Wissenschaftliche Episteme und Geltung. Von der Konstruktion zum Dialog

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Geogr. Helv., 78, 169–182, 2023
https://doi.org/10.5194/gh-78-169-2023
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                         Wissenschaftliche Episteme und Geltung.
                             Von der Konstruktion zum Dialog
                                                                  Pascal Goeke
                                 Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz, Linz, Österreich
                                      Correspondence: Pascal Goeke (pascal.goeke@ph-linz.at)

              Received: 18 July 2022 – Revised: 10 February 2023 – Accepted: 23 February 2023 – Published: 23 March 2023

        Kurzfassung. The long triumph of constructivism, particularly visible works such as Kuhn’s writing on the
        structure of scientific revolutions, and many other scientific studies have made one thing clear: Reason alo-
        ne does not decide on scientific topics, theories, and methods. Instead, very different factors, often considered
        illegitimate, help determine the course of science. These findings make scientific enlightenment gestures re-
        currently appear as sheer mockery, undermine the validity claims of scientific statements, open up possibilities
        for a strong politicisation of science and block any retrograde way out. Those who are nevertheless convinced
        of the importance of scientific autonomy, who defend a special validity of scientific knowledge and who accept
        the scientific duty of responsiveness, should acknowledge the decision-making challenges in science and, as the
        article recommends, engage in theory-theoretical dialogues.

1   Entscheidungen in der Wissenschaft – Aspekte                           den, sollten aus Struktursicherungsgründen aber besser nicht
    eines Problems unter partiellem Latenzschutz                           ausgesprochen werden (vgl. Luhmann, 1984:459).
                                                                              Doch was ausgesprochen werden kann und was besser
     „Reason explains, but like and dislike command.“                      nicht, unterliegt einem Wandel. Die vielen Wissenschaftsstu-
     (Maturana, 1980:23)                                                   dien, die immer wieder aus Neue auf zweifelhafte epistemi-
                                                                           sche Verstrickungen aufmerksam machen, die jüngeren De-
   Dass innerhalb der Wissenschaft1 fortwährend über The-                  mokratisierungsschübe und Pluralisierungsbegehren in der
men, Theorien und Methoden entschieden wird und somit                      Wissenschaft sowie die artikulierten Ansprüche an eine ver-
auch Aussagen mit wissenschaftlichen Geltungsansprüchen                    antwortungsvolle Wissenschaft zeigen in aller Deutlichkeit,
von Entscheidungen abhängen, ist eine Binsenweisheit, die                  dass bestimmte Entscheidungen und Entscheidungsprämis-
spätestens mit dem Siegeszug konstruktivistischer Epistemo-                sen zur Diskussion stehen (z. B. Dickel und Böhmer, 2021;
logien zum akzeptierten Konstituens wissenschaftlichen Ar-                 Maasen et al., 2012). Und immer wenn die vielen Kontingen-
beitens wurde. Doch das Offensichtliche wird immer wie-                    zen, Probleme und Schattenseiten beim wissenschaftlichen
der zu einem Mysterium: Schon allein aus Zeitgründen kön-                  Entscheiden zur Sprache gebracht werden, steigt die Zahl
nen nicht alle Entscheidungen beim wissenschaftlichen Ar-                  der ins Bewusstsein tretenden Entscheidungen. Zu homoge-
beiten, so sie uns überhaupt bewusst sind, in allen Details                ne Panels auf Konferenzen gelten dann zum Beispiel nicht
an- und ausgesprochen werden. Überdies genießen bestimm-                   mehr als hinzunehmender zufälliger Nebenwiderspruch des
te Entscheidungen Latenzschutz. Sie können gewusst wer-                    wissenschaftlichen Arbeitens, sondern werden als ein Ergeb-
    1 Wenn im Folgenden von Wissenschaft die Rede ist, dann soll es        nis schlechten Entscheidens gewertet. Im Ergebnis lassen die
um Anstrengungen gehen, die auf die Herstellung von Wissen hin-
                                                                           Enthüllungen von impliziten Entscheidungen, die Forderun-
auslaufen und die die Qualität dieses Wissens trotz aller Umstritten-      gen nach Begründungen für Entscheidungen und die Hinwei-
heit primär am wissenschaftseigenen Code wahr/unwahr orientieren           se auf das bei Entscheidungen noch zu Bedenkende wissen-
respektive Kriterien wie Nützlichkeit, Profitabilität, Sittlichkeit etc.   schaftliches Entscheiden riskant werden, ohne dass klar zu
in die Schranken weisen. Dies muss nicht zwingend an Hochschu-
len und öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen geschehen.

