avifaunistische Methodenstandards für WEA- tal. Sie hebelt § 44 BNatSchG praktisch aus und berücksichtigt in für SPA vom Plangeber im Zuge der Regionalplanung bereits ein Genehmigungsverfahren (FKZ 3514823800). Dessen Ziel war die keiner Weise die kumulativen Wirkungen eines fortschreiten- Vorrang eingeräumt werden, indem SPA einschließlich der ggf. Entwicklung eines Vorschlages für eine bundesweit abgestimmte den Windenergieausbaus auf Rotmilanpopulationen, die dann erforderlichen Schutzabstände von vornherein einer Windener- Fachempfehlung.“ (LAG VSW & BfN 2020). bei Überschreitung bestimmter Ausbaudichten zurückgehen (s. gienutzung als Tabuflächen entzogen werden (siehe Jaehne & Häl- o. und Katzenberger & Sudfeldt 2019). Wie Hermann & Heuck terlein 2017). Doch davon sind viele Bundesländer noch weit ent- Das erst jetzt zum Abschluss gekommene Vorhaben zeigt über- (2019) am Seeadler als weitere hoch kollisionsgefährdete Greif- fernt. Immerhin fünf Bundesländer erlauben den Bau von deutlich, dass die in den Bundesländern bisher praktizierte und vogelart zeigen, kann das planerische Freihalten der Kernverbrei- Windenergieanlagen in Vogelschutzgebieten (siehe Tab. 2). nicht nur in der vorliegenden Studie kritisierte Vorgehensweise tungsgebiete des Seeadlers von WEA die bisherigen Regelungen in keiner Weise ausreichend ist. Der ausdrückliche Hinweis auf zu Mindestabständen ergänzen, aber nicht ersetzen. Schließlich FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSVORHABEN die fachliche und nachweisbare Qualifikation der Gutachter so- erfordern die artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände des Mit diversen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben unter- wie die Anforderungen an die avifaunistischen Untersuchungen BNatSchG mit § 44 Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der je- nehmen die zuständigen Umweltbehörden, das Bundesum- inklusive der Unterscheidung von Habitatpotenzialanalyse und weils betroffenen Art. Beim Rotmilan, für den Deutschland auf- weltministerium und das Bundesamt für Naturschutz, einen darauf aufbauender Raumnutzungsanalyse sind weitere Belege grund des Verbreitungsgebietes eine besondere Verantwortung weiteren Versuch, die Umsetzung einheitlicher Fachstandards für eine bisher eher lücken- und fehlerhafte naturschutzfach- hat, müssten seine Dichtezentren konsequent von WEA freige- in den einzelnen Bundesländern zu etablieren. Dabei bleiben liche Beurteilung von WEA-Vorhaben. halten und die erforderlichen Mindestabstände um alle Brutvor- die Abstandsempfehlungen der LAG VSW (2015) mit dem kommen eingehalten werden. Dass dies bis heute nicht ge- gemeinsamen Beschluss von LAG VSW und BfN (Beschluss Auch der Bestandsschutz für Horste von windenergiesen- schieht, zeigen die abweichenden Regelungen einiger 19/02) die wichtigsten avifaunistischen Fachstandards, indem siblen Großvogelarten wird von den einzelnen Bundesländern Bundesländer zu den Abstandsempfehlungen der LAG VSW sie „einen allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft darstel- unterschiedlich behandelt (Tab. 3 und 4). In den überwie- (2015), siehe Tab. 1. len (VGH München, Urteil vom 29.3.2016 – 22 B 14.1875, 22 B genden Fällen folgen die Bundesländer den Empfehlungen 14.1876 Rn. 45) und die Basis für die „Transformationsakte“ der von LAG VSW & BfN (2020) nicht. VOGELSCHUTZGEBIETE Länder (Leitfäden, Fachbeiträge, Handreichungen, Erlasse u. Ä.) Mit der Ausweisung von Europäischen Vogelschutzgebieten bilden. Bei Einhaltung dieser Empfehlungen dürfen Planungsträ- (Special Protection Areas = SPA) im Rahmen von Natura- ger und Genehmigungsbehörden in der Regel davon ausgehen, 2000-Schutzgebieten sollen die Lebensräume der in Anhang I dass artenschutzrechtliche Verbote nicht berührt sind“ (nach der Vogelschutzrichtlinie genannten europäischen Vogelarten LAG VSW & BfN 2020).
