Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung

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Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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        Windenergie
im Lebensraum Wald
     GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT
                             ARF
SITUATION UND HANDLUNGSBED
                        von Klaus Richarz
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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                                            Autor: Dr. Klaus Richarz
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Prof. Dr. Klaus Hackländer (Vorsitzender)   Fotos: T. Dürr; ArcoImages/C. Braun, FLPA, G. Lacz, Minden Pictures, NPL;
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                                            Gedruckt auf 100 % Altpapier � Stand: Mai 2021

                                                                                                                                            Die Studie

                                                                                                                                            Die vorliegende Studie baut auf den beiden vorangegangenen Publikationen von
                                                                                                                                            2014 und 2016 auf. Sie gibt eine Übersicht zur aktuellen Situation des Windener-
                                                                                                                                            gie-Ausbaus in Deutschland und beschreibt den nach wie vor ungelösten Konflikt
                                                                                                                                            zwischen der Windenergienutzung und dem Artenschutz, insbesondere der Ge-
                                                                                                                                            fährdung von Tierarten aus den Risikogruppen Vögel und Fledermäuse. Aufgrund
                                                                                                                                            erheblicher Defizite beim Schutz von Naturwäldern und gleichzeitig noch lücken-
                                                                                                                                            hafter Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Windenergieanlagen im Wald auf
                                                                                                                                            zahlreiche Arten bzw. Artengruppen, ihre Populationen und ganze Lebensgemein-
                                                                                                                                            schaften ist es eine zentrale Forderung dieser Studie, auf Windenergieanlagen in
                                                                                                                                            Wäldern zu verzichten.

                                                                                                                       Wolf (Canis lupus)
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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                                                    Über den Autor

                                                    Dr. Klaus Richarz (Jg. 1948) ist Biologe. Er promovierte und forschte über Säugetier-
                                                    verhalten an der Universität Gießen. Nach seiner Hochschultätigkeit arbeitete er
                                                    von 1980 bis 2013 hauptamtlich im Naturschutz – zunächst elf Jahre in Bayern als
                                                    Artenschutzreferent und Sachgebietsleiter an der Höheren Naturschutzbehörde in
                                                    München – und leitete von 1991 bis 2013 für 22 Jahre die Staatliche Vogelschutz-
                                                    warte für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland in Frankfurt. In seiner aktiven Zeit
                                                    nahm er Lehraufträge an der Universität Gießen, an den Fachhochschulen Bene-
                                                    diktbeuern, Weihenstephan und der Universität Marburg wahr. Die Themen Säu-
                                                    getiere, Vögel und deren Schutz beschäftigen ihn bis heute. Ehrenamtlich war er
                                                    von 1991 bis 2019 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz im
                                                    NABU Hessen. Als Vorsitzender des Bundesverbandes Wissenschaftlicher Vogel-
                                                    schutz e. V., als Beirat mehrerer Naturschutzstiftungen und als Berater in Natur-
                                                    schutzfachfragen ist er weiterhin im Naturschutz aktiv. Mit dem Thema naturver-
                                                    trägliche Windenergienutzung beschäftigte er sich an der Vogelschutzwarte vor
                                                    allem durch die Mitarbeit an entsprechenden Leitfäden für die Länder in seinem
                                                    Geschäftsbereich, an der Aktualisierung des „Helgoländer Papiers“ sowie aktuell
                                                    durch seine Studie „Windenergie im Lebensraum Wald“. Seine Sachbücher zu den
                                                    Themen Vögel, Fledermäuse, Säugetiere, Naturschutz und Naturerleben erschie-
                                                    nen in mehr als zehn Sprachen.

Schwarzstörche, Jungvögel im Nest (Ciconia nigra)
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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                                 Vorwort der Deutschen Wildtier Stiftung

                                 Die Deutsche Wildtier Stiftung engagiert sich für den Erhalt und Schutz von Wild-
                                 tieren und ihren Lebensräumen in Deutschland. Seit vielen Jahren setzt sie sich da-
                                 bei auch mit den Folgen der Energiewende für den Natur- und Artenschutz ausei-
                                 nander. Im Mittelpunkt steht dabei die Energieerzeugung über Biogas und Wind.

                                 Die Windenergie soll und wird einen maßgeblichen Anteil am Energiemix der Zu-
                                 kunft auch in Deutschland haben. Bei ihrem Ausbau darf ein weiteres gesellschaft-
                                 lich und politisch unumstrittenes Ziel aber nicht gefährdet werden: der Erhalt der
                                 biologischen Vielfalt.

                                 Schätzungsweise werden jedes Jahr etwa 225.000 Fledermäuse und mehrere Tau-
                                 send Greifvögel durch die rund 30.000 Windenergieanlagen in Deutschland getö-
                                 tet. Geeignete Standorte im Offenland werden knapp, und damit steigt in vielen
                                 Regionen der Druck, auch Waldflächen und sogar Schutzgebiete für Windenergie-
                                 anlagen zu nutzen. Bereits heute steht jede zehnte Windenergieanlage im Wald.
                                 Statt die letzten Rückzugsorte für unsere heimische Flora und Fauna konsequent zu
                                 schützen, räumt die Politik der Windenergieindustrie zunehmend Privilegien ein.
                                 Auch die fachliche Diskussion um die Folgen des Ausbaus der Windenergie auf be-
                                 drohte Arten wird zunehmend durch das Argument des Klimaschutzes überlagert.
                                 Die Deutsche Wildtier Stiftung versteht sich in dieser Debatte als Stimme der Wild-
                                 tiere und setzt sich für deren Belange ein. Die vorliegende Studie soll dafür einen
                                 Beitrag leisten: Windkraft? Ja, aber nicht um jeden Preis für die Natur!

Großes Mausohr (Myotis myotis)
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    Inhalt

    EINLEITUNG                                       10

    NACH BOOM KAM STAGNATION                         10

    POLITISCHE ENTWICKLUNG ZULASTEN DER NATUR        10

    EXPERTEN FORDERN MEHR ARTENSCHUTZ                16

    LÖSUNGSANSÄTZE UND SPANNUNGSFELDER               19

    DAS HELGOLÄNDER PAPIER                           19

    VOGELSCHUTZGEBIETE                               24

    FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSVORHABEN             24

    RISIKOMINIMIERENDE MASSNAHMEN                    32

    DER WALD ZWISCHEN SCHUTZ UND NUTZUNG             35

    WALDSCHUTZ 2020 – EINE TRAURIGE BILANZ           35

    WINDKRAFT IM WALD                                35

    AUSWIRKUNGEN VON WINDENERGIEANLAGEN IM WALD      38

    RISIKOGRUPPE VÖGEL                               44

    KOLLISIONSRISIKO UND MORTALITÄTSGEFÄHRDUNG       46

    ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN VOGELARTEN        50

    RISIKOGRUPPE FLEDERMÄUSE                         63

    KOLLISIONSRISIKO UND MORTALITÄTSGEFÄHRDUNG       66

    ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN FLEDERMAUSARTEN   69

    FAZIT                                            77

    LITERATUR                                        78

    FORDERUNGEN DER DEUTSCHEN WILDTIER STIFTUNG

    ZUR BERÜCKSICHTIGUNG DES ARTEN- UND
    NATURSCHUTZES BEIM AUSBAU DER WINDENERGIE			     82
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
10                                                                                                                                                                                                          11