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erkennen wäre, nach welchen Regeln und Kriterien in der         sich als klare Entscheidung zwischen Alternativen präsentie-
Wissenschaft legitim zu entscheiden ist.                        ren, doch auch weniger bewusste Entscheidungen mit unbe-
   Diese skizzierte multikausale Steigerung von Entschei-       absichtigten Nebenfolgen sollen hier gemeint sein. Das ge-
dungslasten und die damit einhergehenden Probleme moti-         samte Spektrum von Entscheidungen im Blick zu behalten
vieren den Beitrag, diese Entwicklungen im ersten Schritt       ist auch deshalb wichtig, weil sich wissenschaftliche Aus-
zu erfassen, um sich der Herausforderungen gewahr zu wer-       sagen zwar gerne als alternativlos präsentieren, aber schon
den (Kapitel 1). Anschließend soll vor allem die epistemi-      allein deshalb entscheidungsabhängig sein sollten, weil wis-
sche Dimension der Herausforderungen möglichst ursäch-          senschaftliches Arbeiten zu bereits entschiedenen Sachver-
lich begriffen werden (Kapitel 2), um im dritten Kapitel die    halten reichlich trivial wäre (vgl. von Foerster et al., 1997).
Idee theorietheoretischer Dialoge als kleinen Ausweg zumin-        Nun ist es keine theoretische Innovation, Entscheidungen
dest für Theorieentscheidungsprobleme skizzieren zu kön-        im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Wissenspro-
nen. Die Tauchgänge zur German Theory (Korf et al., 2022)       duktion zentral zu stellen. Spätestens seit Kuhns Arbeit zur
bieten einen aus mehreren Gründen guten Rahmen für dieses       Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1996 [1962]) ist
Anliegen. Indem sie selbst als Zeichen für die Kontingenzen     bekannt, dass Wissenschaft nicht als teleologische Annähe-
beim wissenschaftlichen Entscheiden zu werten sind und mit      rung an Wahrheit verstanden werden sollte. Vielmehr kon-
ihnen hadern, waren sie zumindest für mich ein willkomme-       figurieren ex- und implizite Entscheidungen innerhalb wis-
ner Anlass, um über Entscheidungen in der Wissenschaft sys-     senschaftlicher Gemeinschaften die epistemischen Werte, die
tematisch nachzudenken. Dies auch deshalb, weil frühere Er-     für das jeweilige Paradigma gelten. Zugleich ist Kuhns Ar-
kundigungen bei Kolleg:innen nach den individuell verwen-       gumentation nicht als vollkommene Absage an Fortschritts-
deten Entscheidungsprämissen meist ausweichend beantwor-        ideen zu verstehen. Möchte sich eine Theorie durchsetzen,
tet wurden. Weil die Tauchgänge überdies zur Provinzialisie-    so Kuhns Argumentation, muss sie die Problemlösungska-
rung auffordern, bieten sie auch einen normativen Rahmen,       pazitäten der vorherigen Theorien reproduzieren und einen
um systemtheoretische, kybernetische oder theorietheoreti-      zusätzlichen Mehrwert bieten. So wird Fortschritt mög-
sche Argumente aus der deutsch-österreichischen Provinz in      lich, weil jedes Paradigma mittels seiner Unterscheidungen
die Diskussion einzuführen. Allerdings, ohne French Theory      die Möglichkeiten der „articulation and specification“ er-
geht es nicht! Am Ende braucht es wenigstens einen Bisou        höht und damit die Problemlösungskapazität der Wissen-
von Jullien (2019), um die Einladung zum theorietheoreti-       schaft steigert (Kuhn, 1996 [1962]:172; Hoyningen-Huene
schen Dialog epistemologisch-pragmatisch zu begründen.          und Lohse, 2012:81).
   Der Ausgangspunkt dieser Erkundungen ist also die Ent-          Daher besiegelten wissenschaftskritische Studien in der
scheidungsabhängigkeit wissenschaftlichen Wissens, wie sie      Vergangenheit keineswegs das Ende der Wissenschaft, be-
nicht bloß in den Tauchgängen und vergleichbaren Wissen-        förderten aber eine Binnendifferenzierung der Wissenschaft.
schaftsreflexionen deutlich wird (z. B. Müller und Schmie-      Im Ergebnis wurde es möglich, Wissenschaft sowohl im pro-
der, 2016; Stichweh, 1984). Auch Lobreden und Nachru-           gressiven Wissens- und Kapazitätserweiterungsmodus zu be-
fe, das heißt personalisierte bis heroisierende Kompositio-     treiben als auch wissenschaftskritisch auf die Kontingen-
nen vorausgegangener Entscheidungen (vgl. Hamann, 2016),        zen wissenschaftlichen Entscheidens aufmerksam zu ma-
wissenschaftliche Jurys, die über Aussprachen explizit auf      chen. Das beinhaltet, dass sich die Wissenschaftsreflexion im
Entscheidungen hinauslaufen (vgl. Lamont, 2009), oder For-      Dekonstruktions- oder Beobachtungsmodus längst als eigene
schungsstanddarstellungen, die angesichts der Literaturfül-     Disziplin ausdifferenziert hat und eine eigene Fortschritts-
le als Dokumentation von Lektüreentscheidungen gelesen          narration mit Hoffnungen auf eine bessere Welt präsentiert.
werden können, zeigen die Omnipräsenz von Entscheidun-          Weil diese bessere Welt aber auf sich warten lässt, erfuhr die
gen in der Wissenschaft an. Und spätestens mit Blick auf        epistemische Lage samt weitgehend gebilligter Arbeitstei-
den wissenschaftlichen Klatsch, bei dem ausdrücklich, spitz-    lung zuletzt eine politische Dimensionierung. Mit mehr Ver-
züngig oder gar derb über das wissenschaftliche Feld und        ve als zuvor zeigen die einschlägigen Studien zum Beispiel,
sein Personal gesprochen wird sowie en passant Freund-          dass Macht (z. B. Egner und Uhlenwinkel, 2021) und Diskri-
und Komplizenschaften gepflegt und Außenseiter-Etablierte-      minierungen (z. B. Heintz et al., 2004) in all ihren Spielar-
Verhältnisse gestaltet werden (vgl. Elias und Scotson, 2002     ten bedeutsam sind, dass kognitive Limitationen oder psychi-
[1965]:166ff.; Wardenga und Weichhart, 2012:298), wird of-      sche Dispositionen der involvierten Personen Einfluss haben
fensichtlich, dass nicht alle Entscheidungen in der Wissen-     (Kruger und Dunning, 1999), dass gesellschaftliche Erwar-
schaft uneingeschränkte Legitimität genießen.                   tungen und Steuerungsprinzipien das Wissenschaftssystem
   Zweifellos variieren die Qualitäten der jetzt in den Blick   zu manipulieren beginnen (Münch, 2007, 2009), dass dyna-
genommenen Entscheidungen enorm. Es kann um Entschei-           mische Ideengeschichten (Müller und Schmieder, 2016) zu
dungen über Aussagen mit einem wissenschaftlichen Gel-          leiblich spürbaren Ausschlüssen führen (z. B. Hasse, 2017)
tungsanspruch bis hin zu Zuteilungsentscheidungen von Res-      und dass Vakanzketten in den Organisationen der Wissen-
sourcen wie etwa Aufmerksamkeit oder Finanzmitteln ge-          schaft, Generationenfolgen in den Disziplinen und Netz-
hen. Zudem können die Entscheidungen explizit sein und          werkdynamiken in allen Konstellationen Einfluss auf die

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Themen-, Theorie- und Methodenwahl haben (z. B. Stein-           wissenschaftliche Praxis wachen und Diskussionen, um die
brink und Aufenvenne, 2017). Von tiefergehenden epistemi-        Beispielliste zu schließen, sollen dialogischer werden. Die
schen Problemen, also von Fragen der Theoriearchitekturen,       eine oder andere konkrete Forderung wird dabei in der Me-
Erkenntnismöglichkeiten oder disziplinären Verfasstheiten,       dienöffentlichkeit als überzogen oder skurril bewertet (z. B.
ist da noch gar nicht die Rede gewesen (vgl. Grizelj und         Thiel, 2021), doch in ihrem normativen Kern sind die all-
Jahraus, 2011). Und offengeblieben ist auch, welche Folgen       gemeinen Forderungen nach mehr Gleichheit und Inklusion
die vernetzten Computer als Medien und Maschinen (Espo-          kaum zu kritisieren (Jacoby, 2022). Damit ähneln die Ent-
sito, 1993), künstliche Intelligenzen und die Algorithmen der    wicklungen im wissenschaftlichen Feld rhetorisch, normativ
sozialen Medien für wissenschaftliches Entscheiden haben.        und praktisch Entwicklungen und Dynamiken in anderen so-
   Die genauen Effekte all dieser Erkenntnisse sind nicht        zialen Feldern oder Systemen, die ebenfalls Demokratisie-
leicht zu erfassen. Zunächst wird man festhalten kön-            rungsprozesse im weitesten Sinn erfahren. Wie folgenreich
nen, dass im wissenschaftlichen Normalbetrieb der Gegen-         das im Detail ist, ob also zum Beispiel Ungleichheiten abge-
wart ohne größere Risiken über die nicht-wissenschaftlichen      baut oder einst als unwissenschaftlich klassifizierte Themen
Schattenseiten bei der Themen-, Theorien, Methoden- und          inkludiert werden, kann dann Gegenstand der fortgesetzten
Personenwahl gesprochen werden kann. Dies gilt ungeach-          (wissenschaftlichen) Diskussionen werden.
tet der Beobachtung, dass manche Kritik noch immer lie-             Bei den Forderungen nach mehr Gleichheit und Inklusi-
ber von der Seite eingespielt als frontal geäußert wird. Bei-    on bleibt indes oft unbedacht, was Wissenschaft im positi-
spiele hierfür sind Arbeiten zu elitären Reproduktionszir-       ven Sinn ist oder sein soll. Unterscheidet sich eine durchde-
keln in der Soziologie aus dem Ruhestand (Münch, 2007,           mokratisierte Wissenschaft epistemisch von anderen sozialen
2009) oder ein über die angelsächsische Bande eingespiel-        Praktiken? Was heißt wissenschaftlich arbeiten und entschei-
ter, bildungssprachlich-metaphorisch gerahmter und mittels       den, wenn die jetzt umgesetzten Politiken für mehr Diversi-
Frageform rhetorisch abgemilderter Modeanfälligkeitsvor-         tät gesorgt haben, wenn Positionen an der Spitze von Hier-
wurf an die deutschsprachige Humangeographie, die, und           archien nicht mehr zur Akkumulation von Macht und Presti-
jetzt die Kritik, deutschsprachige Denker:innen vermutlich       ge zu Lasten der Untergeordneten führen oder wenn Wissen-
auch deshalb so selten beachten, „weil diese in der anglo-       schaft keine gesellschaftliche Unterdrückung mehr reprodu-
phonen Geographie nicht so sehr en vogue sind“ (Korf et          ziert? Nun sagt, möchte man mit Gretchen fragen, wie habt
al., 2022:85). Doch diese Normalisierung von Kritik produ-       ihr’s mit der Wissenschaft? Glaubt ihr daran?
ziert zugleich die Bedingungen ihres Verfalls. Progression          Die Gretchenfrage nach der Besonderheit wissenschaft-
kann bekanntlich nur entzaubert werden, wenn sie behaup-         lichen Arbeitens ist aus mindestens drei Gründen wichtig.
tet wird. Doch wer will schon immer entzaubert und dabei         Sie ist erstens wichtig, weil die politischen Debatten in der
als gestrig-naiv porträtiert werden? Allzu simple Progressi-     Wissenschaft darüber nicht immer Auskunft geben respekti-
onspositionen wurden folglich aufgegeben. Daraus folgte al-      ve sich eher gegen bestimmte Strukturen richten (z. B. ge-
lerdings nicht, dass die Kritik verstummt. Vielmehr wurde        gen Rassismus, Kolonialismus, Faschismus etc.). Dabei blei-
die Kritik vor dem Hintergrund eines historisch geschärften      ben explizite Instruktionen für wissenschaftliches Arbeiten
Problembewusstseins um die Schattenseiten wissenschaftli-        respektive für ein Arbeiten, das sich von anderen sozialen
chen Arbeitens und angesichts gestiegener Sensibilitäten für     Formen unterscheidet, aus. Sie ist zweitens wichtig, weil zu
Diskriminierungen aller Art politischer.                         klären wäre, nach welchen Kriterien angesichts knapper Res-
   Und weil es anscheinend nicht genügt, über die Vernach-       sourcen in der Forschung und Lehre Lese- und Forschungs-
lässigung bestimmter Themen zu lamentieren, über die Gren-       zeit zu verteilen, Finanzmittel zu vergeben oder Anerken-
zen zwischen Wissenschaft, Free Speech und Hate Speech           nung zu zollen sind. Und die Frage ist drittens wichtig, weil
zu diskutieren (Revers und Traunmüller, 2020), gegen mora-       die thematisierte Politisierung der Wissenschaft in Form ge-
lisierende Exklusionen Unbehagen zu äußern (Redepenning,         steigerter Demokratisierungsanforderungen nicht allein ei-
2007; Korf, 2022) oder überhaupt auf mangelnde Gleichheit        nem Zeitgeist geschuldet ist und daher zurückgewiesen wer-
und ungerechtfertigte Exklusionen lediglich hinzuweisen,         den könnte. Vielmehr ist anzuerkennen, dass die beobachtba-
münden die Argumentationen zunehmend deutlicher in poli-         re Politisierung der Wissenschaft auch ein Resultat von fun-
tische Forderungen: Gegen opake Nobelpreisentscheidungen         damentalen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ver-
soll beispielsweise mehr Transparenz helfen, die Hegemo-         schiebungen ist. Grob gesprochen verloren bei diesen Ver-
nie in den selbstproduzierten Zentren der Wissenschaft soll      schiebungen Positionen eines erkenntnistheoretischen Rea-
mit Provinzialisierungsstrategien geschwächt werden, ge-         lismus an Überzeugungskraft, während konstruktivistische
gen Schiebung bei Berufungsverfahren sollen Berichterstat-       Epistemologien an Gewicht gewannen. Besonders sichtbare
ter:innen wirken, gegen Gender-Diskriminierungen soll die        Kulminationspunkte dieser Verschiebungen sind die sich ge-
Beachtung des akademischen Alters helfen, diverse und ro-        genseitig vervollständigenden Bücher After Theory (Eagle-
tierende Boards sollen einseitige Selektionen in Zeitschriften   ton, 2004) und After Method (Law, 2004). Politisierter als
lindern, Interessenskonflikte sollen mit Offenlegungspflich-     vorangegangene Beiträge zeigen sie, dass die Theorie- und
ten sichtbar werden, Ethikkommissionen sollen über gute          Methodenprogramme der Wissenschaft interne Konstruktio-