26 27 Tab. 2: Ländervergleich im Umgang mit Genehmigungsverfahren von Windenergieanlagen (WEA) in Vogelschutzgebieten (VSG), Stand Mai 2020 Bundesland Zulässigkeit Ausnahmeregelungen Baden-Württemberg ja mittels Prüfung im Einzelfall möglich Bayern nein nur mit entsprechender Ausnahmegenehmigung eventuell möglich Brandenburg nein In Brandenburg nicht angestrebt. Jedoch kann eine Verträglichkeitsprüfung nach § 34 BNatSchG in das Planungsverfahren integriert werden. Lässt diese eine erhebliche Beeinträchtigung nicht erwarten, so kommt eine Windenergienutzung, ggf. i. V. m. Auflagen in Betracht. Hessen ja Mittels Ausnahme möglich. Wird anhand des Konfliktpotenzials „Windenergienutzung in EU-Vogelschutzgebieten“ (Tabelle Leitfaden) abgewogen. Mecklenburg-Vorpommern nein Ausschlussbereich für Windenergieanlagen Niedersachsen ja Hartes Tabukriterium, jedoch im Einzelfall, wenn den Schutzzwecken des VSG nicht widersprochen wird, ist eine Ausnahme möglich. Beispiel Vogelsberg Nordrhein-Westfalen nein Erlass schließt WEA in VSG aus (hartes Tabukriterium). Seitens einiger Windenergiebetreiber werden immer wieder Schwarzstorch-Bestand in den anderen hessischen Gebieten Rheinland-Pfalz ja Mittels Ausnahme möglich. Wird anhand des Konfliktpotenzials „Windenergienut- Versuche unternommen, die belegten Risiken für Vögel an stabil oder nur leicht rückgängig. Dies zeigt die Auswertung zung in EU-Vogelschutzgebieten“ (Tabelle Leitfaden) abgewogen. Die Gebiete sind je WEA durch eigene Untersuchungen oder die Neuinterpreta- seiner Bestandsentwicklung. Nach dem Zwölf-Jahres-Trend nach Konfliktpotenzial in die drei Kategorien „gering“, „mittelhoch“ und „sehr hoch“ – ähnlich einem Ampelschema – klassifiziert. tion von Daten infrage zu stellen. Ein Beispiel liefert ABO- (2006 bis 2014) nahm die Zahl der Schwarzstorch-Brutpaare Wind mit der Schrift „Friedliches Nebeneinander von Wind- in Hessen pro Jahr um ein bis drei Prozent ab. Auch wenn im Saarland nein Natura-2000-Gebiete sollen von der Windenergienutzung freigehalten werden. Vogelsberg der rasante Ausbau der Windenergie selbst von energie und Schwarzstorch – Stabile Populationen/ Ferner wird ein Abstand von 200 Metern empfohlen. Kollisionen extrem selten/exorbitante Abstandsempfeh- einzelnen Naturschutzvertretern nicht als singulärer Grund Sachsen ja Nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Mittels Ausnahmeprüfung im Einzelfall möglich. lungen unbegründet“. Einem Faktencheck kann dieser Ver- für den sehr starken Rückgang der dortigen Brutpopulation Sachsen-Anhalt nein ausgeschlossen (jedoch im Einzelfall, wenn den Schutzzwecken des VSG nicht such der Bagatellisierung eines Problems allerdings nicht gesehen wird, bleibt festzuhalten, dass der Bruterfolg bei die- widersprochen wird, ist eine Ausnahme möglich) standhalten. So nahm die Schwarzstorch-Population im Vo- ser Art mit der längeren, mehrjährigen Besetzungsdauer der gelschutzgebiet Vogelsberg (Hessen) von 13 bis 14 Brutpaa- Brutplätze steigt. Störungen jeder Art, seien es forstliche Ein- Schleswig-Holstein nein Im Leitfaden als „weiches“ Kriterium festgelegt. Im Windenergieerlass werden ren im Jahr 2002 auf nur noch fünf Brutpaare im Jahr 2017 ab, griffe oder die Errichtung bzw. der Betrieb von WEA, führen Europäische Vogelschutzgebiete als Ausschlussflächen definiert, „es sei denn eine erhebliche Beeinträchtigung des Schutzzwecks und der Erhaltungsziele des Gebiets bei gleichzeitigem Zuwachs von 178 WEA. Das Vogelschutz- dagegen zu einer kürzeren, nicht selten nur einmaligen Nut- kann auf