Einleitung

NACH BOOM KAM STAGNATION                                               Klimaschutz auf Kosten des Artenschutzes und schlägt Maßnahmen            Umwelt“ zugelassen werden. Für Vorhaben der Windenergie
Die Windbranche sieht sich im Krisenmodus. Nach einem deut-            vor, die auf einer schwachen fachlichen Basis stehen. So widerspricht     wurde dieser Ausnahmegrund bisher abgelehnt und soll wohl,
lichen Anstieg 2017 ging der Ausbau der Windenergie an Land            der BVF dem Forderungskatalog, dass es ein überwiegendes Interesse        mit fachlichen Begründungen untermauert, künftig gesetzmä-
2018 dramatisch zurück, wobei sich dieser Trend bis Ende 2019          am Ausbau der Windenergieproduktion im Verhältnis zum Erhalt der          ßig verankert werden. Auch die grundsätzlich zu begrüßende
fortsetzte. Auch in 2020 wurden die Ausbauziele, noch zusätzlich       Biodiversität gibt. Vielmehr betonen wir, dass die Erhaltung der Biodi-   einheitliche Anwendung von Naturschutzrecht durch eine TA
bedingt durch die Corona-Krise, voraussichtlich nicht erreicht.        versität und naturnaher Lebensräume ein ebenso wichtiges gesell-          Artenschutz zielt mit dem Hinweis auf Verankerung des Popula-
Zu den bis Ende 2018 in Betrieb befindlichen 29.213 Windener-          schaftliches Ziel darstellt, was sich nicht nur im hohen Schutzstatus     tionsansatzes darauf ab, dass Verluste von Individuen an WEA
gieanlagen (WEA) kamen 2019 bundesweit 278 neue WEA hin-               bedrohter Arten in der EU-Habitat-Direktive (92/43/CEE 1992) (=           künftig prinzipiell hinzunehmen sind und nur noch die (oft
zu, sodass sich zu Beginn 2020 in Deutschland 29.491 Windräder         Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie) und internationalen Abkommen              schwierig) nachweisbaren negativen Einflüsse auf die jeweilige
an Land drehten. Der Bundesverband WindEnergie e. V. (BWE)             (Kyoto-Protokoll) und damit auch im Bundesnaturschutzgesetz wi-           Population zählen.
hat als Gründe für das Verfehlen der Ausbauziele besonders den         derspiegelt. Wir halten ein Ausspielen des einen Schutzgutes gegen
Artenschutz sowie regionalplanerische Hemmnisse auf die Ge-            ein anderes – befeuert durch wirtschaftliche Interessen – als unverein-   Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
nehmigungserteilung sowie die Verfahrensdauer ausgemacht.              nehmlich mit dem gesellschaftlichen Interesse an einer ökologisch         (EEG) und den Beschlüssen der Umweltministerkonferenzen
Zusätzlich würden sich die Genehmigungsbehörden einem mas-             nachhaltigen Energiewende. Wir fordern in diesem Zusammenhang             (UMK) setzte die Bundesregierung ihren Kurs auch 2020 fort
siven Druck und Klagen von Gegnern ausgesetzt sehen (s. FA             eine Versachlichung und Differenzierung der Diskussion von Klima-         und räumt dem Ausbau der Windenergie weiter unverhältnis-
Wind 2019a). Bei nahezu der Hälfte der beklagten Anlagen (157          schutz und Artenschutz. Parolen wie „Klimaschutz ist Artenschutz“         mäßige Privilegien ein.
WEA) wird die Gefährdung besonders geschützter Vogel- bzw.             verallgemeinern sehr stark und reduzieren komplexe Zusammenhän-
Fledermausarten geltend gemacht.                                       ge bis zur Unkenntlichkeit. Zudem sind sie tendenziös und emotiona-       Signifikanzkriterium (UMK-Beschluss)
                                                                       lisieren. Des Weiteren implizieren sie, dass der verstärkte Ausbau der    Der zentrale Ansatz des Artenschutzes und damit auch des Vo-
Deshalb legte der BWE im Juli 2019 einen Aktionsplan für mehr          Windenergie in Deutschland die primäre Lösung sei, den Verlust der        gelschutzes innerhalb der Europäischen Union ist der Schutz
Genehmigungen von Windenergieanlagen an Land vor (BWE                  Biodiversität auf globaler, nationaler und regionaler Ebene zu stop-      eines jeden Individuums. Diese Vorgabe beinhaltet sowohl die
2019), der darauf abzielte, den Artenschutz künftig nur noch           pen. Dem ist nicht so.“                                                   FFH-Richtlinie (92/43/EWG) als auch die Vogelschutzrichtlinie
nachrangig zu behandeln. Dies hatte die Deutsche Wildtier Stif-                                                                                  von 1979. Beide wurden mit dem Bundesnaturschutzgesetz
tung ihrerseits bereits in einer Stellungnahme kritisiert. Anschlie-   POLITISCHE ENTWICKLUNG ZULASTEN DER NATUR                                 (BNatSchG) entsprechend in nationales Recht umgesetzt. So
ßend entwickelte der BWE zusammen mit sieben Verbänden im              Als Folge des politischen Drucks wurde von Bundeswirtschafts-             ist nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG jede Tötung von besonders
September 2019 ein 10-Punkte-Papier für den Ausbau der Wind-           minister Peter Altmaier (CDU) im Oktober 2019 ein Arbeits-                geschützten Arten verboten. Mit der Ergänzung eines Signifi-
energie mit Vorschlägen zur Gewährleistung von Flächenverfüg-          plan zur „Stärkung des Ausbaus der Windenergie an Land“ ver-              kanzkriteriums (§ 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1) wurde dem Tötungs-
barkeit, Handhabbarkeit naturschutzrechtlicher Vorgaben und            öffentlicht. Die darin vorgesehenen Maßnahmen zur                         verbot bereits 2017 eine Abwägung zugänglich gemacht und
Stärkung der Akzeptanz vor Ort (BDEW et al. 2019). Der Bundes-         Beschleunigung von Genehmigungen umfassen u. a. auch die                  somit seine tatsächliche rechtliche Wirkung empfindlich ge-
verband für Fledermauskunde (BVF) macht in seiner Stellungnah-         „Aufnahme eines weiteren Ausnahmegrundes beim Artenschutz                 schwächt. Der Tatbestand des Tötungsverbots geschützter Ar-
me daraufhin nochmals deutlich, dass Klimaschutz nicht gleich          für den Ausbau von erneuerbaren Energien in § 45 Abs. 7 Nr. 4             ten gilt als nicht erfüllt,
Artenschutz ist und verwehrt sich gegen den Versuch des Aus-           BNatSchG“ sowie die „Sicherstellung einer einheitlichen Anwen-
spielens beider Schutzgüter gegeneinander (BVF 2019). Dieser           dung von Naturschutzrecht durch eine Technische Anleitung zum             � wenn die den geschützten Tieren drohende Gefahr durch
Position schließt sich der Autor vollinhaltlich an:                    Artenschutz (TA Artenschutz), Verankerung des Populationsan-                das Vorhaben in einem Bereich verbleibt, der mit dem stets
                                                                       satzes“ (BMWi 2019).                                                        bestehenden Risiko vergleichbar ist, dass einzelne
„Das jüngst von Verbänden aufgestellte 10-Punkte-Papier für den                                                                                    Exemplare einer Art im Rahmen des allgemeinen
Ausbau der Windenergie priorisiert aus Sicht des Bundesverbands für    Nach § 45 Abs. 7 Nr. 4 BNatSchG kann eine Ausnahme auch im                  Naturgeschehens Opfer einer anderen Art werden.
Fledermauskunde Deutschland e. V. (BVF) unverhältnismäßig den          Interesse der „maßgeblich günstigen Auswirkungen auf die
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
12                                                                                                                                                   13

                           � wenn die Beeinträchtigung bei Anwendung der gebotenen,           fragwürdiger „landesspezifischer Besonderheiten“ immer wei-
                             fachlich anerkannten Schutzmaßnahmen nicht vermieden             ter zugunsten einer Machbarkeit von Vorhaben angehoben
                             werden kann.                                                     werden (siehe z. B. Umgang mit Dichtezentren von Arten).