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nen des Wissenschaftssystems zur Welterfassung (Theorien)            Eine bekannte Form des Paradoxiemanagements ist zum
und Welterschließung (Methoden) sind. Das ist nicht neu           Beispiel die Ideologiekritik. Sie findet ihren Ausgangspunkt
(vgl. dazu schon: Mitterer, 1992). Doch mit ihrem Titelwort       in der These, dass Ideologien konstitutiv für unsere Weltbe-
„After“ versperren sie radikaler als frühere vergleichbare        züge und Deutungshorizonte seien und fordert dazu auf, jene
Werke (z. B. Luhmann, 1990) den Weg zurück zu klassischen         Umstände zu enthüllen und zu dechiffrieren, „die es der Herr-
Wissenschaftskriterien, anhand derer man leichter entschei-       schaft erlauben, sich durchzusetzen“ (Jaeggi, 2009:269). Zu
den konnte. Wer heute noch die normative Struktur der Wis-        erkennen ist ein Paradoxiemanagement, das das paradoxale
senschaft auf Werten wie Kommunismus, Universalismus,             Verhältnis von Selbst- und Fremdreferenz in den übergeord-
Uneigennützigkeit und organisiertem Skeptizismus aufbau-          neten Begriff der Ideologie integriert und sich vorab auf die
en möchte (die CUDOS-Prinzipien von Merton, 1942), wird           Enthüllung von Herrschaftsverhältnissen festlegt respektive
schnell als naiv bewertet. Und wer Theoriekriterien wie Wi-       Herrschaftsverhältnisse immer schon unterstellt. Diese Fest-
derspruchsfreiheit, Einfachheit, Konsistenz, Verträglichkeit      legung führt zu der bekannten Unfähigkeit der Ideologiekri-
mit anderen Theorien, Viabilität, Prognosefähigkeit, Frucht-      tik, die selbst postulierte Notwendigkeit der Kritik zu kriti-
barkeit, Leitdifferenz, Nützlichkeit, Kritisierbarkeit etc. an-   sieren (Esposito, 2011:139).
führt, handelt sich aus guten Gründen den Vorwurf ein, ge-           Damit wird die Ideologiekritik keinesfalls obsolet, aber
nau jene Vergleichskriterien zu propagieren, die der eigenen      die zentrale Herausforderung eines Paradoxiemanagements
Position besonders schmeicheln.                                   tritt deutlich hervor: Es muss darum gehen, Unterscheidun-
   Wie ist nun zu entscheiden, wenn Wahrheit nicht schon          gen vorzuschlagen, die sich nicht selbst blockieren (Luh-
selbst „richtig“ sein kann (Luhmann, 1990:198), Haltepunkte       mann, 1995:173). Der diesbezügliche systemtheoretische
schwinden und Rückzüge versperrt sind? Nach welchen Kri-          Vorschlag, um ein anderes Beispiel zu sichten, lautet, die
terien sind etwa wissenschaftliche Manuskripte zu begutach-       Disjunktion von Volition und Cognition „durch eine Orien-
ten, Förderanträge zu bewilligen und Karrieren zu stützen?        tierung an dem übergeordneten Begriff der Beobachtung“
Ob diese und ähnliche Fragen überhaupt auf ein Problem            zu überwinden (Schützeichel, 2007:260). Dabei hält sich
verweisen, liegt zu einem guten Teil im Auge der Betrach-         die Systemtheorie an die Beobachtungen und Beobachtungs-
ter:innen, und keinesfalls sollte die Autonomie der Wissen-       schemata der Systeme selbst und beobachtet sie auf ihre Un-
schaft pauschal als bedrohtes Gut dargestellt werden. Doch        terscheidungsformen hin. Durch diesen „Realitätsbezug der
wenn die Antworten auf die Entscheidungsfragen stockend,          Erkenntnis“ (Luhmann, 1984:245) lässt sie sich von der er-
ausweichend und inkonsistent sind, dann scheint meine Pro-        wähnten Paradoxie nicht blockieren, handelt sich aber den
blematisierung des alltäglich gut funktionierenden Wissen-        Vorwurf ein, sich in (affirmativen) Beobachtungen von Be-
schaftsbetriebes nicht vollkommen irrelevant zu sein. Ent-        obachtungen zu verlieren.
sprechend der Annahme, dass jede Problembearbeitungsstra-            Gleichwohl die Ideologiekritik eng mit der Kritischen
tegie nicht nur ein Problem bearbeitet, sondern eigene Pro-       Theorie und die Beobachtungstheorie eng mit der Sys-
bleme hervorbringt, soll es im Folgenden um ein tieferes Ver-     temtheorie verbunden ist, gilt in beiden Fällen, dass zwischen
ständnis der Problemlage gehen.                                   Theorie und Methode getrennt wird und somit auch ande-
                                                                  re Kombinationen möglich sind. Diese grundsätzliche Unter-
2   Die Paradoxie der Wissensproduktion und                       scheidung ermöglicht es, Theorie und Methodenprogramme
    Möglichkeiten des Paradoxiemanagements                        unter letztlich „willkürlichen und vorläufigen Limitierungen
                                                                  in Operation“ zu setzen, „da jede Limitation von der anderen
      „Das moderne Wissen muß sich Erklärungen ge-                Seite der Unterscheidung her infrage gestellt und gegebenen-
      fallen lassen. Wie kommt es damit zurecht?“ (Luh-           falls ausgewechselt werden kann. Limitationen ohne Limi-
      mann, 1995:151)                                             tation also!“ (Luhmann, 1990:403). Eine Theorie, die nicht
      „Ach, wissen Sie . . . “ (Maasen, 2009:88)                  mit einer Methode gestützt werden kann, ist wissenschaftlich
                                                                  ebenso wertlos wie eine Methode, die zu keiner Abstraktion
   Dass die Produktion allen Wissens aus einem paradoxen          führt.
Verhältnis von Selbst- und Fremdreferenz, Handeln und Er-            So praktisch dieses Verhältnis von Theorie und Methode
leben oder Volition und Cognition hervorgeht, steht trotz be-     auch sein mag, durchschaut wird es schon lange. Und so
grifflicher Variationen außer Frage: Wer etwas über die Welt      haben die Diskussionen um die Beobachtungs- oder Ideolo-
sagen, also eine fremdreferenzielle Aussage treffen möchte,       gieabhängigkeit allen Wissens zu einer umfassenden Rela-
wird sie immer selbstreferenziell machen müssen. Und ob-          tivierung der Wahrheitskategorie geführt. Die wissenschaft-
gleich Wissen und Wissenschaft auf Erleben abstellen, wird        lichen Entscheidungsprobleme der Gegenwart sind daher
eine Person handeln müssen, um zu Wissen zu gelangen,             auch das Ergebnis einer dynamischen erkenntnistheoreti-
wird sie also Volition und Cognition zusammenbringen müs-         schen Doppelbewegung zuungunsten eines erkenntnistheo-
sen (vgl. z. B. Günther, 1979; Maturana und Varela, 1987;         retischen Realismus. Zumindest gelten repräsentationalisti-
Luhmann, 1995). Wissensproduktion erfordert daher immer           sche und positivistische Wissensbegriffe, die eine Meinung
auch ein „Paradoxiemanagement“ (Luhmann, 1995:173).               oder Überzeugung als Wissen bezeichnen, „wenn sie mit ei-