Grund einer Vorprüfung oder Verträglichkeitsprüfung nach § 7 Abs. 6 ROG gebiet Vogelsberg ist für die beiden besonders windenergie- zung eines Brutplatzes mit im Durchschnitt deutlich gerin- bzw. nach § 1a Abs.4 BauGB jeweils i. V. m. § 34 BNatSchG im Rahmen der Regional- sensiblen Vogelarten Schwarzstorch und Rotmilan das be- gerer Jungenzahl. bzw. Bauleitplanung ausgeschlossen werden (z. B. wenn nachgewiesen wird, dass der deutsamste Schutzgebiet in ganz Hessen. Dagegen war der Teilbereich des Gebiets für die Erhaltung der geschützten Art nicht relevant ist)“. Thüringen nein Grundsätzlich ist in Thüringen ein VSG ein weiches Kriterium und mittels Ausnahme- prüfung im Einzelfall möglich.
28 29 Beschluss 19/20 zur Erfassung der Brutvögel (LAG VSW & BfN 2020): Die Sachverhaltsermittlung im Rahmen der artenschutzrecht- fischen Prüfbereichen (LAG VSW 2015). Für den Rotmilan lichen Prüfung setzt am Vorhabenstandort an. Dieser kann eine beträgt er beispielsweise 4.000 m. Für WEA-sensible Vogelarten, Einzelanlage, mehrere Anlagen oder einen definierten Planungs- für die von der LAG VSW (2015) keine Prüfbereiche festgelegt raum (z. B. Vorrangflächen für Windenergienutzung) umfassen. wurden, können nachfolgende Radien zur Abgrenzung des Be- Um ihn herum werden die Untersuchungsgebiete und Betrach- trachtungsraums als Orientierung verwendet werden (hier nur tungsräume definiert. … Bei Einzelanlagen bezieht sich die räum- die waldrelevanten Arten aufgeführt): Raufußhühner 2.000 m, liche Abgrenzung auf den Mastfuß der geplanten WEA. Sind Wespenbussard 3.000 m, Mäusebussard 2.000 m, Schreiadler mehrere Anlagen geplant, wird ein Polygon um die außen stehen- 10.000 m, Wanderfalke 2.000 m (Baumbrüter 3.000 m), Wald- den Einzelanlagen gebildet, an dessen Außengrenze die in den schnepfe 1.500 m, Ziegenmelker 1.500 m. folgenden Abschnitten genannten Radien angelegt werden. Obwohl Prüfbereich (gemäß Helgoländer Papier) und Betrach- BETRACHTUNGSRÄUME tungsraum mit dem gleichen Radius abgegrenzt werden, können a) Unmittelbares Umfeld des Vorhabenstandorts: sie dennoch unterschiedlich große Flächen abdecken, da die Aus- Kartierung aller Brutvogelarten gangspunkte der Messung nicht identisch sind. Der Prüfbereich Im Umkreis von 300 m zum Vorhabenstandort und im Abstand orientiert sich an der durchschnittlichen Raumnutzung eines von 100 m zur benötigten Versorgungsinfrastruktur (Zuwe- Brutpaares. Seine Abgrenzung setzt demzufolge an der räum- gungen, Leitungstrassen, Stellplätze für Kran und Kranausleger, lichen Lage des Brutvorkommens (Horststandort) bzw. Revier- Lagerplätze für Baumaterialien) sind alle Brutvogelarten mittels mittelpunkts an. Demgegenüber umfasst der Betrachtungsraum Revierkartierung nach Methodenstandard (SÜDBECK et al. die Gesamtfläche, für die Umweltwirkungen des Vorhabens zu 2005) zu erfassen. artenschutzrechtlichen Konflikten führen können. Seine Abgren- zung orientiert sich demzufolge an der räumlichen Lage des Vor- b) Untersuchungsgebiet: habenstandorts. Im Betrachtungsraum (außerhalb des Untersu- Kartierung aller WEA-sensiblen Brutvogelarten chungsgebiets) müssen keine Feldkartierungen durchgeführt Das Untersuchungsgebiet für WEA-sensible Brutvögel wird über werden. Stattdessen erfolgt eine Recherche der Brutvorkommen den artspezifisch empfohlenen Mindestabstand (LAG VSW WEA-sensibler Vogelarten bei Behörden, Horstbetreuern, Fach- 2015) zuzüglich 500 m festgelegt. So ergibt sich beispielsweise gruppen und ortskundigen Ornithologen sowie in avifaunis- für den Rotmilan ein Untersuchungsgebiet