WIR HIER! Kein Platz für Muslimfeindlichkeit in Europa - WIR HIER Migrantenorganisationen im Dialog Bericht 2017
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
WIR HIER! Kein Platz für Muslimfeindlichkeit in Europa Migrantenorganisationen im Dialog Bericht 2017 Projektpartner WIR HIER
WIR HIER WIR HIER! Kein Platz für Muslimfeindlichkeit in Europa – Migrantenorganisationen im Dialog Bericht 2017
Inhaltsverzeichnis WIR HIER Vorwort 5 Projektbeschreibung 6 Workshop Collage 8 Workshop Dokumentarfilm 10 Workshop Musik 12 Workshop Theater 14 Workshop Tourguide 16 Vortragsreihe 18 Abschlussveranstaltung 2017 22
Vorwort WIR HIER! Kein Platz für Muslimfeindlichkeit in Europa – Migrantenorganisationen im Dialog Muslimfeindlichkeit ist ein gesamteuropäisches Phänomen, das nicht zuletzt durch den stetigen gesellschaftspoliti- schen Bedeutungszuwachs rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa salonfähig geworden ist. Auch in Deutsch- land sind Stereotype über „den“ Islam und „die“ Muslime inzwischen fest im medialen und öffentlichen Diskurs veran- kert und werden von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Ebenso gehört die ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Muslim_innen oder Menschen, die als Muslim_innen wahrgenommen werden, für viele inzwischen zum Alltag. Diesem Trend etwas entgegenzusetzen, zu informieren, zu diskutieren und für das Zusammenleben in einer vielfäl- tigen Einwanderungsgesellschaft zu plädieren, sind Ziele des Projektes „WIR HIER!“. Allerdings richtet sich das Au- genmerk unserer Arbeit dabei nicht, wie in vielen Projekten, auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern auf Jugendliche aus nicht-muslimischen Migrantencommunities. Hauptziel ist es, unter ihnen ebenfalls ein Bewusstsein für das Thema Muslimfeindlichkeit zu schaffen, die Entstehung von Vorurteilsstrukturen und von Stereotypisierung zu verhindern oder Prozesse des Umdenkens einzuleiten. Ebenso interessiert es uns, im Rahmen des Projektes mehr über das Phänomen Muslimfeindlichkeit an sich herauszu- finden. Wir untersuchen beispielsweise, welche Ausprägungen von Muslimfeindlichkeit in anderen Ländern Europas vorherrschen und so eventuell durch Migrationsprozesse nach Deutschland gelangen. Des Weiteren hinterfragen wir, ob Zugewanderte Vorurteile und Stereotype nicht vielleicht als Werkzeug der Identitätsbildung nutzen, um sich in neuen Lebenssituationen zurecht zu finden. Auch im dritten Projektjahr haben wir hierzu wieder eine Reihe interessanter Workshops und spannender Vorträge veranstaltet sowie eine Publikation herausgebracht. An unseren Aktivitäten nahm eine Vielzahl von Jugendlichen un- terschiedlicher Herkunft teil, u. a. aus Spanien, Polen, Russland, Italien, Ukraine, Ungarn und Frankreich. In diesem Projektjahr nahmen auch vermehrt Teilnehmende aus Ägypten, Syrien, Tunesien und dem Irak teil, so dass den Ju- gendlichen nicht nur das Sprechen über Muslim_innen, sondern auch das Diskutieren mit ihnen ermöglicht wurde. Bei Interesse, Anregungen oder Fragen wenden Sie sich gerne an uns. Rena Zetzsche Projektleitung WIR HIER! zetzsche@la-red.eu 5
Projektbeschreibung WIR HIER! Ausgangslage Migrantenselbstorganisation agitPolska – Polnisch-Deut- sche Initiative für Kulturkooperation e.V. zusammen, Berlin ist ein interkultureller Ort – das Zusammenleben deren Schwerpunkt auf der Arbeit mit polnischen Zuge- von verschiedenen Nationalitäten und Kulturen scheint wanderten liegt. hier selbstverständlich zu sein. In Zeiten weltweit zu- nehmender, religiös motivierter Konflikte, zeichnet sich Während La Red und agitPolska jugendkulturell mit jun- jedoch auch in Berlin in Teilen der Bevölkerung eine stei- gen Neuzugewanderten aus nicht-muslimisch geprägten gende Skepsis bis hin zu Feindlichkeit gegenüber „dem Herkunftsstaaten an der Auseinandersetzung mit Mus- Anderen“ ab. Nicht selten bekommen besonders Mus- limfeindlichkeit in europäischen Zugewanderten-Com- lim_innen diese Veränderung zu spüren. munities arbeiten, konzentriert sich der dritte Partner – Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung auf die Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Muslim- Erforschung des bisher nicht aufgearbeiteten Themen- feindlichkeit ist nicht zuletzt deshalb seit 2014 eines der feldes der Muslimfeindlichkeit unter nicht-muslimisch Ziele des Bundesprogramms „Demokratie leben! Aktiv geprägten Migrant_innen. gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeind- lichkeit“, das durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert wird. Zielgruppen und Ziele des Projektes Das Projekt „WIR HIER! Kein Platz für Muslimfeindlichkeit in Europa – Migrantenorganisationen im Dialog“ ist eines Primäre Zielgruppe sind Jugendliche aus nicht-musli- der Modellprojekte, die 2015 im Rahmen dieses Bundes- misch geprägten Migrantencommunities im Alter von programms starteten und eine Laufzeit von fünf Jahren 16 bis 27 Jahren. Richteten sich die Aktivitäten im ersten haben. In den Vorjahren wurde es vom Jugend-Demokra- Projektjahr noch insbesondere an spanisch- bzw. pol- tiefonds Berlin und von der Beauftragten der Bundes- nischsprachige Jugendliche, so hat sich der Kreis der Teil- regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration kofi- nehmenden mittlerweile auf Jugendliche aus diversen nanziert, seit 2017 von der Bundeszentrale für politische Herkunftsländern erweitert. Aufgrund der Kooperation Bildung. mit den beiden osteuropäischen Migrantenorganisatio- nen ostPunkt e.V. und EastWest e.V. nehmen auch viele Das Projekt beschäftigt sich mit dem bislang – sowohl russischsprachige Jugendliche an den Aktivitäten teil. in der Praxis als auch in der Theorie – wenig beachte- ten Aspekt der Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit innerhalb Zu den sekundären Zielgruppen des Projektes zählen für nicht-muslimisch geprägter Migrantencommunities. die Jugendlichen wichtige Erwachsene sowie Multiplika- tor_innen, Angehörige muslimischer Communities und schließlich auch die (Fach-)Öffentlichkeit. Projektträger Übergreifendes Ziel des Projekts ist der Abbau bzw. WIR HIER! wird von einem Projektverbund aus drei Part- die Prävention von Muslimfeindlichkeit insbesondere in nern getragen: Koordiniert wird das Projekt von La Red, nicht-muslimischen Migrantencommunities. Die Vertie- einer Migrantenselbstorganisation, deren Schwerpunkt fung von Vorurteilsstrukturen und Stereotypen, die zu die Integration von neuzugewanderten Menschen in den Konflikten und Radikalisierungen führen können, soll Bereichen Bildung, Arbeit und Gesellschaft ist. Eine wich- verhindert werden. Wo es bereits zu manifesten rassis- tige – aber nicht alleinige – Zielgruppe der bisherigen Ar- tischen oder fremdenfeindlichen Einstellungen gekom- beit sind dabei spanischsprachige Einwandernde. men ist, sollen Prozesse des Umdenkens eingeleitet wer- den. Für das Projekt WIR HIER! arbeitet La Red eng mit der 6