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P. Goeke: Wissenschaftliche Episteme und Geltung. Von der Konstruktion zum Dialog                                         173

nem Sachverhalt oder Zustand in der Welt übereinstimmt“,         noch über Themen, Theorien, Methoden und Karrieren ent-
als ausgesprochen naiv (Schützeichel, 2007:258; vgl. auch        schieden werden kann.
Luhmann, 1995:155f.) – Positivist „becomes a swear-word,            Auf der Suche nach empirischen Antworten in der hu-
by which nobody is swearing“ (Williams, 2015:182).               mangeographischen Wissenschaftspraxis ist zunächst ein Be-
   Im Gegenzug gewannen konstruktivistische Positionen an        friedungsmodus als konkrete Form des zwingend notwendi-
Geltung. Sie reichen in ihrer expliziten Form wenigstens bis     gen Paradoxiemanagements zu erkennen. Plädiert wird da-
ins Jahr 1710 zu Giambattista Vico zurück (von Glasers-          für, tausend Blumen blühen zu lassen (Philo, 2000:44), die
feld, 1995:35ff.) und finden seit dem frühen 20. Jahrhun-        geographische „Multiperspektivität ausdrücklich als Vorzug
dert vermehrt in den Sozialwissenschaften Beachtung. Ein         und Stärke des Faches“ zu sehen sowie theoretische Mehr-
Beispiel ist das Thomas-Theorem: „If men define situations       sprachigkeit und Offenheit gegenüber „allen anderen Rich-
as real, they are real in their consequences“ (Thomas und        tungen“ zu praktizieren (Weichhart, 2008:398). Etwaige Kri-
Thomas, 1928:572). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-        tik an einer „viele bunte Blüten-Haltung“ wird als „typisch
derts werden sie ausformuliert. Zu erinnern ist an Bergers       modernistisch“ diskreditiert (Oßenbrügge, 2014:31). Diese
und Luckmanns Schrift zur gesellschaftlichen Konstruktion        Forderung nach mehr Vielfalt hat tatsächlich zu einer Be-
der Wirklichkeit (1969), an Maturanas und Varelas Baum der       friedung innerwissenschaftlicher Konflikte beigetragen. Statt
Erkenntnis (1987) oder an Heinz von Foersters Sentenz, dass      Geltungs- und Wahrheitsansprüche von Theorien in der äs-
die Umwelt keine Informationen enthalte, sondern so ist, wie     thetischen Form des Kampfes um die Sprecher:innenposition
sie ist (2003 [1970]:189). Die genannten Positionen gehen        auszutragen, sei man zu einer Kulturalisierungspraxis von
grosso modo weiterhin von einer existierenden Welt außer-        Sprecher:innenpositionen übergegangen (Nassehi, 2006:65).
halb unserer selbst und der Möglichkeit ihrer Aufschlüsse-       Frei von Kritik ist diese Praxis nicht. Korfs Kritik an den
lung aus, doch das Kriterium einer beobachtungsunabhän-          „Schonstellungen“ oder „diffusen Theorieverschleifungen“
gigen Objektivität oder Wahrheit ist nach ihren Interventio-     einer kritisch gestimmten Geographie (2022:21) hat viel-
nen nur noch wider besseres Wissens vertretbar. Frei von         leicht auch etwas damit zu tun, dass im Befriedungsmo-
Gegenworten sind die Interventionen nicht. So gibt es Kri-       dus die Lust am konstruktiv-korrigierenden und lebendigen
tik an den vorgeblich anheischigen Gedankenspielen kon-          Streit abhandenkam. Wie in einem Zoo, so heißt es bei Nas-
struktivistischer Philosoph:innen, die nicht mehr als nette      sehi (2006:65), würden die Theorien ausgestellt und betrach-
Übungsstücke für Student:innen der Philosophie seien (Ger-       tet. Doch trotz Demonstration ordentlicher Beißwerkzeuge
hardt, 2005:773). Und Boghossian (2013) macht eine „Angst        blieben sie in ihren Gehegen völlig ungefährlich. Der wei-
vor der Wahrheit“ aus. Auch arbeiten viele Wissenschaft-         teren Öffentlichkeit ist das nicht entgangen. Zumindest Kau-
ler:innen weiterhin in einem wenigstens schwachen reprä-         be (2010:28) bemerkt zum Rückzug des Streites aus der Wis-
sentationalen Modus.                                             senschaft süffisant, dass Schulen früher Recht haben wollten
   Die epistemischen Verschiebungen haben den Druck auf          und Paradigmen heute ihre Ruhe haben wollen.
die wissenschaftliche Wissensproduktion und die Geltung             Die zweite klassische Form soll als Konfliktmodus be-
wissenschaftlichen Wissens erhöht. Dies gilt umso mehr,          zeichnet werden. Gefolgt wird einer Gestaltungsnorm, die
da andere Wissensproduzent:innen an Bedeutung gewinnen.          einen proaktiven Umgang mit der Erkenntnis der kontingen-
In Forschungsabteilungen von Unternehmen, in politischen         ten Selbstkonstruktion von Theorien pflegt: Wenn jede Posi-
Think-Tanks und anderen NGOs sowie an vielen weiteren            tion bedingt und als ein „travelling discourse“ zu verstehen
Orten wird zudem Wissen produziert, das leichter genutzt         ist (Gregory, 1994:12; vgl. dazu auch Haraway, 1988), dann
werden kann. Doch die Wissenschaft kann Nützlichkeitskri-        soll – so ist speziell in der anglophonen und im weiten Feld
terien nicht bedingungslos folgen, weil sie dann einen Teil      der Kritischen Geographie zu erkennen – möglichst nach den
ihrer Identität preisgäbe. Wissenschaft erschöpft sich für ge-   eigenen normativen Spielregeln gespielt werden. Heteronor-
wöhnlich nicht in der wahrheitsförmigen Betrachtung von          mativität wird dann zum Beispiel als zu entlarvendes Übel
Gegenständen, sondern macht, so zumindest eine wichti-           betrachtet und entsprechend thematisiert, emanzipativen Be-
ge Erwartung, „das konventionell Selbstverständliche zum         wegungen ist der Rücken zu stärken etc. Die Haltung wird
Problem“ (Weber, 1985 [1917]:502). Die Gegenstände der           politisch, die Themen werden auswechselbar und man gerät
Wissenschaft sind daher immer auch nach disziplinären Ge-        in Konflikt mit anderen Normen. Ob Einzelne dem Diskurs
sichtspunkten aufgelöste und somit verfremdete Gegenstän-        wirklich entkommen und ihn nach eigenen Regeln gestalten
de. Damit steht die Wissenschaft vor einem doppelten An-         können, wird in der Regel nur selten thematisiert oder gar
spruch: Sie will und muss Aussagen mit besonderen Wahr-          reflektiert (z. B. Rose, 1997; Blomley, 2006).
heitsansprüchen formulieren und dies wenigstens in Teilen           Beide Modi warten mit Vorteilen auf, gebaren aber schon
durch eine verfremdende wissenschaftliche Brille. Vor dem        immer eigene Probleme. Folgt man dem Befriedungsmodus,
Hintergrund eines relativierten Wahrheitscodes, anderer Wis-     so besteht unter anderem die Chance, überhitzte Gemüter
sensproduzent:innen und sich wandelnder gesellschaftlicher       normativ abzukühlen und für mehr kognitive Diversität zu
Erwartungen ist daher zu fragen, wie in der Wissenschaft         sorgen, die ihrerseits das Potential für robustere Erkenntnis-
                                                                 se hat (vgl. Page, 2007). Doch bei der Wahl von Theorien,