                           Mit dem UMK-Beschluss (UMK 2020 a) für „einen Rahmen zur           Dieser aus artenschutzfachlicher Sicht sehr fragwürdige Weg
                           Bemessung von Signifikanzschwellen zur Ermittlung einer signi-     wird von der UMK mit den auf ihrer Sonder-Umweltministerkon-
                           fikanten Erhöhung des Tötungsrisikos im Hinblick auf tötungs-      ferenz vom 11. Dezember 2020 gefassten Beschlüssen weiterhin
                           gefährdete Vogelarten an WEA“ wird ein Weg eingeschlagen,          beschritten (UMK 2020 b). Der Signifikanzrahmen wird dabei
                           der dazu führt, dass die Auswirkungen der Windenergieanlagen       von ihr durch die gleichzeitige Vorlage eines standardisierten Be-
                           auf Arten nicht länger auf Ebene der Individuen, sondern nur       wertungsrahmens zur Ermittlung einer signifikanten Erhöhung
                           noch auf der Populationsebene betrachtet werden. In der Kon-       des Tötungsrisikos im Hinblick auf Brutvogelarten an Windener-
                           sequenz bedeutet ein derartiges Denken: Solange durch den          gieanlagen an Land vorgegeben (UMK 2020 c). In allen Fällen,
                           Betrieb einer Windenergieanlage die Erhaltung des örtlichen        angefangen bei der Auswahl der kollisionsgefährdeten Brutvogel-
                           Vogelvorkommens als nicht gefährdet eingestuft wird, sind die      arten mit „besonderer Planungsrelevanz“ über die Verringerung
                           Individuen, die nicht unbedingt zur Erhaltung notwendig sind,      der fachlich belegten Mindestabstände zu den Brutplätzen, die
                           als „Kollateralschäden“ der Windenergieerzeugung zu tolerie-       zu „Regelabständen“ mit Abweichungsmöglichkeiten werden,
                           ren. Mit einem solchen Ansatz werden jedoch die kumulativen        sowie der Betonung von länder- und ortsspezifischen Beurtei-
                           Effekte mehrerer Windparks ignoriert. Gleichermaßen wird die       lungsspielräumen (UMK 2020 c), wird dies nicht zur Stärkung,
                           Bedeutung einzelner Individuen für den langfristigen Populati-     sondern zur weiteren Schwächung der Artenschutzbelange bei
                           onserhalt unterschätzt. Beispielsweise wird die Relevanz des       Planung, Bau und Betrieb von WEA führen.
                           Anteils fortpflanzungsfähiger, erfahrener Tiere gegenüber un-
                           erfahrenen Jungtieren nur unzureichend berücksichtigt oder         Der eingeschlagene Weg, den politisch festgelegten Klimazielen
                           die Rolle von Individuen, die beim Ausfall eines Partners in das   Vorrang vor den erforderlichen Artenschutzbelangen einzuräu-
                           Fortpflanzungsgeschehen einbezogen werden, nicht ausrei-           men, wird durch zwei Protokollerklärungen im Papier der Sonder-
                           chend bedacht. Auch kann ein solcher Ansatz der Problematik        UMK deutlich. Während unter dem Konferenzvorsitz von Hessen
                           wandernder und ziehender Vogel- und Fledermausarten (u. a.         alle anderen Bundesländer außer Bayern und Nordrhein-Westfa-
                           im Hinblick auf die Erfassung/Abgrenzung von Populationen)         len die grundsätzliche „Neujustierung“ unterschiedlichster
                           nicht gerecht werden. Damit bleibt es äußerst fraglich, ob bei     Schutzgüter zur Erreichung der Klimaziele für erforderlich halten
                           dieser Vorgehensweise die bereits heute stark gefährdeten, oft     (UMK 2020 b), was im Klartext wohl das Hintanstellen von Arten-
                           nur noch in kleinen Kopfzahlen und/oder bereits in stark iso-      schutzzielen bedeutet, sehen nur die Bundesländer Bayern und
                           lierten Populationen vorkommenden Arten, bei denen heute           Nordrhein-Westfalen den Schutz des Klimas und der biolo-
                           schon jedes einzelne Individuum zählt (z. B. Schreiadler), lang-   gischen Vielfalt in ihrer Protokollerklärung als gleichwertig an: „Kli-
                           fristig zu erhalten sind. Von WEA stark betroffene, migrierende    maschutz und der Erhalt der biologischen Vielfalt müssen gemeinsam
                           Arten, wie der Große Abendsegler, ist mit einem solchen, wohl      angegangen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bei-
                           eher räumlich eng gefassten Populationsansatz nicht geholfen.      de Schutzgüter sind untrennbar miteinander verbunden. Ziel muss
                           Auch kann diese Methode dazu führen, dass auf Bundeslän-           eine naturverträgliche Ausgestaltung der Energiewende in Einklang
                           derebene die Signifikanzschwellen unter Begründung fachlich        mit Natur- und Artenschutz sein“ (UMK 2020 b).