Eine große Herausforderung ist es, zunächst eine kom- öffentliche Vortragsreihe zum Thema „Facetten des Is- munikative Ebene mit den Jugendlichen und eine emo- lams“, in der Expert_innen zu unterschiedlichen Themen tionale Offenheit für einen Diskurs zu erreichen, um die referierten. unterschiedlichen Ausgangslagen und Begründungszu- sammenhänge für die tatsächliche oder zugesprochene Im Projektjahr 2017 entstand zudem die Veröffentlichung ablehnende Haltung gegenüber dem Islam bzw. Muslim_ „Muslimfeindlichkeit in Europa“ unseres Projektpartners innen zu thematisieren. Die Gestaltung des Diskurses Minor. Sie macht den Leser, durch den vergleichenden erfolgt hierbei partizipativ mit den Jugendlichen – ohne Blick über Deutschland hinaus, mit der europäischen Di- sie zu stigmatisieren. Die Themen werden ergebnisoffen mension der Thematik vertraut und beschäftigt sich so diskutiert und ein Prozess des kritischen Nachdenkens mit der Frage, welche muslimfeindlichen Vorurteilsstruk- und des Meinungsaustauschs wird angeregt. turen Migrant_innen ggf. nach Deutschland mitbringen. Methodisches Vorgehen Vielerlei Projekterfahrungen der Träger zeigen, dass ein Zugang über Medien-, Kunst- und Kulturaktivitäten ins- besondere bei Jugendlichen erfolgreich ist. Die Verbin- dung von künstlerisch-kultureller Bildung auf der einen Seite und politischer Bildung auf der anderen Seite führt Jugendliche kreativ und nah an Themen heran, denen sie sich sonst kaum öffnen würden. Zudem ist die künstle- rische Auseinandersetzung mit einem Thema sehr viel nachhaltiger als „nur“ darüber zu diskutieren – insbeson- dere wenn sie mit der Lebenswirklichkeit der Jugendli- chen verknüpft ist. Medien, Kunst und Kultur fungieren somit sowohl als Ausdrucksmittel, aber auch als „Transportmittel“ für Kommunikation und Auseinandersetzung sowohl inner- halb der nicht-muslimisch geprägten Zielgruppen als auch in der Beziehung zu der oftmals als „befremdlich“ wahrgenommenen muslimisch geprägten Zielgruppe. Auch im Jahr 2017 boten wir deshalb wieder fünf jeweils mehrtätige Workshop-Reihen (Collage, Dokumentarfilm, Musik, Theater, Tourguide) an, die im Folgenden genau- er beschrieben werden. Die Workshops führen zu einer Reflexion der eigenen Vorurteile der Teilnehmenden und Projektleitung La Red somit letztendlich zu einer Sensibilisierung für das The- Rena Zetzsche Alt-Moabit 73 ma Muslimfeindlichkeit. zetzsche@la-red.eu 10555 Berlin Darüber hinaus veranstalteten wir auch 2017 wieder eine sehr gut besuchte, vierteilige, niedrigschwellige und +49 (0)30-37008511 www.la-red.eu 7
Workshop Collage Gestalte Dein Magazincover! „Gestalte Dein Magazincover!“, so lautete der Auf- oder feindliche Haltung zu erzeugen. Die Teilnehmenden ruf zu unserer Workshopreihe zum Thema Collage, reflektierten sich in der Gruppe und bemerkten, dass die im April und Mai 2017 stattfand und sich mit der auch sie nicht frei von Vorurteilen und Stereotypen sind. medialen Konstruktion von Islam und muslimischer Identität auseinandersetzte. Ziel war es, die Teilneh- Nach einer Pause übernahm Grafik-Designerin Kathrin menden für die diskriminierende Darstellung „des“ Schädlich die Leitung des Workshops. Sie definierte zu- Islams und „der“ Muslim_innen in den Medien zu nächst den Begriff „Collage“ und zeigte anhand von Bei- sensibilisieren. Die Teilnehmenden beschäftigten spielen, wie vielfältig Collagen sein können. Nachfolgend sich mit den in Medien dargestellten Bildern und er- veranschaulichte sie den Teilnehmenden, welche Bedeu- stellten selbst Magazincover, die diskriminierende tung Form, Farbe und Perspektive haben, um Stimmun- Konzepte unterlaufen und muslimische Identität in gen beim Betrachtenden zu erzeugen. ihrer Diversität und Heterogenität zeigen. In Zweier-Gruppen erstellten die Teilnehmenden an- schließend jeweils zwei Collagen: Die eine Collage sollte ein Gefühl der Geborgenheit erzeugen – die andere ein Gefühl von Angst und Gewalt. Frau Schädlich beobach- tete die Arbeitsweise der Teilnehmenden und gab ihnen kleine Hilfestellungen ohne sie jedoch in ihrer freien, künstlerischen Arbeit einzuschränken. Zum Abschluss des Tages gab Frau Schädlich zu jedem Bild ein Feedback, in dem sie das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ge- staltungselemente nochmals verdeutlichte. Nach einer Vorstellungsrunde und einem Kennenlern- spiel, gab es ein Assoziationsspiel, das der Einführung in das Thema Muslimfeindlichkeit diente. Anschließend stellte die Workshop-Leiterin Dr. Sabrina Dittus die Be- griffe Islamfeindlichkeit, Islamophobie und antimuslimi- scher Rassismus in einer Präsentation vor und erläuterte die Schwierigkeit, die Begrifflichkeiten voneinander abzu- grenzen. Im Folgenden zeigte sie anhand von vielen konkreten Bei- spielen, wie Medien unsere Wirklichkeit oftmals nicht nur Zu Beginn des zweiten Treffens fasste Frau Dittus die abbilden, sondern auch konstruieren – und wie oft dabei Inhalte des ersten Workshoptages zusammen und wie- sexistische, rassistische, muslimfeindliche und homo- derholte nochmals die Bedeutung von Bildern für die phobe Bilder transportiert werden. Die Teilnehmenden Konstruktion und Gestaltung von Wirklichkeit sowie die analysierten im weiteren Verlauf des Workshops selbst damit in Zusammenhang stehende Rolle der Medien für Werbekampagnen, Headlines, Bilder etc., die Islam und die Beurteilung von Identitäten und vermeintlichen Zu- Muslim_innen in den Medien thematisieren und stell- gehörigkeiten. Zur Verdeutlichung sammelte die Gruppe ten gemeinsam fest, welch subtile Botschaften den Be- anschließend Schlagworte, Themen und Begrifflichkeiten, trachtenden oftmals vermittelt werden. „Merkmale“ der die in den Medien häufig mit „dem“ Islam und „den“ Mus- Unterschiedlichkeit wie Geschlecht, Herkunft, Religion lim_innen verbunden werden: So z. B. Fundamentalis- werden oftmals instrumentalisiert, um eine ablehnende mus, Terrorismus, Emanzipation, Integrationsprobleme, 8