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Methoden und Themen droht wissenschaftliche oder diszi-            nachrangig die Idee von wissenschaftlicher Geltung gewor-
plinäre Beliebigkeit. Nicht zufällig werden dann Theorie-          den ist.
Methoden-Kombinationen gewählt, bei denen die Last der                Im ersten Beispiel geht es unter anderem um eine zeit-
Begriffsbildung an die zu erforschende Praxis delegiert wird       gemäße Interpretation des Kynismus. Mit Bezug auf Fou-
oder den Akteur:innen zu folgen ist (vgl. Marcus, 1995;            caults Vorlesungen am Collège de France bemerkt der Au-
Cook et al., 2004; Latour, 1999; für eine pointierte Kritik die-   tor, dass Foucault nicht verrate, „wie ein heutiger Kynis-
ser Strategie vgl. Elam, 1999). Im Effekt ist Desintegration       mus gelebt werden könnte“ (Korf, 2022:45). Um diese Lücke
zu beobachten, weil kaum mehr für eine Theorie argumen-            zu füllen, schlägt er „Techniken der Umständlichkeit und
tiert wird, indem man eine andere Theorie angreift, heraus-        prozeduralen Phantasie“ vor, um „Raum für Nachdenklich-
fordert und sie so integriert (vgl. Nassehi, 2012). Der Kon-       keit zu schaffen“, statt sich in eine „direkte diskursive Kon-
fliktmodus mit seiner Gestaltungsnorm hat das Potenzial zur        frontation“ mit seinem Stein des Anstoßes, in diesem Fall
Veränderung der Praxis, weil er sich nicht auf wissenschaft-       der Denkstimmung der Kritischen Geographie, zu begeben
liche Spitzfindigkeiten versteift. Doch politische Konfronta-      (Korf, 2022:37). Die genauere Argumentation ist feintei-
tionen sind nicht mehr zwingend wahrheitsförmige Konfron-          lig und muss hier nicht vertieft werden. Bedeutsam scheint
tationen.                                                          mir erstens, dass sich der Autor mit seinem Plädoyer für
    Es verwundert folglich nicht, dass weder der Befriedungs-      Umständlichkeit dem von Wilhelm von Ockham formulier-
noch der Kritikmodus einen historischen Endpunkt markie-           ten wissenschaftlichen Bewertungskriterium der Sparsam-
ren. In welche genauen Formen ein aktualisiertes Parado-           keit entzieht. Zweitens scheint er kaum mehr über die Welt
xiemanagement in der Humangeographie mündet, ist nicht             respektive die Kritische Geographie sprechen zu wollen und
vorherzusagen. Gegenwärtig fällt nur auf, dass der Befrie-         sucht stattdessen ein stimmiges Verhältnis von sich zur Welt.
dungsmodus über sein Vielfaltsgebot in einen Diversitymo-          Und drittens fällt auf, dass sich der Autor allen Bewertungen
dus aufzugehen und Elemente des Konfliktmodus zu inte-             und Festlegungen zu entziehen versucht. Im Ergebnis ent-
grieren scheint. Schließlich ist anzuerkennen, dass Diversity      steht ein intellektuell reizvoller Text mit interessanten thera-
nicht einfach gegeben, sondern in den Institutionen der Ge-        peutischen Introspektionen und einem guten Maß an Welt-
sellschaft und damit auch in der Wissenschaft und Univer-          fremdheit.
sitäten herzustellen und abzusichern ist. Beim Diversitymo-           Sprecher:innenpositionen stehen auch beim zweiten Bei-
dus werden Demokratieideale mobilisiert und Haltungen ge-          spiel im Fokus – und dies gleicht doppelt. Zum einen als Ex-
sucht, die möglichst nicht zu konfrontativen Konflikten füh-       planandum – Gegenstand sind die Positionen bei einer Dis-
ren, sondern ganz im Sinne einer Achtsamkeits- und Media-          kussionsveranstaltung anlässlich des Kongresses der Geogra-
tionskultur jede potenzielle Aggressivität zähmen sollen. Die      phie in Kiel 2019 – und zum anderen als Explanans: Aus der
neuerlichen Positionsbestimmungen zu Fragen der Verant-            Positionalität der beiden Diskutant:innen, namentlich Caro-
wortung von Geographie und Geograph:innen sind als flan-           lin Schurr und Peter Weichhart, wird auf die Möglichkeiten
kierende Überlegungen dieser Bewegungen zu deuten (Di-             ihres Sprechens geschlossen respektive die Form des Dialo-
ckel und Böhmer, 2021).                                            ges zu verstehen versucht. Dieser „Dialog für die Zukunft“
    Insgesamt fallen bei den jüngsten Suchbewegungen die           (Hannah, 2020) fand sein gemeinsames Fundament in ei-
vielfachen Überlagerungen von verschiedenen individuel-            ner ebenso abstrakten wie unterkomplexen Wertbestimmung:
len, disziplinären, organisationalen und funktionalen Logi-        Die Geographie, so Schurr und Weichhart, solle „zur Aufde-
ken auf. Es ist keine zentrale Rationalität zu erkennen und        ckung und Veränderung gesellschaftlicher Missstände“ bei-
so erinnern die Bewegungen an Campbells (1969) altes, aber         tragen (Hannah, 2020:320). Dass dieses normativ tadellose
zukunftsweisendes „Fish-Scale Model of Omniscience“. Ob            Konsensgebot auch exkludiert – was ist zum Beispiel mit den
das für die Geographie eine Chance der Wissensorganisa-            Arbeiten der Historischen Geographie? – stand bei der Dis-
tion ist oder die Geographie als Universitätsfach bedroht,         kussion anscheinend nicht zur Debatte. Die beiden Disku-
lässt sich ebenso wenig beantworten wie die Kollateralschä-        tant:innen, so die Beobachtung des Autors, seien angesichts
den in Form von exkludierten Themen, Theorien, Methoden            ihres (unvermeidlichen) Nichtwissens bescheiden und neu-
und Personen kaum bestimmt werden können. Für den Mo-              gierig auf die Bühne getreten (Hannah, 2020:321). Offen-
ment festgehalten werden kann, dass die Geographie sowohl          sichtlich suchten sie nach angemessenen Positionen. Doch
mit dem Befriedungs- und Konfliktmodus als auch mit den            obwohl der Autor die Form des offenen Dialoges schätzt und
neueren Konzepten der Diversity durchaus erfolgreich war           bewirbt, entlässt er Schurr und Weichhart nicht ganz in die
und ist, zumal sie über mehr als einen Zweck verfügt. Die-         Freiheit. Standpunktepistemologisch, und jetzt wechselt das
se Zweckvielfalt ermöglicht es ihr, gegenüber ihren Umwel-         Genre von der freien Suche nach Positionen hin zu Erklärung
ten Freiheitsgrade und Autonomie zu behaupten, ohne in-            von Sprechakten durch Positionen, attribuiert er Schurr die
tern sonderlich auf Disziplin achten zu müssen. Blickt man         epistemisch privilegierte Position einer intersektional viel-
vor diesem Hintergrund auf zwei aktuelle Beispiele aus der         fach marginalisierten Person, die qua ihres Standpunkts dis-
deutschsprachigen Humangeographie, so wird deutlich, wie           ziplinäre Machtmechanismen klarer als Weichhart erkennen
sehr um Positionen und Haltungen gerungen wird und wie             könne. Der ältere Weichhart hingegen habe aus einer Posi-