Rotmilan (Milvus milvus)
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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Ob die Beschlüsse der UMK geltendem europäischen Recht                 sind anwendbar), der allerdings noch nicht abschließend geklärt
entsprechen, ist zu prüfen. Bei der Erteilung von Ausnahmen            sei und der Einschätzung des Gerichtshofes der Europäischen
vom Tötungsverbot nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG               Union obliege (Gellermann 2020).
bestätigt ein aktuelles Gerichtsurteil den Vorrang des europä-
ischen Rechts. So wurde die Genehmigung für den Windpark               Ausnahmen vom Tötungsverbot können nach Gellermann zugun-
„Butzbach“ (Hessen), die mithilfe einer artenschutzrecht-              sten der Windkraftnutzung weder auf § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 5
lichen Ausnahmegenehmigung vom Tötungsverbot erteilt                   BNatSchG noch auf § 45 Abs. 7 S. 1 Nr. 4 BNatSchG („öffentliche
wurde, mit Verweis auf die abschließenden Vorgaben der Vo-             Sicherheit“) gestützt werden, weil Windenergieanlagen die Vo-
gelschutzrichtlinie und der Beurteilung, dass ein solcher Aus-         raussetzungen dieser unionsbasierten Vorschriften nicht erfüllten.
nahmetatbestand damit nicht vereinbar sei, revidiert (Verwal-
tungsgericht Gießen am 22.1.2020). Ebenso urteilte das                 Trotz der geltenden Unsicherheit wollte das Bundeswirt-
Gericht, dass Ausnahmen nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4                  schaftsministerium die neuen Maßstäbe zulasten des Arten-
BNatSchG („öffentliches Interesse“) ebenfalls nicht mit dem            schutzes in die Tat umsetzen. Mit der Erweiterung des § 1 des
EU-Recht vereinbar seien, da die Voraussetzungen dieser uni-           EEG sollten in einem neuen Absatz 5 Ziel und Zweck des Ge-
onsbasierten Vorschriften nicht erfüllt seien.                         setzes und so auch der Nutzung erneuerbarer Energien neu
                                                                       definiert werden. Demnach sollte Windkraft im „öffentlichen
Ausnahmetatbestand (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG)                 Interesse“ liegen und der „öffentlichen Sicherheit“ dienen.
Besteht ein signifikantes Tötungsrisiko (nach § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr.   Eine solche Definition sollte die (weiterhin unionsrechtswid-
1), so kann in Ausnahmefällen eine Genehmigung erteilt werden.         rigen) Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme
Diese stützt sich in den meisten Fällen auf § 45 Abs. 7 Nr. 4 und      nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 und § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5
Nr. 5 BNatSchG, wonach im Interesse der öffentlichen Sicherheit        BNatSchG schaffen. Auf politischen Druck, insbesondere der
sowie aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öf-             Naturschutzinitiative e. V., wurde dieser Passus wieder aus
fentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirt-       dem Gesetzentwurf gestrichen. Offensichtlich hatte das Mi-
schaftlicher Art weitere Ausnahmen zu den Vorschriften für be-         nisterium erkannt, dass auch diese Änderung unionsrechts-
sonders geschützte Arten nach § 44 BNatSchG erlassen werden.           widrig gewesen wäre. Dass die Versuche, vorhandene recht-
                                                                       liche Klippen zwischen EU-Recht und Bundesnaturschutzgesetz
Die Rechtssicherheit eines solchen Ausnahmetatbestandes ist            zugunsten des WEA-Ausbaus zu umschiffen, weitergehen,
nicht eindeutig belegt. Im Gegenteil: Ein aktuelles Urteil des         zeigt etwa das KNE-Rechtsgutachten zu Artenschutz und Eu-
Verwaltungsgerichts Gießen bestätigt die vorrangige Handha-            roparecht im Kontext der Windenergie. In diesem Gutachten
bung des geltenden EU-Rechts mit Berufung auf die EU-Vogel-            schlägt der Autor (E. Hofmann) als Inhaber des Lehrstuhls Öf-
schutzrichtlinie (2009/147/EG, VRL). Der in § 45 Abs. 7 S. 1 Nr.       fentliches Recht, insbesondere Umweltrecht, und Leiter des
5 BNatSchG genannte Ausnahmegrund der „anderen zwin-                   Forschungsschwerpunkts „Recht des Klimawandels“ an der
genden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“            Universität Trier letztendlich eine (Vogelschutz-) „richtlinien-
findet sich in dem Kriterienkatalog § 9 Abs. 1 VRL nicht (Verwal-      konforme Reduktion des BNatSchG“ vor (KNE 2020 a).
tungsgericht Gießen am 22.1.2020). Zu diesem Entschluss
kommt auch der Autor einer rechtswissenschaftlichen Stel-              Für den Artenschutz und die Erhaltung der biologischen Vielfalt
lungnahme im Auftrag der Naturschutzinitiative e. V. (NI) und          wäre die Unterhöhlung der erforderlichen Schutzvorschriften
verweist auf einen Normenkonflikt (mehrere Rechtsnormen                zugunsten einer sehr weitreichenden Privilegierung der Winde-
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
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nergie fatal. Wenn das Bundesumweltministerium zusammen            Windenergie und Biodiversität
mit dem Bundesamt für Naturschutz in ihrem jüngsten Bericht        „Eine überwiegende Mehrheit hält die Stromproduktion aus Winde-
zur Lage der Natur (BMU & BfN 2020) feststellen, dass, neben       nergie nicht für wichtiger als die Erreichung der Biodiversitätsziele,
vielen anderen maßgeblichen Ursachen, auch Windenergiean-          und sie sieht die globale Erwärmung auch nicht als drängenderes Pro-
lagen sich negativ auf die Biodiversität in Deutschland auswir-    blem an als die Biodiversitätskrise. Die Vertreter der Windenergie ha-
ken und im Katalog der wichtigsten Beeinträchtigungen für Ar-      ben zu diesen Aspekten zumindest teilweise eine gegensätzliche Auf-
ten und Lebensräume genannt sind, ist dieser Befund beim           fassung. Über alle Akteursgruppen hinweg gibt es deutliche
Ausbau der Windenergie zu berücksichtigen.                         Zustimmung, dass es mehr Anstrengungen für die Vereinbarkeit von
                                                                   Windenergieausbau und Biodiversitätszielen geben müsse.“
EXPERTEN FORDERN MEHR ARTENSCHUTZ
Die jüngst vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierfor-          Möglicher Beitrag der Windenergie zum Biodiversitätsschutz
schung (IZW) veröffentlichte Umfrage zum Thema Winde-              „Fast alle Teilnehmenden (90 Prozent) halten es für akzeptabel,
nergie, Energiewende und Naturschutz macht deutlich, dass          dass zur Erreichung von Biodiversitätszielen die Betreiber von Wind-
ein bisher nicht gelöster Konflikt zwischen einem Ausbau der       energieanlagen Ertragsverluste (durch Schutzabschaltungen) hin-
Windenergie und dem Naturschutz, hier fokussiert auf den           nehmen müssen. Dies lehnen die Teilnehmenden der Windenergieb-
Schutz von Fledermäusen, besteht.                                  ranche überwiegend ab. Eine Mehrheit hält zeitliche Verzögerungen
                                                                   beim Ausbau der Windenergie für hinnehmbar, wenn dadurch Bio-
An der Befragung zu Meinungen und Einschätzungen zur               diversitätszielen besser Rechnung getragen wird. Folgende konkrete
Windenergie in der Energiewende und den damit möglichen            Maßnahmen erhalten die meiste Unterstützung, um den Konflikt
Konflikten zwischen Klimaschutz und Biodiversitätsschutz ha-       zwischen Stromproduktion durch Windenergie und Fledermaus-
ben sich rund 500 Personen beteiligt, die in Genehmigungs-         schutz zu minimieren: ‚Mehr Forschung‘ (68 Prozent), ‚Energie-
verfahren von Windenergieanlagen involviert sind. Darunter:        Einsparungen‘ und ‚kontextabhängige Abschaltungen“ (jeweils 61
Naturschutzbehörden, NGOs, Vertreter der Wissenschaft und          Prozent), ‚mehr Energie aus Photovoltaik und anderen erneuerbaren
Mitglieder der Windenergie-Branche (Voigt et al. 2019). Das        Quellen‘ (53 Prozent). Eine ‚stärkere Kommunikation zwischen den
Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende weist da-            Akteursgruppen‘ und ein ‚strengeres Rechtsregime‘ unterstützen
rauf hin, dass die Umfrage hinsichtlich der Verteilung der Teil-   nur jeweils die Hälfte der Befragten.“
nehmenden auf die Interessengruppen zwar nicht repräsenta-
tiv ist, fasst die Tendenzen des Befragungsergebnisses aber wie    Möglicher Beitrag der Gesellschaft zum Biodiversitätsschutz
folgt zusammen (KNE 2020 b):                                       „Jeweils über die Hälfte der Antworten aller Akteursgruppen sieht
                                                                   auch die Gesellschaft in der Verantwortung, zur Finanzierung von
Windenergie, Energiewende und Naturschutz                          Artenschutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Stromerzeu-
„Die Mehrheit der Befragten befürwortet eine naturverträgliche     gung aus erneuerbaren Energien beizutragen – etwa durch Auf-
Energiewende und sieht in der Windenergie eine Schlüsseltechno-    wendung von Steuergeldern.“
logie für den Erfolg der Energiewende. Dagegen findet die Aussa-
ge, dass die Energiewende zum Artenschutz beiträgt, nur einge-     Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Konflikt zwischen
schränkte Zustimmung und wird so nur von den Teilnehmern aus       Windenergie und Naturschutz, hier dem Fledermausschutz, sehr
der Windbranche gesehen.“                                          wohl besteht und von den Befragten ein größeres Engagement im
                                                                   Biodiversitätsschutz gefordert wird; dies auch auf Kosten von zeit-
                                                                   lichen Verzögerungen beim Ausbau der Windenergie.

                                                                                                                                            Kleine Hufeisennase (Rhinolophus hipposideros)
Windenergie im Lebensraum Wald GEFAHR FÜR DIE ARTENVIELFALT SITUATION UND HANDLUNGSBEDARF - Deutsche Wildtier Stiftung
18                                                                                                                                                                                                                                                                 19

                                                                                                                                  Lösungsansätze und Spannungsfelder

                                                                                                                                  Um einen naturverträglichen Ausbau der Windenergie an Land zu       Unzureichende Umsetzung von Fachstandards
                                                                                                                                  sichern und artenschutzrechtliche Konflikte zu entschärfen, haben   Obwohl alle naturschutzfachlichen Argumente sowie das Erfor-
                                                                                                                                  Experten Instrumente und Lösungsansätze entwickelt, die bei der     dernis einheitlicher Methodenstandards bei der Erfassung und
                                                                                                                                  Planung von Windkraftanlagen zu berücksichtigen sind. Aufgrund      Beurteilung WEA-sensibler Vogelarten für einen bundeseinheit-
                                                                                                                                  mangelnder Verbindlichkeit werden diese Anforderungen zum           lichen Umgang mit dem Helgoländer Papier sprechen (LAG VSW
                                                                                                                                  Schutz der Tierwelt allerdings nur unzureichend umgesetzt.          & BfN 2020), zeichnet sich dieser bislang immer noch nicht ab.
                                                                                                                                                                                                      Auf Länderebene wird der Umgang mit den Abstandsempfeh-
                                                                                                                                  DAS HELGOLÄNDER PAPIER                                              lungen der LAG VSW (2015) nach wie vor stark uneinheitlich
                                                                                                                                  Seit 2007 gilt das Helgoländer Papier der Länderarbeitsgemein-      gehandhabt (siehe Beispiel Rotmilan Tab. 1). Einige Bundesländer
                                                                                                                                  schaft der Vogelschutzwarten als Maßstab zur Beurteilung der        haben nach der Neufassung des Helgoländer Papiers 2015 ihre
                                                                                                                                  Auswirkungen geplanter Windenergieanlagen auf windkraftsen-         landesspezifischen Abstandsempfehlungen angepasst. Jedoch ist
                                                                                                                                  sible Arten und deren Lebensräume in der Planungs- und Geneh-       es in allen Bundesländern möglich, WEA auch innerhalb der von
                                                                                                                                  migungsphase. Eine aktualisierte Fassung unter Berücksichtigung     der LAG VSW (2015) als Mindestabstände bezeichneten Radien
                                                                                                                                  des neuesten Stands der Wissenschaft ist seit 2015 anerkannt.       mit dazu uneinheitlichen Vorgaben zu genehmigen (FA Wind
                                                                                                                                  Im Kern definiert das Papier Mindestabstände von Windenergie-       2017b). Ein Blick auf die Handhabung am Beispiel des Rotmilans
                                                                                                                                  anlagen zu den Brutplätzen sensibler Vogelarten. Ungeachtet der     verdeutlicht die damit einhergehende Problematik (siehe Tab. 1).
                                                                                                                                  Tatsache, dass das Papier als Fachkonvention anerkannt ist, sind
                                                                                                                                  die Empfehlungen jedoch nicht bindend und werden in Bezug auf
                                                                                                                                  deren Rechtssicherheit kontrovers diskutiert.