Konflikte, etc. Stereotype auf Zeitschriften-Covern durchbrochen wer- den könnten. Alle Teilnehmenden arbeiteten anschlie- Im Folgenden analysierten die Teilnehmenden Filme und ßend an ihren individuellen Covern zum Thema Muslim- setzten sich anhand der gezeigten Situationen, der ver- feindlichkeit. Zum Ende des Workshoptages wurden die wendeten Sprache, der Nutzung von Farben, etc. damit Ergebnisse in der Gruppe diskutiert. auseinander, welche Wirkung bzw. Stimmung Bilder her- vorrufen können. Frau Dittus erläuterte in diesem Zusam- Die beiden darauffolgenden Treffen widmeten sich aus- menhang das Konzept des „Othering“: Die Einteilung der schließlich der praktischen Arbeit an den Collagen. Die Menschen in „Wir“ und „die Anderen“, die unweigerlich zu Teilnehmenden arbeiteten mit großer Begeisterung dar- Stereotypenbildung führt. Durch ständige Wiederholung an, eine eigene Botschaft auf Papier zu bringen. werden die Stereotypen immer glaubhafter und somit zu etwas „Selbstverständlichem“. Entstanden sind zehn Collagen, die auf der Abschluss- veranstaltung des Projektes WIR HIER! im Herbst 2017 präsentiert wurden. Zusätzlich erhielten alle Teilneh- menden Postkarten mit den von ihnen erstellten Col- lagen als Motiv. In einer Abschlussrunde versicherten alle Teilnehmenden nicht nur einen Wissenszuwachs erhalten zu haben, sondern auch für die Wahrneh- mung von Stereotypen sensibilisiert worden zu sein. Nach einer Pause übernahm – wie schon am ersten Workshoptag – Frau Schädlich die Leitung des prakti- schen Teils. Sie zeigte verschiedene Arten und Techniken der Herstellung von Collagen und die Teilnehmenden konnten diese im Anschluss ausprobieren. Während des nächsten Treffens zeigte Frau Dittus Bei- spiele von Klischees und stereotypen Darstellungen von Muslim_innen und Frauen aus arabischen Ländern in Fil- men und Medien. Die Teilnehmenden sahen gemeinsam Filmausschnitte an (z. B. „Aladin“, „Neukölln unlimited“) und untersuchten, wie Muslim_innen, Türk_innen und Araber_innen in der deutschen Gesellschaft oft wahrge- nommen werden. Anschließend diskutierten die Teilneh- menden darüber, welche Möglichkeiten es gäbe, um das Teilnehmende: In Berlin lebende Migrant_innen im Alter Bild der Muslim_innen in Medien und im Bewusstsein der von 16 bis 27 Jahren Gesellschaft zu ändern. Zeitraum: 5 Termine im Zeitraum April – Mai 2017, jeweils 4 Stunden Frau Schädlich erläuterte im zweiten Teil des Tages die Workshop-Leitung: Dr. Sabrina Dittus (Dozentin, Auto- Wirkung von Farbsymbolik und formalen Gestaltungs- rin, freie Filmemacherin), Kathrin Schädlich (Grafikdesig- prinzipien. Die Teilnehmenden diskutierten darüber, wie nerin) 9
Workshop Dokumentarfilm Zeige Deine Welt! Wie bereits in den letzten beiden Jahren, boten wir wie Männer?“, „Gibt es überhaupt DEN Islam?“, „Wie äu- auch 2017 einen Dokumentarfilm-Workshop an. Das ßert sich Muslimfeindlichkeit?“ und vor allem: „Wie kön- Thema der fünftägigen Workshopreihe war „Zeige nen wir Stereotypen und Pauschalisierungen entgegen- Deine Welt!“ und richtete sich an Jugendliche und jun- wirken?“. ge Erwachsene mit Migrationshintergrund. Ziel des Workshops war es, sich mit der Darstellung von Islam und Muslim_innen in den Medien sowie mit dem The- ma Muslimfeindlichkeit auseinanderzusetzen Der erste Tag des Workshops startete mit dem gegen- seitigen Kennenlernen der Teilnehmenden. Anschließend besprach die Gruppe, welche Erwartungen und Ziele sie mit dem Workshop verbinden. Die Teilnehmenden sa- hen sich den im Vorjahr entstandenen Film „Kleider ma- chen Leute – Kleidung als Ausdruck kultureller Identität“ an und diskutierten darüber. Im Anschluss tauschten sie In Gruppen wurden Ideen und Vorschläge für einen Do- sich über ihre persönlichen Erfahrungen zum Thema Is- kumentarfilm gesammelt. Die Teilnehmenden entschie- lam in ihrem Umfeld aus. den sich dafür, unterschiedliche Interviews zu drehen. Am folgenden Tag startete Frau Mrożek mit einer Ein- führung in die Theorie des Dokumentarfilmdrehens. Sie stellte die drei Komponenten der Filmsprache (Bild/Ton/ Licht) vor und vermittelte Kenntnisse über Einstellungs- größen, Kameraperspektiven und Bildkompositionen. Ferner lernten die Teilnehmenden die Kamera zu bedie- nen, das Mikrofon sachgerecht zu nutzen und Licht zu setzen. Die Teilnehmenden begaben sich anschließend auf die Suche nach interessanten Orten, um das bisher Gelernte anzuwenden. Die Workshop-Leiterin Frau Mrożek zeigte weitere Bei- spiele für die Darstellung „des“ Islams und „der“ Muslim_ Am darauffolgenden Wochenende stellten die Work- innen in Film und Fernsehen. Unter anderem schauten shop-Leiterinnen unterschiedliche Interviewtechniken sich die Teilnehmenden die Nike-Kampagne an, in der vor. Die Teilnehmenden übten die Anwendung dieser für ein Sport-Hijab (Kopftuch) geworben wird, sowie das Methoden und werteten aus, welche Technik für ihren ei- erfolgreiche YouTube-Video „Achmed der tote Terrorist“ genen Filmbeitrag am besten geeignet ist. Anschließend des Kabarettisten Jeff Dunham. Ziel hierbei war es, die Ju- erstellte die Gruppe einen Fragenkatalog, der als Leitfa- gendlichen für die unterschiedliche Darstellung von Mus- den für ihre Interviews dienen sollte. lim_innen in den Medien zu sensibilisieren. Es entstand eine angeregte Diskussion über Klischees, Erfahrungen In den folgenden Treffen führten die Teilnehmenden in mit Diskriminierung und verschiedenen Standpunkten unterschiedlichen Gruppenkonstellationen Interviews zum Islam. durch. Alle Interviews bzw. Filmbeiträge wurden jeweils im Anschluss in der Gruppe analysiert und reflektiert – Die Teilnehmenden setzten sich dabei mit Fragen ausein- sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der technischen ander wie: „Haben muslimische Frauen dieselben Rechte Umsetzung. 10
Für das erste Interview wurde ein seit vielen Jahren ver- Anhänger_innen unterschiedlicher Religionen alle „aus heiratetes polnisch-marokkanisches Paar als Gesprächs- Erde gemacht“, also alle gleich sind. Schlussendlich eint partner eingeladen. Der Fokus des Interviews lag vor alle Menschen mehr als sie trennt, unabhängig von ihrer allem auf der Frage, wie sich das Zusammenleben zwi- Religion. schen einer Christin und einem Muslim gestaltet. Die Teilnehmenden hinterfragten, ob sich im Laufe der Ehe Am letzten Workshoptag führte Frau Mrozek die Teilneh- schon Situationen ergeben hatten, die aufgrund der un- menden in die Arbeit mit einem Schnittprogramm ein. terschiedlichen Religionen zu Problemen führten oder Sie veranschaulichte der Gruppe, wie man durch den die ein hohes Maß an Toleranz erforderten. Sie erfuhren Filmschnitt die Aussage eines Beitrages beeinflussen aber auch, wie bereichernd die Ehepartner ihre unter- kann. Die Teilnehmenden wendeten das Gelernte an und schiedlichen Religionen empfinden. schnitten ihr gedrehtes Material. Abschließend