von 1.500 m + 500 m tischen Datenbanken bzw. Publikationen. = 2.000 m um den Vorhabenstandort. Dadurch wird sicherge- stellt, dass auch randlich des empfohlenen Mindestabstands ge- BEWERTUNG VON BRUTVORKOMMEN legene Brutreviere oder Wechselhorste bei der artenschutz- Zum Brutbestand einer Art werden alle am jährlichen Reproduk- rechtlichen Bewertung Berücksichtigung finden. Für den tionszyklus teilhabenden Individuen gezählt – unabhängig vom Mäusebussard wird zur Abgrenzung des Untersuchungsgebiets tatsächlichen Bruterfolg. Dies schließt besetzte Reviere ohne ein Radius von 1.500 m festgelegt. Horstfund bzw. alle Brutverdachtsmomente (B-Nachweise ent- sprechend EBCC-Kriterien nach HAGEMEIJER & BLAIR 1997) Innerhalb des Untersuchungsgebiets erfolgt eine Revierkartie- ein. Sollten konkrete Nest- oder Horststandorte nicht ermittelt rung nach Methodenstandard (SÜDBECK et al. 2005). Im Vorfeld werden können, erfolgt die Abgrenzung der Fortpflanzungsstät- ist für baumbrütende Groß- und Greifvogelarten eine Horst- ten über „idealisierte Reviermittelpunkte“ (HVNL et al. 2012). suche durchzuführen, die im zeitigen Frühjahr (vor Laubaustrieb) beginnen muss. Dabei werden alle Horste punktgenau verortet Bei Groß- und Greifvogelarten ist die Nutzung von Wechselhor- und Informationen über die aktuellen und vorjährigen Nut- sten eine übliche Verhaltensweise, insbesondere wenn es im Vor- zungen zusammengetragen. Die sich anschließenden Besatzkon- jahr zu einer erfolglosen Brut kam. Die vorjährigen Nester werden trollen sollten bei seltenen Greif- und Großvogelarten mit den dann zeitweise nicht genutzt. Stattdessen werden neue Nester genutzten Wechselhorste (RUNGE et al. 2009). Für die Planungs- BNatSchG der LANA (2010) auch bei Abwesenheit der Vögel zuständigen Behörden und den lokalen Horstbetreuern abge- gebaut oder bestehende Nester (ggf. auch anderer Arten) in der und Genehmigungspraxis ergibt sich daraus die Konsequenz, ganzjährig geschützt (vgl. BVerwG Urt. v. 21.6.2006 9 A 28/05 mit stimmt werden, um Störungen zu minimieren. Hinweisen zu Umgebung aufgebaut. Bei der artenschutzrechtlichen Bewer- dass ein besetztes Revier in seiner ökologischen Funktionalität Verweis auf BVerwG Urt. v. 21.6.2006 9 A 28/05). Dieser Schutz Brutvorkommen WEA-sensibler Arten ist gezielt nachzugehen. tung dieses Verhaltens ist zu beachten, dass sich das Schutzre- durch mehrere Horststandorte gekennzeichnet sein kann, die bei erlischt erst, wenn der Horst bzw. das Revier endgültig aufgege- gime des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG nicht auf Nester oder Hor- der Anwendung von Abstandsempfehlungen der LAG VSW ben wurde. Bei reviertreuen Vogelarten ist dies aus fachlicher c) Betrachtungsraum: Datenrecherche ste an sich, sondern vielmehr auf deren ökologische Funktion in (2015) zu berücksichtigen sind. Sicht nach Ablauf der in Tab. 6 genannten Zeiträume (ohne Art- Neben dem Untersuchungsgebiet wird für WEA-sensible Brut- Bezug auf den Erhalt des jeweiligen Brutvorkommens bezieht. nachweis) zu erwarten bzw. wenn eine Wiederbesetzung des vogelarten ein sogenannter „Betrachtungsraum“ um den Vorha- Daher sind alle räumlich im Zusammenhang stehenden Fort- Alle festgestellten Brutvorkommen sind entsprechend der Hin- Horstes aufgrund tatsächlich eingetretener Umstände unwahr- benstandort abgegrenzt. Sein Radius entspricht den artspezi- pflanzungs- und Ruhestätten zu betrachten einschließlich der weise zum Schutz von Lebensstätten nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 scheinlich oder unmöglich ist.