 Die Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten
 Die Vogelschutzwarten (VSW) sind in Deutschland als        staatlichen Fachgremien in Deutschland ist. Ihre erste Ta-
 Fachbehörden der Länder für den ornithologischen Arten-   gung fand 1936 in Berlin statt. Mitglieder der LAG VSW
 schutz zuständig. Zu ihren Aufgaben gehört es insbeson-    sind die staatlichen Vogelschutzwarten der Länder bzw. die
 dere, fachliche Grundlagen für den Artenschutzvollzug      für den Vogelschutz zuständigen Fachbehörden. Partner
 (siehe z. B. Helgoländer Papier LAG VSW 2007, 2015) und    und zu den Sitzungen ständig geladene Gäste sind das Bun-
 die Koordination avifaunistischer Erfassungen (siehe LAG   desamt für Naturschutz (BfN), der Bundesverband für
 VSW & BfN 2020) zu erarbeiten. Dabei besteht eine enge     Wissenschaftlichen Vogelschutz, der Dachverband Deut-
 Zusammenarbeit innerhalb der Länderarbeitsgemeinschaft    scher Avifaunisten, der Deutsche Rat für Vogelschutz und
 der Vogelschutzwarten (LAG VSW), die eines der ältesten    die Luxemburger Natur- und Vogelschutzliga.

                                                                                                     Mäusebussard (Buteo buteo)
20                                                                                                                           21

                               Tab. 1: Abweichende Regelungen der Abstandsempfehlungen der LAG VSW (2015) für den
                               Rotmilan in einigen Bundesländern (Stand Januar 2020)

                                Bundesland               Mindestabstand zwischen                 Prüfbereich (Nahrungshabitate und
                                                         Brutplatz und WEA (LAG VSW              Flugkorridore, LAG VSW 2015): 4.000 m
                                                         2015): 1.500 m
                                Baden-Württemberg        1.000 m (gilt nur bei Dichtezentren)    kein Prüfbereich festgelegt

                                Brandenburg              1.000 m                                 kein Prüfbereich festgelegt

                                Hessen                   1.000 m                                 6.000 m

                                Mecklenburg-Vorpommern   1.000 m                                 2.000 m

                                Nordrhein-Westfalen      1.000 m                                 6.000 m

                                Sachsen                  1.500 m (nur als Prüfbereich 1)         4.000 m

                                Thüringen                1.250 m, nur in Dichtezentren 1.500 m   4.000 m

Weißstorch (Ciconia ciconia)
22                                                                                                                                     23

Dass die Mindestabstandsempfehlung von Windenergieanla-         Schutz nur in Dichtezentren reicht nicht aus
gen zu Rotmilan-Brutplätzen mit 1.500 Metern keineswegs         Um die fachlich belegte Empfehlung der Länderarbeitsgemein-
zu hoch gegriffen ist, belegen beispielsweise die in Hessen     schaft der Vogelschutzwarten (LAG VSW, 2015) zu einem Min-
2008 und 2012 bis 2014 an elf Brutvögeln durch unterschied-     destabstand von 1.500 Metern zwischen Rotmilanbrutplatz
liche Besenderung (GPS, Logger, Argos) erfassten Aktivitäts-    und WEA zu umgehen, setzen einige Bundesländer in ihren
muster. Während der Brutzeit lagen 75 % aller Ortungen in-      Leitfäden zur Lösung des Konflikts zwischen der Windenergie
nerhalb eines Radius von 2.200 Metern um das Nest. WEA in       und dem Artenschutz vermehrt darauf, Dichtezentren mit ge-
diesem Bereich können damit zu einem signifikant erhöhten       häuften Brutvorkommen abzugrenzen. Um die Verluste durch
Tötungsrisiko führen. Eine aktuelle, dreijährige Studie mit     Kollisionen mit WEA in benachbarten Gebieten zu kompensie-
sechs besenderten Rotmilanen im Naturraum Vogelsberg            ren, sollen Quellpopulationen des Rotmilans besser geschützt
(Hessen), der sowohl einen landesweiten Verbreitungs-           werden. Damit wird den Empfehlungen der LAG VSW (2015)
schwerpunkt der Art darstellt als auch eine hohe WEA-Dich-      durchaus gefolgt. Der Schutz der Quellpopulationen ist beson-
te aufweist, zeigt, dass die Rotmilane überwiegend in Höhen     ders bei langlebigen Großvogelarten, die eine geringe Repro-
von weniger als 100 Metern flogen (81 % der Flüge, 72 % un-     duktionsrate in Verbindung mit einem späten Eintritt in die
ter 75 Meter), wobei die Flughöhen von der Balz bis zur Auf-    Geschlechtsreife und einer großen Reviertreue auszeichnet,
zuchtzeit der Küken abnahmen. Es wurden weder ganze             wichtig. Bei diesen K-selektionierten Arten können bereits ge-
Windparks noch einzelne WEA umflogen. Offensichtliche           ringe Steigerungen der Mortalität rasch zu überregionalen Be-
Ausweichbewegungen zu WEA waren nicht zu erkennen.              standsabnahmen führen. Die schrittweise Entwertung des Ge-
Während zur Klärung der Hauptfragestellung hinsichtlich der     samtlebensraums durch verschiedene Windparks und vor
Zusammenhänge zwischen Wetter, Landnutzung und Flug-            allem die Summation mit zusätzlichen, anthropogenen Morta-
verhalten (Flughöhe, Aktionsradius) die erhobenen Daten         litätsursachen, kann sich mittelfristig auf die Populationsent-
eine gesicherte statistische Auswertung zuließen, war die Da-   wicklung dieser K-Strategen so stark auswirken, dass sich ihr Erhal-
tenlage für eine statistische Auswertung des Flugverhaltens     tungszustand auf Populationsniveau verschlechtert (siehe auch
im unmittelbaren WEA-Bereich zu gering. Die Autoren konn-       Kolbe et al. 2019). Und das trotz Einhaltung aller naturschutzfach-
ten im gesamten Untersuchungszeitraum unter Berücksichti-       lichen Vorgaben in jedem einzelnen Genehmigungsverfahren. Zur
gung der Flughöhen und Flugrichtung zwar keine Flüge der        Vermeidung dieser kumulativen Effekte, die hier v. a. windenergie-
besenderten Tiere im unmittelbaren Gefahrenbereich der          sensible Großvogelarten betreffen, „ist es wichtig, dass langfristig
WEA in Form von Durchflügen durch drehende Rotoren fest-        ausreichend große WEA-freie Räume zur Sicherung von Quellpopula-
stellen, verweisen aber auf die Erfordernis weiterer Untersu-   tionen erhalten bleiben“ (LAG VSW, 2015).
chungen (Heuck et al. 2019). Dass trotz dieser Ergebnisse die
Kollisionsverluste von Rotmilanen an WEA gerade auch im         Wie die Handhabung in Baden-Württemberg zeigt, wird auf den
Naturraum Vogelsberg bedenklich hoch sind, belegt die zen-      weiteren Ausbau von WEA jedoch selbst innerhalb der Dichte-
trale Funddatei der Vogelschutzwarte Brandenburg. Mit           zentren nicht unbedingt verzichtet. Anstelle der Mindestab-
Stand vom 7.1.2020 wurden von den 59 Kollisionsopfern des       standsempfehlung der LAG VSW (2015) von 1.500 Metern zu
Rotmilans in Hessen 25 im Landkreis Vogelsberg, davon wie-      WEA gilt eine 1.000-Meter-Abstandsregelung, die dann durch
derum 19 aus Gebieten mit hohen WEA-Dichten registriert         Raumnutzungsanalysen bei geringerer Frequentierung der Flä-
(Dürr & Langgemach 2020).                                       chen um geplante WEA noch weiter unterschritten werden
                                                                kann (Tab. 1). Und während bisher für Baden-Württemberg ein
24                                                                                                                                                                                                          25