reflektier- ten die Teilnehmenden den Workshop. Alle Teilnehmenden waren sich einig, dass sie im Rah- men des Workshops über die Vermittlung von Grund- lagen des Filmdrehens hinaus, vieles über Muslim- feindlichkeit gelernt haben und für die Sichtweisen ihrer muslimischen Mitbürger_innen sensibilisiert wurden. Insbesondere die kritische Auseinander- setzung mit den Aussagen der sowohl muslimischen als auch nicht-muslimischen Interviewpartner_innen führte bei den Teilnehmenden dazu, dass sie ihre ei- Ein zweites Interview fand mit einem Teilnehmer des genen Vorurteile, Positionen und Bilder hinterfrag- Workshops statt. Er stammt aus Syrien und gab den In- ten. Entstanden ist ein zehnminütiger Film, der vom terviewer_innen Einblick, welche Bedeutung sein Glaube interkulturellen Zusammenleben in Berlin erzählt. für ihn habe. Hier kann man den Dokumentarfilm sehen: In einem Interview mit einem deutsch-ägyptischen Paar wurden rassistische Vorurteile, denen Muslim_innen in Deutschland ausgesetzt sind, thematisiert. In Interviews mit Passant_innen auf der Straße stellten die Teilnehmenden Fragen wie: „Haben Sie muslimische Freunde?“, „Was zeichnet die muslimische Kultur aus?“ und „Halten Sie den Islam für gefährlich?“. Letztere Frage wurde bewusst gestellt, zum einen, um die Reaktion der Passant_innen auf diese provokante Frage einzufangen und zum anderen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Ansicht, der Islam sei eine gefährliche Religion Teilnehmende: In Berlin lebende Migrant_innen im Alter oder eine Religion des Terrors, eine häufig vertretene An- von 16 bis 27 Jahren sicht ist. Zeitraum: 5 ganztätige Termine im Mai 2017 Workshop-Leitung: Michalina Mrożek (Filmemacherin, Einige Teilnehmende drehten eine Szene zum Thema Pädagogin), Ursula Henke (Dipl. Kulturwissenschaftlerin, Religiosität. Die Kernaussage dieser Sequenz war, dass Kamerafrau), Dorota Kot (Kulturmanagerin) 11
Workshop Musik Sound of the City! „Eine gemeinsame Sprache sprechen – die Sprache Teilnehmenden sollten notieren, was sie bei den einzel- der Musik“. Unter diesem Motto fand unser DJ-Work- nen Stücken empfinden und welche Assoziationen sie da- shop im „Club der Polnischen Versager“ statt. DJ Bad- mit haben. Anschließend reflektierten sie in der Gruppe, re aus Marokko und Rocky B aus Israel erarbeiteten welche Bilder und Eindrücke die Musik bei ihnen erzeugt mit den Teilnehmenden einen gemeinsamen Track. hatte. Es stellte sich heraus, dass sie zwar unterschiedli- che Bilder mit der Musik verbanden, sich jedoch die Emp- Zu Beginn des ersten Treffens fand eine kleine Vorstel- findungen zu der Musik (positiv oder negativ, glücklich lungsrunde statt. Alle Teilnehmenden saßen im Kreis. oder traurig) glichen. Nacheinander setzte sich jeweils ein Teilnehmer bzw. eine Teilnehmerin in die Mitte des Kreises. Die Gruppe sollte versuchen, die jeweilige Person einzuschätzen. Wo- her kommt die Person? Ist sie religiös? Was sind ihre Lei- denschaften? Ziel dieser Vorstellungsrunde war es, den Teilnehmenden bewusst zu machen, dass jeder Mensch Stereotype und Vorurteile hat. Diese dienen oftmals dazu, die Komplexität der Umwelt zu vereinfachen und sind nicht immer zwingend negativer Natur. Wichtig sei es jedoch, diese „Bilder im Kopf“ zu hinterfragen. Beim darauffolgenden Treffen erklärten die Work- shop-Leiter die Grundlagen von „Ableton“, einem Soft- wareprogramm zur Erstellung elektronischer Musik. Rocky B berichtete, dass elektronische Musik eigentlich europäischen Ursprungs sei. Deshalb sei auch das Pro- gramm „Ableton“ hauptsächlich auf europäische Musik ausgelegt und weniger auf arabische Rhythmen und Me- lodien. Ziel seiner Arbeit als DJ sei es aber, dieses Musik- programm zu nutzen, um seine kulturellen Wurzeln mit europäischer Musik zu verbinden und so „etwas Neues“ Im Anschluss stellten sich DJ Badre und Rocky B vor: DJ zu schaffen. Badre aus Marokko – Rocky B aus Israel. Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Konstellation, auf den zweiten In diesem Zusammenhang erläuterten die Workshop-Lei- ein eingespieltes Musik- und Workshopteam. Gemein- ter den Teilnehmenden auch den Unterschied zwischen sam mit den Teilnehmenden wollten sie im Laufe des einem arabischen und einem europäischen Tonsystem: Workshops mithilfe des Musikprogramms „Ableton“ ei- Ersteres umfasst 24 Töne – zweiteres lediglich 12. Euro- nen gemeinsamen, elektronischen Sound entwickeln. Die päische Musik sei zudem eher genormt, beispielsweise Teilnehmenden sollten hierzu Musikstücke mitbringen, finde man Elemente der deutschen Marschmusik selbst die ihre Persönlichkeit und Identität widerspiegeln. Se- im Deutschrock wieder. Die Teilnehmenden hatten an- quenzen diese Lieder wurden in den Song integriert. schließend die Möglichkeit, selbst mit dem Programm zu arbeiten, Funktionen auszuprobieren und erste Kompo- Zunächst führte Rocky B mit den Teilnehmenden ein sitionen für den gemeinsamen Track zu erproben. kleines Experiment durch: Er spielte der Gruppe unter- schiedliche Musikstücke vor – insbesondere aus dem Beim nächsten Treffen diskutierte die Gruppe die Frage, muslimisch geprägten Raum (Ägypten, Irak, Türkei). Die ob Musik eine globale Sprache sei. Die Teilnehmenden 12
stellten fest, dass Musik einerseits die Menschen vereine lichkeit, am Aufbau eines DJ-Sets mitzuwirken. Außerdem und ihnen die Möglichkeit biete, miteinander „sprachlos“ konnte die Gruppe einen Blick hinter die „Club-Kulissen“ zu kommunizieren. Andererseits sei Musik aber auch kul- werfen und die DJs bei ihrer Arbeit begleiten. turell verankert und je nach Religion und Kultur sehr un- terschiedlich. Rocky B erklärte ihnen, dass beispielsweise Zum letzten Treffen brachten die Teilnehmenden ihre fröhliche Musik aus Europa für Menschen aus muslimisch ausgewählten Lieder mit, die sie für den gemeinsamen geprägten Ländern oft traurig klingen würde. Song samplen wollten. Jede Teilnehmerin und jeder Teil- nehmer stellte sein mitgebrachtes Lied vor und erzählte, woher das Stück kommt und welche persönliche Bedeu- tung das Lied für sie/ihn hat. Zusammen mit DJ Badre und Rocky B sampelte die Gruppe ihre mitgebrachten Musik- stücke. Eine Teilnehmerin hatte außerdem ihre Ukulele mitgebracht, die für den Song aufgenommen wurde. Ent- standen ist ein gemeinsamer Track, der Teile der Identität eines jeden Teilnehmenden in sich vereint. In dem Workshop haben die Teilnehmenden gelernt, dass Musik sich je nach Kultur stark unterscheiden Im Verlauf des gesamten Workshops sensibilisierten die kann und Empfindungen zu Musik kulturell verwur- Workshop-Leiter