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tion gesprochen, die ihre eigenen Privilegien nicht unmittel-   schiedung des Alten ist mitunter leichter als die Neubestim-
bar erkennen könne respektive besondere Denkschleifen da-       mung der Zukunft, zumal auch die vermeintlich guten Ideale
für benötige (Hannah, 2020:322). Interessanterweise deckt       ihre eigenen Abwertungen produzieren: Wer sich innerhalb
sich diese koordinative Positionierung der Sprecher:innen       der Wissenschaft dezidiert für Gleichheit oder Inklusion ein-
nicht vollständig mit ihren Aussagen. So sei Weichhart zum      setzt und diese Normen als vernünftig betrachtet, wird kaum
Beispiel überhaupt nicht überheblich aufgetreten, habe sei-     umhinkommen, die Verteidiger:innen anderer Normen we-
ne Nichtteilnahme in Kiel 1969 zugegeben und eine „genui-       nigstens implizit als unvernünftige, gestrige oder engstirni-
ne Offenheit und Neugier“ für Schurrs Perspektiven gezeigt      ge Normverletzer:innen zu betrachten. Sollten sich Wissen-
(Hannah, 2020:322). Allerdings, und schon wird Weichhart        schaftler:innen jemals komfortabel auf die Absolutheit und
standpunktepistemologisch wieder festgelegt, habe er auf der    vermeintliche Sicherheit von Wahrheit zurückgezogen und
Bühne eine ältere Äußerung aktualisiert und die Geogra-         sich auf diesem Weg von ihrer Verantwortung für ihre kontin-
phie als Spielwiese mit vielen Steckenpferdchen beschrie-       genten Beobachtungen entbunden haben, so gilt Tempi pas-
ben. Diese Metaphorik im Diminutiv deutet der Autor nicht       sati.
nur als Trivialisierung und Geringschätzung von Vielfalt.          Die verstärkten Zuschreibungen von Entscheidungen
Vielmehr untergrüben diese „respektlosen Formulierungen“        und Entscheidungsverantwortungen auf individuelle Wissen-
ziemlich klar und gegen seinen Willen die „respektvolle per-    schaftler:innen oder einzelne Organisationen der Wissen-
sönliche Teilnahme am Dialog“ (Hannah, 2020:323).               schaft stehen allerdings in einem auffälligen Missverhält-
   Ob man die Bewegungen von Korf goutiert oder die Ana-        nis zu jenen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, die auf
lyse von Hannah teilt, soll hier keine Rolle spielen. Wich-     die soziale Konditionierung oder Situiertheit von kognitiven
tig ist zu erkennen, dass um die Legitimität von Spre-          Positionen hinweisen (z. B. Haraway, 1988; Page, 2007).
cher:innenrollen in der Wissenschaft gerungen, aber über        Auch verkennen die Zuschreibungen von individueller Ver-
wissenschaftsinterne Theoriebewertungskriterien geschwie-       antwortung oder die Aufforderungen zu bestimmten Prakti-
gen wird. Diese Beobachtungen sind weder als ein fronta-        ken wie etwa Nachdenklichkeit (Korf, 2022) bisweilen die
les Argument gegen die Beiträge noch als Argument gegen         dynamische Komplexität der sozialen Welt, wie sie in vielen
Forderungen nach mehr Diversity zu deuten. Aber die Fra-        Gesellschafts- und Sozialtheorien wiederholt herausgearbei-
ge nach Entscheidungsregeln und dem Verhältnis von wis-         tet wurde (vgl. dazu mit Blick auf die Wissenschaft: Luh-
senschaftsfremden und wissenschaftseigenen Kriterien liegt      mann, 1990; Latour, 1999). In diesem Sinne genügt es nicht,
erneut und ohne Antwort auf dem Tisch. Im folgenden Ka-         wenn einzelne Wissenschaftler:innen bestimmte Anforde-
pitel soll daher versucht werden, für Auseinandersetzungen      rungen erfüllen oder bestimmte Organisationen der Wissen-
um wissenschaftliche Bewertungskriterien zu werben, ohne        schaft vorbildhaft entscheiden. Geboten sind explizite Of-
auf letzte Gewissheiten zu hoffen.                              fenlegungen und Begründungen von Entscheidungen, so-
                                                                dass inner- und außerhalb der Wissenschaft um die Legiti-
3   Auswege: Theorietheoretische Dialoge auf                    mität dieser Entscheidungen gerungen werden kann. Denn
    gemeinsamen Gründen                                         nur wenn die Leistungen der Wissenschaft als legitim be-
                                                                trachtet werden, ist mit einer fortdauernden gesellschaftli-
     „Ein Dialog ist ein Verlauf. Schritt für Schritt ent-      chen Finanzierung derselben zu rechnen. Und nur wenn wis-
     decken die beiden – durch einen Abstand vonein-            senschaftliches Entscheiden und Arbeiten besonderen Krite-
     ander getrennten – Positionen sich gegenseitig, die        rien genügt, sind die Geltungsansprüche wissenschaftlichen
     eine reflektiert sich in der anderen, allmählich erar-     Wissens durchzusetzen. Wer auf die Generierung von Legiti-
     beiten sie die Bedingungen der Möglichkeit einer           mität verzichten möchte, muss vermutlich den hohen Preis in
     effektiven Begegnung.“ (Jullien, 2019:89)                  Form des Verlusts wissenschaftlicher Autonomie bezahlen.
                                                                   Die konkrete Suche nach praktikablen, sinnvollen und le-
   Der Bedeutungsgewinn konstruktivistischer Positionen,        gitimen Auswegen aus dieser Lage gleicht einem Umzug ins
die unabweisbare Kontingenz des wissenschaftlichen Wahr-        Offene und Unbekannte. Es kann gut sein, dass sich Her-
heitscodes, das Wissen um die Schattenseiten der Wis-           bert A. Simons Idee (1994 [1969]) durchsetzt, mit Algo-
senschaft und die gestiegenen normativen Ansprüche an           rithmen der Optimierung zu arbeiten, „die es erlauben, statt
die Wissenschaft, zum Beispiel hinsichtlich demokratischer      zwischen Wahrheit und Falschheit zwischen Zielerreichung
Gleichheits- und Inklusionsideale, haben die Bezugspunk-        und Abweichung zu unterscheiden“ (Baecker, 2020:91). Sol-
te für wissenschaftliche Entscheidungen stark verändert. Al-    che Leitwertverschiebungen von Wahrheit hin zu Zielerrei-
te Objektivitätsansprüche sind angesichts der Beobachtungs-     chung und Optimierung sind derzeit vor allem in jenen Be-
abhängigkeit allen Wissens längst zur lästigen Fußfalle der     reichen zu erkennen, bei denen ein enger Austausch zwi-
Wissenschaft geworden (von Foerster et al., 1997:130) und       schen Wissenschaft und Praxis gepflegt wird. Interessanter-
wer noch immer die eine Wahrheit für sich beansprucht,          weise betrifft das innerhalb der Geographie nicht allein die
macht die jeweils anderen deutlicher als je zuvor zu Lüg-       klassische Angewandte Geographie, sondern auch Teile ei-
ner:innen (von Foerster und Pörksen, 2011). Doch die Verab-     ner Kritischen Geographie wie etwa die Debatten um Ur-