Dichtezentrum mit dem Vorkommen von mindestens vier Re-             erhalten oder wiederhergestellt und ihre Bestände als dauerhaft     Die Verfasser dieses Beschlusses betonen, dass dafür eine objek-
vierpaaren im 3,3-Kilometer-Radius um eine geplante WEA             überlebensfähige Populationen gesichert werden. Für das Vor-        tive und nachvollziehbare Sachverhaltsermittlung Vorausset-
definiert war, wurde der Schwellenwert durch die Landesre-          kommen jeder Vogelart, für die ein SPA ausgewiesen wurde, hat       zung ist, die sich an fachlichen Maßstäben orientiert. LAG VSW
gierung Anfang 2020 auf sieben (!) Revierpaare angehoben.           das jeweilig zuständige Bundesland dafür zu sorgen, dass das Vor-   & BfN (2020) stellen fest, dass fast alle Bundesländer zwar Ar-
Die Begründung zu diesem Schritt lieferte der Umweltmini-           kommen der Art in einem günstigen Erhaltungszustand ist bzw. in     beitshilfen zur Erfassung der Avifauna bei WEA-Genehmigungs-
ster Franz Untersteller (Grüne): „Das ist eine gute Lösung, um      einen solchen durch entsprechende Maßnahmen überführt wird.         verfahren haben, die dabei vorgeschlagenen Erfassungsmetho-
– wie bisher auch – beides miteinander in Einklang zu bringen:      Die LAG VSW (2015) hat deshalb auch Abstandsempfehlungen            den allerdings viele Fragen offenlassen bzw. zum Teil stark
Artenschutz und den Ausbau der Windenergie.“ Dass beides mit        von Windenergieanlagen zu bedeutenden Vogellebensräumen             voneinander abweichen. Außerdem mangele es an Bewertungs-
dem Ansatz der Dichtezentren möglich ist, habe die starke           vorgeschlagen. Sofern sensibel auf Windenergieanlagen reagie-       ansätzen, die eine objektive bzw. vergleichbare Beurteilung des
Zunahme des Rotmilanbestands in Baden-Württemberg be-               rende Vogelarten den Schutzzweck des SPA darstellen, sollten        Sachverhalts erlauben. „Diese für die Fachplanung und den Verwal-
wiesen (MUKE 2020).                                                 WEA erst in einer Entfernung der zehnfachen Anlagenhöhe oder        tungsvollzug im gleichen Maße unbefriedigende Ausgangslage bil-
                                                                    mindestens 1.200 Meter von der SPA-Grenze entfernt errichtet        dete den Anstoß für das Forschungs- und Entwicklungsvorhaben
Diese Vorgehensweise ist rechtlich nicht haltbar und fachlich fa-   werden. Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollte dem Gebietsschutz      (FuE-Vorhaben), Avifaunistische Methodenstandards für WEA-
tal. Sie hebelt § 44 BNatSchG praktisch aus und berücksichtigt in   für SPA vom Plangeber im Zuge der Regionalplanung bereits ein       Genehmigungsverfahren (FKZ 3514823800). Dessen Ziel war die
keiner Weise die kumulativen Wirkungen eines fortschreiten-         Vorrang eingeräumt werden, indem SPA einschließlich der ggf.        Entwicklung eines Vorschlages für eine bundesweit abgestimmte
den Windenergieausbaus auf Rotmilanpopulationen, die dann           erforderlichen Schutzabstände von vornherein einer Windener-        Fachempfehlung.“ (LAG VSW & BfN 2020).
bei Überschreitung bestimmter Ausbaudichten zurückgehen (s.         gienutzung als Tabuflächen entzogen werden (siehe Jaehne & Häl-
o. und Katzenberger & Sudfeldt 2019). Wie Hermann & Heuck           terlein 2017). Doch davon sind viele Bundesländer noch weit ent-    Das erst jetzt zum Abschluss gekommene Vorhaben zeigt über-
(2019) am Seeadler als weitere hoch kollisionsgefährdete Greif-     fernt. Immerhin fünf Bundesländer erlauben den Bau von              deutlich, dass die in den Bundesländern bisher praktizierte und
vogelart zeigen, kann das planerische Freihalten der Kernverbrei-   Windenergieanlagen in Vogelschutzgebieten (siehe Tab. 2).           nicht nur in der vorliegenden Studie kritisierte Vorgehensweise
tungsgebiete des Seeadlers von WEA die bisherigen Regelungen                                                                            in keiner Weise ausreichend ist. Der ausdrückliche Hinweis auf
zu Mindestabständen ergänzen, aber nicht ersetzen. Schließlich      FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSVORHABEN                                die fachliche und nachweisbare Qualifikation der Gutachter so-
erfordern die artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände des         Mit diversen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben unter-            wie die Anforderungen an die avifaunistischen Untersuchungen
BNatSchG mit § 44 Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der je-              nehmen die zuständigen Umweltbehörden, das Bundesum-                inklusive der Unterscheidung von Habitatpotenzialanalyse und
weils betroffenen Art. Beim Rotmilan, für den Deutschland auf-      weltministerium und das Bundesamt für Naturschutz, einen            darauf aufbauender Raumnutzungsanalyse sind weitere Belege
grund des Verbreitungsgebietes eine besondere Verantwortung         weiteren Versuch, die Umsetzung einheitlicher Fachstandards         für eine bisher eher lücken- und fehlerhafte naturschutzfach-
hat, müssten seine Dichtezentren konsequent von WEA freige-         in den einzelnen Bundesländern zu etablieren. Dabei bleiben         liche Beurteilung von WEA-Vorhaben.
halten und die erforderlichen Mindestabstände um alle Brutvor-      die Abstandsempfehlungen der LAG VSW (2015) mit dem
kommen eingehalten werden. Dass dies bis heute nicht ge-            gemeinsamen Beschluss von LAG VSW und BfN (Beschluss                Auch der Bestandsschutz für Horste von windenergiesen-
schieht, zeigen die abweichenden Regelungen einiger                 19/02) die wichtigsten avifaunistischen Fachstandards, indem        siblen Großvogelarten wird von den einzelnen Bundesländern
Bundesländer zu den Abstandsempfehlungen der LAG VSW                sie „einen allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft darstel-    unterschiedlich behandelt (Tab. 3 und 4). In den überwie-
(2015), siehe Tab. 1.                                               len (VGH München, Urteil vom 29.3.2016 – 22 B 14.1875, 22 B         genden Fällen folgen die Bundesländer den Empfehlungen
                                                                    14.1876 Rn. 45) und die Basis für die „Transformationsakte“ der     von LAG VSW & BfN (2020) nicht.
VOGELSCHUTZGEBIETE                                                  Länder (Leitfäden, Fachbeiträge, Handreichungen, Erlasse u. Ä.)
Mit der Ausweisung von Europäischen Vogelschutzgebieten             bilden. Bei Einhaltung dieser Empfehlungen dürfen Planungsträ-
(Special Protection Areas = SPA) im Rahmen von Natura-              ger und Genehmigungsbehörden in der Regel davon ausgehen,
2000-Schutzgebieten sollen die Lebensräume der in Anhang I          dass artenschutzrechtliche Verbote nicht berührt sind“ (nach
der Vogelschutzrichtlinie genannten europäischen Vogelarten         LAG VSW & BfN 2020).
26                                                                                                                                                                                                                                                                27

Tab. 2: Ländervergleich im Umgang mit Genehmigungsverfahren von Windenergieanlagen (WEA)
in Vogelschutzgebieten (VSG), Stand Mai 2020

 Bundesland               Zulässigkeit   Ausnahmeregelungen

 Baden-Württemberg        ja             mittels Prüfung im Einzelfall möglich

 Bayern                   nein           nur mit entsprechender Ausnahmegenehmigung eventuell möglich

 Brandenburg              nein           In Brandenburg nicht angestrebt. Jedoch kann eine Verträglichkeitsprüfung nach § 34
                                         BNatSchG in das Planungsverfahren integriert werden. Lässt diese eine erhebliche
                                         Beeinträchtigung nicht erwarten, so kommt eine Windenergienutzung, ggf. i. V. m.
                                         Auflagen in Betracht.

 Hessen                   ja             Mittels Ausnahme möglich. Wird anhand des Konfliktpotenzials „Windenergienutzung
                                         in EU-Vogelschutzgebieten“ (Tabelle Leitfaden) abgewogen.