die Jugendlichen immer wieder für die zelt sind. Die Jugendlichen haben über die Unter- Problematik von Begrifflichkeiten und warnten vor Pau- schiede – aber auch die Gemeinsamkeiten – in der schalisierungen. Man könne Menschen nicht als „Araber_ Musik und den Kulturen gesprochen und wurden an innen“ oder „Muslim_innen“ kategorisieren. Beispielswei- Musik aus muslimisch geprägten Ländern herange- se sind Nordafrikaner_innen keine Araber_innen, aber führt. Am Ende des Workshops entstand ein Track, dennoch Muslim_innen. Und nicht alle Araber_innen sind der einen Teil der Identität jedes Teilnehmenden wi- automatisch Muslim_innen. derspiegelt. Zu einem Workshop-Treffen hatten die Workshop-Leiter einen befreundeten, professionellen Darbuka-Spieler, Romero, eingeladen. Eine Darbuka ist eine becherför- mige Trommel, die aus dem muslimisch geprägten Raum stammt. Romero spielte der Gruppe einige Dar- buka-Rhythmen vor und berichtete den Teilnehmenden davon, welche soziale Bedeutung Musik im muslimisch geprägten Raum hat. So erfuhren die Teilnehmenden zu welchen Anlässen Musik gespielt und welche Folkloretän- ze zu der Darbuka-Musik getanzt werden. Ferner zeigte Romero den Anwesenden, welche unterschiedlichen Rhythmen im Libanon, in Ägypten und im Irak bevorzugt werden. Teilnehmende: In Berlin lebende Migrant_innen ver- schiedener Herkunft im Alter von 16 bis 27 Jahren In einer Sitzung traf sich die Gruppe im Club „Mensch Zeitraum: 7 Termine im Zeitraum Oktober 2017, jeweils Meier“. DJ Badre und Rocky B legten an diesem Abend 3 Stunden ihre Musik auf. Die Teilnehmenden erhielten die Mög- Workshop-Leitung: DJ Badre Lammaghi, DJ Rocky B 13
Workshop Theater Mach aus Deiner Geschichte eine Szene! Gemeinsam mit dem Theater Grotest Maru haben Kopftuch auch ein Statement? Wird die Sexualität mus- sich die Teilnehmenden unseres diesjährigen Thea- limischer Frauen anders behandelt als die muslimischer terworkshops mit den Themen Muslimfeindlichkeit, Männer? Viele Fragen kamen auf und unter den Teilneh- Stereotypen und dem „Anderen“ auseinanderge- menden entstand der Wunsch nach einem persönlichen setzt. Ziel des Workshops war es, sich mit der Frage Gespräch mit einer praktizierenden Muslima. zu beschäftigen, wie mit Methoden des Körperthe- aters im öffentlichen Raum, Vorurteilen gegenüber Muslim_innen und Muslimfeindlichkeit entgegenge- wirkt werden kann. Ziel des ersten Treffens im Kunsthaus KuLe war es, mittels Übungen zu Vertrauen und Aufmerksamkeit, in der Grup- pe eine Atmosphäre der solidarischen Gemeinschaft zu schaffen – über eigene Vorurteile und kulturelle Barrie- ren hinweg. Ferner wiesen die Workshop-Leiterin Ursula Maria Berzborn und der Workshop-Leiter Sergio Serrano die Teilnehmenden darauf hin, dass sie zwar Struktur, Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt, der sich während Übungen und thematische Blöcke innerhalb der Work- des ersten Moduls herauskristallisierte, war die Ausein- shopreihe vorgeben würden – die Teilnehmenden diese andersetzung mit dem eigenen Migrationshintergrund Rahmenvorgaben aber selbst füllen dürften. Der Prozess sowie damit einhergehenden Ausgrenzungserfahrungen und die Auseinandersetzung mit dem Thema seien hier- im Alltag. Die Teilnehmenden berichteten über die ihnen bei wichtiger, als der Druck zwingend ein vorzeigbares immer wieder gestellten Fragen „Wo kommst du her?“ Resultat zu schaffen. und „Woher kommst du wirklich her?“ oder „Woher kom- men denn deine Eltern?“. Es entstand die Idee einen Fra- Im weiteren Verlauf des ersten Moduls, das über drei gebogen zu entwickeln und Passant_innen auf der Stra- Tage ging, tasteten sich die Teilnehmenden an das The- ße genau diese Fragen zu stellen. Insbesondere sollten ma Muslimfeindlichkeit heran. Die Workshop-Leitenden solche Passant_innen befragt werden, die rein äußerlich hinterfragten, welche Assoziationen bzw. welche eigenen so schienen, als hätten sie keinen Migrationshintergrund. Erfahrungen die Teilnehmenden mit dem Thema hätten. So sollte ein Nachdenken über die Sinnhaftigkeit dieser Stichworte wie „Flüchtlingskrise“ oder „Ergebnisse der Fragen provoziert werden. Bundestagswahl 2017“ wurden genannt. Auch eventuelle Gründe für Muslimfeindlichkeit wurden diskutiert, so z. B. Neben der thematischen Auseinandersetzung wurden die Gefahr der Manipulation durch Medien, das Aufkom- im ersten Modul des Workshops Methoden des Thea- men der Terrororganisation „Islamischer Staat“ und die ters im öffentlichen Raum vermittelt sowie grundlegende Ereignisse des 11. Septembers 2001. Übungen des Körpertheaters durchgeführt. Eine Übung, die die Teilnehmenden sehr beeindruckte, war z. B. der In zwei weiteren Gesprächsrunden wurde ausgehend Zusammenschluss aller zu einer imaginären Seifenblase. von eigenen Erfahrungen und Positionen sehr intensiv über die Rolle der Frau in muslimischen Gesellschaften Auf dem Weg in einen nahegelegenen Park musste die diskutiert. Die Teilnehmenden stellten fest, dass eine gro- Gruppe darauf achten, dass sie in ihrer Blase zusammen ße Unsicherheit und Unwissenheit hinsichtlich des The- blieb und sich nur gemeinsam bewegte. Diese praktische mas bestand: Welche Rechte hat eine muslimische Frau? Theaterübung im Stadtraum weckte bei den Teilnehmen- Entscheiden sich Musliminnen freiwillig für das Tragen den eine große Neugier auf weitere Methoden des Thea- des Kopftuchs und wenn ja – warum? Inwiefern ist ein ters im öffentlichen Raum. 14
Im zweiten Modul ging es sowohl darum, weitere prakti- Zum Ende des zweiten Moduls bekamen die Teilnehmen- sche Übungen des Körpertheaters zu erlernen als auch den die Aufgabe, bis zum nächsten Treffen zweiminütige darum, sich innerhalb der Gruppe mit den sich heraus- Solos zum Thema vorzubereiten, die sie zu Beginn des kristallisierten Themenblöcken „Rolle der Frau in musli- dritten Workshop-Blocks aufführten. Alle hatten sehr bild- mischen Gesellschaften“ und „Migrationshintergrund“ und ausdrucksstarke szenische Ideen entwickelt, die ihre auseinanderzusetzen. eigenen, authentischen Ängste, Wünsche und auch Irrita- tionen zum Thema zum Ausdruck brachten. Gemeinsam Der von den Teilnehmenden gewünschte Besuch zweier überlegte die Gruppe, wie sie die choreographischen und gläubiger Musliminnen schuf einen offenen Gesprächs- theatralen Elemente zu einer Szenencollage zusammen- raum, in dem die Teilnehmenden die Fragen stellen führen könnte. Die letzten beiden Workshop-Treffen wur- konnten, die sie schon immer stellen wollten, wozu ihnen den für Proben genutzt. jedoch bisher entweder die persönliche Begegnung mit Musliminnen