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ban Gardening (Kumnig et al., 2017), Postwachstumstheo-         dung wird also zwingend zu einem offenen und dynami-
rien (Lange et al., 2020) oder kritisches Kartieren (Dam-       schen Prozess. Dabei bedingt die Unzugänglichkeit der Welt,
mann und Michel, 2022) zeigen. Der alte Zentralwert Wahr-       dass wir sie immer nur von innen bezeichnen können. Folg-
heit wird darin nicht ganz verabschiedet, doch ihm zur Sei-     lich kommt es „zu einer konstitutiv operativen Autoreflexi-
te werden Werte wie Aktivismus, Partizipation oder Kollek-      vität“ von Theorien, weil sie immer zugleich das sind, wo-
tivität gestellt. Dass es bei diesen wissenschaftlichen und     von sie sprechen (Jahraus, 2011:31). Damit tritt Prozessuali-
demokratischen Formaten zu fragwürdigen Komplizenschaf-         tät an die Stelle von Vergegenständlichung und Differenzia-
ten kommen kann, weil die eigenen Normen nicht mehr auf         lität verdrängt Identifikation (Jahraus, 2011:33). Diese theo-
Lernbereitschaft abstellen und folglich wissenschaftliche Er-   rietheoretische Verdichtung von teils alten Einzelargumenten
kenntnis blockieren, wird zum Beispiel der Nachhaltigkeits-     hat weitreichende Folgen. Stärker denn je gilt, dass Begriffs-
forschung zu Last gelegt. So kritisieren Blühdorn und Dan-      arbeit als produktive Arbeit zu sehen ist. Über ihren Wert
nemann (2019:115), dass sich Teile der Nachhaltigkeitsfor-      ist zu entscheiden, zumal die Fiktion einer schon entschiede-
schung dagegen sperrten, ihre „Glaubenssätze etwa zum Ver-      nen Welt, die über den Wert der Begriffe eine Rückmeldung
hältnis zwischen Emanzipation und Nachhaltigkeit, Demo-         geben könnte, kollabiert ist (vgl. Luhmann, 1971:25). Unab-
kratie und Nachhaltigkeit“ kritisch-reflexiv zu durchdenken.    weislich und ohne doppelten Boden muss Theorieentwick-
   Vor den skizzierten Hintergründen und den teils großen       lung nun an die Gültigkeit, kognitive Kraft und intellektuelle
Legitimationsproblemen speziell mancher Sozial-, Geistes-       Kreativität theoretischen Denkens glauben.
und Kulturwissenschaften irritiert es wenigstens mich an die-      Mit diesem autopoietischen Impuls erübrigen sich sämtli-
ser Stelle, dass die legitimatorischen Anstrengungen mehr-      che Beherrschungsphantasien mittels Theorie. Innerhalb der
heitlich auf die Außenverhältnisse der Wissenschaft abstel-     Geisteswissenschaften ist das nicht neu:
len, aber nur wenig Aufmerksamkeit den wissenschaftlichen
Besonderheiten gewidmet wird. Diese empirische Lage und              „theory makes mastery impossible, [. . . ] because
ihre epistemische Dimension motivieren mich mit Blick auf            theory is itself the questioning of presumed results
Theorieentscheidungen nach Auswegen zu suchen und zu                 and the assumptions on which they are based. The
explorieren, wie der Weg hin zu epistemisch begründeten              nature of theory is to undo, through a contesting
Entscheidungen für und wider Theorien aussehen kann. Ers-            of premises and postulates, what you thought you
te allgemeine Vorschläge finden sich im offenen Feld der             knew, so the effects of theory are not predictable.
Theorietheorie (Grizelj und Jahraus, 2011), zu der auch der          You have not become master, but neither are you
konkrete Vorschlag der dialogischen Theorie von Peter Zi-            where you were before.“ (Culler, 2000:16)
ma (2004) gerechnet werden kann. Ob die Ideen praktikabel
sind und akzeptiert werden, ist angesichts der beobachtbaren       Wenig anders postulierte Foucault (1996:24), dass er ei-
Driften offen, doch im Zusammenspiel mit François Julli-        gentlich nur schreibe, weil er noch nicht genau wisse, was
ens (2019) jüngsten Überlegungen zum Gemeinsamen und            er von dem halten solle, was ihn so sehr beschäftige. Dar-
Dialogischen angesichts verhärteter Identitätsfronten gewin-    über hinaus erübrigen sich auch rückwärtsgewandte Wege
nen sie in meinen Augen neue produktive Wendungen.              zu bekannten Theorievergleichskriterien. Zwar ist es weiter-
   Semantisch lehnt sich die Theorietheorie an Wortschöp-       hin möglich, klassische Kriterien oder Alexanders (1982:3)
fungen wie Gesellschafts-, Raum- oder Machttheorie an.          Theoriesortierungsspektrum zwischen einer metaphysischen
Folglich geht es um Theorien über Theorien, wobei über          und einer empirischen Umwelt zur ersten Verständigung
Theorien nicht hierarchisch-doktrinär meint. Statt wie man-     über Theorien zu verwenden. Und ebenso sind genauere Bli-
che Wissenschafts- und Erkenntnistheorien von oben herab        cke auf theoretische Leitbegriffe, auf für das Sehen kon-
im bischöflichen Ton zu predigen, über den richtigen Weg        stitutiv notwendige blinde Flecken (Esposito, 2011), auf
zu urteilen oder gar als Wunder- und Heilmittel aufzutreten,    Auflösungs- und Differenzierungsvermögen, auf Chancen
möchte die Theorietheorie mit Blick auf ihre Gegenstände,       zur Autoreflexivität und auf tautologische Grundkonstruktio-
d. h. mit Blick auf Theorien und Methoden, jene epistemi-       nen zur Stimulierung von Forschung möglich (Klett, 2014).
schen Brüche, Unverträglichkeiten oder überraschenden Zu-       Doch solche Theoriesortierungen eröffnen weder einen Weg
sammenschlüsse herausarbeiten, die für die Entwicklung der      zur Herrschaft über Theorien noch zu allgemein akzeptierten
Wissenschaft mitverantwortlich sind (Grizelj und Jahraus,       Entscheidungen über Theorien. Theorietheoretisch geschult
2011; Jahraus, 2011).                                           ist einfach zu klar, dass auch diesen Kriterien kontingente
   Paradigmatischer Ausgangspunkt ist die konstruktivisti-      Entscheidungsprämissen zugrunde liegen – das Geschmäck-
sche Annahme, dass uns die Welt nicht unmittelbar zugäng-       le der Selbstbeweihräucherung können solche Vergleiche un-
lich ist und zum Zwecke einer Verständigung notwendiger-        möglich mehr ablegen. Überdies muten Theorievergleiche
weise bezeichnet und somit versprachlicht werden muss.          mittels Vergleichskriterien und imaginierten Überlegenheits-
Dieses konstruktive Moment der Bezeichnung ist aber durch       positionen auch deshalb antiquiert an, weil ein guter Teil der
Historien, Zufälle und viele weitere Bedingungen mitbe-         Gegenwartsprobleme etwas mit Überbietungswettbewerben,
stimmt und daher unmöglich verobjektivierbar. Theoriebil-       Konkurrenz und Besserwisserei zu tun hat. Eine Verstrickung