 Mecklenburg-Vorpommern   nein           Ausschlussbereich für Windenergieanlagen

 Niedersachsen            ja             Hartes Tabukriterium, jedoch im Einzelfall, wenn den Schutzzwecken des VSG nicht
                                         widersprochen wird, ist eine Ausnahme möglich.                                         Beispiel Vogelsberg
 Nordrhein-Westfalen      nein           Erlass schließt WEA in VSG aus (hartes Tabukriterium).
                                                                                                                                Seitens einiger Windenergiebetreiber werden immer wieder        Schwarzstorch-Bestand in den anderen hessischen Gebieten
 Rheinland-Pfalz          ja             Mittels Ausnahme möglich. Wird anhand des Konfliktpotenzials „Windenergienut-          Versuche unternommen, die belegten Risiken für Vögel an         stabil oder nur leicht rückgängig. Dies zeigt die Auswertung
                                         zung in EU-Vogelschutzgebieten“ (Tabelle Leitfaden) abgewogen. Die Gebiete sind je
                                                                                                                                WEA durch eigene Untersuchungen oder die Neuinterpreta-         seiner Bestandsentwicklung. Nach dem Zwölf-Jahres-Trend
                                         nach Konfliktpotenzial in die drei Kategorien „gering“, „mittelhoch“ und „sehr hoch“
                                         – ähnlich einem Ampelschema – klassifiziert.                                           tion von Daten infrage zu stellen. Ein Beispiel liefert ABO-    (2006 bis 2014) nahm die Zahl der Schwarzstorch-Brutpaare
                                                                                                                                Wind mit der Schrift „Friedliches Nebeneinander von Wind-       in Hessen pro Jahr um ein bis drei Prozent ab. Auch wenn im
 Saarland                 nein           Natura-2000-Gebiete sollen von der Windenergienutzung freigehalten werden.                                                                             Vogelsberg der rasante Ausbau der Windenergie selbst von
                                                                                                                                energie und Schwarzstorch – Stabile Populationen/
                                         Ferner wird ein Abstand von 200 Metern empfohlen.
                                                                                                                                Kollisionen extrem selten/exorbitante Abstandsempfeh-           einzelnen Naturschutzvertretern nicht als singulärer Grund
 Sachsen                  ja             Nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Mittels Ausnahmeprüfung im Einzelfall möglich.     lungen unbegründet“. Einem Faktencheck kann dieser Ver-         für den sehr starken Rückgang der dortigen Brutpopulation
 Sachsen-Anhalt           nein           ausgeschlossen (jedoch im Einzelfall, wenn den Schutzzwecken des VSG nicht             such der Bagatellisierung eines Problems allerdings nicht       gesehen wird, bleibt festzuhalten, dass der Bruterfolg bei die-
                                         widersprochen wird, ist eine Ausnahme möglich)                                         standhalten. So nahm die Schwarzstorch-Population im Vo-        ser Art mit der längeren, mehrjährigen Besetzungsdauer der
                                                                                                                                gelschutzgebiet Vogelsberg (Hessen) von 13 bis 14 Brutpaa-      Brutplätze steigt. Störungen jeder Art, seien es forstliche Ein-
 Schleswig-Holstein       nein           Im Leitfaden als „weiches“ Kriterium festgelegt. Im Windenergieerlass werden
                                                                                                                                ren im Jahr 2002 auf nur noch fünf Brutpaare im Jahr 2017 ab,   griffe oder die Errichtung bzw. der Betrieb von WEA, führen
                                         Europäische Vogelschutzgebiete als Ausschlussflächen definiert, „es sei denn eine
                                         erhebliche Beeinträchtigung des Schutzzwecks und der Erhaltungsziele des Gebiets       bei gleichzeitigem Zuwachs von 178 WEA. Das Vogelschutz-        dagegen zu einer kürzeren, nicht selten nur einmaligen Nut-
                                         kann auf Grund einer Vorprüfung oder Verträglichkeitsprüfung nach § 7 Abs. 6 ROG       gebiet Vogelsberg ist für die beiden besonders windenergie-     zung eines Brutplatzes mit im Durchschnitt deutlich gerin-
                                         bzw. nach § 1a Abs.4 BauGB jeweils i. V. m. § 34 BNatSchG im Rahmen der Regional-      sensiblen Vogelarten Schwarzstorch und Rotmilan das be-         gerer Jungenzahl.
                                         bzw. Bauleitplanung ausgeschlossen werden (z. B. wenn nachgewiesen wird, dass der      deutsamste Schutzgebiet in ganz Hessen. Dagegen war der
                                         Teilbereich des Gebiets für die Erhaltung der geschützten Art nicht relevant ist)“.

 Thüringen                nein           Grundsätzlich ist in Thüringen ein VSG ein weiches Kriterium und mittels Ausnahme-
                                         prüfung im Einzelfall möglich.
28                                                                                                                                                                                                                                                                                29

     Beschluss 19/20 zur Erfassung der Brutvögel (LAG VSW & BfN 2020):
     Die Sachverhaltsermittlung im Rahmen der artenschutzrecht-         fischen Prüfbereichen (LAG VSW 2015). Für den Rotmilan
     lichen Prüfung setzt am Vorhabenstandort an. Dieser kann eine      beträgt er beispielsweise 4.000 m. Für WEA-sensible Vogelarten,
     Einzelanlage, mehrere Anlagen oder einen definierten Planungs-     für die von der LAG VSW (2015) keine Prüfbereiche festgelegt
     raum (z. B. Vorrangflächen für Windenergienutzung) umfassen.       wurden, können nachfolgende Radien zur Abgrenzung des Be-
     Um ihn herum werden die Untersuchungsgebiete und Betrach-          trachtungsraums als Orientierung verwendet werden (hier nur
     tungsräume definiert. … Bei Einzelanlagen bezieht sich die räum-   die waldrelevanten Arten aufgeführt): Raufußhühner 2.000 m,
     liche Abgrenzung auf den Mastfuß der geplanten WEA. Sind           Wespenbussard 3.000 m, Mäusebussard 2.000 m, Schreiadler
     mehrere Anlagen geplant, wird ein Polygon um die außen stehen-     10.000 m, Wanderfalke 2.000 m (Baumbrüter 3.000 m), Wald-
     den Einzelanlagen gebildet, an dessen Außengrenze die in den       schnepfe 1.500 m, Ziegenmelker 1.500 m.
     folgenden Abschnitten genannten Radien angelegt werden.
                                                                        Obwohl Prüfbereich (gemäß Helgoländer Papier) und Betrach-
     BETRACHTUNGSRÄUME                                                  tungsraum mit dem gleichen Radius abgegrenzt werden, können
     a) Unmittelbares Umfeld des Vorhabenstandorts:                     sie dennoch unterschiedlich große Flächen abdecken, da die Aus-
      Kartierung aller Brutvogelarten                                   gangspunkte der Messung nicht identisch sind. Der Prüfbereich
     Im Umkreis von 300 m zum Vorhabenstandort und im Abstand           orientiert sich an der durchschnittlichen Raumnutzung eines
     von 100 m zur benötigten Versorgungsinfrastruktur (Zuwe-           Brutpaares. Seine Abgrenzung setzt demzufolge an der räum-
     gungen, Leitungstrassen, Stellplätze für Kran und Kranausleger,    lichen Lage des Brutvorkommens (Horststandort) bzw. Revier-
     Lagerplätze für Baumaterialien) sind alle Brutvogelarten mittels   mittelpunkts an. Demgegenüber umfasst der Betrachtungsraum
     Revierkartierung nach Methodenstandard (SÜDBECK et al.             die Gesamtfläche, für die Umweltwirkungen des Vorhabens zu
     2005) zu erfassen.                                                 artenschutzrechtlichen Konflikten führen können. Seine Abgren-
                                                                        zung orientiert sich demzufolge an der räumlichen Lage des Vor-
     b) Untersuchungsgebiet:                                            habenstandorts. Im Betrachtungsraum (außerhalb des Untersu-
     Kartierung aller WEA-sensiblen Brutvogelarten                      chungsgebiets) müssen keine Feldkartierungen durchgeführt
     Das Untersuchungsgebiet für WEA-sensible Brutvögel wird über       werden. Stattdessen erfolgt eine Recherche der Brutvorkommen
     den artspezifisch empfohlenen Mindestabstand (LAG VSW              WEA-sensibler Vogelarten bei Behörden, Horstbetreuern, Fach-
     2015) zuzüglich 500 m festgelegt. So ergibt sich beispielsweise    gruppen und ortskundigen Ornithologen sowie in avifaunis-
     für den Rotmilan ein Untersuchungsgebiet von 1.500 m + 500 m       tischen Datenbanken bzw. Publikationen.
     = 2.000 m um den Vorhabenstandort. Dadurch wird sicherge-
     stellt, dass auch randlich des empfohlenen Mindestabstands ge-     BEWERTUNG VON BRUTVORKOMMEN
     legene Brutreviere oder Wechselhorste bei der artenschutz-         Zum Brutbestand einer Art werden alle am jährlichen Reproduk-
     rechtlichen Bewertung Berücksichtigung finden. Für den             tionszyklus teilhabenden Individuen gezählt – unabhängig vom
     Mäusebussard wird zur Abgrenzung des Untersuchungsgebiets          tatsächlichen Bruterfolg. Dies schließt besetzte Reviere ohne
     ein Radius von 1.500 m festgelegt.                                 Horstfund bzw. alle Brutverdachtsmomente (B-Nachweise ent-
                                                                        sprechend EBCC-Kriterien nach HAGEMEIJER & BLAIR 1997)
     Innerhalb des Untersuchungsgebiets erfolgt eine Revierkartie-      ein. Sollten konkrete Nest- oder Horststandorte nicht ermittelt
     rung nach Methodenstandard (SÜDBECK et al. 2005). Im Vorfeld       werden können, erfolgt die Abgrenzung der Fortpflanzungsstät-
     ist für baumbrütende Groß- und Greifvogelarten eine Horst-         ten über „idealisierte Reviermittelpunkte“ (HVNL et al. 2012).
     suche durchzuführen, die im zeitigen Frühjahr (vor Laubaustrieb)
     beginnen muss. Dabei werden alle Horste punktgenau verortet        Bei Groß- und Greifvogelarten ist die Nutzung von Wechselhor-
     und Informationen über die aktuellen und vorjährigen Nut-          sten eine übliche Verhaltensweise, insbesondere wenn es im Vor-
     zungen zusammengetragen. Die sich anschließenden Besatzkon-        jahr zu einer erfolglosen Brut kam. Die vorjährigen Nester werden
     trollen sollten bei seltenen Greif- und Großvogelarten mit den     dann zeitweise nicht genutzt. Stattdessen werden neue Nester        genutzten Wechselhorste (RUNGE et al. 2009). Für die Planungs-    BNatSchG der LANA (2010) auch bei Abwesenheit der Vögel
     zuständigen Behörden und den lokalen Horstbetreuern abge-          gebaut oder bestehende Nester (ggf. auch anderer Arten) in der      und Genehmigungspraxis ergibt sich daraus die Konsequenz,         ganzjährig geschützt (vgl. BVerwG Urt. v. 21.6.2006 9 A 28/05 mit
     stimmt werden, um Störungen zu minimieren. Hinweisen zu            Umgebung aufgebaut. Bei der artenschutzrechtlichen Bewer-           dass ein besetztes Revier in seiner ökologischen Funktionalität   Verweis auf BVerwG Urt. v. 21.6.2006 9 A 28/05). Dieser Schutz
     Brutvorkommen WEA-sensibler Arten ist gezielt nachzugehen.         tung dieses Verhaltens ist zu beachten, dass sich das Schutzre-     durch mehrere Horststandorte gekennzeichnet sein kann, die bei    erlischt erst, wenn der Horst bzw. das Revier endgültig aufgege-
                                                                        gime des § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG nicht auf Nester oder Hor-      der Anwendung von Abstandsempfehlungen der LAG VSW                ben wurde. Bei reviertreuen Vogelarten ist dies aus fachlicher
     c) Betrachtungsraum: Datenrecherche                                ste an sich, sondern vielmehr auf deren ökologische Funktion in     (2015) zu berücksichtigen sind.                                   Sicht nach Ablauf der in Tab. 6 genannten Zeiträume (ohne Art-
     Neben dem Untersuchungsgebiet wird für WEA-sensible Brut-          Bezug auf den Erhalt des jeweiligen Brutvorkommens bezieht.                                                                           nachweis) zu erwarten bzw. wenn eine Wiederbesetzung des
     vogelarten ein sogenannter „Betrachtungsraum“ um den Vorha-        Daher sind alle räumlich im Zusammenhang stehenden Fort-            Alle festgestellten Brutvorkommen sind entsprechend der Hin-      Horstes aufgrund tatsächlich eingetretener Umstände unwahr-
     benstandort abgegrenzt. Sein Radius entspricht den artspezi-       pflanzungs- und Ruhestätten zu betrachten einschließlich der        weise zum Schutz von Lebensstätten nach § 44 Abs. 1 Nr. 3         scheinlich oder unmöglich ist.
30                                                                                                                                                                                                                                                        31