oder aber der entsprechende geschützte Ende Oktober luden die Teilnehmenden Freunde, Familie Raum fehlte. Die beiden Musliminnen sprachen mit den und Interessierte zu einer ca. 20-minütigen Aufführung Teilnehmenden sehr offen über ihre Erfahrungen mit an- ins Kunsthaus KuLe ein. Nach der Präsentation entstand timuslimischem Rassismus und von der ständigen Kon- eine angeregte Diskussion mit dem Publikum über Ängs- frontation mit Vorurteilen – sowie über ihren Umgang te und Fragestellungen innerhalb unserer Gesellschaft damit. Ebenso diskutierten sie über verschiedene Inter- zum Thema Muslimfeindlichkeit. pretationen bestimmter Koranverse, über ihr eigenes Verständnis vom Islam und über ihre persönlichen Ein- stellungen zum Kopftuch. Der Besuch der beiden Frauen erweiterte den Blick aller Beteiligten. Es entstanden neue Sichtweisen und der Wunsch sich in Zukunft mehr mit dem Thema Islam zu beschäftigen. Bei der Abschlusspräsentation aller Workshops, die im Jahr 2017 im Rahmen des Projektes WIR HIER! stattfand, führten die Teilnehmenden eine kleine 5-minütige Sequenz ihrer Theatercollage vor und ern- teten großen Applaus. Bei einem weiteren Treffen befragten die Teilnehmen- den Passant_innen mit dem im ersten Modul entwickel- ten Fragebogen zum Thema „Migrationshintergrund“. Sie Teilnehmende: In Berlin lebende Migrant_innen im Alter begaben sich in der fiktiven Rolle einer Universitätsstu- von 16 bis 27 Jahren die an einen öffentlichen Platz. In der Tradition des Un- Zeitraum: 8 Termine im Zeitraum September – Oktober sichtbaren Theaters von Augusto Boal fingen sie mit den 2017, jeweils 4 Stunden Passant_innen Diskussionen an, die z. T. sehr kontrovers Workshop-Leitung: Ursula Maria Berzborn (Künstleri- verliefen und die innerhalb der Gruppe in einer anschlie- sche Leitung Grotest Maru), Sergio Serrano (Schauspieler ßenden Feedbackrunde reflektiert wurden. Grotest Maru) 15
Workshop Tourguide Werde Tourguide – Just for One Day! „Werde Tourguide – Just for One Day! Entdeckung des verweisen, in denen ihnen solche Verknüpfungen aufge- muslimischen Berlins“ – so der Titel unseres Tourgui- fallen sind. Gemeinsam erarbeiteten die Teilnehmenden de-Workshops. Der Workshop verband die Sensibi- verschiedene Gegenüberstellungen wie „Abendland“ vs. lisierung für muslimfeindliche Bilder, wie sie uns in „Orient“, „Christentum“ vs. „Islam“, „aufgeklärt“ vs. „vor- Medien, Politik und Alltag begegnen, mit der theore- modern“, die solchen Konstruktionen nicht selten zu- tischen sowie praktischen Auseinandersetzung mit grunde liegen. Interessant waren hierbei auch die Beiträ- muslimischem Leben in Berlin. ge eines jungen muslimischen Teilnehmers, der für diese Art der stereotypen Bilder natürlich in besonderer Weise Die Aufgabenstellung des Workshops lautete: „Stell Dir sensibilisiert ist. vor, es kommt eine Gruppe von Muslim_innen zu Besuch und Du sollst ihnen das muslimische Berlin zeigen.“ So wurde bei den Teilnehmenden einerseits die Lust ge- weckt, ihre Stadt bzw. ihren Kiez mit anderen Augen zu erkunden, andererseits wurden Berührungspunkte mit muslimischer Stadt- und Alltagserfahrung geschaffen. Vielfach kam es dabei auch zu konkreten Begegnungen und Gesprächen mit Muslim_innen, so etwa bei der Re- cherche vor Ort oder während der Tour selbst. Das zweite Treffen widmete sich dem Thema „Tourgui- ding“. Nach einem sehr aktiven und lustigen Aufwärm- spiel stellte die zweite Workshop-Leiterin Marie Faust die wichtigsten Regeln des Tourguiding vor (z. B. sollte man den Teilnehmenden einer Tour niemals den Rücken zu- drehen, wenn man etwas vorstellt). Zur Verdeutlichung führte sie selbst ein Negativbeispiel vor, anhand dessen die Teilnehmenden aufzählen sollten, was sie dabei falsch gemacht hatte. Nach einer Vorstellungsrunde stellte die Workshop-Lei- terin Dr. Sabrina Dittus am ersten Tag die Begriffe Is- Im Anschluss sollten die Teilnehmenden zu einem (fik- lamfeindlichkeit, Islamophobie und antimuslimischer tiven) Ort recherchieren, den sie dann in der Runde Rassismus vor und erläuterte die Unterschiede. Im Fol- vorstellten. Die einzelnen Vorstellungen wurden in der genden zeigte sie anhand unterschiedlicher Beispiele Gruppe diskutiert. Diese Übung kam sehr gut an – das aus Film, Print- und TV-Journalismus, wie Medien unsere Präsentieren machte allen Teilnehmenden großen Spaß. Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch konstruie- Die wichtigsten Do´s und Dont´s zum Thema „Eine ren – und damit auch Identitäten formen. Gerade beim Stadtführung planen“ schickte Marie Faust den Teilneh- Bild „des“ Muslims oder „der“ Muslimin werden oftmals menden im Nachgang per Email zu. muslimfeindliche und rassistische Inhalte transportiert. Besonders augenfällig wird es, wenn es um „den“ Islam Zum Abschluss des zweiten Tages fand ein erstes Brain- geht und – entweder bildlich oder textlich – schnell eine storming zu der Frage statt, welche konkreten Orte die Verbindung zu Terrorismus hergestellt wird. Die Beispiele Teilnehmenden gerne bei einer Tour durch das muslimi- von Frau Dittus wurden von den Teilnehmenden disku- sche Berlin vorstellen würden. Als Hausaufgabe sollten tiert und analysiert und sie konnten selbst auf viele Fälle sie recherchieren, welche der Ideen sie gerne weiterver- 16
folgen wollten. Eine Teilnehmende präsentierte eine muslimische Bou- tique in Neukölln, an deren Außenfassade eine Koransu- Beim dritten Treffen ging es darum, einige der Vorschläge re auf Deutsch zu lesen ist, die die Verhüllung der Frau zu konkretisieren. Hierfür gab Frau Dittus eine Einführung thematisiert. Basierend auf dieser Fassade entstand ein in das Thema „Richtig und effektiv recherchieren“. An- angeregtes Gespräch über die Rolle der Frau im Islam. schließend recherchierten alle Teilnehmenden zu ihrem jeweiligen Besichtigungsort, so dass am Ende der Sitzung Anschließend fuhr die Gruppe nach Wilmersdorf und die einzelnen Stationen der anvisierten gemeinsamen besuchte dort die älteste Moschee Deutschlands, deren Stadtführung feststanden. Noch fehlende Informationen Bau bereits im Jahr 1928 vollendet wurde. sollten die Jugendlichen bis zum vierten und letzten Tref- fen – der Tour selbst – noch recherchieren. Die Tour endete im Restaurant „Lawrence“ in Berlin Mit- te. Das „Lawrence“ ist ein Kooperationsprojekt von Ge- Schließlich war es so weit: Die gemeinsame Tour stand flüchteten und Deutschen, die in ihrem Restaurant eine an. Die Gruppe traf sich zu einem leckeren Frühstück bei Fusion aus arabischer Küche und Gerichten aus anderen einer syrischen Teilnehmerin zu Hause und besprach