Geogr. Helv., 78, 169–182, 2023                                                    https://doi.org/10.5194/gh-78-169-2023
P. Goeke: Wissenschaftliche Episteme und Geltung. Von der Konstruktion zum Dialog                                           177

in diese Kämpfe, das wird jetzt in aller Drastik klar, ist epis-   2011:139). Die Welt tritt uns schließlich unentschieden ent-
temisch fragwürdig bis sinnlos und darüber hinaus kräftezeh-       gegen und erst die Unterscheidungen der Beobachter, seien
rend bis unergiebig.                                               es soziale oder psychische Systeme, lassen Universen entste-
   Unglücklicherweise blockieren Verbote, hier in Form von         hen (Spencer Brown, 1972:v). Bestimmungen des Anfangs
benannten Unmöglich- und Sinnlosigkeiten, das Denken.              sind unmöglich: Beobachter, Sprache und Gesellschaft kön-
Das Gehirn muss Energie aufwenden, um etwas nicht zu tun,          nen wie im Fall von Henne, Hahn und Ei nicht auf einen Teil
bekommt aber keine Alternative aufgezeigt. Genau an dieser         zurückgeführt werden – „You cannot say who was first and
Stelle hilft die Zuwendung zur dialogischen Theorie, weil sie      you cannot say who was last. You need all three in order to
Wege hin zu einem erkenntnisfördernden Dialog von Theo-            have all three“ (von Foerster, 2003 [1979]:284). Angesichts
retiker:innen und Theorien aufzeigt (Zima, 2004). Die Not-         dieser Unbestimmbarkeit des Anfangs wird radikale Refle-
wendigkeit eines solchen Weges ist für die dialogische Theo-       xivität möglich. Ausdrücklichkeit fordert dazu auf, die Be-
rie zweifach bedingt. Einerseits weil das Gebot zum Pluralis-      dingungen des Sehens offenzulegen. Für die Kritische Theo-
mus nicht zur Indifferenz führen sollte. Andererseits weil die     rie hieße das zum Beispiel, die postulierte Notwendigkeit der
Probleme einer hermetischen Abschließung angesichts einer          Kritik als Konstituens ihrer Existenz zu begreifen und sie mit
unabweisbaren ideologischen Konditionierung von Theorie            anderen Theorien zu reflektieren. Dass dies anspruchsvoll ist,
praktisch zu bearbeiten sind. Auch wenn gegenwärtig ande-          wurde innerhalb der Kritischen Theorie bereits beschrieben
re Idiome bevorzugt werden (statt Pluralismus etwa Diversity       (Honneth, 2000).
und statt Ideologie eventuell Beobachtungsabhängigkeit oder           Ganz ähnlich ist Öffentlichkeit nicht einfach zentral, weil
Positionalität) und sich manche Problemlage verschoben hat         Wissenschaft nachvollziehbar sein und dem Gemeinwohl
(statt allein um Autonomieprobleme der Wissenschaft geht           dienen sollte. Vielmehr verbindet sich mit Öffentlichkeit das
es auch um eine Bedrohung der Politik durch die Macht des          Potential, eingefahrene Dispute in dritte Positionen aufzulö-
Wissens (Bogner, 2021)), so hat die Ausgangsspannung Be-           sen und agonale Positionen zu Dialogen zu leiten. Das ist
stand.                                                             nicht bloße Hoffnung. Die Erwartung ruht auf der Erkennt-
   Dabei ist Zimas Einladung zum Dialog nicht einfach ein          nis, dass nicht die Autor:innen, nicht ihre Texte und nicht
„Vorschlag zur Güte“ (2004:279) oder theoretischen Ökume-          einzelne Leser:innen Bedeutungen hervorbringen, sondern
ne. Zu reflektieren seien die theoretischen und ideologischen      Interpretationsgemeinschaften (mit Bezug auf Stanley Fish:
Diskurse in ihren Wechselbeziehungen und mit Blick auf die         Zima, 2004:282). Zudem fordert die Öffentlichkeit, egal wie
sozio-linguistische Situation, in der sie sich zusammen mit        gleichförmig, bunt oder auch stumm sie sein mag, kontinu-
ihren Gesprächspartner:innen befänden. Dialogische Theo-           ierlich zu Reflexion darüber auf, welchen Positionen die-
rie ist folglich „ein Vorschlag zu semiotischer Reflexion, Re-     se Dritten sich aus welchen Gründen potenziell anschlie-
konstruktion und Kritik. Es ist zugleich ein Vorschlag, die        ßen könnten. Indifferenz gegenüber den Dialogpartner:innen
wissenschaftliche Neugier so weit zu treiben, daß sich der         oder der Öffentlichkeit bleibt weiterhin möglich, etwa wenn
Theoretiker seines Wahrheitsanspruches vergewissert, indem         man über genug eigene Ressourcen verfügt, kein weite-
er ihn durch das ganz andere, das ihm Fremde überprüfen            res Interesse an der Geltung des eigenen Wissens hat oder
lässt“ (Zima, 2004:279). Zimas Wahl des Singulars, wo viel-        nicht auf die Wirksamkeit der eigenen Rhetorik setzt (Zima,
leicht ein Plural geboten wäre, und die rein maskulinen For-       2004:283). In diesen Fällen würde die Hermetik der Ideolo-
men irritieren heute, doch der Grundgedanke ist beachtens-         gie aber offenbar und eine solche Wissenschaft unterschrit-
wert: Es geht ihm entscheidend um eine Befragung durch             te praktisch jedes wissenschaftliche Minimalgebot. Aus ei-
Fremde. Dies aber nicht um über Sieg und Niederlage zu un-         nem ausdrücklichen und öffentlichen Dialog sollte hingegen
terscheiden, sondern um zu lernen und im Dialog zu Ent-            die Erkenntnis emergieren, dass es immer nur Teilwahrheiten
scheidungskriterien zu kommen. Im Idealfall kann ein sol-          geben kann, die keinesfalls zu Konsenswahrheiten überführt
cher Dialog auch zu fairen Entscheidungen über Theorien,           werden können.
Methoden, Themen und Karrieren führen, weil die Teilneh-              Diese Grundbestimmungen lassen Fragen offen. Nur fol-
mer:innen um Kriterien ringen und sie so öffentlich machen.        gerichtig wurde in den Gutachten zum ersten Entwurf be-
   Für einen gelingenden Dialog formuliert Zima die Bedin-         mängelt, dass das Fremde nicht näher beschrieben, die Öf-
gungen der Ausdrücklichkeit und Öffentlichkeit. Ausdrück-          fentlichkeit angesichts fortschreitender Mediatisierung der
lichkeit ist geboten, weil speziell die formale Beobachtungs-      Weltverhältnisse unklar und die genaue Dialogform höchs-
logik Spencer Browns (1972) zeigt, dass jeder Bezeichnung          tens schemenhaft zu erkennen sei. Und mit Verweis auf die
eine Unterscheidung vorausgeht, die aber im Moment der             Literatur wurde unter anderem Skepsis am Heilmittel der Öf-
Bezeichnung unbezeichnet und damit latent bleibt. Dieses als       fentlichkeit artikuliert. Diese Einwände haben ihre volle Be-
blinder Fleck benannte Phänomen wird üblicherweise als läs-        rechtigung. Doch weil in den Gutachten auch darauf verwie-
tiges Übel geschmäht. Die Beobachtungstheorie in der Tradi-        sen wurde, dass ohnehin nicht alle gestellten Fragen behan-
tion Spencer Browns betont hingegen die Produktivität jeder        delt oder gar erschöpfend beantwortet werden könnten und
Unterscheidung und begreift den blinden Fleck als notwen-          ich selbst niemals einen bischöflich normierten oder pädago-
dige Bedingung für die Möglichkeit des Sehens (Esposito,           gisch moderierten Großgruppendialog vor Augen hatte, soll

https://doi.org/10.5194/gh-78-169-2023                                                        Geogr. Helv., 78, 169–182, 2023
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