30 31 Tab. 3: Fachliche Empfehlung zur Dauer des Schutzes intakter, temporär nicht genutzter Horste nach LAG VSW & BfN (2020) Tab. 4: Bestandsschutz bei Großvogelhorsten – ein Ländervergleich (Stand: 2020) Arten (hier mit Relevanz zum Lebensraum Wald) Schutz intakter, temporär nicht genutzter Horste in Jahren Bundesland Bestandsschutz Art Bemerkung Brutkolonien Graureiher 2 Baden-Württem- Kein Bestandsschutz, Sonst gilt für Rotmilan drei Jahre und für Schwarz- Baumfalke, Fischadler, Mäusebussard, Rotmilan, 3 berg wenn Horst komplett storch fünf Jahre Schwarzmilan, Uhu, Wanderfalke, Wespenbussard weg ist. Schreiadler, Schwarzstorch, Seeadler 5 Bayern 3 Jahre planungsrelevante Großvögel Gilt nur als Revierschutz, nicht Bestandsschutz. Das heißt keine direkte Regelung, wenn Horst zerstört. Brandenburg 5 Jahre (nach Aufgabe Schreiadler, Schwarzstorch, Gilt bei Schreiadler und Schwarzstorch auch für des Reviers) Seeadler, Uhu Wechselhorste sowie bei Planungen von Windeig- nungsgebieten und in Zulassungsverfahren für 2 Jahre für alle weiteren planungsrele- WEA; bei Seeadler und Uhu gelten drei Jahre bei vanten Großvögel Planungen von Windeignungsgebieten und in Zulassungsverfahren. Hessen 5 Jahre Schwarzstorch 2 Jahre andere planungsrelevante Großvögel Mecklenburg- 5 Jahre Fischadler, Seeadler Vorpommern 10 Jahre Weißstorch, Schwarzstorch Niedersachsen 3 Jahre planungsrelevante Greifvögel Die Wechselhorste von Greifvogelarten und Uhu und Uhu verlieren nach drei Jahren der Nichtnutzung ihre Funktion als Niststätten. Bei Wechselnestern des Schwarzstorches sind Nester der letzten fünf 5 Jahre Schwarzstorch Jahre zu berücksichtigen. Nordrhein- 5 Jahre Schwarzstorch Westfalen 2 Jahre Uhu, Rotmilan, Schwarzmilan Rheinland-Pfalz 5 Jahre Schwarzstorch Bestandsschutz nicht festgelegt (Zahlen zeigen bisherige Handhabung) 2 Jahre andere planungsrelevante Großvögel Saarland keine Regelung Sachsen keine Festsetzung derzeit keine Regelung Sachsen-Anhalt 2 Jahre alle Großvögel nicht verbindlich festgelegt 3 Jahre Rotmilan Schleswig- 3 Jahre Seeadler, Schwarzstorch und In dieser Zeit muss jährlich geprüft werden, ob Holstein Weißstorch der Horst wiederbesetzt wird. Wird der Horst wiederbesetzt, muss die entsprechende Untersu- chungsanforderung erfüllt werden. Bleibt der Horst 2 Jahre Rotmilan drei Jahre unbesetzt, braucht er anschließend bei der Planung nicht weiter berücksichtigt werden. Thüringen 5 Jahre alle Großvögel 2 Jahre Rotmilan
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