Kulturen anbieten. Neben allerlei Leckereien bietet das letzte Details. Anschließend ging es weiter zum Volkspark „Lawrence“ auch Raum für Kunstprojekte, so sind dort Humboldthain, wo weitere an der Stadtführung Interes- zurzeit Fotografien aus einem Geflüchtetenlager im Liba- sierte warteten. Im Sommer kommen muslimische Fami- non ausgestellt. Am Ende dieser ereignisreichen Tour wa- lien und Jugendliche hier zusammen. Außerdem ist der ren sich alle Anwesenden sicher, nun einiges mehr über Park das Herzstück des ehemaligen Gastarbeiter_innen die eigene Stadt und ihre muslimische Facetten erfahren Bezirks Wedding. Im Zuge der Arbeitsmigration der 60er zu haben! und 70er Jahre entwickelte sich der Wedding zu einem Einwanderungsbezirk, in dem auch heute noch ein Groß- Insgesamt kam das Konzept des Workshops – die teil der Bewohner_innen türkischer Herkunft ist. Kombination von theoretischer Auseinandersetzung mit praktischer Neu-/Entdeckung des städtischen Die Gruppe bewegte sich weiter nach Kreuzberg zum Raumes aus muslimischer Perspektive sehr gut an. SO36. In dem Club findet monatlich die erste arabische Die Teilnehmenden haben beide Aspekte mit viel In- und türkische LGBTQI-Partyreihe „Gayhane“ Deutsch- teresse und Engagement diskutiert. Die gemeinsame lands statt, eine eher außergewöhnliche Facette muslimi- Tour, in der sowohl die Teilnehmenden als auch die schen Lebens in Berlin. Besucher_innen neue spannende Orte in Berlin ent- deckten, wurde ein voller Erfolg. Teilnehmende: In Berlin lebende Migrant_innen ver- schiedener Herkunft im Alter von 16 bis 27 Jahren Zeitraum: 4 Termine im Zeitraum November und De- zember 2017. Der nächste Punkt war der muslimische Friedhof am Co- Workshop-Leitung: Dr. Sabrina Dittus (Dozentin, Auto- lumbiadamm, der die älteste muslimische Begräbnisstät- rin, freie Filmemacherin), Marie Faust (Stadtführerin, The- te Deutschlands ist. aterpädagogin) 17
Vortragsreihe Facetten des Islams Neben den von La Red und agitPolska durchgeführ- Während erst im 20. Jahrhundert einige Muslim_innen ten Workshops wurde im Rahmen des Projektes WIR begonnen hätten, daran zu zweifeln, dass Christen und HIER! auch eine niedrigschwellige Vortragsreihe für Juden denselben Gott (auch ihren Gott) anbeten und Multiplikator_innen und die interessierte Öffentlich- nicht nur auf die falsche Weise verehren, hätten Christen keit angeboten. In der gemütlichen Atmosphäre des hingegen bis in das 19./20. Jahrhundert hinein geglaubt, „Clubs der polnischen Versager“ referierten unsere Allah sei nicht Gott im Sinne des Einen Gottes. Erst seit Expert_innen zu ihren Themen und luden jeweils im dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) sagt die Katholi- Anschluss zur Diskussion ein. sche Kirche offiziell, dass sich der Glaube der Muslime auf denselben Gott bezieht. Im Anschluss an den Vortrag von Dr. Würtz entstand eine äußerst interessante Diskussion „Propheten im Koran“ mit dem Publikum insbesondere über Gemeinsamkeiten In unserem ersten Vortrag im Rahmen unserer Veranstal- und Unterschiede der drei monotheistischen Religionen. tungsreihe „Facetten des Islams“ referierte Dr. Thomas Würtz (Katholische Akademie in Berlin e. V.) zum Thema Referent: Dr. Thomas Würtz „Biblische Figuren im Koran“. Der Koran (wörtlich: Rezita- tion oder Vortrag) stellt nach muslimischem Glauben eine direkte Offenbarung an den Propheten Mohammad dar. Podiumsdiskussion: „Verändert die Flucht- Er enthält 114 Suren, ist mit Ausnahme von Sure 1 (die in zuwanderung den Blick auf Musliminnen etwa dem Vaterunser entspricht) in abnehmender Länge und Muslime? Perspektiven europäischer angeordnet und in Reimprosa verfasst sind. Im Gegen- Eingewanderter“ satz zur Bibel, in der Handlungen und Geschichten fast Während des zweiten Termins diskutierten Vertreterin- immer chronologisch erzählt werden, nehmen die Suren nen und Vertreter europäischer Einwanderergruppen im Koran, mit Ausnahme der Sure 12 (Josefs-Geschich- unter der Moderation von Adam Gusowski die Frage, ob te), nur punktuell Bezug auf geschichtliche Ereignisse und und wenn ja, inwiefern die Fluchtzuwanderung den Blick biblische Propheten. Der Koran nennt ca. 20 Propheten, auf Muslim_innen verändert hat. die es auch in der Bibel gibt und drei nicht-biblische Pro- pheten. Die Geschichten der Propheten unterscheiden sich jedoch in Teilen. Alle vier Diskutanten betonten die stetige Zunahme von Muslimfeindlichkeit, die sich sowohl in Deutschland als auch in Polen, Russland und Spanien beobachten ließe. Zudem gebärt Maria Jesus alleine in der Wüste. Auch wur- In Deutschland führe besonders die Angst z. B. auf dem de Jesus laut Koran nicht gekreuzigt, sondern „von Gott Arbeitsmarkt mit Geflüchteten konkurrieren zu müssen, erhöht“, da Propheten als Gesandte Gottes nach dem zu einer negativen Haltung. Interessanterweise, so be- koranischen Verständnis von Prophetie nicht von Men- tonte Gülhanim Karaduman-Cerkes, auch unter den in schen getötet werden können. Deutschland lebenden Muslim_innen selbst. Unter Polen, 18
die, so Jacek Tyblewski, traditionell weniger der Political „Sex und Erotik im Islam“ Correctness anhängen, grassiere ein stereotypenbehaf- Der dritte Vortrag unserer Reihe Facetten des Islams wur- tetes Bild vom Islam, das nicht nur unreflektiert auf die de von Ali Ghandour, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Gruppe der Zuwander_innen übertragen, sondern auch Doktorand am Zentrum für Islamische Theologie an der nach Polen vermittelt werde. Für russische Einwander_in- Universität Münster, gehalten. Der Islamwissenschaftler nen, so Ljudmila Belkin, seien Muslim_innen historisch beschäftigt sich in seiner Forschung mit dem Thema Se- gesehen nicht per se fremd, jedoch bestehe ein sehr an- xualität und Erotik im Islam und veröffentlichte dazu ein gespanntes Verhältnis zwischen jüdisch-russischen und Buch mit dem Titel „Lust und Gunst: Sex und Erotik bei muslimischen Einwander_innen in Deutschland. Unter den muslimischen Gelehrten“ (Editio Gryphus 2015). spanischen Migrant_innen in Deutschland spiele Muslim- feindlichkeit als Thema keine Rolle. Allerdings, so Andreu Jerez, sei Muslimfeindlichkeit seit Jahrhunderten fest in der spanischen Sprache verankert und werde durch den unreflektierten Alltagsgebrauch bestimmter abwertender Begriffe bis heute weitergegeben. Sex und Erotik als Beispiel für den kulturellen Wandel im Islam war der thematische Leitfaden des Abends und gleichzeitig Herrn Ghandours Erklärung, warum ein Theo- loge sich mit diesem Thema schwerpunktmäßig befasst. So berichtete der Islamwissenschaftler von seinem ers- ten zufälligen Zusammentreffen in Kindertagen mit der Im Anschluss an ihre Statements diskutierten die Refe- fast in Vergessenheit geratenen erotischen Literatur und rent_innen mit dem Publikum über die große Emotionali- teilte sein damaliges Erstaunen mit den Zuhörer_innen. tät der Thematik Muslimfeindlichkeit; über das Phänomen „Was ist da passiert?