Tab. 3: Fachliche Empfehlung zur Dauer des Schutzes intakter, temporär nicht genutzter Horste nach LAG VSW & BfN (2020)   Tab. 4: Bestandsschutz bei Großvogelhorsten – ein Ländervergleich (Stand: 2020)

 Arten (hier mit Relevanz zum Lebensraum Wald)        Schutz intakter, temporär nicht genutzter Horste in Jahren           Bundesland          Bestandsschutz          Art                                  Bemerkung
 Brutkolonien Graureiher                              2
                                                                                                                           Baden-Württem-      Kein Bestandsschutz,                                         Sonst gilt für Rotmilan drei Jahre und für Schwarz-
 Baumfalke, Fischadler, Mäusebussard, Rotmilan,       3
                                                                                                                           berg                wenn Horst komplett                                          storch fünf Jahre
 Schwarzmilan, Uhu, Wanderfalke, Wespenbussard                                                                                                 weg ist.
 Schreiadler, Schwarzstorch, Seeadler                 5
                                                                                                                           Bayern              3 Jahre                 planungsrelevante Großvögel          Gilt nur als Revierschutz, nicht Bestandsschutz.
                                                                                                                                                                                                            Das heißt keine direkte Regelung, wenn Horst
                                                                                                                                                                                                            zerstört.
                                                                                                                           Brandenburg         5 Jahre (nach Aufgabe   Schreiadler, Schwarzstorch,          Gilt bei Schreiadler und Schwarzstorch auch für
                                                                                                                                               des Reviers)            Seeadler, Uhu                        Wechselhorste sowie bei Planungen von Windeig-
                                                                                                                                                                                                            nungsgebieten und in Zulassungsverfahren für
                                                                                                                                               2 Jahre                 für alle weiteren planungsrele-      WEA; bei Seeadler und Uhu gelten drei Jahre bei
                                                                                                                                                                       vanten Großvögel                     Planungen von Windeignungsgebieten und in
                                                                                                                                                                                                            Zulassungsverfahren.

                                                                                                                           Hessen              5 Jahre                 Schwarzstorch

                                                                                                                                               2 Jahre                 andere planungsrelevante
                                                                                                                                                                       Großvögel

                                                                                                                           Mecklenburg-        5 Jahre                 Fischadler, Seeadler
                                                                                                                           Vorpommern
                                                                                                                                               10 Jahre                Weißstorch, Schwarzstorch

                                                                                                                           Niedersachsen       3 Jahre                 planungsrelevante Greifvögel         Die Wechselhorste von Greifvogelarten und Uhu
                                                                                                                                                                       und Uhu                              verlieren nach drei Jahren der Nichtnutzung ihre
                                                                                                                                                                                                            Funktion als Niststätten. Bei Wechselnestern des
                                                                                                                                                                                                            Schwarzstorches sind Nester der letzten fünf
                                                                                                                                               5 Jahre                 Schwarzstorch                        Jahre zu berücksichtigen.

                                                                                                                           Nordrhein-          5 Jahre                 Schwarzstorch
                                                                                                                           Westfalen
                                                                                                                                               2 Jahre                 Uhu, Rotmilan, Schwarzmilan

                                                                                                                           Rheinland-Pfalz     5 Jahre                 Schwarzstorch                        Bestandsschutz nicht festgelegt (Zahlen zeigen
                                                                                                                                                                                                            bisherige Handhabung)
                                                                                                                                               2 Jahre                 andere planungsrelevante
                                                                                                                                                                       Großvögel

                                                                                                                           Saarland            keine Regelung

                                                                                                                           Sachsen             keine Festsetzung                                            derzeit keine Regelung
                                                                                                                           Sachsen-Anhalt      2 Jahre                 alle Großvögel                       nicht verbindlich festgelegt

                                                                                                                                               3 Jahre                 Rotmilan

                                                                                                                           Schleswig-          3 Jahre                 Seeadler, Schwarzstorch und          In dieser Zeit muss jährlich geprüft werden, ob
                                                                                                                           Holstein                                    Weißstorch                           der Horst wiederbesetzt wird. Wird der Horst
                                                                                                                                                                                                            wiederbesetzt, muss die entsprechende Untersu-
                                                                                                                                                                                                            chungsanforderung erfüllt werden. Bleibt der Horst
                                                                                                                                               2 Jahre                 Rotmilan                             drei Jahre unbesetzt, braucht er anschließend bei
                                                                                                                                                                                                            der Planung nicht weiter berücksichtigt werden.
                                                                                                                           Thüringen           5 Jahre                 alle Großvögel

                                                                                                                                               2 Jahre                 Rotmilan
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