“ stand als Frage im Raum und wurde der Konkurrenz unter den einzelnen „alten“ und „neuen“ in der kommenden Stunde beleuchtet. Migrantengruppen sowie über die Frage, ob nicht schon die Thematisierung von Muslimfeindlichkeit einen Fort- Als Ausgangspunkt für Herrn Ghandours Erklärungen schritt in der gesellschaftlichen Debatte darstelle. dient der Koran, welcher neben direkten Aussagen zu Sex und Erotik auch ein Bild der damaligen Gesellschaft und Moderation: Adam Gusowski (Autor, Journalist, Mitbe- deren Wandel bietet. In der Zeit zwischen dem 9. und gründer des Clubs der Polnischen Versager) 18. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung existierte eine Vielzahl an erotischer Literatur in den islamischen Referent_innen: Ljudmila Belkin (Historikerin), Gülhanim Gesellschaften. Gedichte, Ratgeber, Anekdoten und me- Karaduman-Cerkes (Projektleiterin des Frauenbegeg- dizinische Bücher über Sex und Erotik wurden von an- nungscafés in den Tempelhofer Hangars), Andreu Jerez gesehenen Gelehrten und Literaten der damaligen Zeit (freier Journalist und Autor), Jacek Tyblewski (Fremdspra- verfasst und gesellten sich zu den theologischen Werken chenkoordinator) der damaligen Zeit. Korankommentare und frivole Wer- ke gleichzeitig zu verfassen war zu dem Zeitpunkt keine Seltenheit und wurde keineswegs in Frage gestellt. Un- 19
Vortragsreihe Facetten des Islams ter den Autoren waren auch viele Frauen erfolgreich wortung zahlreicher Fragen und für rege Diskussionen vertreten und bereicherten die Literaturwelt mit ihren genutzt. Schriftstücken. Thematisiert wurden auch Homoerotik und die Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern, Referent: Ali Ghandour was heute als Indiz dafür gesehen wird, dass dies auch so praktiziert wurde. Herr Ghandour sagte, dass damals – insbesondere in den Metropolen – eine Offenheit und unausgesprochene Akzeptanz herrschte, die diese sexu- elle Vielfalt ermöglichte und zu einer Selbstverständlich- keit machte. „Feminismus im Islam“ Unser letzter Vortrag der Reihe wurde von Büşra Delikaya zum Thema „Feminismus im Islam“ gehalten. Die Germa- nistik- und Geschichtsstudentin ist praktizierende Musli- Doch warum ist unsere heutige Ansicht von Sex und Ero- ma und Feministin. Neben ihrer Tätigkeit als freie Autorin tik im Islam so weit entfernt von der damals herrschen- setzt sie sich aktiv für Frauenrechte ein. den Freizügigkeit? Herr Ghandour begründete dies mit mehreren im 19. Jh. auftretenden Faktoren die einen Bevor Frau Delikaya mit ihren Erzählungen begann, for- weitreichenden Wandel in den damaligen muslimischen derte sie die Zuhörenden zur Interaktion während des Gesellschaften hervorriefen. So erklärte er, dass mit Ent- Vortrags auf und motivierte zum Dialog. Sie selbst wolle stehung der Kolonialmächte und der damit verbundenen einen Einblick in die Gedankenwelt einer feministischen Industrialisierung neue Strukturen in die damaligen Ge- Muslimin geben und damit zu einem Erfahrungsaus- sellschaften geschaffen wurden, wodurch ursprüngliche tausch anregen. Ordnungen verworfen und nach Vorbild der Kolonial- mächte neu gebildet wurden. Durch die Einführung moderner Staaten und die Schaf- fung von Metropolen zog es einen hohen Anteil der Land- bevölkerung in die Städte, um dort Arbeit zu finden. Doch diese Bevölkerungsschicht war wenig gebildet und wurde so mit dem neuen staatlichen Bildungssystem konfron- tiert. Dieses Bildungssystem nahm sich auch einer erzie- herischen Aufgabe an und vermittelte neue, westliche Werte, die die vorher herrschende Freizügigkeit als „per- vers“ brandmarkte. Frau Delikaya erzählte von Begegnungen mit Kopftuch- kritiker_innen und radikalen Feministinnen und kritisierte Die im Anschluss verbleibende Zeit wurde für die Beant- beide Parteien für ihre einseitigen Ansichten. Sie erzählte 20
von der fast vergessenen Olympe de Gouges, eine der diesbezüglich für mehr Solidarität und regte die Schaf- ersten Frauen, die für ihre Rechte kämpfte und mit dem fung interkultureller feministischer Netzwerke an, um Leben bezahlen musste. Frau Delikaya sagte, so wie die erfolgreich für essentielle Rechte und Wertvorstellungen französische Schriftstellerin in der Historie kaum Erwäh- kämpfen zu können. nung fand, so seien auch die feministischen Aspekte des Islams in den Hintergrund gerückt. Früher habe der Pro- Am Ende des Vortrags kam es wie von Frau Delikaya ge- phet vor Frauen und Männern gleichermaßen gepredigt wünscht zu vielen Fragen, Anmerkungen und eigenen und auch Frauen durften seine Worte kritisieren und hin- Erfahrungsberichten, die den Abend erfolgreich abrun- terfragen. deten. Die Frage, ob man als gläubige Muslimin auch Feministin Im Anschluss an den Vortrag wurden in unserer offenen sein könne, beantwortete die Rednerin mit einem klaren Diskussion zahlreiche Fragen zu teils stereotypen Bildern „ja“. Sie sagte, dass die emanzipierte muslimische Frau in im Islam gestellt, die dank unserer selbstreflektierten Re- der öffentlichen Wahrnehmung zwar so gut wie nicht vor- ferentin und weiterer Vertreter_innen der muslimischen handen sei, betonte jedoch, dass es viele Feministinnen Community in Deutschland sehr geduldig besprochen im Islam gab und auch heute noch gibt. Wenngleich viele werden konnten. Moscheegemeinden Feministinnen kritisch gegenüber- stehen, dürfe diese Kritik nicht auf den Koran zurückge- Referentin: Büşra Delikaya führt werden. Vielmehr sieht Frau Delikaya Probleme im ihr alltäglich begegnenden Sexismus, welcher auch in den Gemeinden unbemerkt Einzug gehalten hat und sich dort manifestiert. Außerdem, so sagt sie, lasse der Koran viel Raum zur Interpretation – wodurch viele Inhalte sehr ver- schieden ausgelegt werden. So gebe es sowohl Versuche, mit dem Koran die Unterlegenheit der Frau zu begrün- den, als auch unter religiösen Aspekten die Emanzipation der Frau zu fordern. Besondere Kritik übte die Referentin an dem, ihrer Mei- nung nach, zunehmenden Absolutheitsanspruch der normativen Ideale vieler Frauenrechtler_innen, die alter- native Ansichten und Lebensweisen – wie zum Beispiel die Kombination von religiöser Zugehörigkeit und Femi- nismus – ausschließen würden. Frau Delikaya plädierte 21
Sie können auch lesen